Traum-revier Latsch
Es gab eine Zeit, da war das Südtiroler Vinschgau vor allem berühmt für seine Äpfel. Doch dann setzte sich hier irgendjemand aufs Mountainbike und entdeckte diese unglaublichen Pfade. Jetzt gilt Latsch als echtes Flowtrail-Mekka.
Trails mit sonnenfaktor Im sonnenverwöhnten Vinschgau sind die schattigen Wald-Trails besonders im Hochsommer eine Verlockung.
78
BIKE alpenguide 2011
BIKE Alpenguide 2011
79
traum-revier LAtsch
Im Frühjahr schon schneefrei: die Trails an den Südhängen der Vinschger Berge. Im Sommer aber glühen die Reifen.
ziehen
Der Supertrail am Monte Sole war lange in Gefahr, seit Ostern gibt’s eine Lösung: Zweimal pro Woche shuttelt die Seilbahn wieder Biker – aber nur in Begleitung eines ortskundigen Guides.
Text Matthias Rotter Fotos Ronny Kiaulehn
Zwölf Millionen Apfelbäume können nicht irren? Von wegen! Auch im sonnenverwöhnten Vinschgau macht der gelbe Stern zwischendurch mal Pause von der ständigen Scheinerei – auch wenn mein Begleiter Martin oft und gerne das Gegenteil beteuert. Oder sind das etwa keine Regentropfen, die sich da zaghaft ihren Weg durchs lauschige Blätterdach bahnen? Da! Schon bekommt der Boden Pickel. Ekelhaft schnell vermehren sich die kleinen schwarzen Punkte auf dem staubtrockenen Singletrail. Bald werden sie sich zu Matsch zusammenrotten und das Reifenprofil verglitschen. Arrivederci, Traktion. Aber noch haben wir eine Chance. Und Martin lässt keinen Zweifel aufkommen, dass er sie nutzen will. Der Zwei-Meter-Hüne bläst zur Attacke, drückt entschlossen die Kette aufs große Blatt. Schnell wird das Tempo meiner körperlichen Verfassung völlig unangemessen. Doch angesichts der pechschwarzen Regenfront setze ich längst verpulvert geglaubte Kräfte frei. Der Pfad vollführt noch zwei, drei Schlenker, da lugt zwischen den Bäumen schon der Kirchturm von Latsch hervor. Endspurt, jetzt bloß nicht aufgeben! Kurze Zeit später sitzen wir tatsächlich einigermaßen trocken auf der Terrasse, vor uns auf dem Tisch zwei Latte Macchiato. Der Platzregen hämmert auf die Markise ein. „Ist doch nur Wasser“, grinst der bikende Hotelchef. So, so. Noch vor zehn Minuten hat er so getan, als sei es irgendeine ätzende Säure, vom Teufel persönlich verspritzt. Verübeln kann man den Einheimischen beileibe nicht, dass
sie sich bei Regen – sagen wir einmal – merkwürdig verhalten. Sie sind Niederschläge einfach nicht gewohnt. Es sei denn, das Wasser schießt pistolengleich aus den abertausenden Bewässerungsanlagen im Tal. Pffft … pffft … pffft – so klingt die monotone Endlosschleife der Vinschger Sinfonie. Das trockene Klima hat das Hochtal seiner isolierten Lage im Zentrum der Alpen zu verdanken. Egal, aus welcher Richtung das Wetter kommt, die Wolken haben kaum eine Chance, bis ins Herz vorzudringen. Außerdem schirmen die etwa 3000 Meter hohen Kämme der Hausberge den Niederschlag zusätzlich ab. So verzeichnen die Statistiken der Klimastationen im unteren Vinschgau kaum mehr Regen als in Teilen Siziliens. Das erklärt auch das Kuriosum, warum überhaupt Äpfel auf einer Höhenlage von rund 1000 Metern gedeihen. Denn auch Goethe stellte schon vor über 200 Jahren fest, als er auf seiner Italienreise durch Südtirol pilgerte: „Jeder sonnt sich heut’ so gern.“
80
BIKE Alpenguide 2011
BIKE Alpenguide 2011
81
TRaum-revier Latsch
Snack für zwischendurch: Wie Guido Tschugg nehmen viele Profis die Ausfahrt von der Brenner-Autobahn nach Latsch im Vinschgau. „Trails mit großartigem Flow und gutem Käse“, sagt Guido.
