Spiegel der Forschung 01 2013

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ISSN 0176-3008 Nr. 1/2013 · 30. Jahrgang

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Schwerpunkt: „Deutschland und Polen – Jahrhunderte eines kulturellen Dialogs“ • Dietrichs von der Glezze pikante Erzählung „Der Borte“ • Jenseits der Nationalgeschichte – Deutsch-polnische Verflechtungen in Mitteleuropa • Psalterparaphrasen der Reformationszeit in Polen • Schlesien als Wiege der deutschen Literatur? • Texte aus und zu dem Getto Lodz/Litzmannstadt • „Die Deutschen sind Menschen“ • Von „Bikinisten“, „Big Bit“ und polnischem Punk • Erster Fall von Alzheimer-Krankheit molekular geklärt • Marine amöboide Algen aus dem Lebensraum Biofilm


Dr. Kirrily de Polnay behandelt den dreijährigen Yaseen im Flüchtlingscamp Jamam, Südsudan. © Robin Meldrum/msf

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Nr. 1 – Mai 2013 · 30. Jahrgang

Schwerpunkt:

„Deutschland und Polen – Jahrhunderte eines kulturellen Dialogs“ 4 Einleitung

Deutschsprachige Literatur und Kultur im östlichen Europa • Deutsch-­ polnischer Doppelabschluss mit Unterstützung des DAAD Die Universitäten Gießen und Lodz, Polen, sind bereits seit 35 Jahren durch eine äußerst lebendige Partnerschaft, die bereits zu Zeiten des „Kalten Kriegs“ geschlossen wurde, miteinander verbunden. Seit dem Wintersemester 2012/13 gibt es jetzt den Master-­ Studiengang Deutschsprachige Literatur und Kultur im östlichen Europa als binationalen Studiengang mit Doppelabschluss der Universitäten Gießen und Lodz, gefördert durch den Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD). Die erste Doppelurkunde ist bereits ausgestellt. Im Rahmen dieses Studiengangs fand im Wintersemester eine Ringvorlesung über „Deutschland und Polen – Jahrhunderte eines kulturellen Dialogs“ statt, die hier in Auszügen dokumentiert wird. 6 Cora Dietl

Dietrichs von der Glezze pikante Erzählung „Der Borte“ • Deutsche Literatur in Schlesien im 13. Jahrhundert Eine deutschsprachige Literatur aus Polen ist nicht nur ein Phänomen der Moderne, ebenso wenig wie die Thematisierung Polens in der deutschsprachigen Literatur oder die Ausein­ andersetzung mit der deutschsprachigen Literatur und Kultur in Polen. Einen Brennpunkt der deutsch-polnischen Kulturbeziehungen bildet Schlesien. Dass es dort großzügige Förderer einer deutschsprachigen Kultur gab ist bereits ab dem 13. Jahrhundert bezeugt.

Spiegel der Forschung Wissenschaftsmagazin der Justus-Liebig-Universität Gießen Herausgeber: Der Präsident der Justus-Liebig-Universität Gießen Ludwigstraße 23, 35390 Gießen www.uni-giessen.de Redaktion: Christel Lauterbach Telefon: 0641 99-12040 Fax: 0641 99-12049 christel.lauterbach@admin.unigiessen.de www.uni-giessen.de/ spiegel-der-forschung

Design und Layout: Polkowski Mediengestaltung Erlengasse 3, 35390 Gießen Telefon: 0641 9433784 mail@kgwp.de Anzeigenverwaltung: Verlag Knoblauch Am Noor 29, 24960 Glücksburg Telefon: 04631 8495 Fax: 04631 8068 verlag-knoblauch@t-online.de Druck: Druckkollektiv GmbH www.druckkollektiv.de Gedruckt auf Recycling-Papier Auflage: 6.500 Exemplare

Die Justus-Liebig-Universität Gießen ist bemüht, stets die Urheberrechte zu beachten. Sollten dennoch berechtigte und noch nicht abgegoltene Ansprüche aus Urheber- oder Persönlichkeitsrechten an den Abbildungen im vorliegenden Heft bestehen, werden die Rechteinhaber freundlichst gebeten, sich mit der Redaktion in Verbindung zu setzen.

Titelbild: Ausschnitt aus Herzog H ­ einrich von Breslau, Codex Manesse, UB Heidelberg, cpg 848, fol. 11v (­ siehe Artikel von Cora Dietl: ­„ Dietrichs von der Glezze pikante Erzählung Der Borte“, ­Seite 6ff.) Quelle: http://digi.ub.uni-heidelberg. de/diglit/cpg848/0018?sid=dff7d126 9418b4553a182956a2d3cf6a

Die Beiträge geben die Meinung der Autorinnen und Autoren wieder. Der Nachdruck ist nach Absprache mit der Redaktion und den Autoren möglich.

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18 Hans-Jürgen Bömelburg

Jenseits der Nationalgeschichte • Deutsch-polnische Verflechtungen in Mitteleuropa Die Beziehungs-, Transfer- und Verflechtungsgeschichte in Mitteleuropa reicht mehr als 1.000 Jahre zurück und spielt in einem eineinhalb Millionen km² umfassenden Raum zwischen Rhein und Dnjepr, zwischen Riga, Czernowitz und Basel. Dabei beanspruchten „deutsche“ und „polnische“ Titularverbände und Nationen teils identische Räume und Zentren. 28 Thomas Daiber

Interpretation statt Übersetzung • Psalterparaphrasen der Reformationszeit in Polen Was bedeutet es im 16. Jahrhundert in Polen, bei Bibelübersetzungen die Sprache zu wechseln, also die biblische „Ursprache“ in die Volkssprache zu übertragen? Und warum soll dieser Sprachwechsel nicht einfach eine „Übersetzung“, sondern eine „Paraphrase“ sein? Und weshalb wird der Vorgang des Sprachwechsels bevorzugt und häufig bei den Psalmen angewendet? Mit diesen Fragen befasst sich der Autor dieses Beitrags. 38 Kai Bremer

Schlesien als Wiege der deutschen Literatur? • Vom Literaturreformer Opitz und den „Schlesischen Dichterschulen“ Die Germanistik hat bereits seit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert Schlesien immer besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Denn hier hat die deutsche Lyrik zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) ihre bis heute grundsätzlich geltende Form erhalten. Doch ob diese Formgebung tatsächlich dieser Region geschuldet ist oder sich vielleicht dort eher zufällig ereignete, das wird selten erörtert. 46

Markus Roth

Texte aus und zu dem Getto Lodz/Litzmannstadt • Ihre Rezeption vorwiegend in Deutschland und Polen Der Film „Der Pianist“, Janusz Korczak, Marcel Reich-Ranicki, der Aufstand im Warschauer Getto, der vor 70 Jahren blutig niedergeschlagen wurde, vielleicht auch noch der Kniefall von Willy Brandt in Warschau – das sind wohl die Personen und Ereignisse, die vielen Menschen zum Thema Getto vor allem einfallen. Sie alle beziehen sich auf das Warschauer Getto. Weitaus weniger ist weithin über die übrigen Gettos bekannt. Das galt lange Zeit auch für das Getto Lodz/Litzmannstadt – trotz seiner besonderen Geschichte und vielfältigen dokumentarischen Hinterlassenschaft. Die Arbeitsstelle Holocaustliteratur an der Universität Gießen hat in enger Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen aus Lodz vor einigen Jahren die gesamt Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt als Print-Version herausgegeben. Inzwischen gibt es auch eine digitale und eine Hörfunk-Version der letzten zwölf Monate vom 1. August 1943 bis zum 30. Juli 1944, bevor das Getto schließlich aufgelöst und die letzten Bewohner deportiert wurden.

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56 Reinhard Ibler

„Die Deutschen sind Menschen“ • Leon Kruczkowski und sein Drama „­Niemcy“ zwischen Schematismus und Modernität Mit den besonders auch für Polen so fatalen deutschen Verbrechen des Holocaust und des Zweiten Weltkriegs war das auch vorher schon schwierige Verhältnis zwischen den beiden Völkern an einem Tiefpunkt angelangt. In der polnischen Literatur jener Jahre herrscht ein fast durchweg negatives Bild von den Deutschen vor. Zu den wenigen Ausnahmen zählt Leon Kruczkowskis Drama Niemcy, das bei der Frage nach Schuld und Verantwortung der Deutschen eine differenziertere Betrachtungsweise einfordert. 64

Markus Krzoska

Von „Bikinisten“, „Big Bit“ und polnischem Punk • Popkultur in Polen zwischen West und Ost im Kalten Krieg Die Entwicklung der polnischen Popkultur im Staatssozialismus muss im Kontext der Situation der gesamten westlichen Welt gesehen werden. Die kommunistische Partei hatte im Grunde nur wenig Einfluss hierauf und legte es seit den frühen 1960er Jahren auch gar nicht mehr darauf an, massiv verbietend einzugreifen. Dennoch ist es überraschend, wie klar man den Einfluss westlicher Trends mit nur geringer zeitlicher Verzögerung in Polen beobachten kann.

Medizin 72 Ulrich Müller, Pia Winter und Manuel B. Graeber

Erster Fall von Alzheimer-Krankheit molekular geklärt • Entdeckung einer ­Mutation im Gen PSEN1 bei Auguste Deter Vor über 100 Jahren hat Alois Alzheimer zum ersten Mal die später nach ihm benannte Krankheit beschrieben. Wissenschaftlern des Instituts für Humangenetik der Universität Gießen ist es nun in Zusammenarbeit mit einem Kollegen des Hirnforschungsinstituts der Universität Sidney, Australien, gelungen, den Fall der Auguste Deter auch molekular aufzuklären. Die Ergebnisse ihrer Forschungsarbeit wurden Ende 2012 in „Lancet Neurology“ veröffentlicht.

Biologie 78 Reinhard Schnetter

Selbstversorger und trotzdem Räuber • Marine amöboide Algen aus dem ­Lebensraum Biofilm Als Biofilme bezeichnet man oft schleimige Auflagen auf Steinen im Wasser mit Bakterien und mikroskopisch kleinen Tieren und Pflanzen. Sie treten im Süßwasser und im Meer auf. Unter dem Mikroskop erweisen sie sich nicht selten als sehr artenreich. Biofilme können von größeren Tieren, wie Schnecken, manchen Fischen und Seeigeln, abgeweidet werden. In den Biofilmen können amöboide Algen leben, von denen einige neu entdeckte hier vorgestellt werden.

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Deutschsprachige Literatur und Kultur im östlichen Europa Deutsch-polnischer Doppelabschluss mit Unterstützung des DAAD

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Deutschsprachige Literatur und Kultur im östlichen Europa

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eit dem Wintersemester 2012/13 besteht der Gießener MasterStudiengang Deutschsprachige Literatur und Kultur im östlichen Europa als binationaler Studiengang mit Doppelabschluss der Universitäten Gießen und Lodz, Polen. Die erste Doppelurkunde ist bereits ausgestellt: für die polnische Absolventin Eva Psuty. Darüber freut sich insbesondere Cora Dietl, Europa-Beauftragte des Gießener Instituts für Germanistik und Professorin für deutsche Literaturgeschichte, die ab September 2012 eine Förderung des Studiengangs im Rahmen des Doppelabschlussprogramms des DAAD erlangen konnte. Initiiert worden ist der Studiengang von Sascha Feuchert, Leiter der Arbeitsstelle Holocaustliteratur an der Justus-Liebig-Universität Gießen und Honorarprofessor für Germanistik der Eastern Michigan University, USA. Aufgrund der seit 35 Jahren bestens bewährten Partnerschaftsbeziehungen zwischen den Universitäten Gießen und Lodz sowie der engen Zusammenarbeit zwischen der Gießener Germanistik, Osteuropageschichte und Slavistik wurde ein hoch attraktives Studienprogramm entwickelt. Es richtet sich an Absolventinnen und Absolventen eines geisteswissenschaftlichen BAStudiums, die zumindest zwei Module

Collage für das Poster des Studiengangs „Deutschsprachige Literatur und Kultur im östlichen Europa“, Entwurf von Karina Fenner.

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Germanistik (Literatur) studiert haben und die ein besonderes Interesse an den kulturellen Beziehungen zwischen dem deutschsprachigen Raum und Mittel- und Osteuropa mitbringen, wie sie in der Literatur reflektiert werden. Die deutschen Studierenden erwerben in diesem Masterstudiengang nicht nur Sprachkenntnisse des Polnischen und Ostjiddischen, sondern sie werden in die vom Mittelalter bis in die Gegenwart reichende Vielfalt literarischer und kultureller Kontakte mit unseren östlichen Nachbarn eingeführt. Polen bildet dabei einen Schwerpunkt: Dort ist auch ein Auslandssemester vorgesehen, das nach Wunsch auf zwei Semester ausgeweitet werden kann; dort sammeln die Studierenden als Praktikanten in verschiedenen kulturellen Institutionen Erfahrung; von dort kommen auch Studierende nach Gießen, um mit den Gießener(inne)n des Studiengangs gemeinsame Lehrveranstaltungen zu besuchen. Polen bleibt aber in diesem Studiengang nicht der einzige Vertreter des östlichen Europas; selbstverständlich können z.B. auch die wolgadeutsche, die siebenbürgisch-sächsische oder die böhmisch-deutsche Literatur behandelt werden. Ziel ist es, die Studierenden möglichst breit auf Tätigkeiten in der internationalen Kulturpflege und -politik, in interkulturellen Beziehungen und im internationalen Bildungswesen vorzubereiten. Je nach Interesse können sie ihrem Studium ein eigenes Profil geben, nicht nur durch die Wahl des Praktikums und der Lehrveranstaltungen, sondern vor allem auch durch

die Wahl des Nebenfachs: Polonistik oder Osteuropageschichte. Um zu zeigen, wie nah uns der östliche Nachbar doch ist und wie vielfältig die kulturellen und historischen Beziehungen zu Polen in den letzten tausend Jahren waren, haben Cora Dietl und Hans-Jürgen Bömelburg, Professor für Osteuropageschichte, im vergangenen Wintersemester eine öffentliche und zugleich in verschiedenen Modulen der Germanistik und Osteuropageschichte verankerte Ringvorlesung zum Thema Deutschland und Polen – Jahrhunderte eines kulturellen Dialogs veranstaltet. Darin kamen nicht nur Vertreter aller drei Fächer, die in Gießen an diesem Studiengang beteiligt sind, zu Wort, sondern auch zahlreiche Gäste aus Polen und aus anderen deutschen Universitäten. An Vorschlägen, welche Vorträge angeboten und welche Gäste eingeladen werden könnten, mangelte es nicht. Das Programm war rasch mit einem bunten Strauß von Themen gefüllt. Auf eine chronologische Reihung der Themen wurde ebenso verzichtet wie auf eine scharfe Trennung der Fächer; vielmehr sollte der Vielfalt gerade dadurch Ausdruck verliehen werden, dass immer wieder andere Aspekte der deutsch-polnischen Kulturgeschichte beleuchtet wurden. Häufig taten sich dabei unerwartete Querverbindungen zwischen den Problematiken verschiedener Epochen, verschiedener Sprachen und Künste auf. Ausgewählte Beiträge dieser Ringvorlesung von Mitgliedern der Universität Gießen werden in diesem Schwerpunkt in gekürzter Form dokumentiert. •

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Dietrichs von der Glezze pikante Erzählung Der Borte Deutsche Literatur in Schlesien im 13. Jahrhundert Von Cora Dietl

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Dietrichs von der Glezze pikante Erzählung Der Borte

Eine deutschsprachige Literatur aus Polen ist keineswegs nur ein Phänomen der Moderne, ebenso wenig wie die Thematisierung Polens in der deutschsprachigen Literatur oder die Auseinander­ setzung mit der deutschsprachigen Literatur und Kultur in Polen. Einen Brennpunkt der deutsch-polnischen Kulturbeziehungen bildet Schlesien. Dass es dort großzügige Förderer einer deutschsprachigen Kultur gab ist bereits ab dem 13. Jahrhundert bezeugt.

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us einem Leich, einem Prunkund Lobgedicht, des deutschen Dichters Tannhäuser erfahren wir: Uz Polonlande ein fürste wert, des wil ich niht vergezzen. vro Ere sin zallen ziten gert, diu hat in wol besezzen, Herzogen Heinrich eren rich, von Pressela genennet, den wil ich loben sicherlich, min zunge in wol erkennet. Het er tusent fürsten guot, seit man in tiutschen richen, daz vergebe sin milter muot und taet ez willeclichen. (Tannhäuser, Leich VI, V. 74−85, zit. nach Bumke, S. 203)

Einen edlen Fürsten aus Polen, den will ich nicht vergessen. Frau Ehre hat sich stets um ihn bemüht, sie hatte ihn fest in ihrer Hand, den ehrenhaften Herzog Heinrich, der „von Breslau“ genannt war, den will ich fürwahr loben; meine Zunge kennt ihn gut. Hätte er den Besitz von tausend Fürsten, so sagt man in Deutschland, den würde er aus Freigebigkeit verschenken – und das auch noch gerne.

Abb. 1: Dietrich von der Glezze, Der Borte, UB Heidelberg, cpg 4, fol. 198r. Quelle: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/ cpg4/0413

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Heinrich von Breslau, ein schlesischer Herzog in Polen, erscheint hier als der Inbegriff der Großzügigkeit. Er verdiene entsprechend viel Ehre, wie sie die Zunge des Dichters offensichtlich auch schon mehrfach ausgesprochen hat. Er tut es auf Deutsch – und nicht

nur er; in tiutschen richen erzählt man sich geradezu Märchenhaftes über die Großzügigkeit Heinrichs, der als außerhalb des Reiches stehend wahrgenommen wird, ohne aber dass irgendein Sprachproblem artikuliert würde. Offensichtlich wird er nicht nur auf Deutsch besungen, sondern fördert auch deutsche Literatur – wie die Lyrik Tannhäusers. Erstmals in historischen Urkunden erwähnt ist Schlesien im 9. Jahrhundert. Die Přemysliden, d.h. die Fürsten aus Böhmen, brachten Schlesien im 10. Jahrhundert unter ihre Herrschaft. Gleichzeitig wurde Schlesien vom Bistum Prag aus missioniert. Die Böhmen legten auch die Burg Breslau als administratives Zentrum des Lands an. Nicht nur die Böhmen aber hatten Interesse an Schlesien, sondern auch die Polen. Sie drangen mehr und mehr in das schlesische Gebiet vor, teilten es sich einige Zeit mit den Böhmen. Anfang des 11. Jahrhunderts wurde Schlesien zur selbstständigen polnischen Kirchenprovinz; das Bistum Breslau wurde neu eingerichtet. Kurz war Schlesien dann ganz polnisch. Mehrfach wechselte das Land den Herrscher. Erst Mitte des 12. Jahrhunderts wurden durch einen Friedensschluss die Grenzen nach Böhmen und Mähren dauerhaft gesichert. Schlesien wurde ein von Polen getrenntes Herzogtum, an dessen Spitze ein Zweig des polnischen Herrscherhauses, die schlesischen Piasten, standen, die

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Abb. 2: Schlesien im Mittelalter Quelle: http://www.preussenweb.de/schlesien/ schles3.jpg

wiederum mit den österreichischen Babenbergern verschwägert waren. Im 12. Jahrhundert wurden auch die ersten Klöster in Breslau eingerichtet. Das Zisterzienserstift Leubus, gegründet 1175, setzte den Anfang der deutschen Siedlungsgeschichte, indem es das Land kultivierte und dann Siedler und Bauern aus dem Heiligen Römischen Reich holte. Doch nicht nur die Klöster betrieben eine solche Besiedelungspolitik. Herzog Heinrich I., ein Piaste, förderte die deutsche Besiedlung des Landes, die bereits von seinem Vater begonnen worden war und die zu einer immer stärkeren Lösung Schlesiens von Polen führte. Er veranlasste umfangreiche Rodungsarbeiten, siedelte Bauern an und ließ Dörfer einrichten. Zudem förderte er den Silber- und Gold-Bergbau ließ deutsche Bergleute holen und Bergbauorte anlegen. Er gründete Städte, ließ Handwerker und Kaufleute kommen. Den Städten und Dörfern gab er deutsches Recht. So entstand dann auch unter seinem Einfluss eine deutschsprachige Rechtsliteratur in Schlesien. Spätestens jetzt können wir von einer Förderung deutschsprachiger Literatur und Kultur sprechen. Die ko-

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lonisatorische Tätigkeit des Klosters Leubus unterstützte er, zugleich gründeten sowohl er als auch seine Frau Hedwig weitere Klöster. Dort entstand zunächst eine lateinischsprachige Chronistik. Hedwig, die aus dem Haus Andechs-Meranien stammte, zog jetzt auch bayerische Siedler an; zuvor war die Besiedlung vor allem aus Sachsen, Thüringen, Meißen und Brabant erfolgt. Hedwig dürfte auch dafür verantwortlich sein, dass in schlesischen Klöstern ab dem 13. Jahrhundert deutsche Handschriften mit einem Bayernbezug auftauchen, wie z.B. eine Handschrift des Herzog Ernst (einer Verserzählung um einen fiktiven bayerischen Herzog, der sich gegen den Kaiser empörte). Nach Hedwigs Tod entstand in den schlesischen Klöstern neue Literatur: Heiligenlegenden über Hedwig, die ebenso wie ihre Nichte Elisabeth von Thüringen heilig gesprochen wurde. Der von Tannhäuser genannte große Mäzen Heinrich von Breslau dürfte aber gar nicht Heinrich I. gewesen sein, sondern eher Heinrich III. Dieser hatte zwar keineswegs so viel Geld, wie es einem so großzügigen Mäzen angemessen wäre, vielmehr war er

wegen permanenter Kriege in notorischer Geldnot, für die er wohl auch die Adeligen des Landes ausgepresst hat. Aber er hatte fraglos einen Sinn für Kunst – und ein Verständnis dafür, dass Kunstförderung auch seinem Projekt einer weitergehenden Kultivierung und Förderung seines nun noch stärker deutsch besiedelten Landes helfen würde. Vielleicht sogar von ihm selbst, vermutlich aber eher von seinem Sohn Heinrich IV. sind Lieder überliefert, die in der Manessischen Liederhandschrift, einer in Zürich im 14. Jahrhundert angelegten Sammlung deutscher Lyrik, mit der Autorbezeichnung „Heinrich von Pressela“ (also von Breslau) markiert sind. Heinrich trägt hier das schlesische Wappen; zwischen den Wappen ist die Aufschrift „Amor“ angebracht, als Zeichen dafür, dass er Liebeslieder singt oder um die höfische Liebe kämpft. In der dargestellten Situation erhält er gerade einen Turnier-Siegerkranz von einer Dame. Heinrich IV. wurde in Prag am Hof Ottokars II. erzogen. Auch daher, nicht nur vom väterlichen Hof also, könnte er eine Neigung für die Literatur mitgebracht haben. Außerdem war er später mit der Tochter Markgraf Ottos V. von Brandenburg verheiratet, der ebenfalls als Minnesänger hervorgetreten war: Viele Gründe gibt es also, weshalb er sich für Dichtung interessiert und ggf. selbst gedichtet haben könnte. Zur Zeit Heinrichs IV. war die deutschsprachige Literatur in Schlesien bereits so weit verbreitet, dass nicht mehr nur der Hochadel Literatur förderte. So lesen wir im Epilog der Ende des 13. Jahrhunderts entstandenen Erzählung Der Borte des Dichters Dietrich von der Glezze:

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Dietrichs von der Glezze pikante Erzählung Der Borte

Wilhelm, der vrouwen kneht, gevlizzen an der tugende reht, der schuf, daz ich getihtet wart. chein tugent wart ni von im gespart. sin vater saz zu Widena. gewaldick voget was er da. (Dietrich von der Glezze, Der Borte, hg. v. Matthias und Anne Kirchhoff, Druck in Vorber., V. 879–884)

Wilhelm, der Frauendiener, der sich stets um rechte Tugend bemüht, der sorgte dafür, dass ich gedichtet wurde. Er verzichtete nie auf irgendeine Tugend. Sein Vater saß in Weidenau. Dort war er ein mächtiger Vogt.

Weidenau, das heutige Vidnava, war ein Lehen, das von den Herzögen von Breslau vergeben wurde. Heinrich IV. von Breslau hatte das Lehen an Wilhelms Vater übertragen. Wilhelm erbte es von seinem Vater. Da Wilhelm von Weidenau vor 1296 starb, muss der Text vor dieser Zeit fertig gestellt worden sein. Über den Dichter wissen wir außerliterarisch gar nichts. Der Borte („Der Gürtel“) ist sein einziges Werk. Nur in diesem sind Name und Herkunft des Dichters bezeugt: Von der Glezze Dietrich / hat mit sinen sinnen mich / hubschen leuten getich-

tet (V. 827–829). Die Herkunftsbezeichnung „von der Glezze“ deutet auf die Grafschaft Glatz (Kłodzko) in Schlesien hin; Weidenau liegt dort in der Nähe. Wilhelm beauftragte also einen heimischen Dichter mit der Erzählung. – Außerdem erfahren wir im Text noch, dass Dietrich sich stets dem Frauendienst gewidmet habe: In vrouwen dienst stunt ie sin sin. Ze allen ziten was er bereit ze sprechen von der reinnikeit, di an schonen vrowen liget; des man nu leider selden phliget. Die werlt sich vercheret hat. (Borte, V. 836–841)

Auf den Frauendienst war sein Streben stets gerichtet. Jederzeit war er bereit, von der Lauterkeit schöner Frauen zu sprechen. Das tut man heute leider nur noch selten. Die Welt hat sich verkehrt. Man könnte aus diesen Worten schließen, dass er auch Minnesang geschrieben habe. Ein solcher ist aber nicht überliefert. Der Erzähler erklärt, das Lob der Frauen sei heute schon verstummt, die Welt sei verkehrt. Damit bringt er ein Bewusstsein der Nachklassik zum Ausdruck: Zwar haben für ihn die vergangenen Werte der höfischen Literatur noch Geltung, aber die Zeit, in der man klassisch dichtete, ist unwiderlegbar vergangen; für den Rezipienten des Borten bedeutet dies, dass er im Folgenden etwas anderes als eine klassische Liebeserzählung erwarten darf.

Abb. 3: Herzog Heinrich von Breslau, Codex Manesse, UB Heidelberg, cpg 848, fol. 11v, Quelle: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/ cpg848/0018?sid=dff7d1269418b4553a1829 56a2d3cf6a

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Die Geschichte erzählt von einem schwäbischen Ritter Konrad, der auf seine überaus tugendhafte Frau außerordentlich stolz ist und daher auch im Kampf gegen jeden diese Tugendhaftigkeit beweisen will. Als er wieder einmal genau zu diesem Zweck auf Turnier ist, kommt ein Fremder an die Burg und bittet um Einlass. Die Frau lässt ihn zunächst ein, weil sie meint, dass er zu ihrem Mann wolle. Als aber klar ist, dass er ein Fremder ist, will sie ihn wieder loswerden. Er aber hat sich in sie verliebt. Der Fremde bietet ihr für ihre Liebe zuerst einen Habicht, der perfekt sei in der Vogeljagd. Sie lehnt empört ab. Daraufhin bietet er ihr zwei unfehlbare Jagdhunde, dann ein Pferd, auf dem man jeden Kampf gewinne. Noch bleibt sie standhaft. Dann bietet er ihr einen kostbaren mit einem wundertätigen Edelstein besetzten Gürtel:

swer den borten umbe hat, da der stein inne stat, der wirdet nimmer eren bloz, im vellet wol der selden loz, der wirdet nimmer erslagen, er mac nimmer verzagen, er gesiget zu aller zit, swen er ritet an den strit, fur fuwer, wazzer ist er gut (Borte, V. 307–315).

Wer den Gürtel trägt, in den der Stein eingelassen ist, der verliert nie seine Ehre, der hat immer Glück, der wird nie erschlagen, der kann nie verzagen, der siegt immer, wenn er zu Pferd in den Kampf reitet; vor Feuer und Wasser schützt der Gürtel. Der Gürtel ist genau das, was die Frau braucht. Ihr Mann will durch den Kampf ihre Tugend beweisen; mit diesem Gürtel könnte er es garantiert. Außerdem bewahrt der Gürtel vor

Die Autorin Cora Dietl, Jahrgang 1967, studierte Germanistische und Anglistische Mediävistik sowie Philosophie an den Universitäten Tübingen und Oxford. Nach der Promotion in Tübingen 1995 zu einem höfischen Roman des 14. Jahrhunderts war sie drei Jahre lang als Feodor-Lynen-Stipendiatin Gastprofessorin für Germanische Philologie in Helsinki. Anschließend kehrte sie nach Tübingen zurück, lehnte 1999 einen Ruf an die Universität Jyväskylä ab und habilitierte sich 2004 in Tübingen mit einer Arbeit zu Dramen des süddeutschen Frühhumanismus. Nach Vertretungsprofessuren bzw. -dozenturen in Konstanz und Münster arbeitete sie 2005 bis 2006 am Forschungsinstitut für Geschichte und Kultur der Universität Utrecht, von wo aus sie 2006 auf die Gießener Professur für deutsche Literaturgeschichte mit Schwerpunkt Mittelalter/Frühe Neuzeit berufen wurde. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen höfische Epik des Hoch- und Spätmittelalters, frühneuzeitliches Drama und mittelalterliche deutsche Literatur im östlichen Europa.

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Ehrverlust; dann kann es ja eigentlich kein Ehrverlust sein, ihn zu nehmen. – Das ist freilich ein Trugschluss. Aber dies erkennt die Frau nicht. Sie wird schwach, geht jetzt auf die Liebe des Fremden ein, aber sie wird beobachtet und an ihren Mann verraten. Der sieht seine eigene Ehre dadurch beschmutzt und setzt sich rasch nach Brabant ab – eben in jene Region, aus der sehr viele Handwerker nach Schlesien geholt worden waren. – Die Frau wartet zwei Jahre, bis sie erkennen muss, dass ihr Mann nicht mehr von allein zurück kommt. Jetzt nimmt sie Hunde, Pferd, Habicht und Gürtel und zieht los, um ihn zu suchen. Sie erklärt dem ersten Wirt, bei dem sie übernachtet, sie sei eigentlich ein Mann, der sich zum Schutz vor einer Übermacht von Feinden als Frau verkleidet habe. Jetzt sei „er“ (sie nennt sich Heinrich) weit genug geflohen, um in Sicherheit zu sein. „Heinrich“ lässt sich jetzt mit Hilfe des Wirts neu einkleiden und die Haare schneiden. Sie reitet so nach Brabant, wo ihr Mann im Dienste des Herzogs steht. Als Konrad erfährt, dass „Heinrich“ wie er aus Schwaben stammt, schließt er mit „ihm“ Freundschaft. Sie gehen gemeinsam mit der Brabanter Hofgesellschaft auf Bärenjagd, auf Beizjagd, auf Turnier. Immer überragt „Heinrich“ alle anderen. Alle Angebote des Herzogs, „ihm“ Hund, Pferd oder Habicht abzukaufen, lehnt „Heinrich“ ab. Endlich, als Konrad dem Herzog Heerfolge leisten soll, bittet er „Heinrich“ um Pferd, Hunde oder Habicht. „Heinrich“ erklärt, er wolle diese Tiere allein für ein Liebeserlebnis mit Konrad herausgeben. Her Heinrich sprach (nu merket baz): „Du must dich nider zu mir legen, so wil ich mit dir pflegen aller der minne, der ich von minem sinne gedencken und ertrachten kan, dar zu swez ein iglich man

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Dietrichs von der Glezze pikante Erzählung Der Borte

Abb. 4: Wirnt von Grafenberg: Wigalois (zwischen 1210 und 1220), UB Leiden, LTK 753, fol. 01v–1r. Quelle: https://socrates.leidenuniv.nl/view/ action/nmets.

mit siner vrowen pfligt, swenne er nachtes bei ir ligt.“ (Borte, V. 755–762)

„Herr“ Heinrich sprach (hört euch das genau an!): „Du sollst dich zu mir nieder legen, dann werde ich mit dir jedes Liebesspiel, das ich mir erdenken und wünschen kann, üben, dazu alles, was so jeder Mann mit seiner Frau tut, wenn er nachts bei ihr liegt.“ Auf dieses höchst provokative Begehren geht Konrad nach kurzem Zögern ein, denn er möchte dringend die Habichte und die Hunde erhalten. Als sich Konrad bereitwillig auf den Rücken legt, gibt seine Frau sich ihm zu erkennen und rügt ihn, dass er ihr nicht verzeihe, dass sie sich für diese Gaben plus den Gürtel, von dem er nichts wusste, auf einen Mann einließ, wenn er sich dafür sogar auf ein homosexuelles Erlebnis einlasse. einen ritter ich chuste und liz in bi mir slaffen, daz ir mit dem waffen weret mit des borten kraft werder in der ritterschaft. nu welt ir ein chetzer sin

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vil gern durch den habich min und rumt ir vor mir di lant. ir habt uch selben geschant! daz ich tet, daz was menschlich: so woldet ir unkristenlich vil gerne haben getan! ir sit ein unreiner man (Borte, V. 786–799).

Ich küsste einen Ritter und ließ ihn mit mir schlafen, damit Ihr im bewaffneten Kampf mit der Kraft dieses Gürtels noch höhere Ritterwürde erringt. Jetzt wollt Ihr sehr bereitwillig wie ein Ketzer handeln, um meinen Habicht zu bekommen – und Ihr verlasst vor mir das Land. Ihr habt Euch selbst geschändet! Was ich tat, war menschlich; Ihr hättet jetzt bereitwillig unchristlich gehandelt. Ihr seid ein unsittlicher Mensch! Die Frau deckt ganz offen die Doppelmoral auf, nach der ihr Mann handelt. Ein geringeres Verbrechen als das eigene konnte er seiner Frau nicht verzeihen. – Natürlich kommt es jetzt zur großen Versöhnung. Die beiden ziehen heim ins Schwabenland. Danach leben sie noch „beinahe hundert Jahre“ glücklich miteinander.

Man könnte den Text geradezu als protofeministisch bezeichnen. Zudem hat er in der Queer-Forschung große Beachtung gefunden. Die im Epilog des Textes vermittelte Lehre verweist aber in eine andere Richtung. Hier wird nun die Menschheit generell getadelt, die immer nur aufs Geld schaue und keine Moral mehr kenne. Damit meint man zunächst, dass beide, Konrad und „Heinrich“, getadelt werden sollen; bald aber wird die Lehre noch expliziter. Man solle, heißt es, nicht mit Geld Minne erkaufen, sondern ernsthaft und mit Tugend um sie werben. Diese Lehre kann sich nicht auf „Heinrich“ beziehen, denn ihm (ihr) geht es nicht primär darum, die Liebe Konrads zu erkaufen, sondern darum, ihren Mann für seine Doppelmoral zu bestrafen. Ebenso wenig kann sich diese Moral auf Konrad beziehen, denn er kauft keine Liebe, er verkauft sie allenfalls. Offensichtlich richtet sich diese Moral auf den Fremden, also auf eine Nebenfigur, die so farblos und ohne Individualität ist, dass sie eher wie eine andersweltliche Figur erscheint, und die nur dazu dient, die Handlung in Gang zu setzen, im weiteren Verlauf der Handlung aber keine Rolle mehr spielt. Eine solche Moral, die an der Haupthandlung vorbei geht, kann aber schwerlich ernst gemeint sein. Für eine solche Reduktion der Erzählintention auf Nebensächliches ist der Text insgesamt auch allzu provokant und witzig. Dürfen wir das Fazit also als eine parodistische Verkehrung einer Lehre verstehen? Jede Form der literarischen Parodie setzt Bezugstexte voraus, an denen sich die Darstellung bricht. Bei genauerer Betrachtung wird deutlich,

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wie eng der Borte mit intertextuellen Anspielungen durchsetzt ist. Einige davon sollen im Folgenden in einem zweiten Durchgang durch den Text aufgezeigt werden. Bereits die ersten Verse der Erzählung sind überaus aufschlussreich: Ich bin der borte genant. hovischen leuten sol ich sin bekant, den argen sol ich vremde sin: si schullen immer leiden pin (Borte, V. 1–4).

