Entwicklungsstrategie Churer Rheintal Nord eine im Wandel begriffene Landschaft Jan Stadelmann | Masterthesis Urbanistik 2015
Prof. Mark Michaeli | Lehrstuhl für die nachhaltige Entwicklung von Stadt und Land Institut für Entwerfen, Stadt und Landschaft | Technische Universität München
Kontakt: Jan Stadelmann, Zürich, stadelmann@S2L.ch
Entwicklungsstrategie Churer Rheintal Nord eine im Wandel begriffene Landschaft Jan Stadelmann | Masterthesis Urbanistik 2015
Prof. Mark Michaeli | Lehrstuhl für die nachhaltige Entwicklung von Stadt und Land Institut für Entwerfen, Stadt und Landschaft | Technische Universität München
Einleitung
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Das Alpenrheintal
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Eigendarstellung & Mediales Bild
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Churer Rheintal Nord Modell Grenzen Disperse Landschaft Fragmentierung & Orientierung Geschichte Landschaftswandel
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Gesamtstrategie Defizite mindern Eine neue Hauptachse Freiraumachsen Trimmis Modell Gesamstrategie Laufende Prozesse nutzen Abbau natürlicher Ressourcen Abbaulandschaft Untervaz Kiesabbau Neue Einbauhöhen Neues räumliches Einbauregime Landschaftswandel erschliessen Hochwasserschutz / Flutpolder
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Verzeichnisse
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Strategie Churer Rheintal Nord
Einleitung Das Rheintal hat in den letzten Jahrhunderten einen massiven Wandel durchlaufen, verursacht durch verschiedene raumwirksame Prozesse. Das ursprünglich landwirtschaftlich geprägte Flusstal hat sich zu einer dispersen Gemengelage aus Siedlung, Infrastruktur, Kulturland und Flusslandschaft entwickelt. Entsprechend wird der stark fragmentierten Landschaft in der öffentlichen Wahrnehmung wenig Bedeutung zugemessen und die Typologie der Landschaft kann kaum benannt werden. In der Strategie für die Entwicklung des nördlichen Churer Rheintals wird der Wandel als Eigenheit und Idenititätsmerkmal für diesen Raum angenommen. Die Entwicklungsstrategie teilt sich in zwei Handlungsfelder auf. Zum einen werden landschaftsräumliche Defizite aus abgeschlossenen Prozessen, wie den Verkehrsinfrastrukturen und der Rheinkorrektur, mit einfachen Maßnahmen behoben oder gemildert. Zum andern wird der Fokus auf die fortlaufenden Prozesse der Materialflüsse gelegt. Durch die Modifizierung dieser Prozesse sollen zukünftig landschaftliche Qualitäten geschaffen und Synergien mit anderen Ansprüchen an den Landschaftsraum genutzt werden.
Nördliches Churer Rheintal Blick Richtung Chur
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Strategie Churer Rheintal Nord
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Rheinauen Landquart
Strategie Churer Rheintal Nord
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Untervaz Rhein Zizers
Strategie Churer Rheintal Nord
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Strategie Churer Rheintal Nord
Das Alpenrheintal Das Alpenrheintal erstreckt sich vom Zusammenfluss von Hinter- und Vorderrhein bei Reichenau-Tamins bis zur Mündung des Rheins in den Bodensee. Der trinationale Wirtschaftsraum zeichnet sich durch ein markantes Wachstum in den letzten Jahrzehnten aus. Der schnelle Anstieg der Bevölkerung und der Arbeitsplätze hatte maßgeblichen Einfluss auf die heutige Struktur des Tals, welches sich durch ein polyzentrales Siedlungsmuster mit nicht sehr dicht gebauten Kernstädten auszeichnet. Die Rheinkorrektion ermöglichte die Besiedlung der Talebene und aus Kleingemeinden sind Dörfer und Städte entstanden, die entlang der Verkehrsinfrastrukturen bandartig gewachsen sind. Diese Siedlungen prägen zusammen mit den Infrastrukturbauten und den weiträumigen Industrie- und Gewerbeflächen das Erscheinungsbild des Talbodens. Der Agglomerationsraum Chur im Bündner Rheintal ist durch wirtschaftliches wie demografisches Wachstum geprägt. In den Zentren Chur, Landquart und Domat-Ems ist die funktionale wie auch bauliche Dichte relativ gering. Urbane Verdichtungstendenzen sind nur stellenweise in den drei Zentren, insbesondere in Chur, und an einzelnen Knotenpunkten zu erkennen. In den 17 Gemeinden der Agglomeration Chur waren Ende des Jahres 2010 insgesamt rund 73‘835 Personen wohnhaft. Davon lebten 45% (33‘500) in der Stadt Chur. Im Regionalzentrum Igis/Landquart waren im Jahr 2010 rund 7‘800 Personen (11%) wohnhaft. Zwischen den Jahren 2000 und 2009 ist die Bevölkerung im Agglomerationsgebiet um 6.7 %, also 4‘500 Personen angestiegen.
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Alpenrheintal Agglomeration Chur
Strategie Churer Rheintal Nord
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Strategie Churer Rheintal Nord
Eigendarstellung der Gemeinden*
Mediale Themen in der Region*
Die Gemeinden nehmen in ihren Portraits wenig Bezug auf die Region Alpenrheintal oder den Agglomerationsraum Chur. Wenn auf andere Gemeinden verwiesen wird, dann fast ausschließlich auf den Hauptort Chur. Es scheint kein Bewusstsein vorhanden zu sein, sich als eine zusammenwachsende Region mit diversen Subzentren zu definieren. Auffallend ist, dass sich die Gemeinden nördlich von Chur (Trimmis, Untervaz, Zizers, Landquart/ Igis) besonders stark über ihre Wirtschaft und die gute Verkehrserschliessung definieren. Themen aus den Bereichen Kultur, Bildung und Tourismus werden kaum aufgegriffen. Bis auf Untervaz stellt keine Gemeinde den Rhein ins Zentrum ihrer Eigendarstellung. Es erstaunt, wie wenig die Gemeinden des Churer Rheintals sich über den Rhein als prägendes Landschaftselement definieren. Der Rhein scheint weder im Bewusstsein der Einwohner noch als Standortfaktor für die Lebensqualität von Bedeutung zu sein.