Das Vinschgau leuchtet in sattem Grün. Bei der Abfahrt kommen die Apfelplantagen in Bissweite.
Um flotte Sprüche ist auch Martin Pirhofer selten verlegen. Zum Beispiel dieser: „Wir Südtiroler lügen nie, wir sagen nur nicht immer die Wahrheit.“ Der kommt besonders gut, wenn sich – wie am nächs ten Morgen – der versprochene „schön zu fahrende Anstieg“ vor Ort als hochprozentige Steilrampe entpuppt. Die steinerne Heiligenfigur am Wegesrand blickt mitleidsvoll auf unsere Bikes. „Helm ab, zum Gebet“, meint Martin sarkastisch und wirft unverzüglich die Kette auf den kleinsten Gang. Die folgenden Schweigeminuten haben jedoch weniger mit stiller Andacht zu tun als vielmehr mit unserem keuchen-
82
BIKE Alpenguide 2011
den Bemühen, den Herz-Lungen-Apparat in einen akzeptablen Arbeitsrhythmus zu versetzen. Zum Glück befinden wir uns auf der nach Norden zugewandten Flanke des Tals, sodass die wiedererstarkte Sonne nicht gar so heiß brennt. In weiten Serpentinen zieht der Weg hinauf zur Freiberger Alm, einer von zig urigen Jausenstationen entlang der Latscher Touren. Eine hübscher gelegen als die andere. Doch für eine Rast ist es noch zu früh. Wir biegen ein in einen Singletrail, der zum ersten Mal deutlich macht, warum die Region zu den Favoriten vieler Pros wie Guido Tschugg oder Holger Meyer zählt: technisch knifflige Pfade, aber stets mit
einem gewissen Flow fahrbar. Wir zirkeln um Serpentinen, schießen durch Anlieger und holpern über Wurzeln. Der Talgrund des Vinschgaus schaut von hier oben aus wie eine mit Moos ausgekleidete Wanne. Die schiefen Ebenen und Apfelplantagen ziehen sich bis hinauf zum Reschenpass. Über allem liegt der feine Sprühnebel der Bewässerungsanlagen. Regenbögen schillern im Dutzend in der Sonne. Einen extremen Kontrast dazu bildet die nach Süden ausgerichtete Talflanke gegenüber. Während die Trails auf den Nordhängen mit griffigem Waldboden verwöhnen,
TRaum-revier Latsch
Für die Trails von Latsch wagen sogar Gardasee-Locals einen Abstecher nach Norden.
herrscht am so genannten Sonnenberg ein fast wüstenartiger Zustand. Die felsigen, ausgewaschenen Rüttelpisten dort erinnern an die Gardasee-Trails. Ein Paradies für Fully-Piloten. Oder für Frühjahrs-Biker. Denn die Südhänge sind meist schon Anfang März schneefrei. Das erklärt auch, warum Martin schon so früh im
Jahr fit ist. Jetzt, im Sommer, rollt man hier dagegen durch einen Glutofen, denn die steppenhafte Vegetation bietet kaum Schutz. 40 Grad Temperaturunterschied zwischen Tag und Nacht sind keine Seltenheit. „Da drüben wirst bei lebendigem Leib gegrillt“, findet Martin mal wieder die passenden Worte.