Ich heiße „der Gürtel“. Höfischen Leuten sollte ich bekannt, den Unfeinen aber fremd sein. Sie sollen ewige Pein erleiden. Zu Anfang spricht das Buch selbst zum Rezipienten. Es nennt seinen Titel und sein intendiertes Publikum: die Guten, Höfischen. Mit einem unhöfischen Publikum will das Buch nichts zu tun haben. Noch mehr: Es verwünscht sie in die Hölle. Einen solchen Erzählbeginn, bei dem das Buch selbst in der 1. Person spricht, kennen wir sonst aus dem Wigalois Wirnts von Grafenberg, einem Artusroman aus dem bairischen Raum aus der Zeit um 1205–1225, der sehr breit rezipiert wurde – und in dem es auch um einen Wundergürtel geht. Dort allerdings ist die Haltung des Buchs eine etwas andere: Wer hât mich guoter ûf getân? sî ez iemen der mich kan beidiu lesen und verstên, der sol genâde an mir begên (Wirnt von Grafenberg, Wigalois, hg. v. J. M. N. Kapteyn. Berlin 2005, V. 1–5).

Welcher gute Mensch hat mich aufgeschlagen? Wenn es jemand ist, der mich sowohl lesen als auch verstehen kann, dann soll der mir gegenüber Gnade walten lassen. Auch hier wendet sich das Buch an die Guten unter den Rezipienten, es will nur

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von einem solchen aufgeschlagen werden. Die Leidener Handschrift des Wigalois empfängt auch denjenigen, der das Buch aufschlägt, mit einer prachtvollen Illustration – einer Abbildung der Tafelrunde, derer derjenige, der das Buch aufschlägt, würdig sein sollte. Das Buch wendet sich aber angstvoll an diese der Tafelrunde würdigen Rezipienten; es befürchtet Kritik und bittet daher um Gnade. „Das Buch“ Dietrichs ist im Gegensatz dazu sehr viel selbstbewusster, wenn es die schlechten Leser und Hörer in die Hölle verdammt. Wer den Wiga­lois als Subtext mitliest, wird ob dieser „Emanzipation“ des Buchs schmunzeln. Eine so selbstbewusste Auswahl eines guten Publikums ist freilich auch aus „klassischen“ höfischen Romanen bekannt. Wolfram von Eschenbach z.B. wünscht sich im Prolog des Parzival ein Publikum, das bei allen Wendungen und Kehren seines Romans mitmache, aber: valsch geselleclîcher muot ist zem hellefiure guot, und ist hôher werdekeit ein hagel. (Wolfram von Eschenbach, Parzival, hg. v. Karl Lachmann. Berlin 1998, 2,17–19)

Eine falsche Gesinnung in einer Gemeinschaft taugt für das Höllenfeuer und ist ein Hagelschlag für allen hohen Wert und Adel.

Genau diese klare Absage an Rezipienten, die im Kreis des höfischen Publikums stehen, den Text aber nicht nach dem Maßstab höfischer Tugend und höfischen Literaturverständnisses aufnehmen, übernimmt Dietrich in seinem Prolog, aber seltsam verkürzt – was einen komischen Effekt hat. Das verkürzte WolframZitat dürfte als ein Hinweis darauf verstanden werden, dass sich Dietrich in die Wolfram-Nachfolge stellen möchte – zumal auch Wirnt, auf den er ebenfalls anspielt, in den Kreis der Wolfram-Nachfolger gehört. Wolfram verwehrt sich im Parzival und im Titurel gegen eine klare Didaktisierung der Literatur. Seiner Auffassung nach ist Literatur nicht dazu geeignet, Regeln zu kommunizieren – und noch schlechter kann man im Leben irgendwelche allgemein formulierte Regeln befolgen und sich dabei richtig verhalten, weil für jedes rechte Verhalten ein Kontext- und Erfahrungswissen notwendig ist, an dem Regeln zu relativieren und zu justieren sind. – Wenn sich Dietrich in diese Tradition stellt, dann heißt das aber in der Tat, dass die von ihm am Schluss artikulierten Regeln nicht ernst zu nehmen sind, sondern eher als eine Absage an Lehren angesehen werden sollten. Das Parodistische in Dietrichs Erzählweise wird spätestens dann deutlich, wenn der Erzähler die Schönheit der Protagonistin beschreibt. Lange Schönheitsbeschreibungen kennen wir aus der höfischen Großepik ebenso wie aus dem Ende des 13. Jahrhunderts aufkommenden Genre der Minnereden. Hier wird über rund 50 Verse die Schönheit der Frau beschrieben.

Abb. 5: Wolfram von Eschenbach, Parzival, Beginn Prolog. UB Heidelberg, Cod. Pal. germ. 339, 6r. Quelle: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/ cpg339i

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Dietrichs von der Glezze pikante Erzählung Der Borte

Abb. 6: Trankszene eines höfischen Liebespaars: Günther von dem Forste, Codex Manesse, UB Heidelberg, cpg 848, fol. 314v. Quelle: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/ cpg848/0624

Dabei verwendet Dietrich Formulierungen wie: Ir güte was so suzze, und weren ir die füzze komen in des meres flut, daz mer daz were worden gut von iren füzzen reinen (Borte, V. 73–77).

Ihre Güte war so lieblich, dass, wenn ihre Füße ins Meer gekommen wären, dann das Meer durch ihre edlen Füße trinkbar geworden wäre. Die Süßigkeit eines Körpers (allerdings i.d.R. eines toten Körpers) ist in der mittelalterlichen Literatur Ausdruck von Heiligkeit. Die Protagonistin strahlt hier eine solche Süßigkeit aus, dass allein schon ihre Füße das Meer von Salz- in Süßwasser verkehren könnten. Eine dieser Darstellung erstaunlich ähnliche Beschreibung findet sich im Willehalm Wolframs von Eschenbach, einer Chanson de geste, welche die Kämpfe des Hl. Wilhelm von Toulouse gegen die Mauren im späten 8. Jahrhundert zum Thema hat. Dort wird der im Kampf gegen die Heiden gefallene Vivianz, der Neffe Willehalms, mit folgenden Worten beklagt: sölh süeze an dîme lîbe lac: des breiten mers salzes smac müese al zuckermaezic sîn, der dîn ein zêhen würfe drîn. (Wolfram v. Eschenbach, Willehalm, hg. v. Werner Schröder. Berlin 2003, 62,11–14)

So süß war dein Leib: Der Salzgeschmack des weiten Meeres würde

Spiegel der Forschung · Nr. 1/2013

gänzlich verzuckert werden, wenn man einen Zehen von dir hinein würfe. Was im Willehalm eine Übersteigerung der Heiligkeit des jungen Märtyrers ist, ist im Borten schlichtweg ein Witz: Die Frau lebt noch, sie ist keinen Märtyrertod gestorben, bei dem der Duft der Heiligkeit ausstrahlen könnte; zudem hat sie außer ihrer weiblichen Tugend nichts vorzuweisen, was ihre Darstellung als Heilige rechtfertigen würde. Auch ihre Schönheit wird so übersteigert beschrieben, dass ein Publikum, welches irgendwelche

Muster von Frauenschönheit kennt, nur schmunzeln kann. Normal klingt eine solche Beschreibung etwa so wie die der Helena in Herborts von Fritzlar Liet von Troye: Helena gar schone was […] Rosige wangen roter mvnt Suzze ademe zene gesunt Blichende kel arme blanc Schone hende finger lanc (Herbort von Fritzlar, Liet von Troye, hg. v. Karl Frommann. Amsterdam 1966, V. 2489–96).

Helena war sehr schön […]: rosige Wangen, roter Mund, süßer Atem,

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gesunde Zähne, heller Hals, weiße Arme, schöne Hände, lange Finger. Hier aber klingt sie etwas anders: Ir munt dar under rosenrot (wie selic, dem si ir chussen bot!), Ir kinne weiz, sinewel, ir kel ein luter vel (da durch sach man des wines swanc, swenne die schone vrowe tranc) (Borte, V. 45–50).

Ihr Mund darunter war rosenrot (wie selig war der, den sie küsste!), ihr Kinn war weiß und glatt, ihr Hals hatte eine klare Haut (da sah man den Wein hindurch rinnen, wenn die schöne Frau trank). Ich denke, hier ist der parodistische Charakter der Erzählung deutlich. Literarische Muster werden vorausgesetzt und komisch gebrochen. Dies gilt auch für die zentralen Motive des Textes, welche im Folgenden untersucht werden. Zu diesen gehört zunächst das Liebeserlebnis mit dem Fremden. Sie hiez ein juncvrewelin in einem chopfe bringen win. dem ritter si den chopf bot, der was von minne vil nach tot. er tranc vil gezogenliche unde bot wider hoveliche den chopf mit dem wine dem wunneclichen schine, der stoltzen wirtinne. (Borte, V. 173–181)

Sie ließ eine Zofe einen Kelch Wein bringen. Sie reichte dem Ritter den Kelch; der war aus Liebe beinahe

Abb. 9: Wirnt von Grafenberg: Wigalois, ehem. Donaueschinger Handschrift, Cod. 71, heute Privat­ besitz. Quelle: http://www.guenther-rarebooks.com/ catalog-online-09/16d_detail.php

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tot. Er trank sehr sittlich und reichte höflich den Kelch mit Wein wiederum der wonnigen Sonne, der edlen Gastgeberin. Diese Szene ist ein leicht zu erkennendes Zitat: aus Gottfrieds Tristan. Dort reicht eine junge Zofe den Protagonisten Tristan und Isold – freilich ungewollt – den Minnetrank. Gottfrieds Minnetrankszene ist allerdings deutlich länger: Isold, heißt es dort, ist auf dem Schiff, das sie zu einem ungeliebten Ehemann bringen soll, unwohl. Ein kleiniu juncföuwelîn (Gottfried von Straßburg: Tristan, hg. v. Karl Marold, Berlin 2004, V. 11673) findet das Gefäß mit „Wein“. Aber, das erklärt sogleich der Erzähler, es ist kein Wein, sondern diu endelôse herzenôt, / von der sie beide lâgen tôt (Tristan, V. 11679f.). Der Tod also, verbunden mit dem Wein, ist hier ebenso explizit genannt; die Zofe gibt den Kelch Tristan, der aber reicht ihn Isold; sie trinkt und gibt ihn dann Tristan, der seinerseits aus dem Kelch trinkt. Die Reihenfolge, in der die beiden den Wein trinken, ist im Borten eine andere, schließlich ist der Ritter Gast und nimmt das Gastrecht in Anspruch, als erster zu trinken, außerdem ist er derjenige, der zur Heilung seines Unwohlbefindens dringend des Weins bedarf. Dieser Unterschied kann aber nicht die Parallelität zwischen den beiden Szenen überde-

cken, die nicht zuletzt auch durch die Bezeichnung wunneclicher schine für die Frau signalisiert wird: Isold wird im Tristan als strahlend wie die Sonne bezeichnet (Tristan, V. 11512, 12570 u.ö.). In beiden Texten dient der Minnetrank der Besiegelung bzw. dem endgültigen Vollzug eines Handels; im Tristan ist es die Versöhnung von Cornwall und Irland durch den Eheschluss zwischen Isold und Marke; im Borten geht es um den Tausch von Liebe gegen Gaben. Der Minnetrank steht zum einen für eine zunächst emotionslos geschlossene Verbindung (und damit entschuldigt er letztlich die Frau Konrads), zum anderen kündigt das Motivzitat bereits die Probleme an, die sich aus dem unehelichen Verhältnis ergeben werden. Freilich sind die Unterschiede zwischen der trotz ihres zauberhaften Ursprungs idealisierten, durch ewige triuwe gekennzeichneten Minne im Tristan und dem hier rein auf Kalkül beruhenden Verhältnis, das nach vollzogenem Handel sofort wieder aufgelöst wird, eklatant. So taucht das Motivzitat die Vereinigung zwischen der Frau und ihrem Gast in ein schillerndes Licht. Eben auf dieses geht dann ja auch der moralisierende Epilog der Erzählung ein, freilich etwas verzerrend. Bei dem Tauschhandel geht es nicht wie im Tristan um großräumige Politik, sondern um einen Gürtel. Der Gürtel ist im Mittelalter vielfältig semantisch besetzt. Natürlich steht er für Intimität; in der mittelalterlichen Literatur ist zudem ein Gürtel, der geheimnisvolle Kräfte verleiht, ein recht gebräuchliches Motiv. Zu denken sei etwa an den Gürtel der Brünhild im Nibelungenlied, den ihr Siegfried abringen muss, um ihr ihre übermenschliche Kraft zu nehmen (Nibelungenlied, hg. v. Hermann Reichert. Berlin 2005, Str. 677), wobei freilich Assoziationen von Sexualität mitschwingen. Deshalb muss Siegfried ausdrücklich

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Dietrichs von der Glezze pikante Erzählung Der Borte

Abb. 7: Meister Gottfried von Straßburg, Codex Manesse; UB Heidelberg; Cod. Pal. germ. 848; fol. 364r. Quelle: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/ cpg848/0723

Der Königin riet ihr Verstand, dass sie sich den Gürtel umband. Da verfügte die edle Dame sofort über Freude und Weisheit; sie betrübte keinerlei Leid; sie beherrschte alle Sprachen fließend; ihr Herz war voller Freude; welches Spiel auch immer man da begann, sie hatte den Eindruck, dass sie es kannte; es mangelte ihr an keinerlei Vermögen.

beeiden, dass er Brünhilds Ehre nicht befleckt habe (Nibelungenlied, Str. 857). Der Gürtel im Borten verspricht eine Unverletzbarkeit des Körpers und der Ehre. Er ist also mehr als nur ein Kraft-Gürtel. Als Vorbild könnte hierfür der Gürtel gedient haben, um den es zu Beginn des Wigalois Wirnts von Grafenberg geht. Dort kommt ein fremder Ritter (aus dem Feenreich) an den Artushof und bietet Königin Ginover einen kostbaren Gürtel an. Er möchte ihn ihr schenken. Wenn sie ihn aber nicht behalten möchte, dann müssten die Ritter des Artushofs gegen ihn kämpfen. Das muss in den

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Ohren der Königin suspekt klingen, sie will erst ablehnen, lässt sich dann aber überreden, den Gürtel anzuprobieren: der küniginne riet ir muot daz si den gürtel umbe bant; dô hêt diu vrouwe sâ zehant vreude unde wîsheit: sine truobte deheiner slahte leit, die sprâche kunde si alle wol, ir herze daz was vreuden vol, swaz spils man dâ begunde, si dûhte des wie siz kunde; deheiner kunst ir niht gebrast. (Wigalois, V. 329–338)

Dieser Zaubergürtel ist also ein Gürtel, der Freude, Sprachen, Weisheit und höfische Verhaltensnormen und Kulturpraktiken vermittelt, ein Gürtel, der die Königin perfekt macht. – Damit wird erkenntlich, dass sie es vorher nicht war! Sie lässt sich beraten und gibt den Gürtel schweren Herzens zurück. Später erfahren wir noch, dass der Gürtel im Kampf unbesiegbar macht und den Weg ins Feenreich weist – und dass die ganze Aktion nur ein Trick war, um Gawan, der für die Idealität des Hofs steht, zu entführen, da er für die Ehre der Königin kämpfen und wegen des Gürtels im Kampf gegen den König des Feenreichs unterliegen und sich diesem unterwerfen musste. Dieses Hintergrundwissen verleiht dem Gürtel, nach dem der Borte benannt ist, neuen Sinn. Auf der Handlungsebene ist deutlich, dass die Frau den Gürtel haben möchte, da er ihren Mann, der für ihre Idealität einsteht, zu einem idealen Ritter machen könnte (was er offenbar nicht ist). Der literaturkundige Rezipient kann allerdings erkennen, dass die Aktion dazu dient, den Mann zu „entführen“, jetzt aber auf ganz andere Weise, wenn er

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seine Frau verlässt und später wieder mittels des Gürtels von ihr überwunden und zurückgeholt wird. Er darf vermuten, dass auch hier der Gürtel gleichsam den Finger auf die wohl verdeckte Wunde der Ehe legt, die doch nicht so ideal ist, wie sie sich ausgibt. Ich möchte hier noch einen Schritt weiter gehen und noch einen weiteren literarischen Gegenstand zum Vergleich heranziehen: das Brackenseil im Titurel Wolframs von Eschenbach. Dort begegnet dem Liebespaar Sigune und Schionatulander ein Hund mit einer prächtigen Hundeleine, die in Edelsteinen eine Inschrift trägt. Diese Inschrift weist den Hund samt Leine als einen Liebesbrief aus:

Sît er von der wilde hiez, gegen der wilde si sante im disen wiltlîchen brief, den bracken, der walt unt gevilde phlac der verte als er von arte solte. ouch jach des seiles schrift daz si selbe wîplîcher verte hüeten wolte. (Wolfram von Eschenbach, Titurel, hg. v. Helmut Brackert u.a. Berlin/New York 2003, Str. 158)

Da er nach der Wildnis hieß, sandte sie ihm diesen wilden Brief in die Wildnis, nämlich den Bracken, der im Wald und auf dem Feld seiner Spur folgte, so wie er es als Spürhund sollte. Auch sagte die Inschrift der Hundeleine, dass sie selbst auf

den rechten weiblichen Weg achten sollte. Die Botschaft des Hundes ist nicht nur ein Liebesbrief, sie ist eine Liebeserzählung, die vor allem auch der Frau klar machen soll, wie sie sich in der Liebe recht verhalten sollte. Der Hund aber reißt sich los, bevor Sigune die Inschrift weiter gelesen hat. Für sie steht fest: Sie möchte wissen, wie sie sich in der Liebe recht verhalten soll. Deshalb will sie unbedingt diesen Hund und die Leine haben – und verpflichtet Schionatulander, den Hund zurückzubringen. Vorher wolle sie ihm nicht ihre Liebe gewähren, aus Angst, etwas falsch zu machen, wodurch ja beide ihre Ehre verlieren würden. Der Titurel selbst erzählt die Geschichte nicht weiter (so wie ja auch das Brackenseil nicht weiter gelesen werden kann), aber im Parzival Wolframs erfahren wir, dass Schionatulander auf der Suche nach dem Brackenseil gestorben ist. Damit hat Sigune durch den Wunsch, sich in der Liebe recht zu verhalten, sich genau falsch verhalten. – Genau das erwartet der Rezipient bei Dietrich von der Glezze, wenn die Frau meint, den Gürtel dürfe sie annehmen, weil der ja vor Ehrverlust schütze. Der Weg zu dem Gürtel aber bedeutet bereits ihren Ehrverlust. Das Paradox, das Wolfram im Titurel anhand des Brackenseils durchspielt, dass es der größte Fehler ist, keinen Fehler machen zu wollen und daher eine Literatur, welche Regeln verspricht, höher zu stellen als das Leben, fügt sich in die Linie von Wolframs genereller Ablehnung von

Abb. 8: Meister Wolfram von Eschenbach (links), Codex Manesse; UB Heidelberg, Cod. Pal. germ. 848, fol. 149v. Quelle: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/ cpg848/0294

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Dietrichs von der Glezze pikante Erzählung Der Borte

klaren, allgemeingültigen Regeln für die Ehre. Diese Regelkritik des „Klassikers“ ist im Borten witzig gebrochen und erscheint in der Variante einer Absage an alle Zaubermittel, die die Ehre bewahren könnten. Wenn Zaubermittel versagen, besteht freilich wieder die Möglichkeit, dass literarisch vermitteltes Regel- oder Erfahrungswissen helfen könnte. Die Reihe der intertextuellen Anspielungen im Borten ließe sich noch lange fortsetzen. Bereits jetzt dürfte aber deutlich geworden sein, dass und wie er auf zentrale Problematiken der klassischen mittelhochdeutschen Romane Bezug nimmt: auf die Zauberhaftigkeit der Liebe, die Schwierigkeit des Erlernens von Ehre und höfisch korrektem Verhalten, auf die Brüchigkeit von Idealen, die Rolle der Literatur in der Gesellschaft und die Lehrhaftigkeit von Literatur, auf die Gruppenbezogenheit der Literatur, die Topik der edlen und schönen Frauen, die wie Heilige behandelt werden, ja, und auf die Idealisierung der Minne und des Rittertums. Der Mann, der von seiner Frau im Kampf und in der Liebe besiegt wird, ist am Ende eben-

so lächerlich wie der Versuch des Erzählers, das Ganze zu didaktisieren. Der Borte ist ein Rundumschlag der Literaturparodie. Ich sehe nichts, was er wirklich unhinterfragt ließe – außer der Literaturkenntnis, die er bei seinen Rezipienten voraussetzt, um all die Anspielungen zu verstehen. Der Borte ist m.E. daher ein Ausweis dafür, dass man von Schlesien im 13. Jahrhundert keineswegs als einer Randregion der deutschen Literaturgeschichte sprechen darf, denn dieser Text verlangt seinem Publikum sehr viel ab – und ist qualitativ deutlich höher stehend als viele der „epigonischen“ Werke der nachklassischen Zeit in „zentraleren“ Regionen des deutschsprachigen Gebiets. •

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LITERATUR

Dietrich von der Glezze: Der Borte. Untersuchungen und Text von Otto Richard Meyer. Heidelberg 1915. Joachim Bumke: Mäzene im Mittelalter. Die Gönner und Auftraggeber der höfischen Literatur in Detschland 1150–1300. München 1979.

Matthias Kirchhoff: „Nu merket baz“. Der Borte, Wigalois und die queerForschung, in: Brigitte Burrichter u.a. (Hg.), Aktuelle Tendenzen der Artusforschung. Berlin/Boston 3013 (SIA 9), S. 421–436. Joseph J. Menzel, Art: „Schlesien“, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 7, München 2002, Sp. 1481. Hans-Friedrich Rosenfeld, Art: „Dietrich von der Glezze“, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2. Aufl., hg. von Kurt Ruh u.a., Bd. 2. Berlin/New York 1980, Sp. 137–139.

KONTAKT Prof. Dr. Cora Dietl Justus-Liebig-Universität Institut für Germanistik Otto-Behaghel-Straße 10B 35394 Gießen Telefon: 0641 99-29080 cora.dietl@germanistik.uni-giessen.de http://www.coradietl.de

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Jenseits der Nationalgeschichte Deutsch-polnische Verflechtungen in Mitteleuropa Von Hans-Jürgen Bömelburg

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Jenseits der Nationalgeschichte

Die Beziehungs-, Transfer- und Verflechtungsgeschichte in Mitteleuropa reicht mehr als 1.000 Jahre zurück und spielt in einem eineinhalb Millionen km² umfassenden Raum zwischen Rhein und Dnjepr, zwischen Riga, Czernowitz und Basel. Dabei beanspruchten „deutsche“ und „polnische“ Titularverbände und Nationen teils identische Räume und Zentren.

Abb. 1: Erste moderne Karten nach dem antiken Geographen Ptolemäus schürten im frühen 16. Jahrhundert die Dispute, wo die „Magna Germania“ aufhöre und die „Sarmatia“ beginne. Quelle: wikipedia, Nicolaus Germanus/Mediatus

Abb. 2: Zygmunt Wojciechowski, Polen – Deutschland. Zehn Jahrhunderte des Ringens (1945).

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inige Befunde, die die Besonderheit dieser deutsch-polnische Verflechtungen zeigen: Gnesen und Posen sind die Geburtsstätten des polnischen Staates, aber auch preußisch-deutsche Städte des 19. Jahrhunderts; Breslau, ein mittelalterlicher piastischer Herrschaftssitz, ist im frühen 20. Jahrhundert die viertgrößte Stadt Deutschlands. Danzig, im 16. und 17. Jahrhundert die weltweit größte deutschsprachige Stadt, unterstand der Krone Polen. In Lemberg hießen im 16. Jahrhundert die polnischsprachigen Stadteliten wegen der Geltung des Magdeburger Stadtrechts „Deutsche“. Berlin oder München wurden seit dem 19. Jahrhundert zu Zentren polnischen intellektuellen und künstlerischen Lebens. Juden waren oft Teile einer deutschwie polnischsprachigen Kultur. Millionen Menschen wanderten von Ost nach West und von West nach Ost,

wobei sie sich an ihre neuen Nachbarn assimilierten. Zugleich ist die deutschpolnische Geschichte von Konflikten überlagert: Preußen und Österreich, zwei deutsche Staatsverbände, teilten Polen im späten 18. Jahrhundert auf – zusammen mit Russland, das von einer deutschen Zarin regiert wurde. Die Fremdherrschaft durch Deutsche und wechselseitige territoriale Ansprüche vergifteten das Klima. Deutsche eroberten Polen im Zweiten Weltkrieg und ermordeten polnische Bürger. Nach 1945 vertrieb Polen die deutsche Bevölkerung. Trotzdem kam es nach 1989 zu einer beispiellosen Annäherung beider Länder. Dies zeigt, wie eng deutsche und polnische Geschichte miteinander verbunden sind, mehr noch: Sie machen zu einem erheblichen Teil das aus, was man als mitteleuropäische Geschichte bezeichnet und bilden den Kern und zentralen Austauschraum einer transnationalen Geschichte Europas. Die deutsch-polnische Geschichte steht in Forschungstraditionen des 19. und 20. Jahrhunderts. Ältere nationalistische Interpretationen konstruierten unter dem Eindruck sich überkreuzender nationaler Ansprüche und Kriege eine tausendjährige Konfliktgeschichte, eine „Geschichtsfibel für Wehrmacht und Volk“ von Franz Lüdtke trug den Titel „Ein Jahrtausend Krieg zwischen Deutschland und Polen“ (1941), im Posener Westinstitut erschien 1945 als erste Publikation Zygmunt Wojciechowskis „PolenDeutschland. Zehn Jahrhunderte des Ringens“. (Abb. 2)

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Nach 1945 wurde in der DDR als Reaktion das Paradigma einer „deutsch-slawischen Wechselseitigkeit“ entwickelt, das seine normativen Grundlagen nicht verleugnen konnte, aber neue Ergebnisse erbrachte. Im Rahmen einer oft bis ins Klischee getriebenen „deutsch-polnischen Versöhnungsgeschichte“ wurden in der BRD dagegen aus den deutschen und polnischen Adlern zwei zutrauliche Täubchen. (Abb. 3) Erheblich intensiver prägte jedoch das von Klaus Zernack, der viele Jahre an der Universität Gießen lehrte, seit den 1970er Jahren entwickelte Konzept der Beziehungsgeschichte gerade die deutsch-polnische Geschichte. Es geht davon aus, dass sich europäische Verbände, Staaten oder Nationen nicht für sich, sondern in einer auf­einander bezogenen Weise entwickeln. Nach Zernack können Nationen seit dem Mittelalter „sich an einem Beziehungspartner durch Abgrenzung auch selbst zu profilieren versuchen“, bis hin zu „negativen Fixierungen“. Bedeutung besitzt dabei die Reflexion auf die jeweiligen „Anfänge“, Wichtigkeit kommt den Faktoren Territorium und Migration zu. Das Zernack’sche

Konzept nimmt in Vielem gegenwärtige Theoriediskussionen vorweg. Einfluss besitzt aktuell die von Michel Espagne entwickelte Transfergeschichte, die die Übertragungen von technischem Wissen, Konzepten und kulturellen Repräsentationen von einer Kultur in die andere beschrieb und auf die Bedeutung von Veränderungen in der Rezeption in anderen Kulturen hinwies. Solche Transfer- und Rezeptionsprozesse prägen und verändern den Transfergegenstand deutlich. Weiterentwickelt wurden solche Vorstellungen zu einer „entangled history“ einer „histoire croisée“, einer „verschränkten“ oder „verflochtenen Geschichte“, die in den letzten zehn Jahren methodisch vorgestellt wurde. Kombiniert werden hierbei Beziehungen zwischen Nationen, Transferprozesse und der historische Vergleich mit neuen Überlegungen zu einer transnationalen Geschichte, die vor allem die neuen weltumspannenden Verbände, Unternehmen und Institu­ tionen behandelt. Die Besonderheiten einer deutschpolnischen Verflechtungsgeschichte liegen darin, dass 1) sie sich in Unabhängigkeit von einer deutschen und polnischen Staatlichkeit auch in Regionen (Sachsen-Polen, Preußen, Schlesien) entwickelte, 2) die Beziehungen zwischen „polnischen“ und „deutschen“ Gruppen sich in einer mehrere Hundert Kilometer breiten Kontaktzone intensiv entwickelten, in der Deutsche und Polen zusammenlebten, 3)  sie in andersstaatlichen Kontexten (in der baltischen, russischen und österreichischen Geschichte) Bedeutung besitzen und 4) „deutsche“ und „polnische“ Geschichte deshalb stärker auch in andersnationale (russische, litauische,

Abb. 3: Adler werden zu Tauben (1997).

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ukrainische, tschechische, jüdische) Geschichte eingebunden ist, als dies zwischen Deutschen und Franzosen der Fall ist. Schließlich entwickeln sich die deutsch-polnischen Beziehungen in einzelnen Regionen unterschiedlich. Von Nord nach Süd können unterschieden werden: Erstens das zeitweise seit den 1560er Jahren und in seinem südöstlichen Teil dauerhaft zu Polen-Litauen gehörige Livland, die Großstadt Riga, das Herzogtum Kurland und Lettgallen, heute die Kernregionen Lettlands. Hier kam es zu umfangreichen Austauschprozessen zwischen deutschund polnischsprachigen Adligen, wobei teilweise eine deutsch-polnische hybride Kultur entstand (Familiennamen, Sprachwechsel, Mehrsprachigkeit). Als attraktiv für den Übergang zum Polnischen erwiesen sich Karrierechancen am Warschauer Hof und das Leitbild einer „polnischen Freiheit“, das dem Adel Privilegien versprach. Zweitens zählten zu dem Austauschgebiet die litauischen Städte und Adels- und Gutsbesitzerfamilien, die intensive Kontakte nach Königsberg unterhielten. In den Städten im Großfürstentum Litauen lebten nebeneinander eine polnisch-, jiddischund deutschsprachige Stadtbevölkerung (Vilnius, Kaunas). Hier kam es zu Transferprozessen, wobei sich die deutschsprachige Stadtbevölkerung sprachlich polonisierte und staatsrechtlich lituanisierte. Drittens bildete das Preußenland einen Kontakt- und Austauschraum. Die Region zerfiel in das „Preußen königlich polnischen Anteils“ und das östliche Herzogtum Preußen. Die Stadtbevölkerung war mehrheitlich deutschsprachig, die bäuerliche und adlige Bevölkerung gemischt. In den Metropolen (Danzig, Elbing, Thorn) und kleinen Städten entwickelten sich wechselseitige Akkulturations- und

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Jenseits der Nationalgeschichte

Abb. 4: Die Sarmatia auf einer Karte des frühen 16. Jahrhunderts.

Assimilationsprozesse. Insbesondere der Adel nahm die „polnischen Freiheiten“ als attraktives Modell wahr und orientierte sich durch die Nähe Warschaus am polnischen Lebensstil und Vorbild. Viertens lebten in Schlesien und Großpolen seit der mittelalterlichen Ostsiedlung gemischte Bevölkerungen. Frühneuzeitlich kam es hier zu Assimilationsprozessen an die Mehrheitsbevölkerungen. Durch neue, auch konfessionell begründete Migrationen – die Auswanderung protestantischer Bevölkerungen infolge Bedrückung und die Gründung neuer Städte auf großpolnischer Seite der Grenze (Lissa, Unruhstadt), die Einwanderung der katholischen Bamberger – kam es zu neuen Verflechtungen. Fünftens gab es in Kleinpolen und Rotreußen, dem späteren Galizien, in den Städten und ländlichen Enklaven gemischte Bevölkerungen. Dabei kam es frühneuzeitlich auch aufgrund der fehlenden Konfessionsgrenze zu einer Assimilation der deutschen Minderheiten an die polnische Mehrheitsbevölkerung (Krakau, Lemberg, Kamieniec Podolski). Zurück blieb die Bezeichnung „deutsch“, auch für längst polnische Bevölkerungen sowie Rechts- und Zunfttraditionen. Sechstens besitzen Böhmen, Ungarn und Siebenbürgen frühneuzeitlich Bedeutung für den deutsch-polnischen Kulturkontakt. In allen drei Regionen waren parallel deutsch- und polnischsprachige Eliten tätig, Polen etwa in Olmütz, wo sie Domkanoniker und Bischöfe stellten, oder in Ungarn, wo Familien wie die Łaski im Gefolge der Jagiellonen bis ins späte 16. Jahrhundert Politik machten. Mit ihnen machten deutschsprachige Städter Geschäfte und verbanden sich adlige Familien.

Spiegel der Forschung · Nr. 1/2013

Europaweit ist der deutsch-polnische Verflechtungsraum in puncto Größe und Ausstrahlung wohl nur mit der deutsch-französischen und polnisch-russischen Verflechtung vergleichbar. Das soll im Folgenden an vier Fallbeispielen exemplarisch vorgestellt werden.

Europäischer Humanismus und konkurrierende Nationsentwürfe Im späten 15. Jahrhundert wurde die Universität Krakau zu einem humanistischen Zentrum – sie war damals die einzige europäische Universität östlich der Elbe, da das hussitische Prag boykottiert wurde, und besaß hohes Renommee. Besonders angesehen waren die Mathematik und die Naturwissenschaften; der „deutsche Pole“ Nikolaus Kopernikus steht an der Spitze einer ganzen Gruppe von Gelehrten. Dank einer internationalen Infrastruktur wie dem Contubernium Germanorum, der deutschen Burse, hielten sich in Krakau Konrad Celtis 1489–1491, Heinrich Bebel 1492–1494, Johannes Aventinus 1501/02, Caspar Ursinus Velius 1505–1507, Johannes Hadelius

1515/16, Joachimus Vadianus 1517 und 1519 und Eobanus Hessus auf – damit wiesen viele Humanisten „polnische Jahre“ in ihrer Biographie auf. In Krakau kam es zu Diskussionen mit polnischen Humanisten, wobei die Grundlagen des „Eigenen“ und die Selbstverortung in der humanistischen Welt ins Zentrum rückten. Während Deutsche auf den Ruhm der Germanen verwiesen – die „Germania“ des Tacitus war gerade wiederentdeckt worden – stützten sich Polen auf die antiken Krieger der Sarmaten, einer iranischen Gruppe, in der man jedoch frühneuzeitlich die polnischen Ahnen sah. Die entstehende moderne Kartographie wurde zu einem Streitpunkt: Wo verliefen die Grenzen zwischen der „Magna Germania“ und der „Sarmatia“? In Anlehnung an den antiken Geographen Ptolemäus beanspruchten Deutsche für die Germania alle Territorien bis zur Weichsel – Krakau wurde damit zu einer „deutschen Stadt“ (vgl. Abb. 4 und 6). In Celtis’ „Quattuor libri amorum“ spielte ein Viertel der Werke an der Weichsel. Die durch ihre Grenzlage konkretisierte Region wurde als eine

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Bömelburg

der vier mit den Himmelsrichtungen verbundenen Großregionen der Germania in Anspruch genommen und in antiker Tradition als von Kälte, Unwirtlichkeit und dem „rigor Scythicus“ geprägte „barbarische“ Region angesehen, die von germanisch-deutschen zivilisatorischen Leistungen befruchtet worden sei. So beschrieb Celtis die Weichsel als Grenzlinie der „Germania“ (Vistula germanae quondam ceu terminus orae), wobei er sich rhetorisch-argumentativ ganz mit der deutschen Vergangenheit identifizierte: In der Beschreibung Preußens wurde dessen Bevölkerung als ein deutscher Stamm angesprochen, die nun aber treulos einem „sarmatischen Tyrannen“ diene und seinen „deutschen Herrn“ grundlos hasse. Das Land sei durch zivilisatorische Errungenschaften und germanische Frühzeit deutsch geprägt: „Hier erbaute der Deutschherr, der einen hellen Mantel trägt, viele Städte und starke Burgen, um nämlich den Aufruhr der Skythen zu zügeln, wenn wildes Barbarentum zum Angriff bläst.“

Abb. 5: Das Collegium Maius der Jagiellonen-Universität in Krakau. Quelle: wikipedia, Cancre

Andere Humanisten argumentierten ähnlich. Nach Hessus, der aus Frankenberg stammte, sei Preußen, „ein Reich auf den sarmatischen Fluren“, vom Orden „mit deutschem Blut“ erkauft worden; eine Rückgabe werde König Zygmunt I. „Anerkennung und beispiellosen Ruhm beim deutschen Volke“ sowie die Herrschaft im „sarmatischen Erdkreis“ sichern. Das Spannungsverhältnis zwischen polnischen Humanisten und den zuwandernden Deutschen, die aus der Konstruktion der germanisch-deutschen Nationalgeschichte auch ein Nationalgefühl bis zu einem Nationalismus entwickelten, ist in Briefen spürbar. So berichtete Rudolf Agricola d. Jüngere 1520 an Vadian in abwertendem Ton über die Einstellung des eingesessenen Krakauer Bürgertums mit deutschen Wurzeln, das sich an deutsch-polnischen Konflikten nicht beteilige, sondern sich auf die Seite

Der Autor Hans-Jürgen Bömelburg, Jahrgang 1961, studierte Geschichte, Germanistik, Romanistik und Slavistik an den Universitäten Münster, Besançon und Mainz, dort 1990 M.A., 1992 Promotion. 1993-1994: Postdoc-Stipendium am Forschungsschwerpunkt für Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas in Berlin (heute GWZO Leipzig). Von 1994 bis 2003 war er zunächst als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Leiter der Bib­liothek, ab 1999 als Stellvertreter des Direktors am Deutschen Historischen Institut in Warschau tätig. 2003 ging er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an die Humboldt-Universität Berlin. Habilitation 2005 in Halle. 2004-2007 NordostInstitut Lüneburg der Universität Hamburg. Seit 2007 ist er Professor für Geschichte Osteuropas an der JustusLiebig-Universität Gießen.