Über die Analyse der oft genannten Stichworte in den Medien der letzten Jahre entsteht ein Bild über wichtige Themen in der öffentlichen Diskussion. Nebst wirtschaftlichen Themenfelder sind es vor allem das hohe Verkehrsaufkommen und die Energiegewinnung, welche in den Medien genannt werden. Der Rhein kommt in der medialen Diskussion kaum vor. Bei dem Thema Ressourcennutzung werden die Verarbeitungswerke (Zementwerk, Kieswerk) für ihre wirtschaftliche Bedeutung genannt. Negative Schlagzeilen über diese Werke (insbesondere das Zementwerk) finden sich bezüglich ihres hohen Energiebedarfs und den damit verbundenen Emissionen. Der eigentliche Ressourcenabbau und die Auswirkungen auf die Landschaft werden nicht genannt. *Anhand einer Analyse der Häufigkeit der Wortnennungen wurden die Medienberichte der letzten Jahre mit einem raumrelevanten Inhalt untersucht. Je grösser die Wörter sind, umso häufiger wurden diese in Medienberichten genannt.
*Anhand einer Analyse der Häufigkeit der Wortnennungen wurden die Portraits auf den Websites der Gemeinden und ihrem Wikipedia-Eintrag untersucht. Je grösser die Wörter sind, umso häufiger wurden diese für die jeweilige Gemeinde genannt.
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Eigendarstellung Gemeinden | Mediales Bild Region
Strategie Churer Rheintal Nord
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Strategie Churer Rheintal Nord
Churer Rheintal Nord Das ursprünglich landwirtschaftlich geprägte Flusstal hat sich zu einer dispersen Gemengelage aus Siedlungen, Infrastrukturen, Kulturland und Flusslandschaft entwickelt. Der Talabschnitt zwischen Chur und Landquart ist massiv beeinflusst durch seine Transitfunktion. Mehrspurige und oftmals nicht parallel laufende Verkehrswege zerschneiden den Landschaftsraum und haben eine hohe Emissionsbelastung des Tals zur Folge. Zudem führen die funktionalen Konzentrationen mit deutlichem Beschäftigtenüberschuss in Chur als wichtigstes Zentrum, sowie in Landquart und Domat-Ems als Subzentren, zu einem massiven agglomerationsinternen Verkehrsaufkommen. Diese auch zukünftig anhaltende Konzentration führt neben steigendem Druck auf die Verkehrsinfrastrukturen auch zu einer funktionalen Entleerung der übrigen Ortskerne. Neben dem anhaltenden Wachstum von Siedlungs- und Infrastrukturflächen kann davon ausgegangen werden, dass die Abbautätigkeit von Kies, Lehm und Sandstein anhalten wird. Diese natürlichen Ressourcen sind mittel- bis langfristig gesichert und es ist weiterhin von einer starken Transformation der Landschaft im Talboden und am Fuss der Berghänge auszugehen.
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Churer Rheintal Nord
Strategie Churer Rheintal Nord
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Strategie Churer Rheintal Nord
Siedlungskerne | Gemeindegrenzen Die Kerne der Dörfer zwischen Landquart und Chur haben in den letzten Jahrzehnten massiv an Bedeutung verloren. Die Versorgung mit Handel und öffentlichen Einrichtungen konzentriert sich mehrheitlich auf Chur und Landquart. Diese Entwicklung bringt zunehmend Leerstand von Handelsflächen in den Dorfkernen mit sich. Die Gemeindegrenzen zeigen im Churer Rheintal oft nicht die effektive räumliche Situation. So bildet der Industriecluster im Dreieck der Gemeinden Untervaz, Trimmis und Zizers, von der Siedlungsstruktur her einen eigenständigen Ort, da er in deutlicher Entfernung zu den drei Dörfern liegt. Auch das im nördlichen Bereich der Gemeinde Zizers liegende Gewerbegebiet (u.a. das Designer Outlet Landquart) gehört räumlich zu Landquart und nicht zu Zizers. Somit haben viele räumliche Entscheidungen der einzelnen Gemeinden direkten Einfluss auf angrenzende Ortschaften.
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Transitleistung Das Churer Rheintal übernimmt eine enorme Transitleistung auf engem Raum. Zu dieser Transitleistung zählen einerseits die Verkehrsverbindungen, anderseits auch Strom- und Gasleitungen sowie den Wasser- und Materialtransport des Rheins. Einen sehr direkten Einfluss auf den Raum haben die Verkehrsträger. Die Autobahn A13 bildet die zweitwichtigste Nord-Süd-Alpentransitachse der Schweiz mit entsprechend hohem Verkehrsaufkommen. Die Emissionen der A13 wirken sich auf Teile der Siedlung aber insbesondere auf die angrenzenden Landschaftsräume aus. Die beiden Bahnlinien sind bedingt stark befahren, haben aber wie die Autobahn eine massive Trennwirkung in der Landschaft.
Entwicklung Siedlung Beim Wohnungsbau sind unterschiedliche Tendenzen erkennbar. Einerseits findet in einzelnen Kernen eine qualitätsvolle Innenverdichtung statt (Igis), es entstehen aber auch weiterhin Einfamilienhausquartiere am Siedlungsrand (Zizers, Trimmis). Einen besonderen Schub beim Wohnungsbau kann in Trimmis erwartet werden. Durch den Rückbau der A13 Nordspur werden Flächen, die zuvor im Einfluss der Autobahn standen deutlich attraktiver. Schon heute entsteht hier eine Baustruktur mit einer deutlich höheren Dichte als in den angrenzenden Einfamilienhausquartieren. Das Wachstum von Gewerbe- und Industriegebieten wird in den nächsten Jahren einerseits beim Industriecluster Untervaz / Trimmis / Zizers und anderseits in der Talebene vor Landquart erfolgen. Beide Standorte zeichnen sich durch eine optimale Anbindung ans Schienen- und Straßennetz und vorhandenen Baulandreserven aus.
Strategie Churer Rheintal Nord
Wasserhaushalt Der Wasserhaushalt hat erheblichen Einfluss auf das landschaftliche Erscheinungsbild des Churer Rheintals. Der Rhein als Hauptwasserstrom des Oberflächenwassers hat über Jahrtausende die Landschaft durch Erosionsprozesse verändert. Seit seiner Begradigung wurde dieser Erosionsprozess massiv eingedämmt und ist nur noch an der Eintiefung der Flusssohle sichtbar. Die seitlichen Rüfen (Bergbäche) auf den Schuttkegeln transportieren nebst Wasser auch Schwemmund Schuttmaterial in Richtung Rhein. Dieser Effekt wird besonders deutlich bei den Rückhaltebecken in den Oberläufen der Rüfen, und da wo diese die Verkehrsinfrastrukturen queren, sichtbar. Heute sind im Churer Rheintal keine stehenden Oberflächengewässer natürlichen Ursprungs mehr vorhanden. Die kleinen Seen in den Wäldern entlang des Rheins sind auf ehemalige Abbautätigkeiten von Kies zurückzuführen.