Das Revier im Überblick > Lage und Anreise Die Gemeinde Latsch (ca. 5000 Einwohner) liegt im unteren Vinschgau, zwischen Schlanders und Naturns. Bis Meran sind es etwa 30 Kilometer. Das breite Etschtal bildet den westlichen Teil Südtirols. Durch die abgeschirmte Lage im Zentrum der Alpen – die flankierenden Bergketten sind weit über 3000 Meter hoch – herrscht im Vinschgau trockenes Klima mit viel Sonne. Anfahrt: A96 Lindau – Bregenz – Arlberg – Landeck – Reschen – Latsch. Alternativ über A7 Pfronten – Reutte – Fernpass nach Landeck. Oder über Innsbruck – Brenner – Bozen – Meran nach Latsch. Entfernung von München: 340 km. > Unterkünfte Unter dem Begriff „Biker Eldorado“ haben sich sieben
84
BIKE Alpenguide 2011
Gastwirte zusammengeschlossen. Die Unterkünfte reichen von der Zwei-Sterne-Pension bis zum Fünf-Sterne-Wellness-Palast. Ihre Gäste haben kostenlosen Zugriff auf ein über 80 Touren umfassendes GPS-Archiv. Leihgeräte, Roadbooks, Shuttle-Service und Bike-Verleih gibt’s gratis. Übersicht unter www.bikereldorado.com. Unterkünfte und Angebote auch über www.bike-holidays.com
>Touren-Start/Roadbooks Unsere Touren-Tipps starten am Maxx Bike Store in Latsch. Gratis erhält man im Shop ein Touren-Heft mit einer Auswahl an Vinschger Bike-Touren. Übrigens: Weiter entfernte Touren sind bequem mit der Vinschgerbahn erreichbar, die im 30-Minuten-Takt zwischen Meran und Mals pendelt.
> Bike-Shop Maxx Bike Store, Hauptstr. 6a, Latsch, Tel. 0039/0473/720077, www.bikereldorado.com > Karten Vinschgau/Val Venosta, 1:50000, Kompass Verlag. Südtirol/Alto Adige 3D, Digitale Topogr. Karte, Maßstab bis 1:10000, Kompass Verlag > Geführte Touren Die Biker-Eldorado-Unterkünfte bieten geführte Touren an. Sonstige Besucher wenden sich an den Maxx Bike Store. > Bikepark In Tarsch, oberhalb von Latsch, befindet sich ein kleiner Geschicklichkeits-Parcours. Die Gondel nach St. Martin transportiert zweimal die Woche Biker – allerdings nur in Begleitung eines ortsansässigen Guides.
Wir sitzen auf der Veranda der Marzon-Alm, in den Gläsern perlt kühler Hollersaft. Die Pasta im Magen gibt die richtige Schwere für die bevorstehende Abfahrt. Über 80 Touren zwischen Meran und dem Reschenpass hat Martin per GPS erfasst, alle frei verfügbar für Gäste des Hotelverbundes Biker Eldorado. Ein Verfahren ist damit ausgeschlossen. Und wer kein eigenes Gerät besitzt, dem stellt Martin gerne eines zur Verfügung. Oder man fährt alternativ nach Roadbook und einem Kartenausschnitt. Auch mich juckt’s schon wieder in den Waden. Schließlich hat man mir einen weiteren Singletrail versprochen. Also, her damit! Endlich gibt mein Guide das Startsignal: „Bergauf helfen keine Heiligen, aber bergab alle Teufel!“ Das wollen wir doch mal sehen.
Karten & Roadbooks Seite 17 bis 20 TOUR 1: Annaberg-Trail 14,6 km/660 hm
Kleine Runde mit Rampen und zum Teil ausgesetzten Trails. Tolles Panorama, abenteuerliche Hängebrücke. SCHWIERIGKEITSGRAD mittel fahrtechnik ccccCC kondition cccCCC panorama cccccc
TOUR 2: Latscher Alm 26,9 km/1370 hm
Lange Auffahrt zur Latscher Alm, traumhafte Trail-Abfahrt. SCHWIERIGKEITSGRAD mittel fahrtechnik ccccCC kondition ccccCC panorama ccccCC
TOUR 3: Marzon-Alm 28 km/1400 hm
Extrem steile, aber schattige Auffahrt zu Beginn, danach Genuss pur: schöne Alm, spannende Trails. SCHWIERIGKEITSGRAD mittel fahrtechnik cccCCC kondition ccccCC panorama ccccCC