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des „Siegers“ schlage. Bei dem erwähnten Konflikt handelte es sich um den Krieg zwischen dem Deutschen Orden und dem polnischen König (1519/21), der von Agricola national interpretiert wird. Solche frühnationalen Entwürfe lösten Reaktionen aus: So entwickelte sich der polnische Nationsentwurf auf der Basis des Sarmatia-Begriffs, der als autogener Herrschaftsraum der Polen wahrgenommen wurde und je nach Autor bis zur Oder, Elbe und Weser reichen sollte. Frühneuzeitlich mündete dies in einen tiefsitzenden historiographischen Konflikt: „Teutsche Scribenten nur einer Meynung“ – so äußerte sich der Historiker und ermländische Bischof Martin Kromer über die deutschen Schreiberlinge. Insgesamt entwickelte sich die polnische Geschichtskonstruktion in Abgrenzung zu deutschen Konstrukten, auf die polemisch verwiesen wurde (wie innerdeutsch auf italienische oder französische). Tatsächlich bestand frühneuzeitlich jedoch eine breite politische, kulturelle, wirtschaftliche und wissenschaftliche Verflechtung. Deutsch-polnische Buchdrucker wie Johannes Haller oder Hieronymus Vietor waren in Krakau und anderswo tätig. Die in Nürnberg hergestellte Schedelsche Weltchronik

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enthielt die erste bekannte Stadtansicht Krakaus. (Abb. 6) Wirtschaftlich florierten deutschpolnische Handelsnetzwerke im Karpaten- und Ostseeraum, die schwäbischen Fugger entsandten Familienmitglieder nach Krakau und in den Karpatenraum. Familien wie die Boner und die Dietz-Decius wanderten aus Weißenburg im Elsass und Landau in der Pfalz nach Polen ein; Mitglieder der Familie Thurzo, einer slowakischpolnischen Kaufmanns­familie, machten in Breslau Karriere als Bischöfe. Verfassungsrechtlich entwickelten sich das Heilige Römische Reich deutscher Nation und Polen-Litauen parallel: Reichstag (ab 1496) und Sejm (ab 1493), Reichskammergericht und die polnisch-litauischen Tribunale sowie das Wahlkönigtum in beiden gemischten Verbänden zeigen dies. Dies bedeutete, dass insbesondere adlige Eliten in beiden Verbänden vergleichbare

Abb. 6: Die erste Stadtansicht von Krakau (1493), an deren Herstellung Celtis beteiligt war.

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Entwicklungsmöglichkeiten besaßen: Jagiellonische Prinzessinnen wurden im 15./16. Jahrhundert gerne mit deutschen Reichsfürsten verheiratet: Jadwiga/Hedwig in Landshut in Bayern (Abb. 8), Zofia im hohenzollernschen Ansbach, Anna in Pommern, Barbara in Sachsen, Elżbieta/Elisabeth in Liegnitz, Jadwiga/Hedwig in Brandenburg und Zofia in Braunschweig zogen jeweils mit einem polnischen Hofstaat ins Reich und förderten kulturelle Austauschprozesse. Zofias Sohn Albrecht von Brandenburg-Ansbach (1490-1568), der letzte Hochmeister des Deutschen Ordens und erste Herzog in Preußen, beherrschte neben dem Deutschen auch das Polnische in Wort und Schrift und begründete das erste protestantische Fürstentum Europas. In Wien wurde die Jagiellonin Anna, verheiratet mit Kaiser Ferdinand I., zur Stammmutter der österreichischen Habsburger. Am polnischen Hof in Krakau und seit 1596/1611 in Warschau lebten deutschsprachige Eliten. Die Wasakönige Zygmunt III. und Władysław IV. waren nacheinander mit drei habsburgischen Prinzessinnen verheiratet, so

dass der königliche Hofstaat und insbesondere das „Frauenzimmer“ teilweise deutschsprachig waren. Der 45 Jahre herrschende Zygmunt III. bevorzugte im persönlichen Umgang das Deutsche und umgab sich mit deutschsprachigen Vertrauten und Beichtvätern. Deshalb war der Wasahof zwischen 1587 und ca. 1640 zu einem erheblichen Teil deutschsprachig, König Władysław unterhielt Kontakte mit Martin Opitz und Andreas Gryphius.

Verflechtungen zwischen Adelsgesellschaften im 17. Jahrhundert „In meinem Vaterhaus Friedrichstein stand auf einem Tisch im Gartensaal ein alter, goldener Barockrahmen. Er enthielt fünf oder sechs kleine Kupferstiche – Portaits perückengeschmückter Herren, die in bräunlichen, ein wenig abgeschabten Samt eingelassen waren. Es handelte sich um polnische Familienmitglieder […]. Da gab es Wladislaw und Kasimir, Bogislaw und Stanislaus Dönhoff. Sie wurden als Woiwoden von Pommerellen, von Dorpat oder Oberpalen, als Starosten, als

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Abb. 7: Hermann Dönhoff (15911653) in der zeitgenössischen sarmatischen Adelskleidung mit langärmeliger Weste, dem Żupan und dem Schmuckgürtel.

Krongroßmarschall oder Oberhofmeister der polnischen Königin vorgestellt.“ So beschrieb Marion Gräfin Dönhoff rückblickend ihre ersten Kontakte mit der Familiengeschichte. Der Erinnerungsraum, der hier aufscheint, Karrieren deutschsprachiger, zunächst durchweg protestantischer Adelsfamilien im polnischen Reichsgefüge, ist kein Einzelfall. Der Adel suchte Einkunftsmöglichkeiten und Karrierechancen im polnisch-litauischen Reichsgefüge, wobei Karrierepfade sowohl über Ämter am Hof, Militärdienste und ständische Ämter verlaufen konnten. Deutsch-polnische Familiennamen wie die Dönhoff-Denhof, Hülsen-Hylzen, Römer-Remer oder Tiesenhausen-Tyzenhauz stehen exemplarisch für ca. 200 livländische Familien, die diesen Weg gegangen sind. Zeigen kann man dies am Beispiel Dönhoff-Denhof: Die Familie erwarb das für diese Tätigkeitsfelder erforderliche Wissen um 1600 durch Kavalierstouren in die Niederlande und nach Frankreich. Der Militärdienst in polnisch-litauischen Militäreinheiten ging mit einem Erlernen des Polnischen und einer Akkulturation an das Selbstverständnis der Adelsrepublik einher. Dafür gibt es ikonografische Belege: Ein auf die 1630er Jahre zu datierendes Porträt zeigt Herrmann Dönhoff (1591-1653) in der zeitgenössischen sarmatischen Adelskleidung mit langärmeliger Weste, dem Żupan und dem Schmuckgürtel (Abb. 7). Militärischen Karrieren stützten sich durch das 17. Jahrhundert auf ähnliche Faktoren. Durch Ausbildung und Kavaliersreisen besaßen die Dönhoffs militärisches Fachwis-

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sen, das neben den in Polen-Litauen verbreiteten Kenntnissen in der Führung von Kavallerieeinheiten eher rar gesäte Kenntnisse im Festungsbau, im Artilleriewesen, der Belagerungstechnik sowie in der Anwerbung und logistischen Versorgung von Truppen umfasste. Die Herkunft aus Kurland und die deutschen Sprachkenntnisse erleichterten den Zugang zu dem rund um die Ostsee ansässigen Kleinadel, eine Quelle für Offiziere, wie zum deutschen Söldnermarkt. Das mehrheitlich reformierte Bekenntnis der Dönhoffs begünstigte den Erwerb von militärischem Fachwissen, das vor allem über die Niederlande und calvinistische Militäreliten (Niederländer, Schotten, Hugenotten) in Ostmitteleuropa Verbreitung fand. Schließlich akzeptierten diese Militäreliten die Dönhoffs als militärische Führer. Grenzen fanden diese Karrieren an konfessionellen Grenzen, da Polen im 17. Jahrhundert katholischer wurde. Deshalb konvertierten die Dönhoffs und legten ein demonstratives Bekenntnis zum Katholizismus an den Tag: Kaspar Dönhoff ließ sich und seiner Familie seit 1644 auf dem Hellen Berg bei Tschenstochau die Hl. Paulskapelle als Grablege erbauen. Dieses einzige nicht von der Wasadynastie oder dem hohen Klerus in Tschen-

stochau erbaute, bis heute erhaltene, Sanktuarium diente als Vorbild für Stiftungen in ganz Polen und schuf der Familie unter dem Paulinerorden einflussreiche Fürsprecher. Im späten 17. Jahrhundert bekleideten zwei Denhofs Bischofsämter: Johann Kasimir (1649-1697) schlug eine geistliche Karriere ein, war als Gesandter der Krone Polens beim Heiligen Stuhl tätig und wurde infolge der auch gesamteuropäisch erfolgreichen Zusammenarbeit zwischen Polen-Litauen, der Habsburgermonarchie und dem Heiligen Stuhl 1686 zum Kardinal und Bischof von Cesena ernannt. Von den Dönhoffs selbst sind keine Aussagen zu Akkulturations- und Assimiationsproblemen in Polen-Litauen bekannt. Allerdings erforderten die polnischen Sprachkenntnisse stete Übung und lebenslanges Lernen: Gerhard (1590-1648), der die Korrespondenz mit seiner ersten Frau polnisch führte, wurde auf dem Marienburger Ordensschloss sesshaft und hatte gegen Ende seines Lebens Schwierigkeiten, Verhandlungen in polnischer Sprache zu bestreiten: Als er 1648 auf dem Sejm wegen niedriger Abgaben von seinen Dienstgütern angesprochen wurde, löste er mit seiner Erklärung in fehlerhaftem Polnisch Gelächter und Widerspruch aus. Die in Warschau ansässigen Denhofs verfügten dagegen über exzellente Sprachkenntnisse – einige galten zeitgenössisch als mustergültige Redner. Wenig bekannt ist über die Deutschkenntnisse der polnischen Denhofs, zumal nun die Korrespondenz oft in Französisch erfolgte.

Die sächsisch-polnische Union Die sächsischen Kurfürsten wurden als August II. „der Starke“ und als August III. 1697 bzw. 1733 zu Königen von Polen-Litauen gewählt, konnten sich politisch-militärisch durchsetzen und regierten beide Territorien unab-

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Abb. 8: Jagiellonische Prinzessinnen wurden im 15. und 16. Jahrhundert gerne mit deutschen Reichsfür­ sten verheiratet: hier Georg von Wittelsbach und Jadwiga/Hedwig.

hängig in Personalunion voneinander. Die Herrscher entwickelten in beiden Herrschaftsbereichen, im Kurfürstentum Sachsen und in Polen-Litauen, einen Hof und eine Residenzarchitektur und versuchten trotz der verfassungsrechtlich getrennten Staatlichkeiten, die Verbände einander anzunähern und wirtschaftliche wie administrative Synergien zum Zwecke der Herrschaftsstabilisierung einzusetzen. Die unterschiedliche Größe beider Territorien – das von Sachsen umfasste 5% der Fläche Polen-Litauens – bildete dabei kein Problem. Im Gegenteil konnte das wirtschaftlich entwickelte Sachsen mit seinen Manufakturen und Messen im Idealfall Lösungen und Personal für eine administrative Modernisierung in Polen-Litauen bereitstellen, so die von den Herrschern avisierte ideale Lösung. Trotz jeweiliger Indigenatsgebote – nur „Einheimische“ sollten in die jeweiligen staatlichen Ämter ernannt werden – gelangten Sachsen in hohe polnische und Polen bzw. Litauer in hohe sächsische Ämter: In Polen bekleidete der sächsische Minister Jacob Heinrich Graf von Flemming wichtige Missionen. Flemming verband eine enge politische Zusammenarbeit mit Jan Jerzy Przebendowski, beide Politiker stammten aus dem pommersch-

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polnischen Grenzgebiet. Die Flemmings bauten eine eigene Partei in Polen-Litauen auf, indem sie mit wichtigen Familien (Sapieha, Radziwiłł, Czartoryski) durch Heirat Beziehungen aufbauten. Parallel wurden in Sachsen Polen wie Przebendowski und Antoni Dembowski in das Geheime Kabinett aufgenommen. In Warschau entstand eine sächsische Kolonie, in Dresden eine polnische Kolonie. Die sich so herausbildenden sächsisch-polnischen Eliten waren durch eine höfische Soziabilität um den Königshof und politische Interessen miteinander verbunden. 1757 waren nach dem Sächsischen Hof- und Staatskalender 17 der 131 Kammerherren in Dresden und 18 der dortigen 99 Kammerjunker polnische Adlige. Zugleich waren ca. 30% der Offiziersanwärter im Dresdner Kadettenkorps Polen. Dresden bzw. Warschau lagen weit voneinander entfernt, und eine Abstimmung zwischen beiden Metropolen war schwierig. Zwar versuchten die Sachsenkönige, die Postverbindungen zwischen beiden Zentren durch eine tägliche Eilpost zu verbessern, doch waren die Entfernungen mit den kommunikativen Mitteln des 18. Jahrhunderts nicht leicht überbrückbar. In Westpolen bzw. in Ostsachsen ver-

suchten die Könige neue Machtzentren zu schaffen. In günstiger Lage an der Poststrecke zwischen Warschau und Dresden fanden sich Zentren wie Lissa (Leszno) und Fraustadt (Wschowa), in denen Behörden zusammentraten. Wirtschaftliche Synergien standen von Anfang an im Zentrum der Pläne der Könige. Verschiedene Entwürfe, „um Polen in Flohr“ zu setzen, bemühten sich, die sächsische Gewerbeproduktion mit polnischen Rohprodukten und Rohstoffen zusammenzubringen. Merkantilisten wie Paul Marperger formulierten in Wirtschaftstraktaten: „Wir haben aber in einem gewissen Projekt gewiesen, wie das Churfürstenthum Sachsen dermahlen, da sein allergnädigster Landesvater den Pohlnischen Thron besitzet / reiproce mit Polen, die Handlung daselbst besser nutzen, ja selbige gar zu einem gedeihlichen Stapel biß in Persien erstrecken könnte.“ Insbesondere Leipzig entwickelte sich zu einer Handelsdrehscheibe. Marperger bemerkte, „wie man denn viel Polnisch Leder, Wachs, Lamm, Wolle, Juchten, etwas von Levantischen, Türkischen / und Ukrainischen Waren (welche sonderlich die polnischen Juden mitbringen) in Leipzig findet“. Strukturell wurde versucht, im riesigen Polen-Litauen einen Absatzmarkt für Halb- oder Fertigprodukte zu schaffen, umgekehrt die sächsische Produktion durch Importe aus Polen-Litauen weiter auszubauen. Sächsische Ingenieure sollten das Bergwerkswesen in Polen reformieren. Durch die ökonomischen und politischen Kontakte kam es unter Intellektuellen und Publizisten

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gleichfalls zu Austausch- und Transferprozessen, die eine Ausbreitung frühaufklärerischer Vorstellungen beförderten. Der aus Leipzig stammende Arzt, Schriftsteller, Übersetzer und Publizist Lorenz Mitzler de Koloff (1711-1778), ein Schüler des Hallenser Aufklärers Christian Wolff, popularisierte in seinen Zeitschriften wie der „Warschauer Bibliothek“, den „Acta Litteraria“ und den polnischsprachigen „Neuen wirtschaftlichen und gelehrten Nachrichten“, 17581764) neue Konzepte. Ein Produkt dieser engen Beziehungen ist die Zedlersche Enzyklopädie, ein zeitgenössisches Großprojekt des 18. Jahrhunderts, das zwischen 1732 und 1754 in 64 Bänden erschien und das Wissen der zeitgenössischen Welt versammelte. Sie ist auch einzigartig, weil sie durch die Mitarbeit sächsischer und polnischer Autoren Wissen über Polen-Litauen vermittelte. Die Artikel verbreiteten Kenntnisse über den östlichen Nachbarn im deutschen Sprachraum. Der sächsisch-polnische Hof in Dresden und Warschau wie auch die hochadligen Residenzen im Lande hatten in der sächsischen Epoche einen Bedarf an Hofkünstlern und -handwerkern, wobei Trends durch den Hof induziert wurden. Die Herrscher ließen Dresden und Warschau zu repräsentativen Zentren ausbauen, Ziel war eine Anbindung der Eliten an die Monarchie und eine Festigung der Union. Dabei wirkten auch polnische Architektureinflüsse in Dresden. Der polnische Architekt Tilman von Gameren beeinflusste die sächsischen Baupläne. Andererseits kamen sächsische Architekten wie Matthäus Daniel Pöppelmann, der Architekt des Dresdner Zwingers (Abb. 9), nach Warschau und entwarfen dort das Sächsische Palais. Dessen Sohn Carl Friedrich (1697–1750) entwarf die Ostfront des Warschauer Königsschlosses zur Weichsel hin und verbrachte sein gan-

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zes Leben am Sächsischen Bauamt in Warschau. In Warschau ließ August III. Palais und Sächsischen Garten ausbauen. Zusammen mit Palästen wie dem Brühlschen Palais entstand in Warschau in den 1740er und 1750er Jahren die so genannte Sächsische Achse (oś saska), die die Stadt weg vom Weichseltal nach Westen öffnen sollte. Diese Anlage wurde im späten 18. Jahrhundert nicht fortgeführt, war aber für die weitere Stadtentwicklung wichtig und prägt mit dem „Sächsischen Garten“, heute der zentrale Innenstadtpark, das Stadtzentrum. Die sächsisch-polnische Personalunion endete 1763 mit der Wahl Stanisław August Poniatowskis auf den polnischen Königsthron. Die Wettiner verließen Warschau, es verblieben jedoch Beamte und Parteigänger. Die Bestimmungen der polnischen Verfassung vom 3. Mai 1791 sahen in Art. 8 die erbliche Thronfolge des Hauses Wettin nach dem Tode Stanisław Augusts vor. In der Verfassung hieß es: „Wir setzen demzufolge fest, dass der regierende Kurfürst von Sachsen in Polen als König herrschen wird. Der älteste Sohn des herrschenden Königs soll nach seinem Vater auf den Thron nachfolgen.“ Angesichts der schwierigen außenpolitischen Lage lehnte Friedrich August jedoch die Annahme der Krone ab, denn er befürchtete, als König von Polen in Auseinandersetzungen mit Österreich, Preußen und Russland verwickelt zu werden, die bereits 1772 von Polen Gebietsabtretungen erzwungen hatten. Wirtschaftlich blieb jedoch das Verhältnis Sachsens zu Polen-Litauen eng: Die polnisch-litauischen Kaufleute auf den Leipziger Messen machten zwei Drittel der ausländischen Besucher aus, die verbliebenen sächsisch-polnischen Eliten unterstützten Unabhängigkeitsbestrebungen im Kościuszko-Aufstand. Hierfür kann der Militär Jan Henryk Dąbrowski

(auch Johann Heinrich Dombrowski, 1755-1818), der in Hoyerswerda in Sachsen in einer deutsch-polnischen Familie aufwuchs, deutsch wie polnisch und französisch sprach und eine Ausbildung in sächsischen Militärdiensten erhielt, beispielhaft stehen. Dąbrowski weckte durch seine militärischen Leistungen in den polnischen Legionen in französischen Diensten die Hoffnung auf eine Wiedergeburt der polnischen Staatlichkeit. Aus dem Liedgut der Legionen entstand die polnische Nationalhymne, die die Heldentaten Dąbrowskis feiert. Die sächsisch-polnische politische Verbindung wurde 1807-1813 durch den – inzwischen zum sächsischen König von Napoleons Gnaden aufgestiegenen Friedrich August I., Großherzog von Warschau (1750-1827) – erneuert. Er sprach polnisch, regierte wie sein Groß- und Urgroßvater in Dresden und Warschau und führte eine Reformgesetzgebung ein (Code Napoleon). Nach dem Scheitern Napoleons musste er sich nach Sachsen zurückziehen. Die wirtschaftlichen Verbindungen zwischen Sachsen und Polen blieben im 19. Jahrhundert durch die Tätigkeit sächsischer Ingenieure im zentralpolnischen Bergbaugebiet lebendig.

Konkurrierende Nationalisierung und Beginn einer Konfliktgeschichte Der Aufstieg Brandenburg-Preußens zu einer europäischen Macht steht am Beginn einer Konfliktgeschichte. Preußen war nicht nur führend an den Teilungen Polens beteiligt, sondern trug durch eine Politik der Ausgrenzung polnischer Eliten und einer Stereotypisierung von oben (Prägung des abwertenden Begriffs der „polnischen Wirtschaft“) zu einer Verfeindung bei. Bischof Johann Karl Graf von Hohenzollern (1732-1803) aus der katholischen Nebenlinie der Familie kritisierte die Mentalität der preußischen

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Abb. 9: Matthäus Daniel Pöppelmann, der Architekt des Dresdner Zwingers, ging nach Warschau und entwarf dort das Sächsische Palais. Quelle: wikipedia, Immanuel Giel

Verwaltung: „Auf der andern Seite hat mancher Beamte die Gewohnheit, die er angenommen, polnische Bauern und vielleicht auch andere Einsassen dieser Nation mit einer Verächtlichkeit [Hervorhebung i. Org., H.-J. B.] zu begegnen, die sie einer Behandlung gegen das Vieh gleich setzt.“ Anders sahen das deutsche Wissenschaftler, die eine preußische Zivilisierungsmission konstruierten und polnische Leistungen abwerteten. Der Historiker Otto Hintze formulierte 1915 über die Kontaktregion: „Ordnung und höhere Gesittung sind hier erst durch die preußische Herrschaft begründet worden […]; wenn der König [Friedrich II.] immer darauf drängte, die minderwertigen polnischen Bevölkerungselemente so viel wie möglich durch deutsche zu ersetzen, so leitete ihn dabei mehr ein unbewußtes Stammesgefühl“. Andererseits verglichen Intellektuelle die Teilungen Polens und den Untergang des Alten Reich und sahen einen Verlust. Johann Gottfried Seume schrieb 1805: „Wir sind, wenn wir so fortfahren, in der Gefahr, wegge-

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wischt zu werden wie die Sarmaten; und bald wird man in unseren Gerichten fremde Befehle in einer fremden Sprache bringen.“ In einem Brief formulierte er: „Wir sind die Pohlen von A[nn]o 64-94.“ Parallel entstand das Konzept des Überlebens der jeweiligen deutschen bzw. Kultur und Sprache in einer „Kulturnation“. Friedrich Schiller äußerte 1801: „Deutsches Reich und deutsche Nation sind zweierlei Dinge, indem das politische Reich wankt, hat sich das geistige immer fester und vollkommener gebildet.“ Jan Paweł Woronicz, späterer polnischer Primas, formulierte im selben Jahr: „Dieser Grabhügel begräbt nicht Euer Geschlecht! Troja ging unter, damit Rom geboren wurde.“ Polen wie Deutsche imaginierten sich als Trojaner, die ein neues Reich begründen würden. Tatsächlich kam es im 19. Jahrhundert gerade in der deutsch-polnischen Kontaktzone zu einer konkurrierenden Nationalisierung und einem wachsenden Zwang zur nationalen Selbstdeklaration. Schlesier und „polnische Preußen“, Schlonsaken und Masuren

wurden unter administrativem Druck gezwungen, sich als „deutsch“ oder „polnisch“ zu erklären, ein Drittes gab es nicht mehr. In der Realität verliefen Akkultu­ ration und Assimilation in beide Richtungen. Während Vinzenz Poll als Wincenty Pol (1807-1872) zu einem polnischen Nationaldichter und Adalbert von Winkler als Wojciech Kętrzyński (1838-1918) zum Direktor des Lemberger Ossolineums, einer wichtigen polnischen Bibliothek, wurden, brachte es Aleksander Brückner aus Brzeżany als langjähriger Berliner Hochschullehrer zum führenden deutschen Slavisten. Neben der Konfliktgeschichte des 20. Jahrhunderts sollten also immer auch Transfers und Verflechtungen berücksichtigt werden. Eine deutsch-polnische Geschichte geht davon aus, dass Verflechtungen ein zentraler Bestandteil der europäischen Geschichte sind. Programmatisch beschreibt sie sowohl politische Geschichte als auch kulturelle und wirtschaftliche Beziehungen und legt besonderen Wert auf Kontakt- und Austauschprozesse. In diesem Sinne möchte sie durch die Analyse und Erklärung von Austauschprozessen und Verflechtungen in der Mitte Europas einen Beitrag zu einer europäischen Geschichte leisten. •

KONTAKT Prof. Dr. Hans-Jürgen Bömelburg Justus-Liebig-Universität Historisches Institut Otto-Behaghel-Straße 10, Haus D 35394 Gießen Telefon: 0641 99-28251 Hans-Juergen.Boemelburg@geschichte. uni-giessen.de

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Interpretation statt Übersetzung

Interpretation statt Übersetzung Psalterparaphrasen der Reformationszeit in Polen Von Thomas Daiber

Was bedeutet es im 16. Jahrhundert, die Sprache zu wechseln, also die biblische „Ursprache“ in die Volkssprache zu übertragen? Und warum soll dieser Sprachwechsel nicht einfach eine „Übersetzung“, sondern eine „Paraphrase“ sein? Und weshalb wird der Vorgang des Sprachwechsels bevorzugt am Psalter geübt?

Titelblatt der Erstausgabe von Kochanowskis Psalterübersetzung von 1579 Quelle: Jerzy Ziomek, Renesans, Wydawnictwo Naukowe PWN, Warszawa 1999

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u Beginn der Frühen Neuzeit entstehen vornehmlich in den von Reformation und Protestantismus ergriffenen Gebieten Übersetzungen des biblischen Buches der Psalmen in die jeweiligen Volkssprachen. Betrachtet man die polnischen Frühdrucke des 16. Jahrhunderts, erschienen innerhalb von rund 60 Jahren sechs vollständige Übersetzungen des Psalters, nämlich eine lateinische und fünf polnische, zudem ein Separatdruck des Psalters aus der Bibelübersetzung von Wujek: • Ioannes Campensis, Psalmorum omnium iuxta hebraicam veritatem paraphrastica interpretatio, publico, cum nasceretur primum, et absolveretur, Lovanii hebraicarum literarum professore, R. D. Ioanni Dantisco Episcopo Culmensi etc. dedicata, Kraków: Ungler 1532. • Walenty Wróbel, Żołtarz Dawidow / przez Mistrza Valanthego Wrobla z Poznania na rzecż polską wyłożony, Kraków 1539. • Mikołaj Rej, Psałterz Dawidów [Manuskript, 1546] • Jakub Lubelczyk, Psałterz Dawida onego Świętego, a wieczney pamięci godnego Krola y Proroka: teraz nowo na piosneczki po Polsku przełożony, a według Żydowskiego rozdzyału na pięcioro ksiąg rozdzyelony. Kraków: Wirzbięta 1558 • Jan Kochanowski, Psałterz Dawidów. Kraków: Łazarz 1579 • Paweł Milejewski, Psalmy Dawidowe na modlitwy Chrześcijańskie

przełożone, Przydana iest k temu rozmowa o modlitwie y modlitwy ludzi świętych z Bibliey wybrane, s.l. [Raków] 1587. • Jakub Wujek, Psałterz Dawidów Kraków: Piotrkowczyk 1594. Zu dieser Aufzählung kommen noch zwei vollständige Bibelübersetzungen (Biblia Leopolita von 1561 und Brester bzw. Radziwiłł-Bibel von 1563) und etwa 15, vorwiegend in Krakau verbreitete Einblattdrucke mit anonymen Übersetzungen einzelner Psalmen. Unter den Autoren finden sich der „Vater der polnischen Literatur“ Mikołaj Rej, dessen Psalterparaphrase allerdings nicht zu seinen Lebzeiten gedruckt wurde; Jakub Lubelczyk, dessen Bedeutung nicht nur als Mitarbeiter der Brester Bibel erst in jüngerer Zeit erkannt wird; Jakub Wujek, dessen Übersetzung lange den Textstandard der katholischen polnischen Bibel bestimmte, und schließlich der bis ins 18. Jahrhundert als größter polnischer Dichter gefeierte Jan Kochanowski. Dass in Polen im 16. Jahrhundert etwa alle zehn Jahre eine vollständige Ausgabe aller 150 Psalmen vorgelegt wurde, scheint zunächst einfach zu erklären. Erstens kann man auf das reformatorische Interesse an der Verbreitung der Bibel in der Volkssprache verweisen, zweitens kann man anführen, dass singbare Versübersetzungen der Psalmen als liturgische Bausteine und als Kirchenlieder bei einer Durchführung des Gottesdienstes in der

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Daiber

Abb. 2: Jan Kochanowski als lorbeergekrönter Dichter und Sänger des Psalters mit der Laute.

Volkssprache vonnöten sind. Beide Aspekte sind sicher gewichtige Motive, um ein gesteigertes Interesse an der Anfertigung von Psalterübertragungen im 16. Jahrhundert zu motivieren, aber sie reichen m. E. nicht aus, um die Eigenarten der erschienenen Texte zu charakterisieren. Die Reformation begünstigte das Entstehen volkssprachlicher Bibelübersetzungen für die nicht-lateinkundige Bevölkerung; doch damit waren vollständige Bibelübersetzungen gemeint, und so ist nicht erklärt, warum ausgerechnet das Buch der Psalmen, und nur dieses, im Zehnjahrestakt herausgegeben wurde. Außerdem steht am Anfang der ganzen Reihe von Psalterübertragungen kein polnisches, sondern vielmehr ein lateinisches Werk, nämlich ein Nachdruck der zum ersten Mal 1528 erschienenen lateinischen Psalterparaphrase des Johann von Campen. Sie verspricht in ihrem Titel eine „paraphrastische Interpretation aller Psalmen gemäß dem hebräischen Urtext“. Campensis „paraphrasiert“ also einen zu Beginn

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des 16. Jahrhunderts auch unter Gelehrten nur wenigen verständlichen hebräischen Text in einer allgemeiner verständlichen Sprache, dem Latein. Aber warum übersetzt Campensis den Psalter nicht einfach, sondern „interpretiert“ ihn? Die Frage ist, wie wir sehen werden, nicht nur für Campensis relevant, und ich werde im Folgenden der Einfachheit halber alle genannten Psalterausgaben – bis auf Wróbels Kommentar und den Separatdruck Wujeks, der eine Übersetzung ist – als „Paraphrasen“ bezeichnen. Auch das liturgische Argument will nicht zu allen Texten passen. Es ist altkirchliche Tradition, gewisse Psalmen im Gottesdienst zu singen, aus welchem Brauch sich die Kirchenlieder entwickeln. Tatsächlich ist die oben aufgeführte Paraphrase von Lubelczyk „in Lieder“ übersetzt, deren Melodien zumeist den Noten in der französischen Psalterparaphrase von Théodore de Bèze (1551) folgen. Aber Lubelczyks Paraphrase ist die einzige, die zusammen mit Musiknotation erschienen ist. Die heute in der polni-

schen katholischen Kirche gesungenen Psalmparaphrasen von Jan Kochanowski wurden zwar kurz nach ihrem Erscheinen 1580 von Mikołaj Gomółka vertont, waren aber von Kochanowski, der beinahe jeden Psalm mit eigener Strophenform und teilweise komplizierten Versrhythmen versieht, nicht speziell im Hinblick auf ihre Sangbarkeit eingerichtet. Auch das praktisch-liturgische Argument, im 16. Jahrhundert wären verstärkt Psalmparaphrasen angefertigt worden, damit im Gottesdienst in der Volkssprache hätte gesungen werden können, trifft sicher nicht für jede Psalterübertragung zu. Ich möchte daher die Frage nach den polnischen Psalterausgaben im 16. Jahrhundert etwas weiter fassen und nach dem bei Campensis auftretenden Begriff der „Paraphrase“ fragen. Eine „Paraphrase“ bedeutet, „dasselbe in anderen Worten“ zu sagen. Das kann in derselben Sprache geschehen, kann aber auch mit einem Sprachwechsel verbunden sein. Was bedeutet es im 16. Jahrhundert, die Sprache zu wechseln, also die biblische „Ursprache“ in die Volkssprache zu übertragen? Und warum soll dieser Sprachwechsel nicht einfach eine „Übersetzung“, sondern eine „Paraphrase“ sein? Und weshalb wird der Vorgang des Sprachwechsels bevorzugt am Psalter geübt?

Wechsel in die Volkssprache Um zu verstehen, was „Volkssprache“ im 16. Jahrhundert bedeuten kann, sei ein Absatz aus Dantes Abhandlung „De vulgari eloquentia“ (um 1305) angeführt, die als eines der frühesten Zeugnisse der neuen Hochschätzung der Volkssprachen in der Renaissance gilt:

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Interpretation statt Übersetzung

„Volkssprache nennen wir die, die wir ohne alle Regel, die Amme nachahmend, empfangen haben“. „Wir haben auch weiter eine andere, sekundäre Sprache, die die Römer „grammatica“ benannt haben. Diese sekundäre Sprache haben die Griechen und andere, aber nicht alle. Zu deren Handhabung gelangen jedoch nur wenige, denn wir werden in ihr nur durch eine Spanne Zeit und ausharrendes Lernen geschult und gebildet. Von diesen beiden ist die edlere die Volkssprache, erstlich, weil sie zuerst von dem menschlichen Geschlecht gebraucht wurde, zum zweiten, weil die ganze Welt diese anwendet, wenn sie sich auch in verschiedene Aussprachen und Wörter geteilt hat. Drittens, weil sie uns natürlich ist, während jene mehr als etwas Künstliches da ist.“ (Arens 1969, 1, 55).