Schutzareale Einige der Besonderheiten der Raumentwicklung im Churer Rheintal lassen sich durch die Schutzareale erklären. Einen entscheidenden Einfluss auf die Raumentwicklung haben die Grundwasserschutzzonen. Diese bilden weitläufige Areale in der Talebene, welche je nach Schutzstärke nicht überbaut werden dürfen, kein Abbau von Ressourcen stattfinden darf, oder die landwirtschaftliche Nutzung eingeschränkt ist. Entlang der Berghänge und speziell entlang der Rüfen befinden sich mehrere Flächen in den Gefahrenschutzzonen 1 und 2. In diesen Zonen dürfen keine Bauten oder nur Bauten mit besonderen Schutzbestimmungen erstellt werden. Der Rhein stellt nur im Bereich von Zizers eine bedingte Hochwassergefahr für den direkt angrenzenden Auenwald dar. Ansonsten sind keine Gefahrenzonen entlang des Rheins ausgeschieden.
Abbau natürlicher Ressourcen Der Abbau von Lehm bei Zizers Ende des 18. Jahrhunderts bildete die erste kommerzielle Nutzung von natürlichen Ressourcen im nördlichen Churer Rheintal. Sie führte zur Gründung der Ziegelei Landquart. Später erfolgte der Abbau von Kies an mehreren Abbaustellen entlang des Rheins und bei einigen seitlichen Rüfen. Seit der Gründung des Zementwerks in Untervaz in den 1960er Jahren nahmen die jährlichen Abbaumengen von natürlichen Ressourcen markant zu. Dies ist einerseits auf den Kalksteinabbau für das Zementwerk selber, aber auch auf den steigenden Bedarf an Kies für Betonprodukte zurückzuführen. Seither hat sich bei Untervaz / Trimmis / Zizers ein relativ umfassender Industriecluster entwickelt, welcher sich durch die Konzentration von Zementwerk, Kieswerken, Betonprodukteproduzenten und seit einigen Jahren auch Recyclingwerken auszeichnet.
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Strategie Churer Rheintal Nord
Modell Grenzen Rhein W채lder Gemeindegrenzen Autobahn A13 SBB Normalspur RhB Schmalspur Verkehrsemissionen Industrieemissionen Abbauemissionen
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Aufsicht | Blick Landquart Richtung Chur
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Strategie Churer Rheintal Nord
Disperse Landschaft Die Talsohle als einen Landschaftsraum anzusprechen fällt schwer, da verschiedene physische Grenzen (Infrastrukturen, Industriegebiete, Fließgewässer, etc.), aber auch verborgene Widerstände (div. Schutzgebiete, Emissionsbelastungen etc.), den Raum prägen. Im Zusammenhang mit der hohen Transformationsdynamik kann die Typologie dieser Landschaft kaum benannt werden. Der Talboden ist mal Flusslandschaft, Infrastrukturlandschaft, Kulturlandschaft, Abbaulandschaft oder Industrielandschaft. Der Raum erscheint unübersichtlich und zerstückelt. Trotz dieser Fragmentierung finden sich im Churer Rheintal Landschaftsräume mit einer hohen Qualität bezüglich Erholungs- oder Identitätsraum, jedoch handelt es sich um einzelne Räume, welche nicht oder wenig miteinander in Beziehung stehen. Insbesondere der östlich vom Rhein liegende Bereich zeichnet sich durch eine hohe Vielfalt an räumlichen Qualitäten aus. Während die Schuttkegeln mit den Heckenlandschaften und Weinbaugebieten eine kleinteilige Struktur aufweisen, bilden die offenen und nur schwach durch Hecken und Einzelgehölze strukturierten Felder in den Ebenen sehr weitläufige Räume. Im Übergang von den Hängen zur Talebene befinden sich kleinteilige Landwirtschaftsstrukturen mit Obstbäumen und Heckenstrukturen. Entlang des Rheins bilden einzelne Auenwälder attraktive Naherholungsgebiete. Im westlichen Bereich des Talbodens bei Untervaz ist die räumliche Vielfalt deutlich geringer. Die ausgeräumte weite Agrarlandschaft erstreckt sich vom bewaldeten Rheinufer bis zum Dorf.
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Luftbild | Schwarzplan Landschaft | Impressionen
Strategie Churer Rheintal Nord
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Strategie Churer Rheintal Nord
Fragmentierung & Orientierung Räumliche Grenzen wie Verkehrsachsen, Schutzbauten, Siedlungen sowie Wald- und Heckenelemente lassen oftmals kaum Blickbeziehungen und Sichtachsen zu. Daher ist die Orientierung in den Landschaftsräumen relativ schwierig. Das Wegenetz im nördlichen Churer Rheintal ist relativ dicht und die Durchlässigkeit ist trotz der markanten Fragmentierung gut. Der Rheinweg ist zwar durchgängig vorhanden aber an einigen Stellen von den Siedlungen abgeschnitten und von geringer atmosphärischer Qualität. Dem Wegenetz fehlt jedoch eine klare Hierarchie mit Hauptachsen, was die Orientierung zusätzlich erschwert. Während die Siedlungsräume relativ gut von den Emissionen des Verkehrs geschützt sind, ist die Belastung in den Landschaftsräumen hoch. Besonders prägend ist das dauernde Rauschen der Autobahn. Punktuell treten Emissionen des Kiesund Steinabbaus auf, insbesondere die Sprengund Abbautätigkeit in den Steinbrüchen. Bei den Emissionen der Industriebetriebe wie dem Zementwerk oder der Kehrichtverbrennungsanlage handelt es sich weniger um Lärm- als vielmehr um Schadstoff- und Geruchsbelastungen. Diese bilden zusammen mit den Belastungen durch den Autoverkehr auch eine psychische Schwelle, die Landschaftsräume als qualitätsvolle Naherholungsgebiete zu betrachten.