Zu Recht nennt Arens die zitierte Stelle einen „kuriosen Gedanken“, aber dieser Gedanke ist, wie mir scheint, der einzig mögliche Gedanke einer Epoche vor der historischen Sprachwissenschaft. Denn was ist zu sagen angesichts der Erfahrung, dass es viele Sprachen ‚auf der ganzen Welt‘ gibt, von denen man sich aber nicht vorstellen kann, dass sie in irgendeinem Sinne zeitlich entstehen oder vergehen können? Wenn Sprachen nicht entstehen oder vergehen, dann redet man also auf der ganzen Welt diese eine natürliche Volkssprache, die allerdings in verschiedenen Weltgegenden durch verschiedene ‚Aussprache‘ und durch Erfindung neuer ‚Wörter‘ je so verändert wurde, dass sie nun ‚geteilt‘ erscheint. Das Latein jedoch und das Griechische wird nicht vom Volk gesprochen und ist – hier liegt die Kuriosität – für Dante deshalb nicht älter, sondern vielmehr jünger als die Volkssprache: „Das Latein ist also eine tote Sprache, die niemand mehr im Leben

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spricht; daher erscheint es ihm [Dante] als eine erst nachträglich zum Zwecke der internationalen Verständigung erfundene Sprache (gleich unserem Esperanto)“ (Arens ebd. 56). Dantes Argumentation ist in sich völlig schlüssig. Erstens: Wenn Sprachen nicht entstehen und vergehen, was sie nur in der Sicht einer historischen Sprachwissenschaft tun können, dann sind diejenigen Sprachen, die von allen gesprochen werden, allesamt Bestandteile einer einzigen natürlichen Ursprache, und die anderen Sprachen, die man künstlich lernen muss, sind irgendwie nachträglich erfunden. Zweitens: Die Sprache, die man von der Amme lernt, wird natürlicherweise angeeignet; die künstlichen Sprachen sind zwar genauer im Ausdruck, aber mühsam zu lernen. Drittens: Wenn Sprachen nicht entstehen und vergehen, dann entstehen sie auch nicht auseinander. Wie ist zu erklären, dass die Menschen auf der ganzen Welt, die doch alle diese natürliche Sprache sprechen, sich nicht untereinander verständigen können? Offenbar muss diese eine natürliche, uranfänglich gemeinsame Sprache im Laufe der Zeit durch „Aussprache“ und Erfindung neuer „Wörter“ regional verdorben worden sein. Diese Vorstellungen werden bis ins 16. Jahrhundert hinein – ja teilweise bis ins 19. Jahrhundert hinein – in immer neuen Variationen wiederholt: • Es gibt zwei verschiedene Arten von Sprachen: Volkssprachen und künstliche Sprachen. • Die Volkssprache wird aus dem Gebrauch natürlich gelernt. • Die künstliche Sprache besitzt genaue Regeln. • Der Unterschied zwischen den Volkssprachen muss als „Verdorbensein“ einer ursprünglichen Grundsprache erklärt werden. Die Begriffe von geregelter Kunstsprache und aus dem Gebrauch zu lernender Volkssprache können je

Autor variieren, wobei sich vor allem die Bewertung der Pole Künstlichkeit und Natürlichkeit radikal ändern kann. Die künstliche Sprache „Latein“ ist bei Dante negativ belegt, aber sie kann auch positiv bewertet werden. Theologisch wird der Gegensatz von den „geregelten“ Bibelsprachen Hebräisch, Griechisch und Latein und den „ungeregelten“ Volkssprachen zumeist dahingehend gelöst, dass die Sprachen der Bibel als inspiriert gelten, während die Volkssprachen den Sprachzustand nach der Zerschlagung des babylonischen Turms repräsentieren. Beispielhaft drückt das – und noch im 16. Jahrhundert nach dem Erscheinen der ersten tschechischen Bibelübersetzungen (1488 Hussitenbibel und 1564 das NT der Kralitzer Bibel) – Ondřej Klatovský aus, der Deutschen und Böhmen das gegenseitige Verständnis ermöglichen will, aber keine Grammatik schreibt, sondern ein „Gesprächsbuch“, also eine Sammlung alltäglicher Redewendungen in zwei Sprachen (ähnlich wie der Sprachanhang in heutigen Reiseführern), denn von den Volkssprachen könne man gar keine Grammatik verfassen. Nicht alle Sprachen seien nämlich der grammatischen „Kunst“ zugänglich, sondern nur „diese drey/ die Juedisch oder Hebreische/ Griechische/ und Lateinische/ die haben ire gewisse Regeln“ (Klatovský 1567, Vorwort).

Hebräisch, Griechisch und Lateinisch sind die Sprachen, die grammatisch geregelt sind, die Volkssprachen aber sind durch die Zerschlagung des babylonischen Turmes entstanden und können nur als regellose „Dialekte“ gelten. Die Vorstellung von einer Volkssprache, die man nur aus dem „Gebrauch“ erlernen kann, weil sie keinen festen Regeln unterliegt, gibt Luthers bekanntem Dictum aus dem „Sendbrief

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vom Dolmetschen“ (1530) eine gewisse neue Lesart. Luther verteidigt die von ihm gewählte Sprachnorm gegen vorgehende und zeitgleiche andere Bibelübersetzungen und reproduziert dabei mit dem Ausdruck ‚dem Volk aufs Maul zu schauen‘ genau das Diskursmuster von nur mündlich gegebener und aus dem Gebrauch zu erlernender Volkssprache: den man mus nicht die buchstaben inn der lateinischen sprachen fragen, wie man sol Deutsch reden (…) sondern man mus (…) den gemeinen man auff dem marckt drumb fragen und den selbigen auff das maul sehen, wie sie reden (…) (Luther 1917, 176).

Die Gegenüberstellung von schriftlichem Latein („buchstaben“) und mündlicher Volkssprache („maul“) als konzeptueller Gegensatz von gelehrter Schriftsprache und dem Gebrauch abzuhörender Volkssprache bestätigt nur nochmals, dass die Volkssprache im 16. Jahrhundert als ungeregeltes Idiom gilt, das nur aus dem Gebrauch zu lernen ist. Was bedeutet es also, die Bibel in die Volkssprache zu übersetzen?

Körper und Geist Die Bibel ist, so etwa der oben zitierte Klatovský, in den Sprachen der „Kunst“ geschrieben, welche grammatisch geregelt sind und daher eine exakte Übereinstimmung von sprachlichem Zeichen und bezeichneter Realität aufweisen. Diese exakte Übereinstimmung zwischen Zeichen und Bezeichnetem galt als so genau, dass eine oft geübte Methode der Bibelauslegung im Mittelalter darin bestand, sogar die materialen bzw. formalen Eigenheiten des Bibeltextes (etwa: wie viele Wörter hat der Satz?) oder die Klangähnlichkeit von sinnverwandten Wörtern als bedeutungstragend

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zu verstehen (als Beispiel etwa Kranz 2010). Diese so genannte „etymologische“ Exegese des Bibeltextes ist an Übertragungen des Bibeltextes in eine andere Sprache nicht durchführbar, wo sich die Anzahl von Wörtern und etwaige Klangähnlichkeiten ändern. Sie beruht auf dem Dogma einer „Verbalinspiration“ des Bibeltextes, demzufolge die Bücher der Heiligen Schrift Wort für Wort ihrem jeweiligen Autor vom Heiligen Geist diktiert worden wären. Genau dieses Dogma fällt im 16. Jahrhundert, weil die Vorstellung der Verbalinspiration der grundlegenden Freiheit des Menschen widerstreitet (vgl. Lauster 2004). Vor diesem Horizont sollte das Unternehmen Bibelübersetzung im 16. Jahrhundert gesehen werden. Der geregelte Sprachausdruck der Heiligen Schrift soll in eine sprachlich ungeregelte Volkssprache übertragen werden, was nur so geschehen kann, dass man allein den Sinn des Originaltextes übertragen will und in der Übertragung des Sinnes auch bereits die ganze Aufgabe sieht. Die Bibelübersetzungen der Renaissance wollen nicht mehr wie die volkssprachlichen Bibelglossen des Mittelalters Übersetzungshilfen sein, die zum Verständnis des Originaltextes anleiten, sondern sie wollen echte Übersetzungen sein: nämlich den Originaltext in einer anderen Sprache vollgültig repräsentieren. Ein wenig allgemeiner gesprochen gehört das Unternehmen Bibelübersetzung damit zu dem ganzen Epochenumschwung der Renaissance, indem nun nicht nur die idealen Medien, sondern auch die ungeregelten, aber dafür natürlichen Medien die sinnhafte Bedeutung tragen können. Die scharfe Trennung des Mittelalters zwischen Geist und Körper wird aufgehoben. Die mittelalterliche Vorstellung einer gefallenen Körperlichkeit, welche sich nur in asketischer Selbstverleugnung der idealen Urbildlich-

keit annähern kann, wird im 16. Jahrhundert dahingehend durchbrochen, dass das körperliche Dasein, obgleich unvollkommen, bejaht wird als Ausdruck der idealen Urbildlichkeit. Die Aufwertung des Körpers, des natürlichen Seins, ist überall zu sehen. In der bildenden Kunst etwa erscheinen Madonnenbilder, deren sakrale Bedeutung nur noch am Heiligenschein erkenntlich ist, ansonsten ähneln sie zum Verwechseln einer zeitgenössischen Frau mit einem Kind auf dem Schoß. Die allgemeine Aufwertung des Körperlichen auf den Sprachkörper bezogen: Der unvollkommene Körper der Volkssprache wird als natürlich gegebenes Medium erachtet, um den idealen Sinn der Heiligen Schrift auszudrücken, und das ungeregelte, aber natürliche Medium tritt so in Konkurrenz zum idealen, aber künstlichen Medium.

Paraphrase Wenn die natürlichen, aber unvollkommenen Körper das Ideale ausdrücken sollen, kann eigentlich gar keine „Übersetzung“ zustande kommen. Man kann das Ideale nicht in das Ungeregelte übersetzen, man kann sich eigentlich nur bemühen, das Gemeinte unter neuen Bedingungen zu „wiederholen“. Eine Theorie der Übersetzung basiert darauf, dass sowohl die Ausgangssprache wie die Zielsprache zwei zwar verschiedene, aber prinzipiell gleichrangige Sprachen sind. Wenn man annimmt, dass die „heilige“ Ausgangssprache das zu Sagende ein für allemal ideal und in größtmöglicher Bedeutungsfülle ausgedrückt habe, dann ist jede Übertragung in eine Volkssprache nur noch ein schwacher Widerschein, der sich unter erschwerten Umständen darum bemüht, das Wichtigste zu wiederholen. Der Begriff „Wiederholung“ ist mit Rücksicht auf Søren Kierkegaards gleichnamige Schrift von 1843 gewählt. Im

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Interpretation statt Übersetzung

Gegensatz zu einer „Übersetzung“ soll damit die „Paraphrase“ gekennzeichnet sein: den Ausgangstext unter den Wahrnehmungsbedingungen des Übertragenden zu wiederholen. Weil hier kein Raum für theoretische Erörterungen ist, will ich die Wiederholung (= Paraphrase) lieber an einem Beispiel verdeutlichen. In der Übersetzung von Psalm 2, 6-8 heißt es in der Lutherbibel von 1545: 6 Aber ich habe meinen König eingesetzt auf meinem heiligen Berg

Zion. 7 Ich will von einer solchen Weise predigen, daß der HErr zu mir gesagt hat: Du bist mein Sohn, heute hab ich dich gezeuget. 8 Heische von mir, so will ich dir die Heiden zum Erbe geben und der Welt Ende zum Eigentum. Ein Übersetzer hat mit diesen Versen kein Problem, denn er muss deren Inhalt nicht verantworten; es ist schließlich der Psalmdichter, welcher hier von sich sagt, dass Gott ihn als König und Sohn anerkannt habe. Wer aber

eine Paraphrase anfertigt, also eine Wiederholung des Inhaltes unter den eigenen Wahrnehmungsbedingungen, muss sich ernsthaft fragen, ob er, der Reformulator selbst, von sich selbst sagen will, Gott habe ihn zu seinem Sohn erklärt. Alle Texte, die sich diese Frage stellen, führen zu Paraphrasen, also zu Wiederholungen des Inhaltes („Du bist mein Sohn“) unter den Wahrnehmungsbedingungen des Übertragenden; Texte, die den Inhalt einfach als Wahrnehmung des ursprünglichen Autors reproduzieren, sind Übersetzungen (obige Liste: Wujek). Der im Polnischen „ausgelegte“, also erklärende Psalter von Wróbel reflektiert die Schwierigkeit der Wiederholung und umgeht sie, indem ein Kommentar zu jedem lateinischen Vers den Inhalt entschärft. In dem Falle würden etwa Vers 6 und Vers 7 gar nicht von David bzw. dem lyrischen Ich des Psalms gesprochen, sondern es seien vielmehr Worte Jesu Christi selbst, die David verbalinspiriert niedergeschrieben habe. Wróbel schreibt eine kommentierende Übersetzung, wobei er den Text sozusagen in Einzelteile zerlegt, die keinem einheitlichen Autor, weder dem ursprünglichen Autor des Ausgangstextes, noch dem Autor des Zieltextes, zugeordnet werden können. Wróbels Kommentar zerlegt den Ausgangstext, um eine christologische Lesart herzustellen, dass nämlich die alttestamentarischen Verse prophetisch auf die Ereignisse des Neuen Testamentes und auf Christus hin verstanden werden können. Die christologische Lesart hat eine lange mittelalterliche Tradition und

Abb. 3: Mehrsprachige Ausgabe des Alten Testaments in den Sprachen Latein, Hebräisch, Aramäisch, Arabisch und Griechisch, Genua 1516; Quelle: wikipedia, Warburg

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ist nicht epochenspezifisch für die Renaissance. Wróbels Psalterausgabe ist allerdings interessant dadurch, dass er in seinem Kommentar das Problem des Reformulierens genau anzeigt. Mikołaj Rej schreibt bereits eine einheitliche Prosaparaphrase: Abowiem powiada Pan, iż ja nie folgując nikomu, obrałem sobie króla, ktory mi się upodobał, któregom przełożył nad wszytkim zebranim ludzkim i w którymem umyślił wszytki kształty bóstwa swego osobliwie objawić. Es spricht nämlich der HErr so: ich habe ohne Rücksicht auf irgendjemanden mir einen König erwählt, der mir gefiel, den ich über alle versammelten Menschen setzte und dem ich gedachte, alle Gestalten meiner Gottheit in ihrer Eigenart erscheinen zu lassen. Rej bewahrt ebenso wie Wróbel die christologische Lesart, denn unter

dem alle Eigenschaften Gottes sichtbar machenden König ist in christlichem Sinne nur Christus zu verstehen. Aber Rej hat schon einen Zusatz, nämlich, dass derjenige erwählt wurde, „der mir gefiel“. Der kleine Zusatz ist bedeutend und auch in allen folgenden Paraphrasen zu finden. In Jakub Lubelczyks gereimter Psalmparaphrase klingen die Verse so: Rzekł do mnie wszechmocny Pan z Majestatu swego / Tyś jest sam wdzięczny mój syn z narodu mojego / Ciebiem ja dziś porodził ku kochaniu swemu Es sprach zu mir der allmächtige HErr in seiner Majestät: Du selbst bist mein lieber Sohn aus meinem Volk, Dich habe ich heute zu meiner Liebe gezeugt. Bei Lubelczyk erzählt das lyrische Ich der Verse von sich selbst, dass es selbst „der liebe Sohn“ sei, den Gott geschaffen habe, um ihm seine Liebe

Der Autor Thomas Daiber, Jahrgang 1961, ist seit 2007 Professor für Slavische Sprach- und Kulturwissenschaft an der Justus-LiebigUniversität Gießen. 1982-89: Studium der Germanistik (Neuere deutsche Literaturwissenschaft), Philosophie und Slavistik an den Universitäten Freiburg i. Br. und Wien, 1989: Magister Artium; 1991 Promotion zum Dr. phil. (Slavistik) mit einer Arbeit zur slavischen Grammatographie, Studium und Promotion als Stipendiat der Studienstiftung des Deutschen Volkes. 1991 Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Slavistik in Freiburg, 1992-96 DFG-Forschungsprojekt „Aufschriften auf russischen Ikonen“; 1996-98 DFG-Habilitationsstipendium „Polnische Psalterparaphrasen“. 19982004 Wissenschaftlicher Assistent der Slavistik in Halle/ Saale; 2003 Habilitation an der Universität Halle/ Saale. Seine Forschungsschwerpunkte: Historische Sprachwissenschaft (Morphosyntax), Textlinguistik (Gesprächsanalyse, Übersetzungen) und Orthodoxe Ikonen.

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erzeigen zu können, und auch bei Lubelczyk sehen wir den schon bei Rej bemerkten Zusatz, dass es der „liebe Sohn“ sei, der erwählt wurde. Bei Kochanowski schließlich wird die Emphase, selbst der von Gott Angeredete zu sein, am emotional deutlichsten vorgeführt: Jam jest, mój Boże, król ten, który Tobie/ Tak się spodobał; przez mię będzie wiedział/ Świat Twe wyroki, boś mi w głos powiedział:/ „Tyś mój syn, jam cię dziś umnożył sobie. Ich bin, mein Gott, dieser König, der Dir so gefiel; durch mich wird die Welt Deine Gebote erfahren, denn Du hast mir vernehmlich gesagt: „Du bist mein Sohn, ich habe Dich heute für mich vermehrt.“ Von Wróbels Kommentar bis zu Kochanowskis Versen wird das Bemühen immer deutlicher, einerseits die christologische Lesart der Verse aufrecht zu erhalten, und andererseits gleichzeitig die Möglichkeit zu eröffnen, dass das lyrische Ich des Zieltextes doch auch gleichzeitig der von Gott Angeredete sein kann, und dies wird erreicht durch den überall bemerkten Zusatz: ‚lieber Sohn, der mir gefällt‘. Es ist unschwer zu erkennen, dass alle Übertragungen des alttestamentarischen Psalms, die eine Paraphrase sein wollen, an die Taufszene Jesu aus Mt 3,17 anspielen, wo es heißt: Und siehe, eine Stimme vom Himmel herab sprach: Dies ist mein lieber Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe. Alle Übertrager der Bibel in die Volkssprache, die den alttestamentarischen Text nicht nur übersetzen, sondern wiederholen wollen, stehen vor dem Problem, den Sinn des alttestamentarischen Textes unter den Wahr-

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Interpretation statt Übersetzung

nehmungsbedingungen des christlichen Übertragers zu wiederholen, und so bietet sich die Anspielung auf Mt 3,17 an: Einerseits wird mit dem Zusatz ‚lieber Sohn, der mir gefällt‘ in den alttestamentarischen Text die Anspielung an die neutestamentarische Taufszene Jesu eingefügt und so der Psalm in seine christologische Lesart überführt. Anderseits wird darüber hinaus auch ermöglicht – und Kochanowski ergreift diese Möglichkeit am deutlichsten – dass auch der Paraphrast selbst sich als Sohn Gottes aussagen kann, denn in christlichem Verständnis sind alle Getauften auch „Kinder Gottes“. Kochanowskis Verse sind hier am deutlichsten: Gott habe ihm „w głos“ gesagt, dass er ihn zum Sohn annehme. Polnisch „w głos“ heißt „laut, vernehmlich“ (modernes Polnisch: na głos), wäre wörtlich als „in die Stimme“ zu übersetzen. Mit einem Wortspiel deutet Kochanowski auf den Begriff der Verbalinspiration und führt ihn gleichzeitig vor. Das vernehmliche Sprechen Gottes und das daraus beim Dichter Stimme werdende Gedicht erschaffen das, worum es geht: wer sich als Kind Gottes bekennt, ist dadurch der Sohn, zu dem gesprochen wird.

Der Gipfel der Dichtkunst Zu den christologisch motivierten Lesarten in den polnischen Psalmparaphrasen des 16. Jahrhunderts wäre noch einiges zu sagen; an vorstehendem Beispiel aus Ps 2 sollte zumindest deutlich geworden sein, dass Paraphrasen sich von Übersetzungen dahingehend unterscheiden, dass sie den Ausgangstext unter ihren aktuellen Wahrnehmungsbedingungen wiederholen, seien diese eher kollektiv gefasst (christliches Verständnis alttestamentarischer Texte) oder eher subjektiv zugespitzt wie bei Kochanowski (der polnische Dichter selbst tritt an die Stelle Davids). Eine Theorie verschiedener

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Abb.4: Holzschnitt vom „Vater der polnischen Literatur“ Mikołaj Rej Quelle: www.polona.pl/dlibra/ doccontent?id=6145&from=FBC

Kochanowski im Widmungsgedicht zu seiner Psalterparaphrase dies deutlich ausgedrückt: I teraz ci z Libanu niosę Dawidowe / Złote gęśli a przy nich polskie pieśni nowe (…) I wdarłem się na skałę pięknej Kalijopy, / Gdzie dotychmiast nie było znaku polskiej stopy.

Reformulierungshandlungen (Übersetzen, Paraphrasieren, Adaptieren, Parodieren, Persiflieren usw.) in heutigem Sinne war noch nicht vorhanden, und deren Geschichte nachzuzeichnen ist hier nicht der Ort. Wohl aber ist abschließend zu fragen, warum es gerade der biblische Psalter sein musste, an dem die paraphrasierende Reformulierung so oft geübt wurde. Hier ist an das eingangs Gesagte über die Bedeutung des Psalters für den Gottesdienst zu erinnern, aber eben deshalb auch daran, dass die Psalmen, die jeder Beter mit seinem eigenen „Ich“ spricht, darum besonders als Textsorte dazu prädestiniert sind, nicht übersetzt, sondern „wiederholt“ zu werden. Der alte Text wird wiederholt unter den Wahrnehmungsbedingungen des aktuell Sprechenden, sei es als Glied der christlichen Gemeinde (Lubelczyk: „Volk“), sei es als der individuell Einzelne, der sich als Angesprochenen erkennt wie bei Kochanowski. Von allen alttestamentarischen Textsorten ist es gerade die Lyrik des hebräischen Psalters, die dazu reizt, sie vom Standpunkt des aktuellen sprechenden Ichs zu wiederholen. Dazu kommt, dass der Psalter traditionell im christlichen Verständnis als Gipfel der Dichtkunst galt. Wieder hat

Und nun bringe ich Dir vom Libanon die goldene Leier Davids und dabei neue polnische Lieder. (…) Und ich begab mich auf den Gipfel der schönen Kalliope, wo sich bislang keine Spur eines polnischen Schrittes fand. Der Psalter ist wegen verschiedener Aspekte ein Prüfstein der Dichtkunst. Zu dem Epochengefühl der Melancholie im 16. Jahrhundert passt, dass David, dem die Tradition sämtliche 150 Psalmen als Autor zuschreibt, seit den Ausführungen des Augustinus zu Ps 43 („Ennarationes in Psalmos“) als Vorbild der Melotherapie dient, denn er vertrieb die Schwermut Sauls wie bekannt eben durch sein die Psalmdichtung begleitendes Saitenspiel. Das Problem der Melancholie gehört insofern zu unserem Thema, als das oben angesprochene neue Verhältnis zwischen Körper und Geist notwendig zu einem melancholischen Grundgefühl führt. Wenn das körperliche Dasein, obgleich unvollkommen, bejaht wird als Ausdruck der idealen Urbildlichkeit, so ist ihm eine Aufgabe gegeben, die immer nur unvollkommen und unvollendet erfüllt werden kann. Es bleibt immer bei einer vorläufigen Erfüllung, immer bei dem Bewusstsein, dass „sub specie aeternitatis“ die Bemühung vergeblich war.

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Abb. 5: Psalm 1, Vers 1-2 aus der Biblia Hebraica Stuttgartensia

tische Kodifizierung der Volkssprachen kaum begonnen hatte und die normative Kraft des Lateinischen als Bildungssprache noch fast ungebrochen bestand, als mediale Möglichkeit erst einmal vorgeführt werden. •

Abbildung: Ekuah

ǺǺ Während es nun wirklich vermessen ist, hier noch schnell das Problem „Melancholie“ zu erledigen, sollte doch zumindest klar sein, dass die Möglichkeiten der Volkssprache gegenüber den idealen „heiligen“ Bibelsprachen Hebräisch, Griechisch und Latein genau dort am besten gezeigt werden können, wo dem Muster der Dichtkunst ein ebenbürtiges volkssprachliches Pendant zur Seite gestellt werden kann. Der Psalter ist als Dichtungsideal der Prüfstein für die Kraft Volkssprache, und diese Ansicht drückt sich in Kochanowskis Widmungsgedicht klar aus. Abschließend kann also gesagt werden, dass jenseits der praktischen Bedürfnisse der Reformation nach volkssprachlichen Bibelübersetzungen gerade die Reformulierung des Psalters mit mehreren Motiven verbunden ist. Zum einen reizt er zum „Wiederholen“, Paraphrasieren, was zunächst nichts mit dem Problem der Volkssprache zu tun hat (siehe Campensis), sondern vielmehr mit der Epochenspezifik der Renaissance, nämlich der Wiederholung der alten Werte unter neuen Wahrnehmungsbedingungen. Als Textsorte, die zur Wiederholung reizt, eignet sich der Psalter mit seiner Betonung der lyrischen Subjektivität ganz besonders. Das Problem der Wiederholung ist dabei noch speziell mit der Frage der Bibelübersetzung verbunden, indem von einer idealen „heiligen“ Sprache gar keine Übersetzung im strengen Sinne angefertigt werden kann, sondern nur der Versuch, die Bedeutung

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unter neuen Sprachbedingungen zu wiederholen. All diese Aspekte wirken zusammen und geben den zahlreichen Psalterreformulierungen des 16. Jahrhunderts in Polen (und auch anderswo in Europa) ihre charakteristischen Texteigenschaften, nämlich zumindest christologische Lesarten, zumeist auch reformatorische Untertöne. Das Übersetzen kulturautoritativer Texte ist keineswegs eine Tätigkeit, die sozusagen stabil durch alle Zeiten gleich abläuft. Vielmehr war die Frage der Bibelübersetzung im 16. Jahrhundert auch damit verbunden, dass die Vorstellung von „heiligen“ Sprachen im Zuge der allgemeinen neuen Weltzuwendung unhaltbar wurde. Heute, nach dem Entstehen der historischen Sprachwissenschaft am Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts, begreifen wir natürliche menschliche Sprachen als akustische Symbolsysteme, in denen die Bedeutung der Zeichen im Kommunizieren ausgehandelt und auch immer verändert wird, und in denen sich systemische und durch die äußere Sprachgeschichte induzierte Veränderungsmöglichkeiten immer neu auswirken. So liegt für uns die Zeitgebundenheit des Übersetzens im jeweiligen historischen Sprachstand der Zielsprache, im Epochengeschmack der Übersetzungszeit und natürlich auch in den individuellen Formulierungsmöglichkeiten des Übersetzers begründet. Der für uns selbstverständliche Vorgang des Übersetzens musste in einer Zeit, als die gramma-

LITERATUR

Arens, H. 1969: Sprachwissenschaft. Der Gang ihrer Entwicklung von der Antike bis zur Gegenwart. 2 Bde., Frankfurt a. M. Klatovský, O. 1567: Knyžka w Cžeském a Niemeckém Jazyku složená / kterakby Cžech Německy a Němec Cžeský čijisti / psáti / y mluwiti / učiti se měl. Praha: Georg Melantrich von Auentin. Kranz, D. K. 2010: Die etymologische Exegese des Namens ”Manasse” in der Patristik und bei einigen Autoren des frühen Mittelalters. In: Alpha Omega 13/ 1, 29-44. Lauster, J. 2004: Prinzip und Methode. Die Transformation des protestantischen Schriftprinzips durch die historische Kritik von Schleiermacher bis zur Gegenwart. Tubingen. (= HUTh 46) Luther, M. (1917): Werke. Kritisch durchgesehene und erlauterte Ausgabe, ed. A. E. Berger. 3 Bde., Leipzig, Wien s. a. [1917].

Kontakt Prof. Dr. Thomas Daiber Justus-Liebig-Universität Institut für Slavistik Otto-Behaghel-Straße 10 D 35394 Gießen thomas.daiber@slavistik.uni-giessen.de

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Ringvorlesung Deutschland und Polen – Jahrhunderte eines kulturellen Dialogs Mi 18–20 Uhr, Phil I A3 24.10.2012 Deutsche Literatur in Schlesien im 13. Jahrhundert: Dietrichs von der Glezze pikante Erzählung Der Borte (Cora Dietl) 31.10.2012 Die deutsch-polnische Verflechtungsgeschichte ab dem 15. Jahrhundert. Besonderheiten und methodische Fragen (Hans-Jürgen Bömelburg) 07.11.2012 Günter Grass zwischen Polen und Deutschland (Elzbieta Kapral, Łódź) 14.11.2012 Texte zu und aus dem Getto Łódź/Litzmannstadt und ihre Rezeption in Deutschland und Polen (Sascha Feuchert) 21.11.2012 Die Krakauer Eliten im 15. und 16. Jahrhundert. Zusammenleben, Austausch und Verflechtung in einer ostmitteleuropäischen Metropole (Zdzislaw Noga, Krakau) 28.11.2012 Danzig als frühneuzeitlicher Kontaktraum (Edmund Kizik, Warschau) 05.12.2012 Psalmennachdichtungen der deutschen und polnischen Renaissance (Thomas Daiber)

19.12.2012 Thomas Mann und die Rezeption seines Werks in Polen (Malgorzata Kubisiak, Łódź) 16.01.2013 Zum Bild der Deutschen in der polnischen Nachkriegsliteratur: Leon Kruczkowski und sein Drama Niemcy (1949; Die Deutschen oder Die Sonnenbrucks) (Reinhard Ibler) 23.01.2013 Schlesien als Wiege der deutschen Literatur? (Kai Bremer) 30.01.2013 Die polnischen Künstler in Deutschland zwischen 1860 und dem Ersten Weltkrieg. Zwischen Exotik und Moderne (Piotr O. Scholz, Lubin) 06.02.2013 Abbey Road statt Batumi? Die Popkultur der Volksrepublik Polen zwischen West und Ost (Markus Kyzoska) 13.02.2013 Warum | ist überall und allenthalben i[n] d[er] Welt dieser | gnadenlose Nationalismus erwacht? Gerhart Hauptmanns Auseinandersetzung mit dem deutschpolnischen Verhältnis im Zweiten Weltkrieg (Antje Johanning, Berlin)

12.12.2012 Andrzej Stasiuk: ein Autor des Grenzlandes (Joanna Firaza, Łódź)

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Schlesien – Die Wiege der deutschen Literatur? Vom Literaturreformer Opitz und den „Schlesischen Dichterschulen“ Von Kai Bremer

Die Germanistik hat Schlesien seit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert immer besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Denn hier hat die deutsche Lyrik zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) ihre bis heute grundsätzlich geltende Form erhalten. Doch ob diese Formgebung tatsächlich dieser Region geschuldet ist oder sich dort eher zufällig ereignete, das wird selten erörtert. Dieser Frage widmen sich die folgenden Überlegungen.

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Schlesien – Die Wiege der deutschen Literatur?

Z

unächst wird der immer wieder als „Vater der deutschen Dichtung“ bezeichnete Literaturreformer Martin Opitz vorgestellt. Auf ihm gründen sich, so die vielfache Meinung in der Germanistik, die so genannte erste und zweite schlesische Dichterschule. Obwohl bis heute Untersuchungen über sie erscheinen, scheint es gleichwohl geboten zu klären, wer und was damit gemeint ist. Wie wir sehen werden, ist das gar nicht so leicht zu beantworten. Schließlich soll die Frage erörtert werden, was das Spezifische Schlesiens in dieser Zeit ausmachte und welche Bedeutung der polnischen Literatur dabei zukam.

Martin Opitz: Reformer oder Importeur? Martin Opitz war ein Literaturtheoretiker, Philologe und Schriftsteller. Er ist ein Musterbeispiel dafür, dass gute Bildung den Lebensweg eines Menschen entscheidend beeinflussen kann. Er wurde 1597 in Bunslau in Schlesien als Sohn eines Metzgers geboren, besuchte ab 1614 das Gymnasium in Breslau und kam so mit schlesischen Gelehrten in Kontakt. Opitz lernte dadurch auf Umwegen die niederländische Dichtung ken-

Titelblatt der 4., im Titel erweiterten Auflage von Opitz‘ Poetik. Ex. der UB Gießen (Rara 2634-3)

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nen, die ihn sehr beeinflussen sollte. In Leiden, der bis heute wichtigen niederländischen Universitätsstadt, freundete er sich mit dem Literaturreformer Daniel Heinsius an. Dieser und die konkreten Erfahrungen in den Niederlanden, wo die volkssprachliche Dichtung um 1600 einen weit höheren Stellenwert unter den Gelehrten hatte als im Reich, machten Opitz deutlich, dass auch in der Volkssprache anspruchsvolle Literatur möglich war. Als Hauptgrund für die mangelnde Akzeptanz der volkssprachlichen Literatur innerhalb der gelehrten Kreise betrachtete Opitz, dass es keine konkreten Regeln für die deutsche Dichtung (anders als für die lateinische) gab und dass deutsche Verse anmutiger werden müssten. Anschauung, wie das gehen konnte, bot die niederländische Literatur. Dort war in der Lyrik der regelmäßige Wechsel von Hebungen und Senkungen etabliert. Das war ein Gedanke, der Opitz begeisterte. Zwar neigt das Deutsche eh zu einem Wechsel von betonten und unbetonten Silben. Aber in der deutschen Lyrik hatte sich darüber bisher kaum jemand Gedanken gemacht. Opitz übertrug diesen Gedanken aus der niederländischen auf die deutsche Literatur. Niedergeschrieben hat er sie im Buch von der Deutschen Poeterey, das 1624 publiziert wurde. Es ist die Ursache dafür, dass Opitz später ‚Vater der deutschen Dichtung’ genannt wurde.

Martin Opitz (1597-1639)

Im Zentrum seiner Überlegungen stehen die Versreformen, konkret die Einführung von Versfüßen. Opitz etablierte mit dem Buch von der Deutschen Poeterey die Versfüße im Deutschen, die heute wohl (fast) jeder im Schulunterricht kennenlernt: Jambus und Trochäus. Um ihre Eignung für die deutsche Sprache zu beweisen, führte er Jambus und Trochäus mit dezidiert deutschen Beispielen ein – nämlich mit zwei Versen aus zwei bekannten lutherischen Kirchenliedern: Ein Jambus ist dieser: Erhalt vns Herr bey deinem wort. Der folgende ein Trochäus: Mitten wir im leben sind.

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Bremer

Opitz beschränkte sich nicht auf die Reform des Versmaßes. Er etablierte den Alexandriner, den sechshebigen Jambus mit Binnenzäsur nach der dritten Hebung mit männlicher oder weiblicher Kadenz. Der Alexandriner sollte zum wichtigsten Vers des Barock werden. Er dominierte die beliebteste Gedichtform, das Sonett, und das barocke Trauerspiel. Wesentliche Formmerkmale dessen, was nach Meinung des Schulunterrichts oder gängiger Einführungen in die Lyrik hochdeutsche Dichtung bis heute ausmacht, wurde von Opitz erfunden, oder man sollte besser sagen: Er hat wichtige Dimensionen von Lyrik, von denen wir heute wie selbstverständlich ausgehen, in die deutsche Literatur importiert, denn seine Anregungen verdankte er seinen Kenntnissen der lateinischen, niederländischen und französischen Literatur. In Opitz’ Poetik findet sich eigentlich nichts, was es in anderen Literaturen nicht schon gab – nur eben in dieser Form bisher kaum in der deutschen Dichtung. Weil in Opitz’ Poetik andererseits aber noch viel fehlte, war es nur folgerichtig, dass nach ihr zahlreiche weitere Poetiken vorgelegt wurden. Der eigentliche Aufschwung der Poetik begann mit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges 1648. Die Produktion von Poetiken nahm von nun an rasant zu: In dichter Folge erschienen zwischen 1624 und 1730 insgesamt 57 deutsche Poetiken, wie der Essener Germanist Jörg Wesche in seiner Studie Literarische Diversität 2004 gezeigt hat.

Gedruckt wurde das Buch von der deutschen Poeterey in Brieg nahe Oppeln in Schlesien. Verlegt wurde es vom Breslauer Buchhändler David Müller. Hintergrund war, dass Opitz von den Niederlanden und nach Zwischenstationen wieder in seine schlesische Heimat zurückgekehrt war. Dort wurde er Rat am Breslauer Hof des Fürsten Georg Rudolf von Liegnitz. Später wechselte er zwar noch seinen Arbeitgeber, blieb aber grundsätzlich auf der ‚Gehaltsliste’ schlesischer Fürsten. 1639 starb Opitz auf einer Art Geschäftsreise in Danzig an der Pest.

Kontrovers wird die Bedeutung der Konfession und die des Krieges für Opitz’ Handeln und sein schriftstellerisches Werk in der Germanistik beurteilt. Während die einen die Versreformen und die schriftstellerische Verarbeitung des Krieges als Möglichkeit des geistigen Widerstands und die Literatur als Fluchtraum betrachten, bestreiten andere einen engen Zusammenhang von Literatur und Krieg. Die Bochumer Barockforscherin Nicola Kaminski hat 2004 in einer wirkungsreichen Arbeit Ex bello ars eine andere Position vertreten. Ihre These ist, dass der Versreform eine konfessionelle

Titelblatt der Erstausgabe von Opitz’ Poetik aus dem Jahr 1624. Quelle: Martini Opitii, Buch von der Deutschen Poeterey, Reclam-Ausgabe, hrsg. von Herbert Jaumann (RUB 18214). Mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

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Schlesien – Die Wiege der deutschen Literatur?

Poetiken der Barockzeit

Summenkurve der Barockpoetiken; zit. nach Jörg Wesche: Literarische Diversität. Tübingen 2004, S. 164.

Die erste schlesische Dichterschule: Opitz-Schüler mit wenig Schlesien-Bezug Opitz’ Reform war nicht nur in der Theorie ein Erfolg, sondern auch in der Praxis. Nur wenige Jahre nach dem Erscheinen des Buchs von der deutschen Poeterey hatten sich Jamben und Trochäen, Alexandriner und

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Poetiken (  = 57)

Dimension eigen ist. Die Einführung der alternierenden Verse führt sie zurück auf die niederländischen Militärreformen, die zur Unabhängigkeit der protestantischen nördlichen Niederlande vom katholischen Spanien beigetragen haben. Mit seiner Versreform habe Opitz diesen literarisch antizipierten Unabhängigkeitskampf nach Deutschland überführt. Die Zustimmung zu seinen Reformen im protestantischen Deutschland erkläre sich vor diesem Hintergrund. Die Etablierung des Deutschen als Literatursprache sei deswegen als ein emanzipatorischer Akt zu verstehen. Opitz’ Ziel sei es gewesen, Deutschland von der Herrschaft des Lateinischen, das eben auch für das Römische Papsttum stand, zu befreien. Kaminskis These ist historisch plausibel. In den Niederlanden gingen literarische und politische ‚Befreiung’ Hand in Hand. Auch war das Lateinische für viele Deutsche die Sprache des Papstes, von dem Luther sie in theologischer Hinsicht befreit hatte. Ferner sprechen einige spärliche Metaphern in Opitz’ Gedichten für diese Deutung. Biographisch bleiben an der These trotzdem Zweifel, denn Opitz verhielt sich die meiste Zeit seines Lebens in konfessionellen Fragen vergleichsweise indifferent.

60 50 40 30 20 10 0 1620 1630 1640 1650 1660 1670 1680 1690 1700 1710 1720 1730 Erscheinungsjahr

Sonette durchgesetzt. Die ersten Dichter, die Opitz folgten, werden in der deutschen Literaturgeschichte gerne die „Schlesische Dichterschule“ genannt. Gemeint sind unter anderem Paul Fleming, Andreas Tscherning, Johann Peter Titz und Daniel Czepko. Nun ist die Bezeichnung Schule für diese Dichter schon deswegen problematisch, weil sie zwei unterschiedlichen Generationen angehören. Vor allem aber waren nur wenige von ihnen Schlesier. Besonders deutlich wird das bei Paul Fleming, der in Schlesien weder geboren wurde noch hier länger gelebt hat. Er ist auch nicht in Schlesien gestorben. Wir haben es also mit einer „Schlesischen Schule“ zu tun, die ihren Sitz nicht in Schlesien hat, sondern die man vielleicht besser als die erste „Opitz-Schule“ bezeichnen sollte. Das lässt sich an Fleming gut veranschaulichen. Die Region, in der Paul Fleming (1609-1640) literarisch sozialisiert wurde, ist Sachsen, konkret: dessen bürgerliches Zentrum Leipzig. Später war er im Baltikum tätig, dort beförderte er u.a. die Gelegenheitsdich-

tung. ‚Gelegenheitsdichtung’ umfasst neben der Gelegenheitslyrik Predigten und Reden bei Hochzeiten und Begräbnissen sowie Festspiele bei höfischen oder städtischen Feierlichkeiten. Sie hatte dementsprechend ein sozial hohes Ansehen. Wichtig für das Interesse an der barocken Gelegenheitslyrik ist, dass sie versuchte, die neuen künstlerischen Ansprüche von Opitz umzusetzen. Fleming hat zahlreiche solcher Gelegenheitsgedichte geschrieben. Einen Anlass bot ihm der Tod von Martin Opitz:

Paul Fleming (1609-1640)

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Bremer

Ueber Herrn Martin Opitzen auff Boberfeld sein Ableben. So zeuch auch du denn hin in dein Elyserfeld/ Du Pindar/ du Homer/ du Maro u ­ nsrer Zeiten/ und untermenge dich mit diesen grossen Leuten/ Die gantz in deinen Geist sich hatten hier verstellt. Zeuch jenen Helden zu/ du jenen ­­gleicher held/ Der itzt nichts gleiches hat. Du ­­Hertzog deutscher Seiten; O Erbe durch dich selbst der steten Ewigkeiten; O ewiglicher Schatz und auch ­­Verlust der Welt. Germanie ist tod/ die Herrliche/ die Freye/ Ein Grab verdecket sie und ihre gantze Treue. Die Mutter die ist hin; Hier liegt nun auch ihr Sohn/ Ihr Recher/ und sein Arm. Last/ last nur alles bleiben Ihr/ die ihr übrig seyd/ und macht euch nur darvon. Die Welt hat warlich mehr nichts würdigs zu beschreiben.

Fleming setzt in diesem Gedicht alle Forderungen von Opitz an das Sonett um (Alexandriner, Reimschema) und nutzt es nicht nur, um diesen mit antiken Dichtergrößen zu vergleichen. Angesichts des Todes des großen Vorbilds behauptet er den Niedergang Deutschlands. Opitz bot eine Chance zum Erblühen, doch ohne ihn habe Deutschland alle Pracht und dichterische Macht verloren. Das Beispiel zeigt, dass Opitz zwar ganz eindeutig der Lehrmeister für

lyrische Erscheinungsformen wie die Gelegenheitsdichtung ist. Fleming bezieht sich gerne auf ihn und ehrt ihn explizit. Er folgt seinen poetologischen Forderungen, er setzt die Traditionen fort, die das Vorbild vorgegeben hat, indem er sie aufnimmt und auch produktiv weiterentwickelt. Der Schüler ist also ein guter Schüler. All das mag es rechtfertigen, von einem LehrerSchüler-Verhältnis zu sprechen. Aber von einer Schule? Ein Zusammenhang unter den Schülern ergibt sich zumin-

Der Autor Kai Bremer, Jahrgang 1971, ist Akademischer Rat am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen. Hier arbeitet er nach Stationen in Göttingen, Osnabrück und Berlin seit 2007. Promoviert wurde er 2002 mit einer rhetorikgeschichtlichen Arbeit über „Religionsstreitigkeiten“ im 16. Jahrhundert. 2008 legte er ein UTB-Lehrbuch zur Literatur der Frühen Neuzeit vor. Weitere thematische Schwerpunkte seiner Arbeit sind Polemik, Konversion, Philologie sowie Theorie und Geschichte der Lyrik und Dramatik bis zur Gegenwart.

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dest nicht. Sie haben einander zur Kenntnis genommen, auch haben sie vereinzelt Gelegenheitsgedichte aufeinander verfasst. Aber es gibt keinen Hinweis, dass sie sich als Gruppe begriffen haben. Noch eindeutiger fällt die Diagnose im Hinblick auf das Attribut ‚schlesisch’ aus. Nicht nur, dass sich bei Fleming kein wesent­ licher biographischer und dichterischer Hinweis auf Schlesien finden lässt. Er verortet Opitz, der sich seinerseits immerhin klar als Schlesier begriffen hat, als literarische Kapazität für das gesamte Deutschland. Einen regionalen Bezug auf Schlesien stellt Fleming gerade nicht her. Vielleicht also Dichterschule – als ‚schlesisch’ aber haben zumindest die Barockdichter sie nicht verstanden. Wenn die Nationalität eine Rolle spielt, dann ist es nicht die regionale ‚Nationalität’ (was im 17. Jahrhundert durchaus hätte sein können), sondern es ist die deutsche Sprachnation gemeint.

Die zweite schlesische Dichterschule: Hoffmannswaldau und seine Schüler Gehen wir auch hier zunächst von einigen Mitgliedern aus. Wirft man den Blick in ein beliebiges Literatur- oder Konversationslexikon oder in Wikipedia, finden sich dort die Namen Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau, Daniel Casper von Lohenstein, Hans Aßmann Freiherr von Abschatz, Gottfried Benjamin Hancke und Benjamin Neukirch. Bei Hoffmann von Hoffmannswaldau haben wir es mit einem waschechten Schlesier zu tun. Er wurde 1616 in Breslau geboren und ist dort auch 1679 gestorben. Er ist zunächst in Breslau zur Schule gegangen, hat sie allerdings in Danzig beendet, wo er Opitz kennenlernte und mit dessen Literaturprogrammatik vertraut wurde. Dass er vor seiner Heimkehr nach Breslau

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Schlesien – Die Wiege der deutschen Literatur?

erst noch in Leiden studierte und nach Frankreich und Italien reiste, sollte uns freilich nicht davon abhalten, in ihm einen Schlesier zu sehen. Daniel Caspar von Lohenstein wurde eine Generation später in Niederschlesien geboren, studierte ebenfalls Jura und starb wie von Hoffmanswaldau in Breslau. Er war ein erfolgreicher Jurist und vor allem Diplomat der Stadt bis hin zu Tätigkeiten am kaiserlichen Hof in Wien – also auch er ein lupenreiner Schlesier. Um es kurz zu machen: Bei der zweiten schlesischen Dichterschule haben wir es durchweg mit Schlesiern zu tun. Hoffmannswaldau war vielen von ihnen eine Art Mentor. Also weniger eine übermächtige Vaterfigur wie Opitz, sondern eher ein älterer Freund und Ratgeber. Er folgte formal Opitz, allerdings waren in der zweiten Jahrhunderthälfte etwa die Möglichkeiten für Versfüße deutlich erweitert. So hatte sich der Daktylus durchgesetzt. Aber weiterhin galt, dass Lyrik vielfach gelegenheitsgebunden war. Grabschrifft Mariae Magdalenae Hie ruht das schöne Haupt/ hie ruht die schöne Schoß/ Auß der die Liebligkeit mit reichen Strömen floß. Nach dem diß zarte Weib verließ den Huren-Orden/ So sind die Engel selbst derselben Buler worden. Dieses in formaler Hinsicht konventionell Opitz folgende Epigramm ist mehrfach pointiert. Denn die Gelegenheitsdichtung wird persifliert: Es handelt sich selbstverständlich nicht um einen aktuellen Anlass. Maria Magdalena dürfte schließlich schon wenige Jahre nach Jesus gestorben sein. Zugleich ist sie eine ganz und gar untypische Adressatin. Frauen sind an sich schon untypisch, doch wenn sie gelobt werden, dann sind es bei-

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Daniel Casper von Lohenstein (1635-1683)

spielsweise vorbildliche Fürstinnen. Außerdem ist das Gedicht pointiert, weil es letztlich gar nicht um die in der christlichen Ikonographie übliche Verklärung Maria Magdalenas zur reuigen Sünderin geht, sondern um ihre Schönheit und um ihre Reize, die sie selbst im Himmel nicht verloren hat. Die Engel werden zu ihren Verehrern, so dass mit frivolem Unterton die Keuschheit der Engel in Frage gestellt wird. Diese verspielte, pointierte und vielfach auch anzügliche Form der Ly-

rik ist typisch für Hoffmannswaldau. Wer sie schlicht als verspielt abtut, unterschätzt sie. Wichtig ist für diese oft als ‚manieristisch’ bezeichnete Lyrik, dass ihre vielfältige Scharfsinnigkeit nur bei einigem Nachdenken zu verstehen ist, so dass ihr Witz sich nur aufmerksamen, intelligenten Lesern erschließt. Nachdem nun so die zweite schlesische Dichterschule ein wenig charakterisiert ist, können wir auch hier die Frage zu beantworten versuchen, inwieweit ‚schlesisch’ und Dichterschule geeignete Begriffe sind. Zunächst: der Zusammenhalt ist entschieden größer, auch untereinander. Vor allem haben einige Lyriker der Dichterschule das selbst so gesehen. Ab 1695 publizierte Benjamin Neukirch, der ebenfalls zur Dichterschule gezählt wird, die siebenbändige Gedichtanthologie Herrn von Hoffmannswaldau und andrer Deutschen auserlesener und bißher ungedruckter Gedichte, die man als Dokumentation der Dichterschule betrachten kann. Problematisch bleibt hingegen der Begriff ‚schlesisch’. Auch wenn alle Mitglieder aus Schlesien stammen, scheint schlesisch doch nicht geeignet, ihre Ästhetik in irgendeiner Weise auf den Punkt zu bringen.

Die Wiege Schlesien und die Eltern, die um sie herum stehen Die eingangs erwähnte, immer wieder in den Literaturgeschichten zu findende Betonung Schlesiens scheint also

Opitz‘ Poetik in der im Titel erweiterten Aufl. von 1634 aus dem Bestand der UB Gießen (Rara 162-3)

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Bremer

nicht ganz unberechtigt. Zumal hier weitere wichtige Schlesier wie Andreas Gryphius und die sehr einflussreiche schlesische Mystik gar nicht vorgestellt wurden. Gleichwohl erschließt sich nicht recht, warum Schlesien eine so dermaßen wichtige Region für die deutsche Literatur des 17. Jahrhunderts war und warum immer wieder betont wurde, dass Opitz und seine Nachfolger schlesisch waren – zumal diese Tatsache für sie selbst offenbar von untergeordneter Bedeutung war. Um diese Frage beantworten zu können, bietet es sich an, sich den Anfängen der deutschen Literaturgeschichtsschreibung im 19. Jahrhundert zuzuwenden. Der 1805 geborene Historiker Georg Gottfried

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Gervinus, der als geborener Darmstädter selbstverständlich an der damaligen Landesuniversität in Gießen studierte, hat ab 1835 begonnen, seine fünfbändige Geschichte der deutschen National­literatur zu publizieren. Er war damit der erste wichtige Literaturhistoriker der damals noch gar nicht richtig existierenden Germanistik. Im dritten Band heißt es an zentraler Stelle: „Schlesien gab der ersten Zeit der neuen Kunst [...] seinen Namen“. Auch warum das so gewesen sei, erläutert Gervinus: „Wie die Bevölkerung des Landes zweige­ theilt ist, so neigt sich auch die schlesische Cultur nach einer slavischen und einer deutschen Seite hin.“ Gervinus geht also von einer klaren Pola-

rität der Kultur aus. Seine These von der Polarität der Kultur wurde dann im 19. Jahrhundert fortgeschrieben, denn sie passte wunderbar ins Bild der Geschichtsschreibung. Schlesien war im 16. und 17. Jahrhundert im Reich Böhmen zugeordnet und dementsprechend habsburgisch. Erst im 18. Jahrhundert wurde Schlesien durch die drei schlesischen Kriege preußisch. Die Reichsgründung 1871 hatte auf die Geschichtswis-

Titelkupfer und -blatt der Neukirchschen Anthologie von 1697 aus dem Bestand der UB Gießen (Rara 2706)

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Schlesien – Die Wiege der deutschen Literatur?

Georg Gottfried Gervinus, Lithographie von Josef Bauer (†1904)

senschaft erhebliche Auswirkungen, weil die deutsche Geschichtswissenschaft verstärkt darum bemüht war, eine Tendenz vom Heiligen Römischen Reich deutscher Nation hin zur ‚Nation’ des Deutschen Reiches zu sehen. Gervinus’ Überlegungen, selbstverständlich gar nicht vor dem Hintergrund einer Reichsgründung ohne Österreich formuliert, ließen sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als sich früh ankündigende kulturelle Bewegung deuten, die im Deutschen Reich ihre Vollendung fand. Dass diese Deutung hin zu Deutschland und hin zur deutschen Kultur dann von rassistischen und nationalistischen Germanisten dankbar aufgegriffen wurde, kann man sich denken. Gervinus betont außerdem, dass etwa Jan Kochanowskis polnische Lyrik in Schlesien bekannt war und ins Deutsche übersetzt wurde. Ebenso selbstverständlich seien Opitz’ Arbeiten in Polen rezipiert worden. Es gab also einen wesentlichen deutschpolnischen Kulturtransfer, der bisher jedoch kaum erforscht ist. Ihn gilt es genauer zu untersuchen, um endgültig mit dieser eigentümlichen Oppositionsbildung zwischen deutscher und polnischer Kultur in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung aufzuräumen, die auf Gervinus zurückgeht. Was es in Schlesien hingegen gab, war eine massive Opposition der Konfessionen. Schlesien war, obwohl habsburgisch, in der zweiten Hälfte des 16. und im frühen 17. Jahrhundert mehrheitlich evangelisch. Im frühen 17. Jahrhundert konvertierten sogar einige schlesische Fürsten zum Calvinismus, der in reichsrechtlicher Hin-

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sicht gar keine anerkannte Religion war. Auch nach der Schlacht vom Weißen Berg, die in Böhmen für die Calvinisten eine verheerende Niederlage brachte, konnte Wien die Rekatholisierung Schlesiens nicht recht durchsetzen. Auch gab es eine entschiedene Beförderung existierender katholischer Institutionen wie des Breslauer Bistums oder des Jesuitentheaters. Wir haben es also mit einer deutlichen konfessionellen Konkurrenzsituation in Schlesien zu tun. Wenn wir uns nun erneut an die oben vorgestellte These von Nicola Kaminski erinnern, dass Opitz’ Lyrik für die Zeitgenossen eine so große Strahlkraft hatte, weil sie als protestantisch und zugleich als anti-römisch wahrgenommen wurde, so erlaubt das abschließend einige Thesen: Überall dort, wo in der deutschen Literaturgeschichte die herausragende Bedeutung Schlesiens für die deutsche Literatur betont wird, sollte besser von schlesisch-protestantisch bzw. vom protestantischen Schlesien gesprochen werden. Die deutsche Literatur aufzuwerten war für Opitz eine Herzensangelegenheit. Ähnliche Anliegen finden sich eine Generation früher mit Kochanowski und dann zeitgleich mit Maciej Kazimierz Sarbiewski in der polnischen

Literatur. Opitz und andere haben hier vielfach von der polnischen Literatur profitiert. Das ist auch bekannt. Aber jenseits von einigen Spezialuntersuchungen finden sich darauf keine Hinweise. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Opitz auf polnische Einflüsse weit weniger deutlich hingewiesen hat als auf west- und südeuropäische. Es gibt also einige Gründe dafür, Schlesien als Wiege der neuzeitlichen deutschen Lyrik zu begreifen. Allerdings steht es der Germanistik wohl an, mit dem Label ‚schlesisch’ vorsichtig zu verfahren. ‚Schlesisch’ lässt sich literaturästhetisch nicht greifen, weil dahinter kein klares Programm steht, weil kein Gegenbegriff existiert und weil mit Opitz, wenn überhaupt, nur ein lockerer, unspezifischer Bezugspunkt zu diesem Begriff besteht. ‚Schlesisch’ funktioniert auch nicht als Bezeichnung für die beiden Dichterschulen, weil die Dichter nur bedingt aus Schlesien stammen und weil sie vor allem nie die schlesische Herkunft betonen. Stattdessen scheint die Germanistik besser beraten, wenn sie mehr auf die Mütter und Väter blickt, die um diese Wiege herumstehen. Es sind nämlich viel mehr, als die Metapher von der Wiege erahnen lässt. Diese Mütter und Väter kommen aus West- und Südeuropa, wie wir schon seit langer Zeit wissen. Ergänzend dazu ist es aber an der Zeit, sich auch zu vergegenwärtigen, dass einige dieser Mütter und Väter aus Polen stammen. •

KONTAKT Dr. Kai Bremer Justus-Liebig-Universität Institut für Germanistik Otto-Behaghel-Straße 10 B 35394 Gießen Telefon: 0641 99-29072 Kai.Bremer@germanistik.uni-giessen.de

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Texte aus und zu dem Getto Lodz/Litzmannstadt Ihre Rezeption vorwiegend in Deutschland und Polen Von Markus Roth

Abb. 1: Holzbrücke im Getto Lodz/Litzmannstadt über eine exterritoriale Straße von Lodz.

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Texte aus und zu dem Getto Lodz/Litzmannstadt

„Der Pianist“, Szpilman, Korczak, Reich-Ranicki, der Aufstand im Warschauer Getto, vielleicht noch der Kniefall von Willy Brandt – das sind wohl vor allem Ereignisse und Personen, die den meisten Menschen zum Thema Getto spontan einfallen. Sie alle beziehen sich auf das Warschauer Getto, das größte der vielen Hundert Gettos im deutsch besetzten Europa während des NaziRegimes. Weitaus weniger, in den meisten Fällen schlicht gar nichts ist weithin über die übrigen Gettos bekannt. Das galt lange Zeit auch für das Getto Lodz/Litzmannstadt – trotz seiner besonderen Geschichte und vielfältigen dokumentarischen Hinterlassenschaft.

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A

m 8. September 1939 marschierte die Deutsche Wehrmacht in Lodz ein, damals eine Vielvölkerstadt, in der Juden mit rund 230.000 Einwohnern etwa ein Drittel der Bevölkerung ausmachten. Sie trafen Terror und Gewalt vom ersten Tag an mit voller Wucht. Frederick Weinstein, ein damals sechzehnjähriger Junge, erinnert sich 1943/44 im Versteck an diese Phase: „Juden wurden auf der Straße geschlagen, man holte sie ‚zur Arbeit‘, wie man es nannte, tatsächlich aber fing man sie nur, um sie auf besondere Art zu schlagen und zu schikanieren. Mit Hilfe von Nazis fingen Soldaten Juden auf der Straße und spannten sie wie Zugtiere vor ihre kaputten Autos und Motorräder. Sie selbst setzten sich in die Fahrzeuge und ließen sich von den Juden ziehen, dabei trieben sie sie mit der Peitsche an.“ Fortan sollte die Angst vor Gewalt und Plünderungen zum Alltag der Juden in Lodz gehören, verschärft durch zahlreiche antijüdische Verordnungen. Wenige Wochen nach der Besetzung spitzte sich die Lage zu: Lodz wurde Anfang November 1939 Teil derjenigen besetzten polnischen Gebiete, die annektiert wurden, und damit den Germanisierungsplänen der Nationalsozialisten unterworfen. Innerhalb von zehn Jahren sollte aus der Region eine von Deutschen besiedelte Provinz werden. Eine rigide Vertreibungspolitik war die Folge, zunächst vor allem gegen Polen, aber auch

viele Juden waren betroffen. Auf diese Weise, so hofften die Machthaber, könnten sie sich rasch der jüdischen Bevölkerung entledigen. Bald jedoch geriet diese Politik in eine Sackgasse, Vertreibungen waren wegen Widerständen andernorts nicht mehr möglich. Die deutsche Verwaltung in Lodz suchte nun andere Wege, um Platz zu schaffen für die weiterhin ankommenden deutschen Siedler. Sie griff frühere Überlegungen auf, ein Getto in der Stadt zu schaffen. Was zu diesem Zeitpunkt, im Februar 1940, noch als Übergangslösung bis zur Wiederaufnahme der Vertreibungspolitik gedacht war, sollte sich bald schon als Zustand von Dauer erweisen. Am 30. April 1940 war der Prozess der Gettobildung abgeschlossen – ungefähr 160.000 Menschen lebten nun zusammengepfercht hinter Stacheldrahtzäunen auf nur 4 km². Rückblickend schreibt Oskar Singer, ein jüdischer Journalist und Schriftsteller aus Prag, im Juli 1942 dazu: „Für uns Juden ist das Getto eine Elementarkatastrophe. So können wir auch nicht mehr sterben wie andere Menschen, wir haben nicht mehr die Möglichkeit auf ein edles Ende. Der Tod von Litzmannstadt-Getto ist ein fremder, hässlicher Tod.“ Den Juden wurden zu wenige und oft verdorbene oder minderwertige Lebensmittel geliefert. Es mangelte an Heizmaterial, Medikamente waren nur schwer oder gar nicht zu beschaffen, und die sanitären Verhältnisse spot-

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Roth

An der Grenze des „Judenwohn­ gebiets“

teten jeder Beschreibung. So ließen Krankheiten und Seuchen nicht lange auf sich warten. Viele der ausgehungerten und entkräfteten Menschen fielen ihnen zum Opfer. Insgesamt starben im Getto etwa 45.000 Menschen. Doch zu Beginn des Gettos war das Ausmaß dessen noch nicht zu erahnen. Alle Kräfte richteten sich darauf, mit den neuen Bedingungen fertig zu werden, sich einzurichten in den schwierigen Verhältnissen. Neben den vielen Selbsthilfeinitiativen und kulturellem Engagement, die es im Getto auch gab, war es vor allem die jüdische Verwaltung, die sich um die Schaffung einigermaßen geordneter Verhältnisse bemühte. An ihrer Spitze stand der im Herbst 1939 berufene Judenrat, geleitet von Mordechai Chaim Rumkowski. Aufgabe des Judenrates war es, die deutschen Befehle und Anordnungen umzusetzen, wofür seine Mitglieder persönlich hafteten. Damit befanden sie sich in einer äußerst prekären Situation, verfügten sie doch nur über sehr geringe Handlungsspielräume. Überdies wurden sie, was wohl auch das Kalkül der deutschen Machthaber war, oft mit den Maßnahmen identifiziert und zogen so den Unmut vieler Menschen auf sich. Dazu trug auch die Persönlichkeit Rumkowskis bei. Er

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trat oft selbstherrlich und autoritär auf und versorgte manche Freunde und Verwandte mit Posten und Privilegien. Im Vordergrund der eng begrenzten Möglichkeiten der jüdischen Verwaltung stand zunächst die Organisation der Versorgung und Fürsorge. Eine Vielzahl an Abteilungen wurde ins Leben gerufen, die das Zusammenleben im Getto gestalteten: Eine Fürsorgeabteilung und eine Gesundheitsabteilung, die für die Lebensmittelversorgung zuständige Approvisationsabteilung sowie die Schulabteilung. Waisen- und Altenheime wurden eingerichtet und Suppenküchen für die Versorgung der Ärmsten. Schon in den ersten Wochen entwickelte Rumkowski die Strategie, das Getto durch eine Steigerung der Arbeitsleistung der Bewohner für die Deutschen zu einem unentbehrlichen Produktionsort auszubauen. Nach anfänglichem Zögern machte sich Hans Biebow, der Leiter der deutschen Getto-Verwaltung, diese Strategie zueigen; eine umfangreiche Arbeitsver-

waltung wurde aufgebaut, viele Fabriken und Werkstätten eingerichtet. Es ist nun aber keineswegs so, dass alle Getto-Bewohner Rumkowskis Kalkül teilten und sie alle an einem Strang zogen, zumal der Judenälteste mit seinem System Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten schuf, die zu Konflikten und sozialen Spannungen innerhalb der Gesellschaft führten. Genek Granek erinnerte sich nach dem Krieg: „Die Bevölkerung des Gettos setzte sich aus zwei Klassen zusammen. Zur ersten gehörten der Präses und seine Leute, denen es gut ging und die alles in Hülle und Fülle hatten. Zur zweiten gehörte die arbeitende Bevölkerung, die vor Hunger starb.“ Schließlich gab es auf der untersten Stufe der neuen Klassengesellschaft im Getto auch diejenigen, die keine Arbeit hatten. Die inneren Spannungen wirkten fort, ja verstärkten sich zum Teil noch, als die Nationalsozialisten zum systematischen Massenmord an den Juden übergingen. Anfang Dezember 1941 waren die Arbeiten am Vernichtungs-

Die jüdische Post im Getto

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Texte aus und zu dem Getto Lodz/Litzmannstadt

lager Kulmhof, das etwa 55 Kilometer nordwestlich von Lodz lag, abgeschlossen. Dort sollten die Juden aus dem so genannten Warthegau, dem annektierten Westpolen, ermordet werden, ab Mitte Januar 1942 auch die Juden aus Lodz. Die Deutschen legten die Zahl der zu Deportierenden fest, überließen die Auswahl der Menschen aber der jüdischen Verwaltung. Dabei ließ sich Rumkowski von dem Gedanken leiten, die ihm Missliebigen, vor allem die Gefängnisinsassen mit ihren Familien und die Nichtarbeitenden auszuwählen, getreu seinem Kalkül, durch Arbeit möglichst Viele über die schwierige Zeit zu retten. In drei Phasen wurden so bis Mitte Mai 1942 insgesamt etwa 55.000 Menschen nach Kulmhof deportiert und dort unmittelbar ermordet. In welchem Maße und ab wann aber das wirkliche Schicksal der Deportierten im Getto bekannt wurde, ist ungewiss. Im September 1942 ging das Morden weiter. Alle Gettobewohner unter zehn und über 65 Jahren sollten ins Vernichtungslager deportiert werden. Handstreichartig holte die Gestapo Anfang September die Patienten aus den Krankenhäusern und deportierte sie. In den folgenden Tagen sickerten Gerüchte durch, dass nun die Kinder

Bekanntmachung nach Ende der Deportationen im September 1942

und Alten deportiert werden sollten. Panik breitete sich aus, und der Alltag kam zum Erliegen. Am 4. September 1942 verkündete der Judenälteste in einer Rede: „Das Getto ist von einem schweren Schmerz getroffen. Man verlangt von ihm das Beste, was es besitzt – Kinder und alte Menschen. […] Niemals habe ich mir vorgestellt, daß meine eigenen Hände das Opfer zum Altar bringen müßten. Nun, im Alter muß ich meine Hände ausstrecken und betteln: Brüder und Schwestern, gebt sie mir! Väter und Mütter, gebt mir eure Kinder! […] Ich muß diese schwere und blutige Operation durchführen, ich muß Glieder amputieren, um den Körper zu retten!“ Für die Zeit vom 5. bis zum 12. September 1942 war eine „Allgemeine Gehsperre“ verhängt worden: Niemand durfte auf die Straße treten. Die jüdischen Polizisten, deren eigene Kinder von der Deportation ausgenommen waren, bemühten sich, die von den Deutschen vorgegebene Zahl an Menschen zu fassen und zum Bahnhof zu bringen. Sie stießen aber

auf starken Widerstand, woraufhin die Gestapo die Durchführung selbst übernahm. Sie ging mit äußerster Brutalität vor und erschoss viele Menschen noch im Getto. Am Ende hatte sie nach einigen Tagen rund 15.700 Menschen deportiert, unter ihnen fast 5.900 Kinder. Nach den Deportationen des Jahres 1942 lebten noch etwa 90.000 Menschen im Getto, das nunmehr fast nur noch ein Arbeitsgetto war: Davon arbeiteten rund 75.000 Bewohner in den Fabriken und Werkstätten. Die Rückkehr zu einer gewissen Normalität nach dem Septemberschock vollzog sich langsam und war auch nicht von langer Dauer, doch gab es auch in dieser Zeit Anstrengungen, eine Gegenwelt zu schaffen: Theateraufführungen, Revuen, Lesungen, Konzerte und Vieles mehr wurde organisiert und sollte wenigstens für einen Moment Ablenkung schaffen. Der Alltag aber war geprägt von harter Arbeit und von Hunger. Anfang 1944 schließlich schien das Schicksal des Gettos besiegelt zu sein:

Der Judenälteste Mordechai Chaim Rumkowski (Mitte) auf einer Hochzeitsfeier

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Roth

Mitglieder des Ordnungsdienstes im Getto

Ab Frühjahr 1944 durfte es keine neuen Aufträge mehr annehmen. Überdies wurden ab dem 23. Juni wieder Menschen nach Kulmhof deportiert. Über ihr Schicksal bestand nun kein Zweifel mehr. Neue Hoffnung keimte auf, als die Deportationen am 14. Juli abgebrochen wurden. Kurz darauf zerplatzte diese: Am 2. August 1944 gab Rumkowski bekannt, dass das Getto verlagert werde. Er forderte dazu auf, sich zu den Transporten zu melden; kaum jemand erschien jedoch freiwillig. Ab dem 8. August schließlich trieben deutsche Polizisten die Menschen brutal zusammen und pferchten sie in die Deportationszüge. Etwa 70.000 Menschen wurden nach AuschwitzBirkenau deportiert und dort überwiegend in den Gaskammern getötet. Im Getto blieben nur etwa 850 Angehörige eines Aufräumkommandos und diejenigen, die sich erfolgreich vor den Häschern verstecken konnten.

Getto-Archiv und -Chronik Viele Menschen im Getto Lodz/Litzmannstadt führten Tagebuch, schrieben Gedichte und andere Texte. Es gab im Getto aber auch einen zentralen Ort, an dem wichtige Textzeugnisse für die Nachwelt entstanden. Wie in Warschau oder in Białystok gab

Der Autor Markus Roth, Jahrgang 1972, Studium der Germanistik, West­ slavistik sowie der Neueren und Neuesten Geschichte an der Universität Münster. Promotion mit einer Arbeit über „Herrenmenschen. Die deutschen Kreishauptleute im besetzten Polen – Karrierewege, Herrschaftspraxis und Nachgeschichte“. Von 2008 bis 2012 Projektmitarbeiter am Herder-Institut Marburg im LOEWE-Projekt „Die Multimedialisierung der Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt“. Seit 2008 Mitarbeit an der Arbeitsstelle Holocaustliteratur der Universität Gießen, deren Stellvertretender Leiter er seit 2010 ist. Veröffentlichungen u.a. zur Holocaustliteratur, zur NS-Besatzungspolitik und zu nationalsozialistischen Gettos, zuletzt: (Mithrsg.) Friedrich Kellner: „Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne. Tagebücher 1939-1945“, 2011, und (mit Andrea Löw): „Das Warschauer Getto. Leben und Widerstand im Angesicht der Vernichtung“, 2013.