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Fragmentierung | Wegenetz | Emissionen
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Strategie Churer Rheintal Nord
1866
1890
1967
1973
Geschichte Die Betrachtung des Wandels in den letzten 150 Jahren zeigt, dass die einzelnen Veränderungsprozesse wie Siedlungsentwicklung, Rheinkorrektion, Infrastrukturen, Schutzbauten und der Abbau von natürlichen Ressourcen nicht nur ihrer Eigenlogik folgten, sondern oftmals zusammenhängen. Während im 19. Jahrhundert die Siedlungsgebiete fast ausschliesslich auf den seitlichen Schuttkegeln zu finden waren, ermöglichte die Rheinkorrektion im 20. Jahrhundert die Entwicklung von Infrastrukturen und Siedlungen im Talboden. Diese zogen wiederum eine Verbesserung des Hochwasserschutzes entlang des Rheins mit sich. Auffallend ist der Entwicklungsschub in den 1960er Jahren. In diese Zeit fällt der Autobahnbau, die Eröffnung des Zementwerks und der damit verbundenen massiven Zunahme der Abbautätigkeit von natürlichen Ressourcen.
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Räumliche Entwicklung 1866 - 2012
Strategie Churer Rheintal Nord
1906
1924
1938
1961
1979
1991
2003
2012
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Strategie Churer Rheintal Nord
Landschaftswandel Geologie als bestimmende Grundlage Die beiden Talhänge unterscheiden sich in ihrer geologischen und topografischen Struktur. Die östliche Hochwang-Kette ist aus einem weichen penninischen Bündner Schiefer aufgebaut und erreicht Höhen bis 1900 m.ü.M. Die westliche Kette von Calanda / Pizalun mit einer Höhe bis 2700 m.ü.M. besteht aus dicken, deutlich härteren helvetischen Kalkschichten, die unter die Talsohle einfallen. Die petrografischen Verhältnisse bestimmen maßgebend die Topografie und die Geschiebeflüsse im Tal. Die weichen Gesteinsschichten im Osten sind durch die Errosionskraft der Rüfen (Wildbäche) stark zerfurcht und fallen zum Teil steil ab. Aus Sturzprozessen haben sich die mächtigen Schuttkegel gebildet, welche den Rhein in die Talmitte oder auf die Gegenseite des Tals drängen. Die Hänge der Calanda-Kette sind durch das Einfallen der Kalkschichten gleichmäßiger. Der widerstandsfähigere Kalk lies keine größeren Seitentäler entstehen. Hangterrassen Bis in die Neuzeit besiedelten und bewirtschafteten die Bewohner des nördlichen Churer Rheintals fast ausschließlich die Schuttkegel. Hier entstand der erste nennenswerte Landschaftswandel, welcher direkten Einfluss auf die Topografie hatte und bis heute erkennbar ist. Für den Anbau von Getreide wurden Ackerterrassen erstellt. Um möglichst horizontale Flächen zu erhalten, wurden mit Steinmauern eingefasste Flächen aufgeschüttet. Die Steinmauern wuchsen später zu Hecken ein, welche dem Windschutz dienten. Bis im 18. Jahrhundert wurde hauptsächlich Roggen und Gerste angebaut. Neben anderen Getreidesorten wie Weizen, Hirse oder Buchweizen wurden auch Nutzpflanzen wie Hanf und Flachs angebaut. Später kam der Anbau von Mais und Kartoffel dazu. Als später die Rheinkorrektur erfolgte und der Ackerbau aufgrund der einfacheren Bewirtschaftung mehrheitlich in den Talboden verlegt wurde, blieben die Terrassen für die Grasfeldwirtschaft bestehen und die Hecken wuchsen allmählich zu waldähnlichen Baumhecken heran. 26
Rheinkorrektion Bis ins Mittelalter hinein war die Talsohle vom Rhein und seinen Nebenflüssen beherrscht. Der Rhein brachte große Geschiebemassen mit und erodierte die untersten Schuttkegelpartien weg. Wegweisend war Mitte des 18. Jahrhunderts eine Gesamtplanung der Kantone Graubünden und St. Gallen für eine gemeinsame Korrektion des Rheins. In der Folge bauten die Bewohner des Rheintals über 50 Jahren in Gratisarbeit an der Korrektion, wodurch die sogenannten Wuhren entstanden. Später wurden diese Bauwerke noch teilweise verstärkt, jedoch hat sich der Rheinverlauf seither nicht mehr verändert und die Schutzbauwerke haben bis heute den Hochwassern standgehalten. Das neugewonnene Land im Talboden wurde je nach Bodenqualität genutzt. Durch die Aufschüttung von Schlamm wurden weite Teile der Talebene fruchtbar gemacht, in sogenannte „Löser“ aufgeteilt und den Gemeindebewohnern kostenlos zur Verfügung gestellt. Genutzt wurden diese Löser für den Gemüse- und Ackerbau, während die weniger fruchtbaren Flächen als gemeinschaftliche Weiden – sog. Allmendweiden – dienten. Verkehrsinfrastrukturen Die erste gut ausgebaute Straße entstand in den 1780er Jahren zwischen Maienfeld und Chur. Sie führte entlang der östlichen Schuttkegeln durch die Ortschaft Zizers, die sich daraufhin als Straßendorf entwickelte. Durch den Bau der ersten Bahnlinie der SBB im Churer Rheintal, die von Rheineck nach Chur führte, entstand die Haltestelle bei der Mündung der Landquart, wo sich bald eine kleine Siedlung namens „Landquart-Au“ bildete. Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Schmalspurbahn der RhB zwischen Landquart-Klosters und später zwischen Landquart-Chur gebaut. Landquart erhielt dadurch innerhalb kürzester Zeit eine hohe Bedeutung im Rheintal. Beide Bahnstrecken bedingten eine sanfte topografische Veränderung. Sie wurden auf leicht angeschütteten Dämmen gebaut um vor dem Hochwasser des Rheins geschützt zu sein und dass die Querung der Rüfen möglich war. Einen weitaus stärkeren Einfluss auf die Landschaft
hatte der Bau der Autobahn A13. Durch die Querung mit den Bahnlinien und den Rüfen waren massive Bauwerke in Form von Erddämmen und Brücken nötig. Hinzu kommen die Autobahnanschlüsse, welche ebenfalls auffallende Elemente im Raum bilden. Dem Bau wurde gemäß historischen Dokumenten des Kantonalen Bauamt Chur besondere Aufmerksamkeit bezüglich der „harmonischen Einfügung des geometrischen Linienzuges der Fahrbahn in die Landschaft“ gewidmet. Für den Bau der ersten Etappe zwischen Trimmis und Zizers in den 1950er Jahren wurde rund 180‘000 m3 Erde und Schutt zum Bau der Dämme verwendet. In der zweiten Etappe zwischen Zizers und Landquart wurden nochmals rund 150‘000 m3 Material bewegt. Später wurde die Südspur der Autobahn bei Trimmis in den Talboden, parallel zur Bahnlinie verlegt und dem alten Verlauf folgte nur noch die Nordspur. Zur Zeit wird auch die Nordspur in den Talboden verlegt und das ehemalige Trasse soll bis 2019 zu Kulturland zurückgebaut werden. Abbautätigkeit Im 19. Jahrhundert erfolgte der Abbau von Kies an mehreren Abbaustellen entlang des Rheins und bei einigen seitlichen Rüfen. Am Rhein wurde anfänglich direkt aus dem Bachbett ausgebaggert, während sich später auch der Abbau im Hinterland des Rheins mit Trocken- und Nassabbau etablierte. Dies hatte die Entstehung von Baggerseen zur Folge, welche mehrheitlich wieder zugeschüttet wurden um Aushub- und Ausbruchmaterial zu deponieren. Nur in den schmalen Auenwaldstreifen entlang des Rheins sind heute noch offene stillgelegte Baggerseen zu finden. Seit der Gründung des Zementwerks in Untervaz in den 1960er Jahren nahmen die jährlichen Abbaumengen von natürlichen Ressourcen stark zu. Der Kalksandsteinabbau hat einen massiven und irreversiblen Einfluss auf das Landschaftsbild. Die großen Steinbrüche am Fuße des Calandamassives sind prägend für das Erscheinungsbild des Tals. Übersicht Landschaftswandel | Zeitschnitte
Strategie Churer Rheintal Nord
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Strategie Churer Rheintal Nord
Gesamtstrategie In der Strategie für die Entwicklung des nördlichen Churer Rheintals wird der Wandel als Eigenheit und Idenititätsmerkmal für diesen Raum angenommen. Die Entwicklungsstrategie teilt sich in zwei Handlungsfelder auf. Zum einen werden landschaftsräumliche Defizite aus abgeschlossenen Prozessen, wie den Verkehrsinfrastrukturen und der Rheinkorrektur, mit einfachen Maßnahmen behoben oder gemildert. Zum andern wird der Fokus auf die fortlaufenden Prozesse der Materialflüsse gelegt. Durch die Modifizierung dieser Prozesse sollen zukünftig landschaftliche Qualitäten geschaffen und Synergien mit anderen Ansprüchen an den Landschaftsraum genutzt werden. Die Betrachtung der einzelnen Prozesse, welche in den letzten Jahrhunderten die Landschaft im nördlichen Churer Rheintal maßgeblich geprägt haben zeigt, dass die Prozesse der Hangterrassenbewirtschaftung, der Rheinkorrektion und der Verkehrsinfrastrukturbauten mehrheitlich abgeschlossen sind, während die Abbau- und Deponietätigkeit in den nächsten Jahrzehnten anhalten wird. Beim Hochwasserschutz kann davon ausgegangen werden, dass auch dieser in den nächsten Jahrzehnten den Raum beeinflussen wird, jedoch sind das Ausmaß und die räumliche Auswirkungen für das nördliche Churer Rheintal schwierig abzuschätzen. Grundsätzlich gibt es zur Zeit in diesem Abschnitt des Alpenrheintals keine dringende Hochwasserproblematik, jedoch ist klar, dass der Hochwasserschutz im Unterlauf des Alpenrheins nördlich von Landquart die Landschaft verändern wird. Inwieweit die Energiegewinnung das nördliche Churer Rheintal verändern wird, ist zum heutigen Zeitpunkt kaum abschätzbar. Laufende Prozesse nutzen Die Abbautätigkeit von den natürlichen Ressourcen wie Kies und Kalksandstein und die Deponierung von Material haben eine substanzielle Veränderung der Landschaft zur Folge. Heute folgt dieser Prozess der Logik des Betriebs von Ab- und Einbau. Aspekte der Landschaft, deren Qualität und deren Nutzung, werden nicht beachtet. Die Strategie zeigt am Beispiel Untervaz auf, wie über die Steuerung des Materialflusses neue Land28
schaftsqualitäten entstehen und der Landschaftsraum zusätzlich eine Nutzung für den Hochwasserschutz ermöglicht. Defizite aus abgeschlossenen Prozessen mindern Der Bau der Verkehrsinfrastrukturen und die Rheinkorrektion haben die massive Fragmentierung des Raumes - einhergehend mit einer erschwerten Orientierung - und der Belastung der Räume durch Emissionen verursacht. Da es sich um zwei mehrheitlich abgeschlossene Prozesse handelt, werden mit einfachen Reparaturmassnahmen, wie der Anpassung der Wegeführung und der Anpassung von Bewirtschaftungsformen der Wälder, diese Defizite gemindert.
Gesamtstrategie
Strategie Churer Rheintal Nord
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Strategie Churer Rheintal Nord
Defizite aus abgeschlossenen Prozessen mindern
Rheinweg Zizers | Rheinweg Landquart | Dorfeingang Zizers
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Strategie Churer Rheintal Nord
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Strategie Churer Rheintal Nord
Eine neue Hauptachse Die Ergänzung des Wegesystems durch eine ordnende Hauptachse im Talboden vereinfacht die Orientierung in der fragmentierten Landschaft. Entlang dieser Achse werden der Hauptwanderweg, der Radweg und die Inlineskating-Strecke gebündelt. Der Weg folgt weder dem Rhein noch einem anderen Längselement im Tal sondern folgt den wichtigsten Anknüpfungspunkten zu den Ortschaften. Dieser durchgängige Hauptweg unterstreicht zum einen die Bedeutung der Zusammengehörigkeit der Ortschaften mit Chur, zum anderen stellt sie aber auch die Vielfalt als Qualität des Churer Rheintals dar. Es wird bewusst auf die Schaffung eines durchgehenden Charakters des Weges verzichtet. Der Weg ist somit kein durchlaufendes isoliertes Band sondern wird mit seiner atmosphärischen Abfolge immer auch einen Teil des jeweiligen Ortes. Bei den Anknüpfungspunkten, wo die Wege aus den Dörfern auf den Hauptweg treffen, findet jeweils ein Atmosphärenwechsel statt. Zwischen den wichtigsten Anknüpfungspunkten herrscht eine einheitliche, ortstypische Stimmung. Diese atmosphärische Orientierung ersetzt die Orientierung über Sichtbezüge, welche durch die Topografie und der starken Fragmentierung des Raumes nicht möglich ist. Zudem wird mit der Stärkung der atmosphärischen Wirkung der Landschaft und dem Ansprechen verschiedener Sinne das Lärmempfinden gemindert.