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es auch in Litzmannstadt ein GettoArchiv; es wurde im November 1940 ins Leben gerufen. Im Unterschied zu den anderen Orten war es allerdings kein Untergrundarchiv, sondern offizieller Teil der jüdischen Getto-Administration, das, wie Oskar Singer schreibt, „Material für eine künftige Schilderung (Geschichte) des Gettos sammeln“ und verfassen sollte. Die Archivmitarbeiter unterlagen einer internen Zensur, die alle Texte durchlaufen mussten. Also vermitteln die Unterlagen immer einen gefilterten Blick. Anders als in „normalen“ Archiven dokumentierten die Mitarbeiter im Getto die Gegenwart, die sie selbst durchlebten und durchlitten, wovon auch die Arbeitsbedingungen nicht unberührt blieben: „Man darf sich“, schreibt Singer, „unter dem A[rchiv] keine stille Gelehrtenstube vorstellen, wo emsig geschrieben und gesammelt wurde. […] Hunger und Kälte liessen eine halbwegs regelmässige und erspriessliche schriftstellerische, schöpferische Arbeit kaum zu.“ Dennoch entstand hier eine Unmenge an Materialien zur Geschichte des Gettos und seiner Bewohner: Berichte, Reportagen

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Texte aus und zu dem Getto Lodz/Litzmannstadt

Auszug aus der Getto-Chronik vom 1. bis 3. Mai 1942

über den Getto-Alltag, Statistiken, künstlerisch anspruchsvoll gestaltete Collagen zur Getto-Produktion und vieles mehr. Eines der wichtigsten Projekte der Archiv-Mitarbeiter war die Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt, die sie am 12. Januar 1941 begannen und bis zum 30. Juli 1944 führten. Die Chronik sollte eine tagesaktuelle Dokumentation der Ereignisse leisten. Allerdings waren dem enge Grenzen gesteckt, da das Getto von der Außenwelt abgeriegelt war und nur relativ wenige Informationen von außen hinein gelangten. Auch innerhalb des Gettos wurden den Chronisten viele Informationen vorenthalten. Zwar erhielten sie für ihre Arbeit auch Dokumente aus der jüdischen Verwaltung, doch hierauf alleine war kein Verlass. So recherchierten die Archiv-Mitarbeiter zunehmend selbst. Ungeachtet aller Beschränkungen konnten sie so, vor allem auch in der Chronik, ein recht genaues Bild des Gettolebens für die Nachwelt zeichnen und die einseitige Deutungshoheit der Täter durchbrechen. Vor allem in der Chronik schlugen sich die Recherchen der Mitarbeiter nieder. Hier notierten sie die wichtigen Tagesereignisse, Nachrichten aus den Produktionsstätten, Bekanntmachungen Rumkowskis, die Ernährungslage, kulturelle Ereignisse, Unfälle, Selbstmorde etc. Eingerahmt war diese jeweils tagesaktuelle „Berichterstattung“ von statistischen Daten zum Wetter, der Zahl der Geburten und Sterbefälle, der Festnahmen, der ansteckenden Krankheiten sowie der Bevölkerungszahl des Gettos. Es waren vor allem die Journalisten und Schriftsteller Oskar Singer und Oskar Rosenfeld, die ab 1942 die Chronik prägten; insbesondere in neuen Rub-

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riken wie „Man hört, man spricht“, in der die zahlreichen kursierenden Gerüchte dokumentiert wurden, oder im „Kleinen Getto-Spiegel“, der feuilletonistische Miniaturen und Stimmungsbilder brachte. Auch der Getto-Humor wurde bisweilen festgehalten. All dies verfassten die Chronisten tagesaktuell, ohne die Einträge nachträglich zu aktualisieren. Die Chronisten schufen so ein Textkorpus, das nicht allein das Leben im Getto dokumentiert, sondern – wenn auch in begrenztem Maße – vom Wissensstand im Getto zeugt.

Marginalisierung und Verdrängung: Die ersten Jahre nach dem Krieg Nicht Viele im Getto wussten etwas von der Arbeit der Chronisten; die Chronik selbst bekam außer den unmittelbar Beteiligten praktisch niemand zu Gesicht. Nachman Zonabend aber, der als Briefträger im Getto arbeitete, wusste von der Existenz des Archivs und der Chronik. Nach den Deportationen nach Auschwitz-Birkenau im Herbst 1944 blieb er mit einem Aufräumkommando, das auf dem ehe-

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Roth

Getto-Bewohner auf dem Weg zur Deportation.

maligen Getto-Gelände noch verwertbare Güter und Materialien bergen sollte, zurück. Mehrfach konnte er sich davonschleichen. Im Gebäude des Getto-Archivs fand er die Unterlagen, darunter auch die Chronik, bereits fertig verpackt vor und versteckte sie. Mit seiner Hilfe wurden die Dokumente nach der Befreiung geborgen und überwiegend an die Zentrale Jüdische Historische Kommission gegeben. Die Getto-Chronik war nur ein Teil einer sehr viel umfangreicheren Überlieferung. Die dokumentarische Hinterlassenschaft sollte nach dem Krieg systematisch gesammelt, erschlossen und auch veröffentlicht werden. Zu diesem Zweck wurden eigens Jüdische Historische Kommissionen ins Leben gerufen. Diese sammelten umfassend Material: zahlreiche Dokumente der Getto-Verwaltung in Lodz – darunter die Chronik, aber auch überlieferte Tagebücher. Außerdem führten die Mitarbeiter der Kommissionen Interviews mit Überlebenden durch oder bewegten Überlebende, unmittelbar nach der Befreiung ihre Erlebnisse aufzuschreiben. So sind schon in den wenigen Jahren nach Kriegsende in Polen, aber auch in Deutschland, erstaunlich viele Texte über den Holocaust veröffentlicht worden: Erinnerungsberichte, Tagebücher, historische Monographien, Dramen, Romane etc. Während allerdings über das Warschauer Getto und vor allem auch über den dortigen Aufstand innerhalb kürzester Zeit Hunderte von Texten und Dokumenten in Ost und West veröffentlicht wurden, war die Zahl von Publikationen über das Getto Lodz in dieser und auch in späterer Zeit verschwindend gering, vor allem weil es keine heroische Widerstandsge-

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schichte vorweisen konnte, sondern durch Rumkowskis umstrittene Strategie mit dem Makel vermeintlicher Kollaboration versehen war. Zur Marginalisierung des Lodzer und zur Dominanz des Warschauer Gettos in der Erinnerung trug überdies die Bergung des Ringelblum-Archivs im Herbst 1946 bei. Anders als in Lodz war das Ringelblum-Archiv ein geheimes Unterfangen, ein Untergrundarchiv, das jeden Kontakt zu offiziellen Stellen wie den Judenrat gemieden hatte. Mehr noch: Es wurde zu einem fest eingebundenen Bestandteil des organisierten jüdischen Widerstands in Warschau. Ein Untergrundarchiv und kein Archiv der offiziellen Getto-Verwaltung – auch hier bot Warschau eine unbelastete Geschichte mit Heroisierungspotenzial, die sich politisch von den polnischen Kommunisten vereinnahmen ließ.

dominierte die Forschung zu Warschau und anderen Aspekten des Holocaust. Erst Anfang der sechziger Jahre begannen Lucjan Dobroszycki, selbst Überlebender des Gettos, und Danuta Dąbrowska, die mit falschen Papieren überlebt hatte, mit einer polnischsprachigen Edition der Chronik, die all jene Teile enthalten sollte, die in Polen zugänglich waren. 1965 und 1966 erschienen die beiden ersten Bände, dann wurde das Unternehmen abgebrochen. Erste Rezensionen würdigten den besonderen Charakter der Chronik und hoben ihre Bedeutung hervor. Die politische Entwicklung aber machte eine Fortführung der Publikation

Die lange Nachgeschichte der Getto-Chronik Die Marginalisierung des Gettos Lodz/Litzmannstadt währte in den fünfziger Jahren fort, nach wie vor

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Texte aus und zu dem Getto Lodz/Litzmannstadt

Schneiderei im Getto Lodz/ Litzmannstadt

unmöglich. Im Zuge der antisemitischen Ereignisse und Maßnahmen ab 1967, nach dem Sechstagekrieg Israels, wurde ein Stopp verfügt, die beiden folgenden, bereits abgeschlossenen Bände eingestampft und die beiden Bearbeiter, wie etwa 30.000 andere Juden aus Polen, zur Emigration genötigt. Eine eingehende Begründung erachteten die Machthaber für nicht notwendig, in einem Dokument heißt es lediglich: „Die Chronik des Gettos Litzmannstadt kann als Dokument, das aus dem Kontext der Okkupationsgeschehnisse herausgerissen ist, nicht als Buch herausgegeben werden.“ In Polen war seinerzeit eine regelrechte antisemitische Hysterie ausgebrochen. Antisemitismus geriet zu einem Instrument des innerparteilichen Machtkampfes in der polnischen Kommunistischen Partei. Ins Visier geriet auch der Verlag, in dem die Chronik erschienen war. Ihm wurde unter anderem vorgeworfen, Bücher zu veröffentlichen, in denen die Haltung der polnischen Mehrheitsbevölkerung den Juden gegenüber falsch und unausgewogen dargestellt würde. Es würden Bücher über allgemeine jüdische Themen veröffentlicht, in denen vielen Polen Antisemitismus vorgeworfen werde, was angesichts der politischen Lage unverantwortlich sei. Später bezichtigte man den Verlagsleiter antipolnischer Tendenzen und verstieg sich zu dem Vorwurf, der Verlag strebe wohl an, ein jüdischer Verlag zu werden, und führte hierbei auch die Chronik an. Dass deren Publikation trotz bereits zuvor erhobener Vorwürfe weiter verfolgt wurde, wurde als Affront aufgefasst. Ungeachtet dessen liefen die Vorbereitungen für die Veröffentlichung

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der folgenden Chronik-Bände fort, auch noch im Sommer 1968. Nun allerdings kamen neue Erschwernisse hinzu: Aus Protest gegen die Invasion der Staaten des Warschauer Paktes in der Tschechoslowakei, trat Lucjan Dobroszycki aus der Kommunistischen Partei aus. Im Herbst emigrierte Danuta Dąbrowska nach Israel; Dobroszycki aber setzte seine Arbeit fort. Im Oktober 1968 schließlich gab der Verlag, inzwischen unter neuer Leitung, dem Druck nach und begrub das Chronik-Projekt, wofür er unter anderem das Argument zu hoher Kosten vorschob. Die Typoskripte der bis dahin vorbereiteten Bändeund die bereits gesetzten Bände 3 und 4 wurden vernichtet. Überdies versuchte man, die schon ausgelieferten Bände 1 und 2 aus dem Buchhandel und den Bibliotheken zu entfernen. Ende Novem-

ber 1969 erst verließ Dobroszycki mit seiner Familie Polen und emigrierte in die USA. Die meisten Akten der Verwaltung Rumkowskis sowie die Chronik wurden nun wieder von Warschau nach Łódź in das dortige Staatsarchiv verlagert und damit letztlich erneut marginalisiert, fand doch die bis dahin einzig bedeutende Holocaust-Forschung in Polen am Jüdischen Historischen Institut in Warschau statt. In Łódź gab es hieran kaum ein nennenswertes Interesse, zumal das Schicksal der Chronik-Edition und die Behandlung der überlieferten Quellen wohl unmissverständlich deutlich machten, dass Forschungen zum Getto Lodz ein heißes Eisen waren, an dem man sich in der damaligen politischen Lage letztlich nur die Finger verbrennen konnte. In der Erinnerungspolitik

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Roth

spielte das Getto weiterhin keine Rolle, obwohl die Überlieferung so dicht ist und obwohl das Gebiet des ehemaligen Gettos durchaus weitgehend erhalten war und dort, ganz anders als in Warschau, auch reale Orte und Stätten vorhanden waren, an denen sich Erinnerung hätte manifestieren können – so zum Beispiel auch das Gebäude, in dem das Getto-Archiv seinen Sitz hatte und in dem die GettoChronik entstanden ist. Erst gegen Ende der 90er Jahre wurde auf Initiative von Sascha Feuchert von der Arbeitsstelle Holocaustliteratur an der Universität Gießen eine erstmals vollständige Edition der Getto-Chronik und aller ihrer überlieferten Varianten in den beiden Originalsprachen des Zeugnisses, in Deutsch und Polnisch, gestartet, nachdem in

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den achtziger Jahren bereits eine stark gekürzte englischsprachige und eine umfassende hebräische Edition erschienen waren. Gemeinsam mit dem Staatsarchiv und der Universität Łódź wurde in den folgenden Jahren an der umfassenden Edition gearbeitet, die schließlich 2007 in fünf Bänden auf Deutsch und 2009 auf Polnisch erschien. Über 60 Jahre nach Kriegsende war nun diese zentrale Quelle für die Geschichte eines der wichtigsten Gettos verfügbar. Mit der umfassenden Printfassung, die in Deutschland ein breites mediales Echo in der überregionalen Qualitätspresse fand, ist die Geschichte der Editionen der Getto-Chronik noch nicht an ihr Ende gekommen. Im Forschungsverbund Kulturtechniken und ihre Medialisierung im Rahmen der

Die digitale Version der GettoChronik

hessischen ­Landesexzellenzinitiative LOEWE wurde von 2008 bis 2012 am Gießener Zentrum für Medien und Interaktivität gemeinsam mit dem Herder-Institut Marburg und in enger Kooperation mit der Arbeitsstelle Holocaustliteratur sowie dem Staatsarchiv Łódź eine digitale Fassung der letzten zwölf Monate der Getto-Chronik (1. August 1943 bis 30. Juli 1944) erarbeitet, die seit Juni 2011 als WebSeite im Internet frei zugänglich ist (www.getto-chronik.de). Die Digitalisierung hat den Verbreitungsgrad der Getto-Chronik noch einmal erheblich erhöht, da so zumin-

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Texte aus und zu dem Getto Lodz/Litzmannstadt

dest ein Teil davon überall mit einem Mausklick verfügbar ist. Die höhere Aufmerksamkeit für die Chronik verdankt sich zu einem guten Teil auch dem Umstand, dass nicht allein der Text, angereichert durch Fotos und Dokumente, online verfügbar gemacht worden ist, sondern dass in Koopera­ tion mit dem Hessischen Rundfunk eine leicht gekürzte Audiofassung der letzten zwölf Monate der Getto-Chronik erstellt wurde. Diese wurde im Programm von hr2-kultur vom 1. August 2011 bis 30. Juli 2012 täglich mittags vor den Hauptnachrichten gewissermaßen als historische Nachrichten aus dem Getto Lodz/Litzmannstadt gesendet und hat noch einmal eine deutlich höhere Aufmerksamkeit für die Getto-Chronik gebracht und auch viele Rückmeldungen erstaunter Hörer. Zugespitzt ließe sich sagen: Während jahrzehntelang über das Warschauer Getto und den heroischen Widerstand dort sowie über das Ringelblum-Archiv gesprochen wurde, sind zum Lodzer Getto nach ebenso langem Schweigen und Marginalisierung inzwischen zentrale Textzeugnisse ediert und einer breiten Leserschaft öffentlich zugänglich. Dies

geschah natürlich nicht ohne Vorlauf. Seit den neunziger Jahren hat sich die Forschung zunehmend der Geschichte der Verfolgung und Ermordung der Juden in den ostmitteleuropäischen Regionen zugewandt. Dabei rückte auch das Getto Lodz/Litzmannstadt immer stärker in den Blick, da eine ungewöhnlich umfangreiche Überlieferung verschiedenster Quellen diese Arbeit erleichterte. Es sind aber auch immer wieder Zufälle, die eine Rolle dabei spielen, die öffentliche Aufmerksamkeiten zu lenken: Ende der achtziger Jahre wurden in einem Antiquariat Farbaufnahmen eines deutschen Funktionärs aus dem Getto gefunden. Ein spektakulärer Fund, der rasch die Runde machte und Anfang der neunziger Jahre in eine Ausstellung im Jüdischen Museum in Frankfurt mündete. Letztlich kam so eine umfangreichere bis heute anhaltende Forschung zum Getto Lodz in Gang, und zahlreiche wichtige Textzeugnisse jenseits der Getto-Chronik wurden publiziert. Zu nennen sind hier unter anderen die Erinnerungen von Lucille Eichengreen, zeitweise Sekretärin im Getto-Archiv, die Aufzeichnungen des Chronisten Oskar Rosenfeld, Reportagen des Chronisten Oskar Singer, Tagebücher vor allem jüngerer Getto-Bewohner wie Dawid Sierakowiak oder die kürzlich veröffentlichten Erinnerungen eines Angehörigen des jüdischen Sonderkommandos im Getto.

Von der Chronik zur Literatur Damit ist die Geschichte und Rezeption der Getto-Chronik und anderer Texte aus dem Getto Lodz allerdings noch nicht an ihr Ende gekommen. Das Getto, sein Präses Rumkowski und die Getto-Chronik sind auch in die Literatur eingegangen. Henryk Grynberg zum Beispiel, der als Kind den Holocaust überlebte und nach dem Krieg in Polen Schauspieler war, blieb 1967

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nach einer Tournee in den USA und veröffentlichte dort zahlreiche Bücher, viele über verschiedene Aspekte des Holocaust und der Holocaust-Literatur. Unter seinen Werken ist auch ein mehrfach aufgelegtes, 1987 zuerst erschienenes Drama mit dem Titel „Kronika“, das er im Grunde genommen, mit Ausnahme des Epilogs, aus Abschnitten aus der Getto-Chronik kompiliert hatte. Grynberg ist ein vehementer Verfechter der Dokumentarliteratur, lehnt Fiktionalisierungen weitgehend ab und unterscheidet sich damit deutlich von Autoren wie Andrzej Bart, der in seinem Roman „Die Fliegenfängerfabrik“ Rumkowski vor einem Gericht erscheinen lässt. Auch in Steve Sem-Sandbergs Roman „Die Elenden von Lodz“, der 2011 auf Deutsch und in vielen weiteren Sprachen erschienen ist, nachdem er zuvor schon in Schweden ein preisgekrönter Bestseller war, arbeitet mit Fiktionen. Gleichwohl stützt sich Sem-Sandberg in seinem Roman ganz wesentlich und immer wieder auf die Getto-Chronik und zitiert sie. So ist die Getto-Chronik fast 70 Jahre nach ihrem Abschluss nicht nur als historisches Zeugnis Öffentlichkeit und Forschung zugänglich, sondern auch Teil und Grundlage literarischer Bilder vom Getto Lodz/Litzmannstadt. •

KONTAKT Dr. Markus Roth Justus-Liebig-Universität Arbeitsstelle Holocaustliteratur Karl-Gloeckner-Straße 10B 35394 Gießen Telefon: 0641 99-29083 Markus.Roth@germanistik.uni-giessen.de

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„Die Deutschen sind Menschen“ Leon Kruczkowskis Drama Niemcy zwischen Schematismus und Modernität Von Reinhard Ibler

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„Die Deutschen sind Menschen“

Über tausend Jahre wechselvoller gemeinsamer Geschichte von Polen und Deutschen haben stets auch ihren Widerhall in der Literatur gefunden und vielfältige Bilder vom jeweils anderen Volk, seiner Kultur und seinen Menschen erstehen lassen. Mit den gerade für Polen so fatalen deutschen Verbrechen des Holocaust und des Zweiten Weltkriegs war das auch vorher schon schwierige Verhältnis zwischen beiden Völkern am Tiefpunkt angelangt. In der polnischen Literatur jener Jahre herrscht ein fast durchweg negatives Bild von den Deutschen vor. Zu den wenigen Ausnahmen zählt Leon Kruczkowskis Drama Niemcy, das bei der Frage nach Schuld und Verantwortung der Deutschen eine differenzierte Betrachtungsweise einfordert. Niemcy bedeutet wörtlich „Die Deutschen“. In Deutschland wurde das Stück aber unter dem Titel Die Sonnenbruchs oder – wie in der Berliner Inszenierung von 1949 – Die Sonnenbrucks bekannt, nach dem Namen der im Mittelpunkt stehenden Familie.

Abb. 1: Titelblatt der deutschen Ausgabe der Dramen von Leon Kruczkowski

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ls der polnische Schriftsteller Leon Kruczkowski im Frühjahr 1949 den 1. Akt seines neuen Dramas in der Zeitschrift Odrodzenie („Wiedergeburt“) unter dem Titel Niemcy są ludźmi („Die Deutschen sind Menschen“) veröffentlichte, rief dies nicht wenige Irritationen hervor. Die Provokation war durchaus gewollt, denn Kruczkowski störte sich am gängigen Klischee vom deutschen Ungeheuer. Er wollte keine Nachsicht mit den Deutschen und dem von ihnen zu verantwortenden Unrecht üben, aber er wandte sich gegen Pauschalurteile. So schrieb er in einem 1971 erschienenen Beitrag, in dem er auch auf die Entstehungsgeschichte seines Dramas eingeht: „Die politischmoralische Frage nach Schuld und Verantwortung des deutschen Volkes für Hitler hat in diesen Jahren die Form einer düsteren These von der angeborenen Kriminalität der Deutschen – einer fatalistischen, das heißt ausweglosen These – angenommen […] Das Bild der Deutschen in unseren Gegenwartsromanen, Novellen, Dramen und Filmen zum Thema der Besatzung war eher ein diabolisches denn ein realistisches Bild, ein Bild von sehr geringem oder überhaupt keinem Erkenntniswert; es zeigte Gesten und Mienen, Funktionen und Handlungen, aber keine oder nur wenige Handlungsmotive“ (zit. nach Dedecius 1990, S. 235).

Das Drama kam noch im selben Jahr auf die Bühne, nunmehr unter dem allgemeineren, seine Zielrichtung freilich beibehaltenden Titel Niemcy („Die Deutschen“). Die Urauf führung fand am 22. Oktober 1949 in Krakau statt. Niemcy sollte eines der erfolgreichsten und meistgespielten Stücke der polnischen Dramatik des 20. Jahrhunderts werden. Außer in Polen, wo es sich bis heute im Repertoire der Theater findet, wurde es vor allem in der frühen DDR viel gespielt, wohingegen es in der Bundesrepublik, wohl aufgrund politischer Bedenken, weitgehend ignoriert wurde. Inszenierungen gab es ferner u.a. in Paris, London, Rom, Amsterdam, Helsinki, Sofia, Tokio und Osaka. Abgesehen von der Brisanz der Thematik ist der Erfolg von Niemcy insofern erstaunlich, als es im Vergleich zu den Stücken eines Witkiewicz, Gom­ browicz, Różewicz, Mrożek oder Grochowiak, die das polnische Theater zu einem der experimentellsten und innovativsten im 20. Jahrhundert gemacht haben, einen eher konventionellen Eindruck hinterlässt. Allerdings bedeutet die Abwesenheit grotesker und verfremdender Elemente nicht, dass Niemcy frei von jeglicher Modernität

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Ibler

Abb. 2: Leon Kruczkowski (*Krakau 1900, † Warschau 1962).

wäre. Im Gegenteil: Das Stück beruht in entscheidendem Maße auf Verfahren, die auf Einflüsse des modernen Dramas und Theaters hinweisen.

Der Autor – ein bekennender Sozialist Leon Kruczkowski wurde am 28. Juni 1900 in Krakau als Sohn eines Buchbinders geboren. Nach seiner Ausbildung zum Chemiker arbeitete er in den zwanziger Jahren in der Erdöl- und Zementindustrie und war von 1930 bis 1933 als Berufsschullehrer tätig. Seine Erfahrungen in der Industrie ließen ihn in einer Zeit, als die linke Opposition in Polen unter den Repressalien des Piłsudski-Regimes zu leiden hatte, zum bekennenden Sozialisten werden. Von diesem Engagement zeugen auch seine Gedichte der zwanziger Jahre, die in seinen einzigen Lyrikband Młoty nad światem (1928; „Hämmer über der Welt“) Eingang gefun-

den haben, sowie die Romane Kordian i cham (1932; „Rebell und Bauer“) und Pawie pióra (1935; „Pfauenfedern“), in denen er alte polnische Geschichtsmythen aus einer sozialkritischen Perspektive entlarvt. Die Kriegsjahre verbrachte Kruczkowski als Reserveleutnant fast vollständig in deutscher Gefangenschaft in einem Offizierslager bei Arnswalde und Groß Born-Rederitz (damals Provinz Brandenburg). Seine Erfahrungen als Dramatiker konnte er in das dortige Lagertheater als Bearbeiter von Stücken und Regisseur einfließen lassen. Mit der Bühnenkunst war er auch in seiner Zeit als Vizeminister für Kultur und Kunst (1945-1948) verbunden, denn in dieser Funktion war er für die Neuorganisation des Theaterlebens in Polen zuständig. 1949 wurde Krucz­ kowski zum Präsidenten des Polnischen Schriftstellerbands gewählt. Aus diesem Amt wurde er 1956 entlassen, weil man ihn im Zuge des einsetzenden ‚Tauwetters‘ für die Einführung des Sozialistischen Realismus als verbindlicher Norm in Literatur und Kunst mitverantwortlich machte. Dieser Vorwurf

traf ihn hart, hatte er sich doch wiederholt für Kollegen eingesetzt, die in Schwierigkeiten mit dem herrschenden Regime geraten waren. Dass Krucz­ kowski kein überzeugter Anhänger der staatlich verordneten Schemakunst war, zeigt sich nicht zuletzt in seiner Bewunderung für das Brecht’sche Theater, aus der er nie einen Hehl gemacht hatte: 1952 war er Hauptinitiator der umstrittenen Polen-Tournee des Berliner Ensembles. Kruczkowski starb am 1. August 1962 in Warschau. In seinen letzten Lebensjahren verfasste er noch eine Reihe von Erzählungen und Dramen, in denen er die Zweifel und inneren Konflikte thematisierte, welche die Menschen in den Umbruchsphasen der Nachkriegszeit auszutragen hatten. Vor allem zwei Dramen sind auch über Polen hinaus bekannt geworden: Pierwszy dzień wolności (1959; „Der erste Tag der Freiheit“) und Śmierć gubernatora (1961; „Der Tod des Gouverneurs“).

Das Stück Dass Niemcy keineswegs ein völlig konventionelles Drama ist, zeigt schon der Textaufbau. Der 1. Akt ist in drei kurze Szenen unterteilt, deren Hand-

Abb. 3: Szene des 1. Aktes von „Die Sonnenbrucks“ im Deutschen Theater Berlin, 1949, u.a. mit Hans Stiebner als Hoppe (rechts). Foto: SLUB / Deutsche Fotothek, Abraham Pisarek, PURL: http://www.deutschefotothek.de/obj88930913.html, Aufnahme-Nr.: df_pk_0000796_021

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lungen alle zum selben Zeitpunkt, im September 1943, in verschiedenen Ländern des von den Deutschen besetzten Europas ablaufen. Die drei Szenen verbindet zudem ihre Beziehung zu jenem Geschehen, das den Hintergrund der ein paar Tage später spielenden Akte 2 und 3 bildet, die ihrerseits einen Zeitraum von nur wenigen Stunden umfassen. Es geht um das dreißigjährige Dienstjubiläum des namhaften Göttinger Biologen Professor Sonnenbruch. Schauplatz der 1. Szene des 1. Akts ist ein deutscher Gendarmerieposten mitten in der polnischen Provinz. Hier bereitet sich Gendarm Hoppe gerade auf einen dreitägigen Heimaturlaub vor, der ihm anlässlich von Sonnenbruchs Dienstjubiläum gewährt wurde, in dessen Institut er bis zum Krieg als Hausmeister gearbeitet hatte. Die Vorfreude auf das Wiedersehen mit seiner Familie und den früheren Arbeitskollegen wird getrübt durch einen fanatischen Landsmann namens Schultz, der ihm einen vom Transport ausgerissenen jüdischen Jungen übergibt. Obwohl Hoppe als Vater von zwei Kindern Mitleid mit dem zwölfjährigen Chaimek hat, möchte er sich durch einen möglichen Gnadenakt nicht selbst in Schwierigkeiten und um den Urlaub bringen. Da er sich von Schultz beobachtet wähnt, erschießt er den Jungen. Die 2. Szene spielt in einer Provinzstadt in Norwegen, wo SS-Untersturmführer Willi Sonnenbruch, der jüngere

Abb. 4: Szene des 2. Aktes mit Gerda Müller als Berta Sonnenbruck und Werner Peters als ihr Sohn Willi Sonnenbruck. Foto: SLUB / Deutsche Fotothek, Abraham Pisarek, PURL: http://www.deutschefotothek.de/obj88930913.html, Aufnahme-Nr.: df_pk_0000796_032.

Sohn des Professors, ebenfalls gerade Vorkehrungen für den Heimatbesuch trifft. Seine Vorfreude gilt nicht dem Vater, dessen Abneigung gegenüber dem Hitler-Regime er als überzeugter Nazi nicht teilt, sondern seiner Mutter, die er über alles liebt. Da er noch kein Geschenk für die Mutter hat, schwindelt er einer Norwegerin, die sich nach dem Schicksal ihres als Untergrundkämpfer in die Fänge der Deutschen geratenen Sohnes erkundigt, eine wertvolle Halskette ab. Wissentlich verschweigt er der Frau jedoch, dass ihr Sohn bei einem Verhör durch die SS ums Leben gekommen ist.

Die 3. Szene führt uns in eine Kleinstadt im Norden Frankreichs, wo die Pianistin Ruth Sonnenbruch, die Tochter des Professors, während einer Konzertreise aufgrund einer Fahrzeugpanne zu einem Halt in einer Gaststätte gezwungen ist. Überrascht von der ablehnenden Haltung der Franzosen gegenüber den Deutschen erfährt sie im Gespräch mit den Wirtsleuten, dass die Stadtbevölkerung von den Besatzern zur Abschreckung verpflichtet wurde, der kurz bevorstehenden Hinrichtung von sieben Partisanen beizuwohnen, die einen deutschen Militärtransport sabotiert hatten. Als sie hört, dass der Vater der Wirtin Fanchette zu den Delinquenten zählt, entschließt sich Ruth, an ihrer statt zur Hinrichtung zu gehen. In den drei Szenen des 1. Akts werden also bereits drei unterschiedliche Haltungen von Deutschen in der Zeit

Abb. 5: Der Nazi Willi Sonnenbruck enttarnt den KZ-Flüchtling Peters. Szene des 2. Aktes mit Wolfgang Langhoff als Joachim Peters (links), Paul Bildt als Professor Sonnenbruck (Mitte) und Werner Peters als Willi Sonnenbruck (rechts). Foto: SLUB / Deutsche Fotothek, Abraham Pisarek, PURL: http://www.deutschefotothek.de/obj88930913.html, Aufnahme-Nr.: df_pk_0000796_052

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des Naziterrors in exemplarischen Situationen vorgeführt: feiges Mitläufertum (Hoppe), Fanatismus und Verlogenheit (Willi Sonnenbruch), spontane Hilfsbereitschaft (Ruth Sonnenbruch). Die Akte 2 und 3 bringen diese und weitere Einstellungen in direkten Dialog miteinander. Beide Akte spielen in Sonnenbruchs Göttinger Vorstadtvilla. Dort sind im 2. Akt neben dem Professor und seiner Frau Berta ihre Kinder Willi und Ruth, die Schwiegertochter Liesel sowie Hoppe versammelt. Die Gespräche bringen schnell die Standpunkte der Anwesenden zum Vorschein. Auch Berta und Liesel Sonnenbruch sind – neben Willi – glühende Anhängerinnen des Nationalsozialismus. Nicht einmal der Verlust des Sohns bzw. Ehemanns (der Älteste der Sonnenbruchs war im Krieg gefallen) konnte ihren Fanatismus zügeln. Hingegen distan-

zieren sich der Professor und Tochter Ruth vom Hitler-Regime. Die Handlung nimmt gegen Ende des Akts eine deutliche Wendung, als plötzlich der Kommunist Joachim Peters auftaucht, Sonnenbruchs früherer Assistent, der gerade aus dem KZ geflohen ist. Willi Sonnenbruch erkennt ihn sofort als Flüchtigen und veranlasst, dass Peters so lange im Hause festgehalten wird, bis die gerade im Aufbruch zur Jubiläumsfeier befindliche Familie wieder zurückkommt. Der 3. Akt spielt wenige Stunden später. Ruth ist bewusst früher nach Hause zurückgekehrt, um Peters ihre Hilfe anzubieten. Beide werden jedoch von der vorzeitig eintreffenden Familie überrascht, was Peters dazu zwingt, im Haus zu bleiben und sich dort zu verstecken. Der von Liesel alarmierten Polizei gaukelt Ruth vor, sie habe Peters bereits aus der Stadt

gebracht und bietet sich zum Schein an, die Polizisten mit dem Auto auf dessen Fluchtweg zu führen. Als sich die Anwesenden mit Ausnahme des Professors zurückgezogen haben, verlässt Peters sein Versteck und führt mit seinem ehemaligen Chef einen langen Disput, wobei er ihm seine Vorstellungen von der Notwendigkeit des Widerstands darlegt. Zudem konfrontiert er Sonnenbruch mit der Tatsache, dass die Nazis dessen Forschungsergebnisse für ihre verbrecherischen Zwecke missbrauchen. Sonnenbruch verteidigt seine Haltung der inneren Emigration. Er möchte mit Hitlers Deutschland nichts zu tun haben, im Interesse der Wissenschaft kann er sich aber nicht zum offenen Widerstand entschließen. Da er sieht, dass er an der Einstellung Sonnenbruchs nichts ändern kann, verlässt Peters das Haus, um seine Flucht fortzusetzen.

Die Deutschen Der Autor Reinhard Ibler, Jahrgang 1952, studierte West- und Südslavische sowie Russische Philologie an den Universitäten Regensburg und Prag. In Regensburg, wo er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Assistent tätig war, promovierte er 1987 mit einer Arbeit über die Gedichtzyklen des tschechischen Lyrikers Karel Toman und habilitierte sich 1993 mit einer Arbeit zur Entwicklung der russischen Komödie von den Anfängen bis zur Moderne. Seit 1994 ist er Professor für Slavische Philologie (Literaturwissenschaft), und zwar zunächst an der Universität Magdeburg (1994-1999), danach an der Universität Marburg (1999-2006) und seit 2006 an der Universität Gießen. 1997 hatte er eine Gastprofessur an der Universität Brünn (Tschechien) inne. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte liegen im Bereich der russischen, tschechischen und polnischen Literatur, der vergleichenden slavischen Literaturgeschichte, der Gattungsforschung, der literarischen Zyklisierung und der Literaturtheorie. Seit 2010 betreut er an der Justus-Liebig-Universität Gießen ein Projekt zur vergleichenden Erforschung der polnischen, tschechischen und deutschen Holocaustliteratur und -kultur.

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Hier endet das Drama in seiner eigentlichen, von Kruczkowski intendierten Fassung. Klar erkennbar ist das humanistische Anliegen des Autors, der um einen differenzierten, historische Gerechtigkeit schaffenden Blick bemüht ist. Im Zentrum steht der Widerstreit unterschiedlicher Haltungen von Deutschen gegenüber dem NaziRegime. Dass dabei auch Schematismen nicht ausbleiben ist verständlich. Dies ist der politischen Situation zur Zeit der Entstehung des Dramas ebenso geschuldet wie der hohen Position des Autors in Politik und Kulturpolitik. So sind viele der Repliken des positiven Helden Peters voller künstlichem Pathos: „Ich kehre in meine Finsternis zurück, Professor, in die schreckliche deutsche Nacht, und werde mich bemühen, solange meine Kräfte reichen, durch diese Nacht weiterzugehen“ (Kruczkowski 1975, S. 69f.). Auch der Nazi Willi Sonnenbruch trägt – als

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„Die Deutschen sind Menschen“

Abb. 6: Ruth Sonnenbruck versucht, dem KZ-Flüchtling Peters zu helfen. Szene des 3. Aktes mit Wolfgang Langhoff als Joachim Peters und Ursula Burg als Ruth Sonnenbruck. Foto: SLUB / Deutsche Fotothek, Abraham Pisarek, PURL: http://www.deutschefotothek.de/obj88930913.html, Aufnahme-Nr.: df_pk_0000796_003

durchweg negative Gestalt – klischeehafte Züge. Komplexer angelegt sind die tragischen Figuren Berta und Liesel Sonnenbruch, die als Mutter bzw. Ehefrau am erlittenen menschlichen Verlust leiden, ihren Hass aber nicht gegen die für den Krieg Verantwortlichen richten, sondern gegen die vermeintlichen Feinde Deutschlands. Solcherlei Verblendungen gab es auch in der Realität zuhauf. Die stärksten Momente bietet das Drama dort, wo es um Personen geht, die in ihrer Haltung oder ihrem Handeln nicht so strikt festgelegt sind, die von Zweifeln oder inneren Konflikten geplagt werden. Hierzu ist auch Hoppe zu zählen, der als Familienvater mit dem jüdischen Jungen durchaus Mitleid empfindet und ihn eigentlich gar

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nicht töten möchte. Da er, unter Beobachtung stehend, die mit einer solchen menschlichen Handlung verbundenen Risiken nicht eingehen möchte, erschießt er das Kind mit einer dann doch wieder erschreckenden Indifferenz gegenüber menschlichem Leben: „Das Gewissen für einen deutschen Menschen ist der andere deutsche Mensch […]. Schultz steht auf der Brücke und glotzt. Ich weiß schon, was er denkt! […] Aber – ich habe Kinder! […] Na, komm, Kleiner!“ (ebd., S. 12). Ruth Sonnenbruch hingegen repräsentiert den Typus des auf eine fast naive Weise apolitischen Menschen, der aber spontan und zudem ohne Rücksicht auf die Folgen seinen moralischen Überzeugungen folgt. So unterläuft sie mit ihrer humanen,

aus echtem Mitleid geborenen Geste gegenüber der Wirtin Fanchette den Willen der örtlichen Besatzungsbehörden, die Bewohner der französischen Stadt einzuschüchtern. Und Peters unterstützt sie nicht aus Sympathie für dessen politische Haltung, sondern aus dem intuitiven Gefühl, einem bedrohten Menschen helfen zu müssen: „Ich habe mich daran gewöhnt, im Leben das zu tun, was ich will – und bisher ist es immer gut ausgegangen. Hoffen wir, daß es auch diesmal so ist…“ (ebd., S. 57). Diese Hoffnung Ruths dürfte freilich nicht in Erfüllung gegangen sein. Eine in jeder Hinsicht zerrissene Figur stellt Professor Sonnenbruch dar. Hat er früher sein Streben nach einer besseren Welt mit seinem Assistenten geteilt, sind diese Illusionen durch das Nazi-Regime und den Krieg auf brutale Weise zunichte gemacht worden. Gleichwohl ist er nicht, wie Peters, den Weg des offenen Widerstands gegangen, sondern hat sich, um den Frieden innerhalb der Familie und seine wissenschaftlichen Betätigungsmöglichkeiten zu erhalten, dazu entschlossen, zu schweigen und sich in der Hoffnung auf ein baldiges Ende des Schreckens vorerst in sein Schneckenhaus zurückzuziehen: „Meine Einsamkeit? Das ist alles, was mir geblieben ist! […] Es ist dies die Einsamkeit eines Mannes, der überdauern will, der überdauern muß! Der in sich all das bewahren will, was man heute schmählich mißhandelt […]“ (ebd.,

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S. 66). Sein einziges Ziel ist es, „die höchsten Güter der Menschheit zu bewahren“ und „sie zurückzuerstatten, unserem Volk zu übergeben, in dem Augenblick, da das grausame Reich Hitlers zusammenbricht“ (ebd., S. 69).