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Wegenetz | Räumliche Abfolge | Massnahmen
Strategie Churer Rheintal Nord
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Strategie Churer Rheintal Nord
Fรถhrenwald
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Kulturlandschaft
Industrie Auenwald Rheinterrasse
Strategie Churer Rheintal Nord
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Strategie Churer Rheintal Nord
Freiraumachsen Trimmis Trimmis ist geprägt durch eine uneinheitliche und nicht zusammenhängende Siedlungsfläche. Das Wachstum von Trimmis verlief relativ ungeordnet, wodurch sich weder ein klares Zentrum noch strukturierende Achsen entlang von Straßen entwickelt haben. Bei Trimmis ist die Trennung zwischen dem Dorf und dem Talboden besonders deutlich. Durch den Rückbau der Nordspur der A13 kann in Trimmis in den nächsten Jahren von einem verstärkten Siedlungswachstum im unteren Bereich des Dorfes ausgegangen werden. Bereits heute ist diese Tendenz sichtbar. Es handelt sich um eine deutlich dichtere Bauweise als die vorhandenen Einfamilienhausstrukturen, was zu einem neuen Bedarf an öffentlichen Freiräumen führt. Die neuen Freiraumachsen entlang der Rüfen geben der Siedlung eine ablesbare Struktur und binden das Dorf besser an den Talboden an. Die Achsen werden als Wegeverbindungen mit verschieden nutzbaren Orten ausgebildet. Diese Orte zeichnen sich durch spezifische Freiraumnutzungen, wie zum Beispiel Aufenthaltsbereiche oder Spielplätze aus. Das Dorf erhält neue Freiraumqualitäten innerhalb der Siedlung und die Freiraumachsen funktionieren als Vermittler zwischen den alten Strukturen und den neu bebauten Quartieren.
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1900 | 1990 1950 | 2015 | Konzept Freiraumachsen Trimmis
Strategie Churer Rheintal Nord
1500m
1500m
0
1km
5km
Analyse Landschaftswandel 1:15'000
1500m 0 100m
500m
1500m
Analyse R채umliche Qualit채ten 1:15'000 0
100m
500m
1500m
Gesamtstrategie 1:15'000 0
100m
500m
1500m
500m Strategie Trimmis 1:5000 0
50m
100m
500m
15
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Strategie Untervaz 1:5000 | Zustand 2015 0 50m 500m
100m
500m
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Strategie Untervaz 1:5000 | Zustand 2023 0
50m
100m
Strategie Untervaz 1:5000 | Zustand 2035
500m
Strategie Churer Rheintal Nord
Modell Gesamtstrategie Hauptachse Ankn체pfungspunkte Siedlung Atmosph채rische Orientierung Freiraumachsen Trimmis Abbaulandschaft Untervaz
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Landquart Trimmis | Gesamtmodell
Strategie Churer Rheintal Nord
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Strategie Churer Rheintal Nord
Laufende Prozesse zur Schaffung von Landschaftsqualit채ten nutzen
Baggersee Trimmis | Abbaulandschaft Untervaz
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Strategie Churer Rheintal Nord
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Strategie Churer Rheintal Nord
Abbau natürlicher Ressourcen Seit den 1960er Jahren werden im nördlichen Churer Rheintal erhebliche Mengen an natürlichen Ressourcen abgebaut. Der grösste Anteil bildet der Abbau von Kalksandstein mit rund 450‘000 m3 im Jahr. Hier handelt es sich um einen einseitigen Abfluss von Material aus der Landschaft, da die Steinbrüche nicht wieder aufgeschüttet oder verfüllt werden. Anders verhält es sich beim Kiesabbau. Um die Baggerseen wieder aufzufüllen und die Flächen als danach wieder als Kulturland bewirtschaftbar zu machen, wird unverschmutztes Aushubmaterial aus der Region verwendet. Die zur Verfügung stehende Menge an geeignetem Deponiematerial unterschreitet die Kiesabbaumenge deutlich. Dies führt zu einer Verzögerung bei der Rekultivierung der Abbauareale. Die verfügbare Menge an Deponiematerial unterliegt zudem einer grossen Volatilität. Grossprojekte wie der Bau des Vereinatunnels in den 90er Jahren oder zukünftige Infrastrukturprojekte (Rückbau Nordspur A13, Wasserkraftwerk „Chlus“) können innerhalb kurzer Zeit zu einem massiv erhöhten Deponiebedarf führen.
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Übersicht Materialfluss Ressourcen
Strategie Churer Rheintal Nord
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Strategie Churer Rheintal Nord
Abbaulandschaft Untervaz Sichtbarer Landschaftsstrukturwandel 1960 Kein Landschaftsraum im Churer Rheintal hat sich in den letzten 50 Jahren derart grundlegend verändert wie der Talboden bei Untervaz. Es handelt sich westlich des Rheins um die einzige größere Ebene des nördlichen Churer Rheintals. In Untervaz gab es historisch bedingt keine größeren Landwirtschaftsbetriebe, da aufgrund der Hochwassergefahr kaum bewirtschaftbares Land vorhanden war. Erst durch die Rheinkorrektion konnte Land gewonnen werden, das in kleinen Parzellen (sog. Löser) an die Bewohner verteilt und als Äcker oder Gärten genutzt wurde. Die weniger fruchtbaren Bereiche wurden als Allmenden gemeinschaftlich beweidet oder als Streuwiesen bewirtschaftet. Durch diese Vielzahl von Eigentümern und späteren Erbteilungen entstand im 19. Jahrhundert eine äußerst kleinstrukturierte Landschaft, welche in dieser Kleinteiligkeit eine Ausnahme im Churer Rheintal darstellte. Schon Ende des 18. Jahrhunderts wurde im nördlichen Bereich der Ebene Kies abgebaut. Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Abbau auf die gesamte Ebene erweitert. Der damit verbundene Anspruch an große Flächen mit wenigen Eigentümern, hat in Kombination mit der zunehmenden Mechanisierung der Landwirtschaft, in den 60er Jahren zu einer radikalen Melioration (Güterzusammenlegung) geführt. Die Struktur der Ebene wurde komplett überformt und mit einem strahlenförmigen Wegenetz ersetzt. Dieser homogene Landschaftsraum bildet heute den einzigen ebenen Naherholungsraum für Untervaz. Im Gegensatz zum östlich des Rheins liegenden Talbereich hat die Ebene bei Untervaz keine landschaftsräumliche Vielfalt und kann kein heterogenes Angebot an Erholungsmöglichkeiten bieten. Der Übergang zum Rhein bildet der durchgehende Auenwaldstreifen, welcher eine räumliche Zäsur zwischen Rhein und der Ebene darstellt.
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Nicht sichtbarer Substanzwandel seit 1960 Durch den Abbau von Kies in der Ebene findet eine Veränderung der Substanz der Landschaft statt, welche nach Abschluss der Wiederauffüllung nicht sichtbar ist. Die Gruben und Seen, welche durch die Kiesbaggerung entstehen, werden bis
zu ihrer ursprünglichen Höhe mit sauberem Aushubmaterial aufgeschüttet. So ist heute nicht mehr erkennbar, dass bereits ein beträchtlicher Teil der Ebene einen künstlich aufgebauten Boden aufweist.
Untervaz 2015 | Untervaz 1960
Strategie Churer Rheintal Nord
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Strategie Churer Rheintal Nord
Kiesabbau Da der Kiesabbau rascher voranschreitet als der Materialeinbau, ist eine immer größere Fläche des Landwirtschaftsgebietes mit Abbauflächen belegt. Diese Problematik wird sich verschärfen, da für die nächsten Jahrzehnte mit steigendem Kiesabbauvolumen und gleich bliebendem Deponiebedarf für unverschmutztes Aushubmaterial ausgegangen werden muss. Das jährliche Abbauvolumen wird in den nächsten Jahrzehnten rund doppelt so hoch sein wie das Deponievolumen. Da die gesamte Ebene als Fruchfolgefläche deklariert ist und deshalb eine möglichst rasche Rekultivierung stattfinden soll, stellt diese Verzögerung eine Problematik aus Sicht der Verfügbarkeit von Landwirtschaftsflächen dar.
Schemaschnitt Kiesabbau Untervaz
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Schemaschnitt Bodenschichten Untervaz
Schemaschnitt Deponierung Untervaz
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Prozessablauf Kiesabbau / Deponierung / Rekultivierung
Zeitdiagramm aktueller Prozess Untervaz
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Neue Einbauhöhen Da generell zuwenig geeignetes Deponiematerial vorhanden ist und gleichzeitig eine Volatilität in der Menge besteht, wird zukünftig bei der Wiederauffüllung die Einbauhöhe variabler gestaltet. Um eine möglichst rasche Verfügbarkeit von Landwirtschaftsflächen zu erzielen, wird auf eine Auffüllung bis zur ehemaligen Geländehöhe verzichtet. Die minimale Einbauhöhe erfolgt immer bis mindestens über den durchschnittlichen Grundwasserspiegel. Somit ist eine Bewirtschaftung der Flächen weiterhin möglich. Die Aufschüttung wird bewusst unterschiedlich hoch gewählt und richtet sich nach der aktuellen Verfügbarkeit von geeignetem Deponiematerial. Die Stufung der Schütthöhen richtet sich nach dem heutigen Muster der Landschaft und ordnet sich dieser Struktur unter. Potential Landschaftsräumliche Vielfalt Diese sanfte Veränderung der Landschaft führt zu einer neuen Heterogenität, da über die Art des Deponiematerials, der Überdeckung vom Grundwasserspiegel und der Bewirtschaftungsform unterschiedliche Vegetation entstehen kann. Während die höher liegenden Felder weiterhin intensiv als Ackerbauflächen genutzt werden, entwickeln sich vom Grundwasser beeinflusste Flächen zu Riedund Schilfwiesen oder zu Jungwaldflächen. Diese Felder sind nur noch extensiv bewirtschaftbar, dienen der Landwirtschaft aber als Ökologische Ausgleichsflächen und können für die Bevölkerung als Naherholungsräume zugänglich gemacht werden. Potential Flutpolder Die veränderte Einbauhöhe führt nicht nur zur rascheren Bereitstellung von Landwirtschaftsland und einer räumlichen Vielfalt der Landschaft bei Untervaz, es entsteht damit auch ein potentielles Wasserrückhaltebecken, welches bei Extremereignissen geflutet werden kann. Das nördliche Churer Rheintal ist zwar vom Hochwasser relativ gut geschützt, doch könnte mit dieser Maßnahme die Hochwasserproblematik im Unterlauf des Rheins gemindert werden.
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Schemaschnitt neue Einbauhöhen
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Schemaschnitt Landschaftsr채umliche Vielfalt
Schemaschnitt Flutpolder
Zeitdiagramm modifizierter Prozess Untervaz
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Neues räumliches Einbauregime Der Nassabbau mit Schwimmbaggern und Förderbändern ist ein relativ unflexibler Prozess, welcher nur linear verändert werden kann, da ansonsten betriebliche Nachteile durch einen erhöhten Umbauaufwand entstehen würden. Hingegen ist der Einbau von Aushubmaterial durchaus flexibel, da die Anlieferung per LKW und der Einbau mit Baggern erfolgt. Und da die Einbauflächen durch das vorhandene strahlenförmige Wegenetz gut erschlossen sind, gibt es betrieblich keinen Grund weshalb der Einbau räumlich dem Abbau folgen muss. Die bereits heute bestehende zeitliche Verzögerung zwischen Ab- und Einbau wird als Chance zur räumlichen Veränderung des Einbauprozesses genutzt. Der Einbau folgt nicht mehr direkt dem Abbau, sondern es werden Flächen gezielt für einige Zeit aus dem Prozess ausgeschieden. Somit können Teile der Baggerseen temporär als Naherholungsgebiete genutzt werden. Diese stehen der Bevölkerung während rund 15 bis 25 Jahren als aneigenbare Landschaftsräume zur Verfügung, bevor sie ebenfalls zugeschüttet werden.