Und die Polen? Was Niemcy zu einer besonderen literarischen Erscheinung macht, ist die Tatsache, dass es in diesem polnischen Drama fast ausschließlich um die Deutschen geht. Für Deutschland hatte sich Kruczkowski, ein hervorragender Kenner der Kultur und Geschichte des Landes, seit jeher interessiert. Schon vor dem Krieg und damit vor seiner Kriegsgefangenschaft hatte er Werke geschrieben, die sich mit deutschen Problemen befassen. So ist z.B. eines seiner ersten Dramen, Bohater naszych czasów (1935; „Ein Held unserer Zeit“), eine Satire auf den deutschen Nationalismus in den Anfängen des Dritten Reichs. Insofern war der Autor für sein Vorhaben, sich den Einstellungen und Befindlichkeiten der Deutschen in der Zeit der nationalsozialistischen Verbrechen auf möglichst objektive Weise zu nähern, zweifellos prädestiniert. Aber hat Niemcy nun überhaupt nichts mit Polen zu tun? Die Frage ist schon deshalb zu verneinen, weil sich das Stück ja in erster Linie an ein polnisches Publikum richtet. Von da aus betrachtet ist es sicher auch kein Zufall, dass gleich die Eröffnungsszene in Polen spielt und zwei der vier in dieser kurzen Sequenz agierenden Figuren aus diesem Land kommen: der jüdische Junge Chaimek und Hoppes Gehilfe Juryś. Letzterer ist ein eigenartiger, etwas zwielichtiger Charakter. Er ist betrunken, biedert sich bei Hoppe an und lässt sich von diesem erniedrigen. Dem jüdischen Jungen gegenüber verhält er sich zwar nicht unfreundlich, aber doch mit erkennbarer Geringschätzigkeit. Chaimek steht hier für das pol-

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nische Judentum und die Verbrechen des Holocaust, deren menschenverachtende Brutalität zudem darin sichtbar wird, dass es sich bei dem Jungen um ein unschuldiges Kind handelt. In der Gestalt Juryś’ hingegen wird auf die zeithistorisch höchst umstrittene Frage nach einer polnischen Mitverantwortung verwiesen, der durch Antisemitismus und Kollaboration Vorschub geleistet wurde. Aus dieser Sicht gewinnt der Schluss der Szene für das polnische Selbstverständnis brisante Symbolkraft: Juryś muss die Leiche Chaimeks beseitigen. Damit aber wird das zen­ trale, deutsche Problem um ein polnisches ergänzt, das vom polnischen Rezipienten im Übrigen leicht als solches zu identifizieren ist. Die moralische Frage nach Schuld und Verantwortung erlangt auf diese Weise eine das eigentliche Thema transzendierende, universale Dimension: Wo waren in Deutschland, aber auch in Polen und anderswo, die moralischen Kräfte, die sich – von Einzelnen abgesehen – der Barbarei entgegengestellt und ihrem Wirken vielleicht hätten Einhalt gebieten können? Kruczkowski entlässt uns aus dem Drama, ohne uns eine Antwort auf diese Frage zu geben.

Das Ringen um die Modernität des Dramas Der offene Schluss ist das im Hinblick auf die Gesamtwirkung entscheidende Moment von Niemcy: Der Rezipient bekommt keine fertigen Lösungen eines ohnehin hoch komplexen und letztlich nicht zu begreifenden Problems geboten, sondern wird gezwungen, sich dieser Komplexität zu stellen und seine eigene Haltung zu den im Drama aufgeworfenen Fragen zu überprüfen. Die verschiedenen Einstellungen der agierenden Personen werden in Dialog zueinander gebracht, ohne dass sich an diesen Einstellungen Wesentliches ändert. Dort, wo Ansätze zu einer Entwicklung auszumachen sind, wie im

Falle Ruth Sonnenbruchs, werden sie durch die Brutalität des Systems unterbunden. Es war offensichtlich politischer Druck, der Kruczkowski dazu veranlasste, dieses Prinzip eines offenen Dramas – vorübergehend – aufzugeben. Noch vor der Krakauer Erstaufführung fügte er dem Stück nämlich einen Epilog hinzu, der nach dem Krieg spielt und „Göttingen 1948/49“ übertitelt ist. Aus diesem Epilog erfahren wir z.B., dass Ruth Sonnenbruch wegen ihrer Hilfeleistung für Peters ins KZ Ravensbrück musste und dort ums Leben kam. Willi Sonnenbruch hat sich trotz Nazi-Vergangenheit und ohne erkennbaren Gesinnungswandel den neuen politischen Verhältnissen im Westen bestens angepasst. Liesel Sonnenbruch hat einen Amerikaner geheiratet. Eine grundlegende Entwicklung aber hat der Professor durchgemacht. Er hat, nicht zuletzt durch die Überzeugungsarbeit seines ehemaligen Assistenten, seine passive Einstellung aufgegeben und engagiert sich nunmehr für die Sache des Friedens, wie sie in der damaligen Sowjetischen Besatzungszone propagiert wurde. Dies bringt ihm in Göttingen nicht nur Schwierigkeiten mit der britischen Besatzungsmacht ein, sondern entfremdet ihn u.a. auch seinen Studenten. Es deutet Vieles darauf hin, dass Sonnenbruch am Ende den Westen verlässt, um Peters in die Sowjetische Besatzungszone zu folgen und mit ihm der Wissenschaft zu dienen und für den Frieden zu kämpfen. Kruczkowski hat diesen Epilog vermutlich auch mit Blick auf den damals in der Entstehung befindlichen sozialistischen deutschen Staat geschrieben: Die DDR wurde am 7. Oktober 1949 gegründet, und die deutsche Uraufführung von Niemcy fand am 29. Oktober am Deutschen Theater (Kammerspiele) in Berlin statt, und zwar unter dem Titel Die Sonnenbrucks (durch die leichte Veränderung des Namens

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„Die Deutschen sind Menschen“

Abb. 7: Szene mit Ursula Burg als Ruth Sonnenbruck (links), Paul Bildt als Professor Sonnenbruck (2. von links), Hubert Suschka als Kommissar (2. von rechts) und Gerda Müller als Berta Sonnenbruck (rechts). Foto: SLUB / Deutsche Fotothek, Abraham Pisarek, PURL: http://www.deutschefotothek.de/obj88930913.html, Aufnahme-Nr.: df_pk_0000796_013

Sonnenbruch, wie er im Original bei Kruczkowski erscheint, wollte man – durchaus vorhandene – Parallelen in den Biographien der zentralen Gestalt des Dramas und des berühmten Berliner Chirurgen Ferdinand Sauerbruch vermeiden). Aber schon 1955, als die politischen Bedingungen dies zuließen, strich Kruczkowski den Epilog wieder. Mit dieser Entscheidung hat er nicht nur eine vermutlich politisch motivierte Manipulation rückgängig gemacht, sondern vor allem das unverwechselbare literarisch-kulturelle Profil seines berühmtesten Dramas wiederhergestellt. Mit dem Hinzufügen des Epilogs hatte Kruczkowski aus einem offenen ein geschlossenes Drama gemacht. Er hat damit den Bezug zur Moderne weitestgehend aufgekündigt und sein Werk der Schemaliteratur des Sozialistischen Realismus mit ihrem einseitigen Weltbild und ihren eindeutigen, oft banalen Lösungen angenähert: Sonnenbruch konnte somit doch noch zum positiven Helden werden, indem er sich in den Dienst der gerechten Sache stellt und sich damit für sein früheres Zaudern rehabilitiert. Dass das Stück zwischen 1949 und 1952 an ca. vierzig Theatern in der DDR gespielt wurde und immensen Erfolg hatte, mag auch mit dem Epilog zu tun haben, mit dem

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den Menschen suggeriert werden konnte, dass sie im besseren, antifaschistischen Teil Deutschlands leben, wohingegen man in Westdeutschland kein Problem damit hatte, ehemalige Nazis in die Gesellschaft zu integrieren. Es ist davon auszugehen, dass Kruczkowski diese Gefahren einer Missinterpretation bewusst gewesen sind. Vor allem dürfte er gesehen haben, dass damit sein Anliegen einer objektiven Annäherung an das Problem der Deutschen verfälscht wurde. Mit der Streichung des Epilogs holte er sein Stück in die Moderne zurück und unterstrich damit die eigentlichen Ziele, die er mit seinem Drama Niemcy verfolgt hatte. •

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Literatur

a) Textausgaben: Kruczkowski, Leon: Dramaty. War­ szawa 1977. ders.: Dramen. Übers. P. Ball u. V. Mika. Berlin (Ost) 1975. b) Benutzte und weiterführende Literatur (in deutscher Sprache): Olschowsky, Heinrich: Tua res agitur. Zur Rezeption von Leon Kruczkowskis „Die Sonnenbruchs“ in der DDR. In: Weimarer Beiträge 1976, Nr. 2, S. 41-62.

Baumann, Winfried: Die Repliken im dramatischen Text. Dargestellt an den „Deutschen“ von Leon Kruczkowski. Frankfurt/M. – Bern – Las Vegas 1977. Scholze, Dietrich: Zwischen Vergnügen und Schock. Polnische Dramatik im 20. Jahrhundert. Berlin (Ost) 1989. Dedecius, Karl: Zur Literatur und Kultur Polens. 2. Aufl. Frankfurt/M. 1990. Fischer, Christine; Steltner, Ulrich: Polnische Dramen in Deutschland. Übersetzungen und Aufführungen als deutsch-deutsche Rezeptionsgeschichte 1945-1995. Köln – Weimar – Wien 2011. Hiemer, Elisa-Maria: Zum Umgang mit der Kriegserfahrung im polnischen Drama der 1950er und 1960er Jahre, dargestellt an Leon Kruczkowskis Niemcy (1948) und Pierwszy dzień wolności (1959) sowie Ireneusz Iredyńskis Jasełka-Moderne (1962). In: J. Holý (Ed.): The Representation of the Shoah in Literature, Theatre and Film in Central Europe: 1950s and 1960s. Praha 2012, S. 79-91.

KONTAKT Prof. Dr. Reinhard Ibler Justus-Liebig-Universität Institut für Slavistik Otto-Behaghel-Straße 10, Haus D 35394 Gießen Telefon: 0641 99-31186 Reinhard.Ibler@slavistik.uni-giessen.de

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Die Entwicklung der polnischen Popkultur im Staatssozialismus muss im Kontext der Situation der gesamten westlichen Welt gesehen werden. Die kommunistische Partei hatte im Grunde nur wenig Einfluss hierauf und legte es seit den frühen 1960er Jahren auch gar nicht mehr darauf an, massiv verbietend einzugreifen. Dennoch ist es überraschend, wie klar man den Einfluss westlicher Trends mit nur geringer zeitlicher Verzögerung in Polen beobachten kann. Umgekehrt gab es mit Ausnahme des Jazz kaum eine relevante Rezeption polnischer U-Musik im Westen.

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Von „Bikinisten“, „Big Bit“ und polnischem Punk

Von „Bikinisten“, „Big Bit“ und polnischem Punk Popkultur in Polen zwischen Ost und West im Kalten Krieg Von Markus Krzoska

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urz vor Weihnachten des Jahres 1952 wurde im Warschauer „Arsenal“ die Ausstellung „Das ist Amerika“ eröffnet. Gezeigt wurden unterdrückte Indianer, Industriearbeiter und Schwarze, Spionagewerkzeug, vor allem aber der Niedergang der Zivilisation anhand von konkreten Beispielen: Comics, pornographische Zeichnungen, bunte Krawatten usw. Die Ausstellung wanderte in den Jahren darauf durchs ganze Land. Einigen mag sie tatsächlich zur Abschreckung gedient haben, den meisten bot sie aber willkommenen Anschauungsunterricht von Dingen, die man in der Regel nur vom Hörensagen kannte. Im Grunde wollten die Polen nur einigermaßen up-to-date bleiben. In den frühen 1950ern sah es damit aber schlecht aus, die Kontakte mit der nichtkommunistischen Außenwelt, wie sie unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs noch an der Tagesordnung waren, hatten nun etwas vom Genuss verbotener Früchte aus dem Paradies des Konsums. Der verklärte amerikanische Alltag sollte

Denkmal für Czesław Niemen auf dem Universitätshügel von Oppeln Quelle: Wikipedia, rodak

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in den 40 Jahren der Volksrepublik immer wieder Eingang in die Wunsch­ welten der nach konkret materieller wie geistiger Nahrung darbenden Polen finden. Einen wichtigen Bestandteil der knappen Freizeit stellte besonders für die jüngere Generation die Unterhaltungsmusik dar. Sie soll im Mittelpunkt des folgenden Beitrags stehen. Wenn man davon ausgeht, dass sich Popkultur als Massenphänomen der Jugend Mitte der 1950er Jahre herausgebildet hat, sind die vielfältigen Formen des Jugendprotests in West- wie Osteuropa signifikant. Die polnische „Generation von 1952” der so genannten „Bikinisten” mit ihrem auffallenden Kleidungsstil – bunte Hemden und Socken, kurze enge Hosen, Krawatten mit Bildmotiven, Schuhe mit hohen Sohlen – wich stark vom offiziellen Bild der kommunistischen Einheits­ jugend ab. Ähnlich nonkonformistischen Trends konnte man aber auch in anderen Ländern begegnen, und es ist davon auszugehen, dass zumindest einige der polnischen Bikinisten sehr wohl über diese Trends informiert waren. 15 Jahre später gab es kaum noch Unterschiede zwischen Ost und West, was die Vorstellungen dessen anging, was gerade angesagt war, allenfalls gewisse zeitliche Verzögerungen, die jedoch recht gering ausfielen. Der Film war hier das Leitmedium der Popkultur, der musikalische Protest kam später. Wichtig für Polen ist aber, dass Popkultur systemstabilisierend

und -destabilisierend zugleich wirken konnte.

Musik und Gesellschaft Die internationale Forschung zum Leben in realsozialistischen Systemen hat sich im letzten Jahrzehnt einem tiefgreifenden Wandel unterzogen. Ohne den weitgehend repressiven Charakter dieser Ordnungen zu leugnen, ist der Alltag der Menschen mitsamt seinen vielfältigen kommunikativen Prozessen stärker ins Blickfeld geraten. Widerstand und Protest sind gerade in den postsozialistischen Ländern zentrale Themen der historischen Forschung geblieben, die damit zwar Teilen des Lebensgefühls der Bevölkerung in exkulpierender Weise zu Hilfe kommt, die Komplexität menschlichen Handelns dagegen weitgehend ausblendet. Die Situationsabhängigkeit menschlichen Handelns, die Existenz äußerst flüchtiger Identitäten und die Komplexität humanen Verhaltens überhaupt lassen sich dagegen überhaupt nicht in Fragen von Schuld oder Unschuld verhandeln. Der Umgang mit Popkultur inklusive der dazugehörigen Lebensstile passt in diese neuen Erklärmuster. Es bleibt wichtig zu wissen, wie die Staats- und Parteistellen auf das Vordringen „westlicher” Muster reagierten. Mindestens genauso wichtig ist aber die Antwort auf die Frage, wie sich die Akteure auf der anderen Seite, „unten” gewissermaßen, verhielten.

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Hier kann uns das bekannte Encoding-/Decoding-Modell des Mitbegründers der modernen cultural studies, des amerikanischen Soziologen Stuart Hall, weiterhelfen. Der ideologischen Macht der Medien, der Partei- und Regierungsorgane, steht die Macht der Rezipienten gegenüber, die eigensinnig Bedeutungen produzieren. Zwischen diesen beiden Seiten finden komplexe Aneignungsprozesse statt. Der Rezipient kann seine eigene Lesart mit den medial vermittelten Bedeutungen eines Ereignisses konfrontieren, sie verändern und so verändert weitergeben. Kommunikation besteht demnach aus vier Stufen: Produktion, Zirkulation, Benutzung und Reproduktion. In jeder Stufe sind Abwandlungen möglich, die Botschaft kommt aber dennoch nur an, wenn ihr Kerngehalt einigermaßen verständlich oder passend ist. Die Dominanz der versendeten Zeichen im semiotischen Sinne bleibt aber dabei bestehen. Die testosterongesteuerte Aggressivität, wie sie den frühen Rock’n’Roll weltweit auszeichnete, hätte also nicht als kollektivistische musikalische Innovation der Arbeiterklasse rezipiert werden können. In Bezug auf die polnische Nachkriegsgesellschaft war es nicht möglich, den Zugang zu Formen westlicher Kultur ganz zu verhindern, deren Muster aber an die Realität hinter dem „Eisernen Vorhang“ angepasst werden mussten, um eine gewisse Wirksamkeit auch bei denjenigen zu erfahren, die den „Westen” nicht aus eigener Anschauung kannten. Die kommunistische Führung als Teil einer Erziehungsdiktatur wiederum hatte durchaus Interesse an Populärkultur als solcher. Dummerweise verstand sie darunter aber etwas völlig anderes als die Jazz- und Rockfans. Mithilfe einer sozialistischen Massenkultur sollten ideologische, politische und pädagogische Ziele verfolgt werden. Vor allem aber sollte sie bis tief in

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die 1980er Jahre hinein immun gegen westliche Einflüsse machen. Besonders glaubwürdig war dies aber seit den späten 1960er Jahren nicht mehr, als man trotz knapper Devisen damit begann, westliche Stars ins Land zu holen. Vor allem aber scheiterte man bei den potenziellen Fans, die weder an Filmen über die heldenhafte Polizei oder den wiedergewonnenen Westen noch an populären Reportagen mit marxistischem Inhalt großes Interesse zeigten. Bei der Unterhaltungsmusik versuchte man es nach 1956 erst gar nicht mehr und vertraute stattdessen auf die beruhigende Kraft des Unpolitischen.

„Schleichwege” Kein realsozialistischer Staat war komplett von der kapitalistischen Außenwelt abgeschlossen. Somit führt gerade im polnischen Falle das Bild vom „Eisernen Vorhang“ etwas in die Irre. Natürlich gab es nie freien Personen- und Warenverkehr, aber von einem weitgehend abgeschotteten Land kann man nur für die stalinistische Periode der Jahre 1948 bis 1956 sprechen, und selbst da gab es Möglichkeiten... Entscheidend waren die ganzen Jahre über Medien, im Konkreten die Schallplatte und das Radio. Der deutsche Historiker Christian SchmidtRost stellte vor kurzem den Aspekt des Hörens im Kontext einer Sensual History in den Vordergrund. Dazu gehörte – neben den zunächst bis in die späten 1960er Jahre seltenen LiveAuftritten ausländischer Musiker – das gemeinsame Anhören nach Polen geschmuggelter Schallplatten, oft bei den beliebten Partys in Wohnungen, den prywatki, vor allem aber der Empfang ausländischer Radiosender, seit den 1980er Jahren auch des Satellitenfernsehens. In Bezug auf den Jazz war es seit Mitte der 1950er Jahre vor allem der Sender „Voice of America”, der als staatliche Veranstaltung die ame-

rikanische Kultur bzw. den dortigen Lebensstil weltweit verbreiten sollte. Mindestens genauso wichtig im gesamteuropäischen Kontext waren die Programme von Radio Luxemburg, die bis weit in die 1970er Jahre Generationen dies- und jenseits des „Eisernen Vorhangs“ mit westlicher Unterhaltungsmusik bekannt machten. Der gewaltige Einfluss von Radio Luxemburg ist nicht zu unterschätzen, die ersten polnischen Rockbands stellten sich ihr Repertoire jedenfalls gerne aus dem dort Gehörten zusammen und verzichteten auf Songs in der Landessprache. Trotz der Existenz von Störsendern war der abendliche Empfang des verführerischen musikalischen Gifts aus dem Westen von den offiziellen Stellen kaum zu unterbinden. Besonders wichtig für den illegalen Import westlicher Produkte waren die Ostseehäfen und die schlecht bewachten Berge der Tatra. Während durch letztere vor allem in den 1970er Jahren eine Vielzahl von Druckschriften, aber sicherlich auch Schallplatten nach Polen gelangten, besaßen die privilegierten Seeleute von Stettin, Gdingen oder Danzig eine Vielzahl internationaler Kontakte. Ihre mitgebrachten Waren konnten sie gegen teures Geld an der Küste absetzen. Insgesamt war das politische Klima an der Ostsee günstiger, der Lebensstandard höher. Deshalb war es auch kein Zufall, dass sich hier die ersten Zentren der neuen Musikrichtungen, vor allem des Jazz, später auch der Disco-Musik herausbildeten. Ebenso lagen hier die Anfänge des kritischen Kabaretts und Theaters, eine Reihe von Starkarrieren begannen nahe des Meeres. Und schließlich waren da noch die vielen Auslandspolen, die Pakete in die alte Heimat schickten. Gegenüber der Attraktivität kapitalistischer Formen hatte es die staatlich verordnete Bruderliebe zur Sowjetunion deutlich schwerer, aussichtslos war es mit ihr aber dennoch nicht.

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Mick Jagger (links) und Keith Richards (rechts) hier im Juni 1972 im Winterland in San Francisco (Kalifornien, USA). Die Rolling Stones spielten bereits 1967 im Warschauer „Kulturpalast“. Quelle: wikipedia, Larry Rogers, CC-BY-SA

oder weniger gutem Deutsch als Platten aufnahmen. Rückblickend kann man wohl sagen, dass diese Schlager maßgeblich zu einem positiveren Bild dieser Länder in der DDR beitrugen. Gehen wir nun aber auf eine kleine chronologische und stilistische Reise durch die polnische Musikkultur.

Der Jazz und die 1950er Jahre

Polen und seine Bruderstaaten Es war nicht alles schlecht im Zwangsbündnis mit der Sowjetunion. Immerhin gab es auch Strukturen, die einen gewissen sozialistischen Wettbewerb forcierten und wo man dem großen Bruder ein Schnippchen schlagen konnte. Die berühmte Friedensfahrt gehörte hier ebenso dazu wie Eis­ hockeyländerspiele. Und im Bereich der Popkultur schlug mitunter doch die gemeinsame slavische Seele durch. Wie wäre es sonst zu erklären, dass seit 1965 in Grünberg (Zielona Góra) ein äußerst beliebtes Festival des sowjetischen Liedes durchgeführt wurde, wo die veranstaltende „Gesellschaft für Polnisch-Sowjetische Freundschaft“ goldene und silberne Samoware als Hauptpreis verlieh. Sowjetische Schlagerstars wie Alla Pugačeva traten hier gemeinsam mit polnischen Kollegen auf. Passenderweise gab es in der sowjetischen Partnerstadt Vitebsk ein Festival des polnischen Liedes. Und auch das Interesse an kritischerem sowjetischem Liedgut war groß. Besonders die Texte Bulat Okudžavas wurden häufig ins Polnische übersetzt,

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gerne gehört wurden auch die Undergroundsongs Vladimir Vyssockijs. Und da zumindest in den ersten Jahrzehnten der Westtourismus kaum möglich war, musste sich das musikalische Fernweh auf andere Gefilde erstrecken. Die warmen Küsten Bulgariens und Rumäniens gehörten hierzu, besonders aber die Sowjet­ union selbst, die bei weitem nicht alle Reisewünsche polnischer Gruppentouristen befriedigen wollte. So konnten auch sowjetische Schlager zu hippen polnischen Sommerhits werden, wie das Beispiel der Band Filipinki aus dem Jahre 1964 zeigt, in dem georgische – damals sagte man politisch korrekt: grusinische – Teefelder besungen werden. Während die gemeinsame Geschichte erstaunlich selten publikumsnah thematisiert wurde, fand gerade in den 1970er Jahren eine Reihe von länderübergreifenden Musikwettbewerben statt, die die Einheit des Sowjetblocks festigen sollten. Besonders stark einbezogen wurde hier die DDR. Nur so ist es zu erklären, dass eine ganze Reihe von Interpreten vor allem aus Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei ihre Songs in mehr

Beginnen wir mit dem am besten erforschten Teil der polnischen Popkultur. Bestimmte Spielarten des Jazz waren schon im Polen der Vorkriegszeit in gewissen Kreisen populär. Der wahre, schwarze Jazz aus Amerika erreichte Polen aber erst unmittelbar nach Kriegsende über die Hilfspakete der UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration), vor allem aber die „Werbemaßnahmen” des YMCA, der 1946, 1947 und 1948 Jazzclubs in Warschau, Lodz und Krakau gründete. Die dortigen Jam Sessions, getragen von polnischen Musikern, unter anderem interessanterweise von der neuen Jazz Bigband der polnischen Armee, wurden große Erfolge. Im sich allmählich stalinisierenden Polen gab es zunächst kaum politische Einwände, galt der Jazz doch als die Musik der unterdrückten amerikanischen schwarzen Arbeiterklasse. Den Jazz brachten zudem aus dem Westen zurückkehrende ehemalige Soldaten mit, in den Kinos wurden bis 1949 amerikanische Musikfilme gezeigt. Der American Way of Life stellte in allen Ländern unter neuer sowjetischer Dominanz eine gewünschte Alternative zum Einheitsgrau und -rot dar. Der Jazz nahm Züge

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einer Ersatzreligion an. Während der Stalinisierung seit Ende 1948 wurden dann jedoch die umfangreichen Plattensammlungen des YMCA mit Hämmern zerschlagen, die Bibliotheken angezündet. Die Musiker gingen aber in der Regel nicht ins Exil, sondern in den Untergrund, wo sie in Privatwohnungen auftraten und so die Jahre bis 1956 überstanden. Ohne charismatische Figuren hätte dies vermutlich nicht funktioniert. Eine von ihnen war Leopold Tyrmand (1920-1985), Musiker, Journalist, Schriftsteller, vor allem aber Dandy, dessen Individualismus stärker war als die Zwänge des Systems. Tyrmand, der spiritus rector der schon erwähnten Bikinisten, organisierte die Jazzszene nach 1945 als Warschauer Chef des YMCA und dann im Privaten, bis er 1956 wieder auftauchte, als die politischen Verhältnisse sich so rasch veränderten. Eine Voraussetzung dafür war das mildere politische Klima in der „Dreistadt“ Danzig-GdingenZoppot an der Ostsee. Anders als

in der DDR, wo Jazz bis weit in die 1960er Jahre politisch unterdrückt wurde, hatten die Organisatoren des ersten landesweiten Jazzfestivals im Ausstellungspavillon und der Wald­ oper von Zoppot die Unterstützung der kommunistischen Partei. Organisiert vor allem von Tyrmand fand das einwöchige Spektakel im August 1956 statt und erlangte sofort landesweite Bedeutung, weil alle polnischen Jazzmusiker von Rang und Namen dort auftraten. Vor allem ging aber der Stern des jungen Posener Hals-Nasen-Ohren-Arztes Krzysztof Trzciński (1931-1969) auf, der sich „Komeda” nannte und im darauffolgenden Jahrzehnt bis zu seinem tragischen Tod vor allem als Filmkomponist in Polen und den USA (bei den frühen Filmen Roman Polańskis) Furore machte. Das Festival zog 1958 aus nicht ganz geklärten Gründen nach Warschau um und entwickelte sich unter dem neuen Namen „Jazz Jamboree“ zu einem bis heute weltweit wichtigen Ereignis der Jazz-Szene, auf dem alle große Namen

auftraten, um nur drei Namen zu nennen: Duke Ellington, Dizzy Gillespie, Ray Charles.

Der Siegeszug des „Big Bit” Der polnische Jazz brachte viele internationale Stars hervor und profitierte davon, dass eine politische Gängelung durch den Staat nach 1956 praktisch gar nicht mehr stattfand. Er ebnete den Weg für den Durchbruch der zweiten internationalen Musikrichtung, des Rock’n’Roll, in seiner polnischen Form „Big Bit” genannt. Naturgemäß war es kein einzelner Moment, der den in den frühen 1950er Jahren entstandenen Rock’n’Roll nach Polen brachte. Ein echter Meilenstein war es aber, als sich eine neue Band erstmals offensiv zum Rock’n’Roll bekannte und landesweit damit auftrat. Dies war zuerst im März 1959 im Danziger Klub „Rudy Kot” so weit, als die Kombo „Rhythm’n’Blues” den Saal der 150 Anwesenden mit einem 45-minütigen Programm rockte und die Stimmung massiv aufheizte. Gespielt wurden u.a. Stücke von Bill Haley, Elvis Presley und Paul Anka. Die Vorbehalte der Mächtigen dem neuen Phänomen gegenüber waren schon zuvor in jedem Fall stärker als beim Jazz gewesen, befürchtete man doch soziale Unruhen, zumal die neue Bewegung anders als dieser vor allem von der jungen Generation getragen wurde. Diese Ängste waren somit nicht ganz unberechtigt. Nachdem einige Inneneinrichtungen zu Bruch gegangen waren, wurde „Rhythm’n’Blues“ 1960 verboten. Doch der clevere Manager Franciszek Walicki fand rasch eine Lösung. Die Band wurde nach den Farben des Danziger Jazz Clubs

Krzysztof Trzciński (1931-1969), genannt „Komeda”. Quelle: wikipedia, Zbigniew Kresowaty

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Duke Ellington und Ray Charles spielten schon früh in Polen auf Jazz-Festivals. Duke Ellington (links) hier vor seiner Garderobe, während der Konzertpause in der Jahrhunderthalle in Hoechst, im Februar 1965. Ray Charles (rechts) hier bei der Grammy-Verleihung 1990. Quelle: wikipedia, Dontworry (links) und Alan Light cc-by-2.0 (rechts)

in „Czerwono-Czarni” umbenannt und die Musikrichtung nicht mehr als Rock’n’Roll, sondern als „Big Bit” bezeichnet, der nun der Unterhaltung der Jugend dienen sollte. Im ebenfalls neuen Zoppoter Tanzpavillon „Non Stop” begannen die ersten landesweiten Talentwettbewerbe, die auf großes Interesse stießen. Auch polnische Texte gewannen nun an Bedeutung, vor allem im Werk der großen Konkurrenzband „NiebieskoCzarni”. Es dauerte aber bis 1966, bis die erste nur polnischsprachige Langspielplatte des „Big Bit” entstand, und auch sie ist letztlich durch ein Nebeneinander verschiedener Musikformen geprägt. Sänger der „NiebieskoCzarni” im „Olympia” war ein gerade einmal 23-jähriger Spätaussiedler aus der Sowjetunion, der 1958 mit seinen Eltern nach Polen gekommen war: Czesław Wydrzycki (1939-2004), der sich bald nach dem heimatlichen Fluss „Czesław Niemen” nennen und zum eigentlich Star der polnischen Rockszene werden sollte. Die weitere Entwicklung der 1960er Jahre zeigte, dass die Vorstellung, innerhalb des Sozialismus habe gar kein Wettbewerb und keine Konkurrenz nach Marktgesichtspunkten geherrscht, nicht zutrifft. Als am 13. Juni 1967 die „Rolling Stones“ im Warschauer Kulturpalast sangen, war das nicht nur ein in Polen einmaliges Ereignis, er erforderte aus

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Sicht der Partei, deren Sympathisanten zweifellos zu die Mehrzahl der Besucher gehörte, auch erhöhte Sicherheitsvorkehrungen. Der Gig selber muss qualitativ miserabel gewesen sein. Keith Richards & Co spielten auf Instrumenten der „Czerwono-Czarni“, weil ihre eigenen 110 Volt-Verstärker dem sozialistischen Stromnetz zum Opfer gefallen waren. Dennoch verbreitete sich der Mythos. Der neue Lebensstil manifestierte sich auch in der Einrichtung von Diskotheken im Lande. Nach der ersten Gründung im Zoppoter „Grand Hotel“ im Jahre 1970 waren Mitte des Jahrzehnts in ganz Polen schon über 100 von ihnen lizenziert, die Gesamtzahl dürfte weit höher gelegen haben. Bei bescheidenen technischen Möglichkeiten wurde dort überwiegend westliche Musik gespielt. Ein wirkliches Eingreifen der Parteiführung in die Musikszene gab es nach 1960 nicht mehr, allerdings ist von einer weitreichenden Bespitzelung auszugehen. Die Protestlinien innerhalb der Gesellschaft verliefen jedenfalls anderswo, der polnische Rock blieb ganz im Gegensatz zu seinem großen westlichen Vorbild weitgehend unpolitisch.

Die 70er: Pop und Schlager Das neue Jahrzehnt begann mit der polnischen Variante von „Mehr Demokratie wagen”: Parteichef Edward

Gierek forderte von den Arbeitern die Mithilfe bei der Verbesserung der Lebensbedingungen ein und versprach seinerseits eine deutliche Verbesserung des Lebensstandards. Die Ankurbelung des Konsums über später nicht mehr rückzuzahlende Kredite brachte eine erhöhte Kaufkraft und eine Annäherung an die Lebensformen des Westens mit sich. Während die Rockmusik an Bedeutung verlor, entwickelte sich ganz im europäischen Trend die weicher gespülte Musikvariante des Pop auch in Polen. Zu einer ihrer Ikonen wurde Maryla Rodowicz (*1945), deren Eltern aus Wilna stammten. Die PZPR-Führung scheute weder Kosten noch Mühen, ausländische Stars ins Land zu holen, die in großen neuen Hallen und Stadien wie dem Kattowitzer „Spodek” auftraten. Höhepunkt war zweifellos die Polenreise der schwedischen Band „ABBA” im Jahre 1975. Das Motto „Wir werden euch beim Tanzen nicht stören, wenn ihr uns beim Regieren nicht stört” mag idealtypisch für den Gesellschaftsvertrag zwischen weiten Teilen der Jugend und dem Regime in diesem Jahrzehnt stehen. Der Trend ging also in Richtung Entspannung; ein Preis dafür war allerdings, dass sich die Jugend immer stärker vom Rest der Gesellschaft entfernte. Auch in Polen war es nun das Zeitalter der Disco. Wie im Westen auch gewannen die DJ’s, die in Polen „prezenterzy” hießen, an Be-

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deutung für die Popkultur. Sie saßen häufig an der Quelle für die begehrte Westmusik, weil sie die entsprechenden Kontakte besaßen oder selber in die Bundesrepublik oder Großbritannien reisen konnten. Zudem war es das Jahrzehnt des harmlosen Schlagers, eine Parallele zur Entwicklung in der Bundesrepublik. Wenn es im heutigen Polen so etwas wie Nostalgie in Richtung Volksrepublik gibt, hat man meist die 1970er Jahre im Blick. Der kurze Karneval der „Solidarność” zeigte, dass die polnische Jugend nicht per se unpolitisch war. In den 1980er Jahren wurde dies noch deutlicher. Zum Teil in Elitephänomenen wie der Breslauer „Pomarańczowa Alternatywa”, einer anarchischen Spaßbewegung, die aber keine landesweite Wirksamkeit erreichen konnte.