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Abbau aktuell | Einbau aktuell | Abbau modifiziert | Einbau modifiziert
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Landschaftswandel erschliessen Durch die Veränderung des Einbauprozesses wird die Künstlichkeit der Landschaft erkennbar. Die Landschaft bekommt durch die vom Menschen verursachte Transformation eine neue Werthaltigkeit. Der Wandel ist keine negative Begleiterscheinung ökonomischer Kräfte und die Landschaft muss nicht vor diesen geschützt werden, sondern generiert erst durch die Veränderung neue Qualitäten. Der Transformationsprozess folgt nicht der Logik des 0 1km einem fixen Zielzustand sondern 5km Materialflusses. Der Landschaftsraum bei Untervaz ist somit in der Lage seine eigene Geschichte zu erzählen und die Künstlichkeit wird ablesbar. Die neue Topografie führt nicht nur zu einer neuen Vielfalt an Landschaftsräumen, sie ermöglicht auch Analyse Landschaftswandel 1:15'000 einen neuen Zugang zu dieser Felderlandschaft. Die unterschiedliche Höhe der Felder führt zu 0 100m 500m neuen Horizonten und neuen Blickbeziehungen. 1500m Perspektiven auf und über die Felder machen die äusserst spannende Textur der intensiv wie auch extensiv genutzten Felder sichtbar. Die extensiv genutzten Felder ermöglichen AnAnalyse Räumliche Qualitäten 1:15'000 eignungsmöglichkeiten für Erholungssuchende. Während dies bei intensiv genutztem Landwirt0 100m 500m 1500m schaftsland nicht möglich ist. Die Landschaft wird in einem doppelten Sinne erschlossen. Einerseits sind neue physische Zugänge zu den Räumen 0 1km 5km möglich, anderseits bekommt sie auf einer mentalen Ebene eine neue Werthaltigkeit als ErholungsGesamtstrategie 1:15'000 und als Schutzlandschaft. Analyse Landschaftswandel 1:15'000 0
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Strategie Untervaz 1:5000 | Zustand 2023 0
Strategie Untervaz 1:5000 | Zustand 2023
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Strategie Untervaz 1:5000 | Zustand 2035
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Schnitt Landschaft im Abbauprozess
Schnitt Landschaft nach Rekultivierung
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Hochwasserschutz / Flutpolder Wenn die ehemalige Abbaulandschaft bei Untervaz als Flutpolder genutzt wird, erzielt dieser seine Wirkung vor allem im Unterlauf des Rheins. Entlang dem Alpenrhein wird ab Landquart bis zum Bodensee nach geeigneten Notentlastungsflächen gesucht. Es handelt sich hierbei um mehrheitlich landwirtschaftlich genutztes Land, welches bei einem Extremereignis zum Schutz von Siedlungsflächen geflutet wird. Die Besonderheit des Flutpolders von Untervaz liegt in seinem hohen Rückhaltevolumen im Verhältnis zu seiner Grundfläche. Während in anderen Notentlastungsflächen aufgrund der Topografie nur geringe Wasserhöhen möglich sind, ist in Untervaz eine Wasserhöhe von bis zu 6 Metern möglich. Obwohl der Flutpolder in Untervaz das Hochwasserproblem des Alpenrheintals nur geringfügig - im einstelligen Prozentbereich - mindern kann, ermöglicht er doch eine deutliche Verringerung der Schädigung von Kulturland bei einem Extremereignis. Die Einleitung des Hochwassers erfolgt über den leicht abgesenkten Damm, welcher bei einem Extremereignis (>HQ 300) überströmt wird und das Becken füllt. Die abgesenkten Felder können somit normal landwirtschaftlich und als Erholungsgebiete genutzt werden. Das Ausleitbauwerk ist ein künstliches Bauwerk, welches die Entleerung des Polders nach einem Hochwasserereignis ermöglicht. Dieses liegt auf der Sohle des am niedrigsten liegenden Beckens im nördlichen Bereich der Abbaulandschaft. Bei der Terrainmodulierung muss darauf geachtet werden, dass sämtliche Flächen zu diesem Ausleitbauwerk entwässert werden.
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Schnitte | Situation | Notentlasträume Alpenrheintal
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Quellenverzeichnis IRKA Internationale Regierungskomission Alpenrhein (2005): Entwicklungskonzept Alpenrhein. Kurzbericht. Kanton Graubünden, Amt für Raumentwicklung (2000): Kantonaler Richtplan 2000. Chur. Kanton Graubünden, Regionalverband Nordbünden, Regionalverband Herrschaft / Fünf Dörfer (2013): Regionaler Richtplan 2013. Chur: STW AG. Kanton Graubünden, Amt für Raumentwicklung, Regionalverband Nordbünden (2012): Agglomerationsprogramm Chur, 2. Generation. Synthesebericht 2012. Chur. Kanton Graubünden, Regionalverband Nordbünden (2009): Projekt Wachstumspotentiale Bündner Rheintal. Schlussbericht. Chur: STW AG. Knecht, E. (1958): Verkehr und Ausbau der Deutschen Strasse von der Kantonsgrenze Bad Ragaz bis Chur. In: Terra Grischuna. Februar 1958. S. 23-26. Meng, Johann Ulrich (1972): Der Rhein im Wandel der Zeit. In: Bündner Jahrbuch 1972. Seite 125-133. Meng, Johann Ulrich (1950): Die Trimmiser Gemeindelöser. In: Bündnerisches Monatsblatt, Heft 5 1950. S. 152-157. Moosberger, Heinrich (1891): Die Bündnerische Allmende. Chur 1891. Nigg, Werner (1965): Landschaftliche Wandlungen im Churer Rheintal. In: Geographie Helvetica, Nr. 3. S. 123-132. Schweizer, Bernhard (2006): Das modernisierte Kieswerk Untervaz. In: Baublatt Jg. 117 (2006). Nr. 21. S. 12-16.
Bildverzeichnis swisstopo, Bundesamt für Landestopografie 2015: Luftbild S. 20, Historische Karten S. 36, Luftbild S. 36, Luftbild S. 45 Amtliche Vermessung (AV), Kanton Graubünden, 16.04.2015: Grundlage für sämtliche Karten und Pläne mit Katasterdaten ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv/Siftung Luftbild Schweiz / Fotograf: Swissair Photo AG / LBS_P1611911 / CC BY-SA 4.0: Historisches Luftbild S. 45 Alle weiteren Abbildungen: Jan Stadelmann
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Abbaulandschaft Untervaz
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