Polnischer Punk Manche Plätze werden zur Legende, weil sie für eine bestimmte Generation eine spezifische, sozialisierende Wirkung entfalten, sie entwickeln sich zu Erinnerungsorten. Woodstock ist

natürlich ein solcher Ort für die BeatGeneration der späten 1960er Jahre. Dass Jarocin bei Posen dazu wurde hängt damit zusammen, dass hier junge Menschen einen von staatlicher Einwirkung scheinbar komplett freien Raum erleben konnten. Wir wissen heute, dass es eine massive geheimdienstliche Überwachung des Festivals gegeben hat, sie konnte aber der Stimmung der Freiheit und des Ausprobierens nichts anhaben. In seiner Hoch-Zeit, die bis 1986 andauerte, strömten bis zu 30.000 Jugendliche und Hunderte von Bands aufs Land. Jarocin war aber in einem gewissen Sinne auch Symbol für eine Spaltung der Musikszene. Zum einen entwickelte sich eine Art Gegenkultur, wie sie aus dem Westen bekannt war, zum anderen agierten vor allem Popbands oft im Einverständnis mit dem Regime und hatten kaum Einschränkungen durch die Zensur zu befürchten; andere wiederum durften auftreten, aber nur mit massiven Kontrollen. Das Publikum in Jarocin hatte hierfür ein feines Gespür und lehnte Bands wie „Perfect“ oder „Lady Pank“ ab, die

Der Autor Markus Krzoska, Jahrgang 1967, studierte Geschichte und Politikwissenschaften an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. 2001 wurde er an der Freien Universität Berlin bei Klaus Zernack mit einer Arbeit über den polnischen Historiker und Gründer des Posener West-Instituts Zygmunt Wojciechowski promoviert. Nach mehrjähriger Tätigkeit am Deutschen Polen-Institut in Darmstadt und der Universität Trier war er von 2008 bis 2012 wissenschaftlicher Assistent an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Nach seiner dort im Dezember 2012 erfolgten Habilitation mit einer kultur- und sozialgeschichtlichen Darstellung der Geschichte Polens nach 1945 bereitet er derzeit ein Projekt zur Umwelt- und Alltagsgeschichte des Białowieża-Nationalparks vor. Priv.-Doz. Dr. Krzoska ist Vorsitzender der Kommission für die Geschichte der Deutschen in Polen.

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als zu systemnah galten. Die Vertreter der Gegenkultur, vor allem des Punk, hatten keine Möglichkeit, ihre Musik offiziell zu vermarkten. Jarocin machte aber nun kompromisslose Gruppen wie „Dezerter“ weithin bekannt. Die Besucher des Festivals waren vor allem Mainstream, wie man heute sagen würde, es gab kaum Exzesse, aber auch kein gefestigtes Weltbild, wohingegen eine No Future-Einstellung soziologischen Studien zufolge weit verbreitet war. Für die Zeit des Festivals war Jarocin so etwas wie eine „Temporäre Autonome Zone“ im Sinne des anarchistischen Konzepts von Hakim Bey, wie es im Westen in Ansätzen im Kopenhagener Christiania oder der Hamburger Hafenstraße praktiziert wurde und wo alle Regeln des Systems außer Kraft gesetzt zu sein schienen. Die kommunistischen Behörden hatten in jenen Jahren ganz offensichtlich größere Probleme als die Popkultur, und nur so ist es zu erklären, dass die Kommunistische Jugendorganisation ZSMP einer der Mitveranstalter war. Die klassischen Kontrollmechanismen funktionierten nicht mehr, dezentrale Agenturen besaßen großen Einfluss und trugen maßgeblich dazu bei, dass dieses Jahrzehnt heute als Blütezeit des polnischen Rock angesehen wird, unter anderem deswegen, weil angesichts des Fehlens von Möglichkeiten zum Platteneinspielen und -vertreiben, die Bands aus finanziellen Gründen zu einer Vielzahl von Konzerten gezwungen waren. Ein schönes Beispiel für das Chaos ist die Geschichte der Punkband Brygada Kryzys, die unmittelbar nach Verhängung des Kriegszustands ein Auftrittsverbot erhielt. Als jedoch nur einen Monat später ein neues Plattenstudio in Warschau getestet werden sollte, erhielt die Band aufgrund ihrer Kontakte die Chance, dort ihr gleichnamiges allererstes Album aufzunehmen, einen Meilenstein des Punk-

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Von „Bikinisten“, „Big Bit“ und polnischem Punk

Die Band „Siekiera“ live im August 1984 auf dem Rockmusikfestival in Jarocin bei Posen, dem polnischen „Woodstock“. Quelle: wikipedia, Mirosław Makowski

rocks. Der polnische Punk hatte seine Vorbilder natürlich in Großbritannien und den USA, seine anarchischen Muster mussten sich aber am kommunistischen Regime abarbeiten, so dass es nicht verwundert, dass eine nicht geringe Anzahl seiner Vertreter ideologisch gesehen eher von „Rechts” her argumentierte. Insgesamt gesehen waren die 80er Jahre aber von einer großen Vielfalt gekennzeichnet. Die Popkultur begann sich immer weiter aufzufächern. Neue Verbreitungsformen wie der Walkman oder das Musikvideo erreichten auch Polen. Im nichtsozialistischen Ausland waren die meisten Interpreten dagegen kaum bekannt. Entsprechend der Entwicklung der Gesamtgesellschaft setzte auch in der Popkultur nach mehrjähriger Stagnation eine erneute Politisierung ein, für die unter anderem die 1982 gegründete, eine Mischung aus Punk und psychodelischem Rock verbreitende Band „Kult” stand. Die Musikkultur wurde immer medientauglicher und massenkompatibler, die Einflüsse aus dem westlichen Pop immer spürbarer.

Bilanz Die Entwicklung der polnischen Popkultur im Staatssozialismus muss immer im Kontext der Situation der gesamten westlichen Welt gesehen werden. Die kommunistische Partei hatte hierauf im Grunde nur wenig Einfluss und legte es seit den frühen 1960er Jahren gar nicht mehr darauf an, massiv verbietend einzugreifen. Vielleicht hatte sie erkannt, dass von der Popkultur keine unmittelbaren Bedrohungen für ihre Herrschaft aus-

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gingen, vielleicht passt das Verhalten aber auch zum allgemeinen Bedeutungsverlust der eigenen Ideologie im gesamtgesellschaftlichen Kontext. Lediglich der Zugang zu den modischen icons der Popkultur blieb erschwert, so dass das Hören ausländischer Radiostationen und ins Land geschmuggelter Tonträger im Vordergrund der Rezeption westlicher Musik standen. Im Lande selbst erschwerten die wirtschaftliche Lage bzw. die planerischen Prioritäten die Karrieren der Musiker, die zudem im Unterschied zur so genannten „E-Musik” selten ernst genommen wurden. Dennoch ist es überraschend, wie klar man den Einfluss westlicher Trends mit nur geringer zeitlicher Verzögerung in Polen beobachten kann. Umgekehrt gab es mit Ausnahme des Jazz kaum eine relevante Rezeption polnischer U-Musik im Westen, wohingegen in den sozialistischen Bruderländern zumindest seit den 1970er Jahren ein gewisses, freilich auch politisch gesteuertes Interesse an polnischer Musik zu beobachten war. Die polnische Popkultur bewegte sich irgendwo zwischen rebellischer Jugendkultur und harmlosem easy listening, dennoch war sie für das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer

die Grenzen des kommunistischen Blocks überschreitenden Bewegung mehr als wichtig. Wie der Blick auf das überreiche Warenangebot des Kapitalismus prägten Jazz, Rock, Pop, Schlager und sogar Punk das Bild von dem, was als Wunschziel für das eigene Leben angesehen wurde: Freiheit, Wohlstand, Coolness. Die polnischen Musiker übernahmen weitgehend die Erfolgsmodelle aus dem Westen und schrieben sich somit ebenso in das jeweilige generationelle Gedächtnis ein. Nach 1989 war der Weg dann frei für den ungezügelten Konsum. Aber auch dann folgte man westlichen Trends, verlieh ihnen zugleich aber häufig eine starke eigene Note, wie die große Bedeutung des polnischsprachigen HipHops oder Reggaes bis zum heutigen Tage zeigt. •

Kontakt Priv.-Doz. Dr. Markus Krzoska Justus-Liebig-Universität Historisches Institut Otto-Behaghel-Straße 10, Haus D 35394 Gießen Telefon: 0641 99-28251 markus.krzoska@geschichte.uni-giessen.de

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Erster Fall von AlzheimerKrankheit molekular geklärt Entdeckung einer Mutation im Gen PSEN1 bei Auguste Deter Von Ulrich Müller, Pia Winter und Manuel B. Graeber

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Justus-Liebig-Universität Gießen


Erster Fall von Alzheimer-Krankheit molekular geklärt

Die molekulare Aufklärung des Falles, an dem Alois Alzheimer die nach ihm benannte Krankheit vor über 100 Jahren zum ersten Mal beschrieben hat, ist Wissenschaftlern des Instituts für Humangenetik der Justus-Liebig-Universität Gießen in Zusammenarbeit mit einem Wissenschaftler des Hirnforschungsinstituts der Universität Sydney, Australien, gelungen. Die Ergebnisse ihrer Forschungsarbeit wurden in der renommierten Zeitschrift „The Lancet Neurology“ im Dezember 2012 zunächst online und im Februar 2013 in gedruckter Form publiziert.

Abb. 1: Deutsch-polnische Gedenktafel für Alois Alzheimer in Breslau, wo seine letzte Lebensstation war. An der schlesischen Friedrich-WilhelmUniversität wurde er Direktor der „Königlich Psychiatrischen und Nervenklinik“. Abb. 2: Archivbild von Auguste Deter (aus Maurer et al., 1997)

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I

n Industriegesellschaften stellt die Alzheimersche Krankheit heute eines der größten Gesundheitsprobleme dar. Allein in Deutschland sind zurzeit 1,3 Millionen Menschen an Morbus Alzheimer erkrankt, und die Zahl der Erkrankten steigt durch eine zunehmende Lebensdauer ständig an. Global werden für das Jahr 2050 mehr als 100 Millionen Demenzkranke erwartet, wobei ein Großteil an der Alzheimerschen Krankheit leiden wird, wenn man nicht rechtzeitig ein Gegenmittel findet. Alois Alzheimer (Abb. 1) hat 1907 erstmals die später nach ihm benannte Krankheit an der Patientin Auguste Deter (Abb. 2) beschrieben. Auguste Deter war 51 Jahre alt, als sie 1901 in das damals als „Städtische IrrenAnstalt Frankfurt a.M.“ bezeichnete Krankenhaus wegen Verwirrtheitszuständen, Halluzinationen und starkem Gedächtnisverlust eingewiesen wurde. Dort hat sie bis zu ihrem Tod im

Jahr 1906 gelebt. Das Gehirn der Verstorbenen wurde dann nach München gebracht, wo Alois Alzheimer in Emil Kraepelins berühmter Klinik seit 1904 ein Forschungslabor aufbaute. Anhand von Gehirnschnitten der Verstorbenen beschrieb Alzheimer die für die Erkrankung charakteristischen morphologischen Veränderungen: Neben Amyloid-Plaques zwischen den Zellen des Gehirns sah er auch erstmals die ebenfalls nach ihm benannten Fibrillenbündel in den Neuronen („neuro­ fibrillary tangles“). Sowohl Plaques als auch „Tangles“ interferieren mit der normalen Funktion der Nervenzellen und werden als Ursachen für den Nervenzelltod (Neurodegenera­ tion) angeführt. Die bei Auguste Deter gefundenen morphologischen Veränderungen im Gehirn sind typisch für schwere Alzheimer-Krankheit (AK). Abb. 3 zeigt diese Veränderungen im Gehirn von Auguste Deter. Die meisten Fälle von AK haben eine multifaktorielle Ätiologie, d.h. verschiedene Genvarianten im Zusammenspiel mit Umweltfaktoren führen zur Erkrankung. Von den genetischen Varianten ist das Allel ε4 des für Apolipoprotein E kodierenden Gens APOE der größte Risikofaktor. Von den nicht-genetischen (Umwelt-) Faktoren hat fortgeschrittenes Alter den größten prädisponierenden Effekt. Nur ein kleiner Prozentsatz aller Alzheimer-Fälle (< 2%) ist auf eine Veränderung in einem einzigen Gen zurückzuführen.

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Müller, Winter, Graeber

Abb. 3: Zahlreiche AmyloidPlaques (links in a). Abb. b (rechts) zeigt verschiedene Formen Alzheimerscher Neurofibrillen­veränderungen. Bielschowsky-Silberimprägnation. Primäre Vergrößerung x20 (aus Graeber et al., 1998)

Abb. 4: Spaltung des membran­ überspannenden Proteins APP durch Sekretasen. Die innerhalb der Mem­ bran schneidende γ-Sekretase erzeugt zusammen mit der β-Sekretase Spaltstücke (Amyloid β-Peptide) von 40 Aminosäuren. Nur ein kleiner Prozentsatz (unter 20 %) der Spaltprodukte hat eine Größe von 42 Aminosäuren. Bei Mutationen in den Genen PSEN1 und PSEN2 ist die Funktion der γ-Sekretase beeinträchtigt, und es entstehen primär (über 80 %) Amyloid β-Peptide von 42 Aminosäuren, die stark amyloidogen sind. Eine weitere Sekretase (α-Sekretase) spaltet ebenfalls APP, spielt jedoch für die Entstehung von Plaques keine Rolle.

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Im Gegensatz zur Großzahl der Fälle von Alzheimer-Krankheit, die jenseits des 65. Lebensalters beginnen („late onset Alzheimer disease“, LOAD), erkrankte Auguste Deter bereits mit Ende 40. Sie litt damit an einer seltenen, bereits vor dem 65. Lebensjahr einsetzenden Variante. Man spricht von „early onset Alzheimer disease“ (EOAD), die nur 5% aller Fälle von AK ausmacht. Etwas weniger als die Hälfte der EOAD-Fälle wird autosomal dominant vererbt, das bedeutet, dass die Erkrankung durch eine Veränderung in einem einzigen

Gen verursacht wird und Verwandte ersten Grades, also Kinder und Geschwister, ein Risiko von 50% haben, die Genveränderung zu erben und damit ebenfalls an EOAD zu erkranken. Außer dem Erkrankungsbeginn lassen sich EOAD und LOAD weder klinisch noch neuropathologisch voneinander unterscheiden. Heute sind drei Gene bekannt, die mutiert zu EOAD führen können: Die beiden einander sehr ähnlichen Gene PSEN1 und PSEN2, die für die Proteine Präsenilin 1 und 2 kodieren, sowie das für das „amyloid precursor protein“ (APP) kodierende Gen APP. Spaltprodukte des die Zellmem­ bran überspannenden APP tragen zur Entstehung von Amyloid Plaques bei. Das membranständige Protein APP wird durch die Wirkung von drei Proteasen (der α-, β- und γ-Sekretase) prozessiert (Abb. 4). Die β-Sekretase erzeugt zusammen mit der das APP innerhalb der Membran schneidenden γ-Sekretase primär Spaltprodukte von 40 Aminosäuren (Amyloid ß-Peptid von 40 Aminosäuren: Aβ40). Funktionsänderungen der γ-Sekretase führen zu vermehrter Bildung von Spaltprodukten von 42 Aminosäuren (Aβ42), die hochgradig amyloido-

TM NH2

APP

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Aß DAEFRHDSGYEVHHQKLVFFAEDVGSNKGAIIGLMVGGVVIA beta

alpha‐Stoffwechselweg

beta‐Stoffwechselweg

alpha

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42 (20 %)

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Erster Fall von Alzheimer-Krankheit molekular geklärt

Abb. 5: Krankenakte von Auguste Deter, die 1996 von Maurer wiederentdeckt wurde (aus Maurer et al., 1997). Abb. 6: Objektträger mit Gewebeschnitt von Auguste Deter, von dem DNA zur Untersuchung extrahiert wurde.

gen wirken. Die Präseniline 1 und 2 sind Teil eines Proteinkomplexes, der zusammen mit weiteren Proteinen (Nikastrin, APH-1 (anterior phaynxdefective 1), PEN2 (presenilin enhancer2)) die γ-Sektretase bildet. Mutationen in den Genen PSEN1 und PSEN2 führen zu einer gestörten Funktion der γ-Sekretase und zu vermehrter Bildung von Aβ42. Die Krankengeschichte von Auguste Deter, die seit 1909 verschollen war, wurde 1996 in der Abteilung für Psychiatrie der Universität Frankfurt wiederentdeckt (Maurer et al., 1997, Abb. 5). Die wahrscheinlich von Alois Alzheimer selbst von Auguste Deters Gehirn angefertigten Schnitte wurden 1997 von Manuel Graeber im Keller des Instituts für Neuropathologie der LMU München gefunden (Graeber et al, 1998). Wir haben eines dieser von Auguste Deters Gehirn angefertigten Präparate (Abb. 6) verwendet, um DNA zu isolieren und Mutationsanalysen durchzuführen. Durch die Paraffineinbettung, Formalin-Fixierung und Färbung der Präparate wird die DNA stark geschädigt und fragmentiert. Um überhaupt analysierbare DNA aus Formalin-fixierten Gewebeschnitten gewinnen zu können, muss die Gesamt-DNA amplifiziert werden, ein Vorgang, der als „Whole

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genome amplification“ (WGA) bezeichnet wird. Wir haben zur Amplifikation der DNA eine Variante der „multiple displacement amplification“-Methode angewendet. Zunächst wird ein Gewebestückchen vom Objektträger unter sterilen Bedingungen abgekratzt und das Gewebe denaturiert. Anschließend werden die kleinen fragmentierten DNA-Stückchen ligiert, so dass größere Fragmente entstehen, die dann unter Verwendung zufällig ausgewählter Hexamere amplifiziert werden können (REPLI-gFFPE kit von Qiagen). Die gewonnene DNA wurde dann als „tem­ plate“ zur Amplifizierung und Sequen­ zierung von Bereichen der Gene PSEN1 und PSEN2 verwendet. Bei der Sequenzierung von Exon 6 des Gens PSEN1 fand sich an Position 526 ein Austausch der Base Thymin durch Cytosin (c.526T>C). Diese Veränderung führt zur Substitution der Aminosäure Phenylalanin durch Leucin an Postion 176 des Präsenilin1-Proteins (p.Phe176Leu) (Müller et al., 2012, Abb. 7). Exon 6 kodiert im Wesentlichen für die Transmembrandomäne 3 von Präsenilin 1. Wir haben den Befund in unabhängig voneinander extrahierten DNA-Chargen bestätigt. Mehrere Befunde sprechen dafür, dass der Phe176Leu-Austausch die Ursache für die Erkrankung von Au-

Abb. 7: Sequenzchromatogramm von 28 Basenpaaren (bp) von Exon 6 des PSEN1-Gens von Auguste Deter. Durch die Sequenzierung fand sich eine c.526T->C-Substitution. Die Abbildung zeigt sowohl die Sequenz des Vorwärtsstrangs (a) als auch des Rückwärtsstrangs (b). Die Mutation führt zu einem Aminosäureaustausch Phe176Leu (F/L).

guste Deter ist: 1) An Position 176 des PSEN1-Gens wurde kein „single nucleotide polymorphism“ (SNP), also keine Variante eines Basenpaars in der DNA, beschrieben; 2) Phenylalanin an Position 176 der Transmembran-Domäne 3 von Präsenilin ist evolutionär hochgradig konserviert (Abb. 8). Dies spricht dafür, dass diese Aminosäure

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Müller, Winter, Graeber

essentiell für eine normale Funktion von Präsenilin 1 ist; und 3) Die benachbarte Aminosäure Phenylalanin an Position 177 führt, wenn verän-

dert, zu autosomal dominant vererbter EOAD. Auch dieser Befund belegt die funktionelle Bedeutung dieser Region von Präsenilin 1.

Durch Veränderung der Struktur von Präsenilin 1 ändert sich die Funk­tion des Proteinkomplexes γ-Sekretase (Abb. 4), es werden vermehrt Amy­

Die Autoren Ulrich Müller, Jahrgang 1952, studierte von 1971 bis 1977 in Freiburg Medizin und promovierte 1977 zum Dr. med. Von 1977 bis 1984 war er am Institut für Humangenetik der Universität Freiburg tätig, unterbrochen durch einen Forschungsaufenthalt am Sloan Kettering Cancer Center und der Cornell University in New York von 1979 bis 1980. 1982: Habilitation im Fach Humangenetik. Mit einem Heisenberg-Stipendium

ging er an die Genetics Division des Children´s Hospital der Harvard Medical School. Von 1987 bis 1992 war er Assistant und dann Associate Professor of Pediatrics/Genetics an der Harvard Medical School. 1991: Ruf auf die Professur für Humangentik der Universität Gießen. Schwerpunkt der Forschung: Neurogenetik, insbesondere Dystonien, spinozerebelläre Ataxien, Alzheimer Krankheit, Progressive supranukleäre Blickparese, amyotrophe Lateralsklerose. 1994-2004: Präsident der deutschen Gesellschaft für Neurogenetik. Mitgründer und Herausgeber der Zeitschrift Neurogenetics seit 1997. Seine Forschungsergebnisse wurden in renommierten Zeitschriften publiziert, u.a. in Cell, Nature Genetics, Lancet Neurology, Pro-

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ceedings of the National Academy of Sciences (USA), Annals of Neurology, American Journal of Human Genetics, Human Molecular Genetics. Pia Winter, Jahrgang 1958, absolvierte eine Ausbildung zur Medizinisch-technischen Assistentin in Trier. Seit 1981 ist sie Mitarbeiterin am Institut für Humangenetik. Zunächst war sie beteiligt an Forschungsarbeiten zur Proteinana-

lytik mit Schwerpunkt hereditäre Amyloidosen, später dann bei der Etablierung molekulargenetischer Methoden. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit seit 2000 sind Beiträge zur Erforschung neurogenetischer Erkrankungen wie die Alzheimer Krankheit, ALS und Dystonien. Manuel B. Graeber, Dr. med. (TUM), Dr. med. habil. (LMU) ist ein deutschbritischer Neuropathologe und Barnet-Cropper Chair of Brain Tumor Research am Brain and Mind Research Institute (BMRI) der Universität Sydney, Australien. Er war erst Doktorand und dann wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-PlanckInstitut für Psychiatrie in München (1987-1989), danach drei Jahre PostDoc an der Harvard Medical School

in Boston, USA. Die letzten beiden Jahre als Post-Doc verbrachte er im dortigen Labor von Prof. Ulrich Müller. Von 1992 bis 1999 baute Prof. Graeber jeweils ein Labor für Molekulare Neuropathologie an der LMU München und dann am Max-Planck Institut für Neurobiologie (Abt. Kreutzberg) auf. 1995: Center of Excellence Visiting Scientist Award des National Institute of Neuroscience, Tokyo, Japan, und Gastwissenschaftler dort im Herbst 1996. 1997 Gründung der Zeitschrift Neurogenetics gemeinsam mit Prof. Müller und E. Hoffman. 1998 sieben Monate als Visiting Clinician an der Mayo Clinic in Rochester, MN, USA. 1999: Ruf auf den neuen Lehrstuhl für Neuropathologie an das Imperial College London/Hammersmith Hospitals Trust und 2000 Gründung des University Department of Neuropathology, das er als Chairman leitete und im achten Jahr aufgrund ethischer Bedenken hinsichtlich der dortigen Multiple Sklerose- und ParkinsonHirnbanken wieder schloss. Später im selben Jahr (2007) Gründungsvorsitzender (mit D. Troost, Amsterdam) der European Fellowship of Neuropathology. 2008: Sabbatical und Gewinn eines „Whistleblowing“Prozesses gegen die 2007-Exekutive von Imperial College London finanziert von der British Medical Association. 2009: Head der Division of Neuropathology, King Fahd Medical City, Ministry of Health, Riyadh, KSA und Ruf auf den neuen Lehrstuhl am BMRI, den er bis heute innehat, und Umzug nach Sydney 2010.

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Erster Fall von Alzheimer-Krankheit molekular geklärt

Abb. 8: Evolutionäre Konservierung von Phenylalanin (Phe) an Position 176 des PSEN1-Proteins (grau unterlegt) sowie benachbarter Aminosäuren. Die entsprechenden Nukleotid-Sequenzen sind auch angegeben.

loid beta-Peptide von 42 Aminosäuren (Aß42) gebildet, die hochgradig amyloidogen wirken und zur Ablagerung der für Neuronen toxischen AmyloidPlaques führen. Vor Entdeckung der c.526T>C Mutation in PSEN1 wurde spekuliert, dass Auguste Deter mit den so genannten Wolga-Deutschen verwandt gewesen sein könnte. Bei den Wolga-Deutschen handelt es sich um die Nachfahren einer aus Hessen, aus der Nähe von Büdingen stammenden Personengruppe, die in den Jahren um 1760 in das Gebiet der südlichen Wolga in Russland ausgewandert sind. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert sind viele Wolga-Deutsche in die USA emigriert. Bei den Wolga-Deutschen tritt durch eine Mutation im Gen PSEN2 (c.422A>T) EOAD häufig auf. Das häufige Vorkommen der früh einsetzenden Variante der Alzheimer Krankheit bei dieser Population geht auf einen „founder effect“ zurück, d.h. eine oder mehrere Vorfahren der WolgaDeutschen trugen die zu EOAD führende PSEN2-Mutation, die sich infolge autosomal dominanter Vererbung in der Population ausgebreitet hat. Da Auguste Deter wie auch die Vorfahren der Wolga-Deutschen aus Hessen stammte und an EOAD erkrankt war, wurde spekuliert, dass sie aus derselben Population stammen könnte, von der ein Teil an die Wolga ausgewandert ist (Yu et al., 2010). Wir haben untersucht, ob die c.422A>T-Mutation in PSEN2 bei Auguste Deter vorliegt. Diese Mutation fand sich bei Auguste Deter nicht, wodurch die Hypothese

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Homo sapiens Macaca mulatta Mus musculus Bos taurus Gallus gallus Anolis carolinensis Xenopus laevis Takifugu rubripes Danio rerio Drosophila melanogaster Caenorhabditis elegans

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einer möglichen Verwandtschaft mit den Wolga-Deutschen widerlegt werden konnte (Müller et al., 2011). Unsere historischen Untersuchungen haben gezeigt, dass Auguste Deter an der sehr seltenen, durch eine Mutation im PSEN1-Gen verursachten EOAD gelitten hat. Dieser Befund würde es grundsätzlich ermöglichen, Nachfahren von Auguste Deter auf das Vorliegen der Mutation zu untersuchen. Über das Schicksal des einzigen Kindes, einer Tochter, von Auguste Deter ist jedoch nichts bekannt. Es ist eine Ironie der Medizin-Geschichte, dass die Alzheimer-Krankheit, von der die LOAD-Variante ein enormes Gesundheitsproblem in den westlichen Industriestaaten darstellt, ausgerechnet an einer extrem seltenen Variante (autosomal dominante EOAD) dieser heute so häufigen Krankheit entdeckt worden ist. Schließlich beendet die molekulare Aufklärung des ersten Alzheimer-Falles endgültig alle Spekulationen über die Ursache der Krankheit von Alois Alzheimers Patientin. •

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LITERATUR

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Maurer K, Volk S, Gerbaldo H (1997): Auguste D and Alzheimer’s disease. Lancet 349: 1546-1549 Yu CE, Marchani E, Nikisch G, Müller U, Nolte D, Hertel A, Wijsman EM, Bird TD (2010): The N141I mutation in PSEN2: implications for the quintessential case of Alzheimer disease. Arch Neurol 67: 631-633 Müller U, Winter P, Graeber MB (2011): Alois Alzheimer’s case, Auguste D., did not carry the N141I mutation in PSEN2 characteristic of Alzheimer disease in Volga Germans. Arch Neurol 68: 1210-1211 Müller U, Winter P, Graeber MB (2013): A presenilin 1 mutation in the first case of Alzheimer´s disease. The Lancet Neurology 12: 129-130 (doi:10.1016/S1474-4422(12)70307-1)

KONTAKT Prof. Dr. Ulrich Müller Justus-Liebig-Universität Institut für Humangenetik Schlangenzahl 14 35392 Gießen Telefon: 0641 99-41601 Ulrich.Mueller@humangenetik.med.unigiessen.de

Graeber MB, Kösel S, Grasbon-Frodl E, Möller HJ, Mehraein P (1998): Histopathology and APOE genotype of the first Alzheimer disease patient, Auguste D. Neurogenetics 1: 223-228

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Selbstversorger und trotzdem Räuber Marine amöboide Algen aus dem Lebensraum Biofilm Von Reinhard Schnetter

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Selbstversorger und trotzdem Räuber

Oft schleimige Auflagen auf Steinen im Wasser mit Bakterien sowie mikroskopisch kleinen Tieren und Pflanzen werden als Biofilme bezeichnet. Sie treten im Süßwasser und im Meer auf. Unter dem

D

bisher unbekannten Zellaufbau aus.

er Begriff „amöboide Algen“ ist sicherlich erklärungsbedürftig, werden Amöben in der Regel doch als Tiere angesehen. Und tatsächlich ist die große Mehrheit der äußerst vielgestaltigen Amöben eindeutig tierischen Charakters. Das gilt auch für die Fälle, in denen Amöben grün gefärbte Strukturen aufweisen, die auf symbiontisch in den Tieren lebende Algen zurückzuführen sind. Diese Symbiose hat für die Amöben den Vorteil, dass sie von den Überschüssen an Kohlenhydraten profitieren, die durch die Photosynthese der Algen mit Hilfe des Sonnenlichtes gebildet werden. Die Algen bleiben aber normalerweise eigenständig und können auch außerhalb der tierischen Zelle leben. Amöben ernähren sich im Regelfall dadurch, dass ihr Zellplasma andere Organismen, wie Bakterien oder kleine Algen, umfließt und sie

danach in eine Verdauungsvakuole einschließt, wo durch Enzyme eine Verdauung stattfindet. Zwei Beispiele hierfür sind in Abb. 1 und 2 zu sehen. Eine Amöbe mit lappenförmigen Scheinfüßchen (Lobopodien) und ein Sonnentierchen mit nadelförmigen Scheinfüßchen (Axopodien) haben zu ihrer Ernährung mehrere bzw. eine grüne Alge aufgenommen. In den Amöben symbiontisch lebende Algen oder auch Bakterien erfahren demgegenüber durch ihre Wirtszelle eine Sonderbehandlung. Sie sind nämlich ebenfalls in eine Vakuole eingeschlossen, die, wie bei der Verdauungsvakuole, dadurch entsteht, dass die die Wirtszelle außen begrenzende Biomembran, das Plasmalemma, eine Einstülpung zum Inneren der Wirtszelle hin ausbildet. Diese Einstülpung umgibt schließlich die aufzunehmende Zelle vollständig und löst sich dann

Plasmodium von Synchroma grande. Die von oben gesehenen flachen Hauptzellkörper sind über farblose, verzweigte Plasmastränge (Reticulopodien) miteinander verbunden. Dieses Netz stellt eine Einrichtung zum Stoffaustausch und Fang anderer Organismen dar. Deren Verdauung erfolgt in Vakuolen, die sich in den Reticulopodien bilden. Die Hauptzellkörper haben einen Durchmesser von etwa 20 µm. Lebende Zellen einer Kultur in Petrischale, differentieller Interferenzkontrast.

Abb. 1: Süßwasseramöbe mit lappenförmigen Scheinfüßchen (Lobopodien) und Nahrungsvakuolen mit einzelligen Grünalgen. Differentieller Interferenzkontrast.

Abb. 2: Sonnentierchen aus dem Süßwasser mit nadelförmigen, steifen Scheinfüßchen (Axopodien) und einer Nahrungsvakuole mit Grünalge. Differentieller Interferenzkontrast.

Mikroskop erweisen sie sich nicht selten als sehr artenreich. Biofilme werden oft von größeren Tieren, wie Schnecken, manchen Fischen und Seeigeln, abgeweidet. In den Biofilmen können amöboide Algen leben, mit denen sich der Autor seit etwa 20 Jahren befasst. Die zweite bekannt gewordene Art und Gattung der grünen Chlorarachniophyta, Cryptochlora perforans, wurde in seiner Arbeitsgruppe entdeckt. Bis zum Jahr 2012 war er weltweit der einzige Wissenschaftler, der Vertreter der in wärmeren Meeren offenbar nicht seltenen aber bisher unbekannten Klasse der Synchromophyceae sammeln konnte, die hier vorgestellt werden. Diese Organismen zeichnen sich durch einen

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Schnetter

von dem Plasmalemma ab. Auf diese Weise entstehen die Vakuolen mit aufgenommenem Material innerhalb des Plasmas der aufnehmenden Zelle. In den Vakuolen mit Symbionten erfolgt jedoch keine Verdauung. Die innerhalb des Plasmas einer Wirtszelle weiter lebenden Zellen werden als Endosymbionten bezeichnet. Zwischen dem Plasma der Wirtszelle und dem Plasma der aufgenommenen Zelle liegen also zwei Biomembranen, nämlich das Plasmalemma der aufnehmenden und das der aufgenommenen Zelle. (Als Vakuolenmembran hat das ursprüngliche Plasmalemma einen eigenen Namen: Tonoplast). In der Regel können die Endosymbionten problemlos auch außerhalb der Wirtszellen leben. In tierischen Zellen endosymbiontisch lebende Pflanzenzellen, so genannte Zooxanthellen, sind in der Natur an vielen Stellen anzutreffen. Die Vielfarbigkeit tropischer Korallen beispielsweise ist hauptsächlich auf Zooxanthellen zurückzuführen. Wenn pflanzliche Amöben vorliegen, dann müssen diese auch typisch pflanzliche Merkmale haben und den Bau einer Pflanzenzelle aufweisen. Pflanzenzellen zeichnen sich u.a. aus durch einen oder mehrere Zellkerne

und ganz besonders durch Chloroplasten. Evolutionsbiologen gehen davon aus, dass Zellen mit Zellkern vor etwa 1,5 bis 1,4 Milliarden Jahren entstanden sind, als die Erdatmosphäre schon einen deutlichen Sauerstoffanteil hatte. Der Sauerstoff ist auf die Tätigkeit von Bakterien zurückzuführen, die in der Lage waren, eine mit Sauerstofffreisetzung verbundene Photosynthese durchzuführen. Bakterien haben niemals einen echten Zellkern. Bakterien, die durch Photosynthese Sauerstoff freisetzen, sind die vor etwa 2,3 Milliarden Jahren entstandenen Cyanobakterien. Sie wurden früher als Blaualgen bezeichnet, ihr Photosynthese-Pigment ist das Chlorophyll a. Weitere nicht direkt an dem Photosynthese-Prozess beteiligte, insbesondere rote und blaue Pigmente, sorgen dafür, dass die Cyanobakterien in der Regel nicht grün gefärbt sind. Wir wissen nicht, wie die ersten Zellen mit Zellkern ausgesehen haben. Vielleicht waren es Amöben, die sich durch Aufnahme und Verdauung von Bakterien ernährt haben. Die Evolutionsbiologen gehen heute davon aus, dass alle Chloroplasten auf einen einzigen Endocytobiose-Schritt zurückzuführen sind, bei dem eine

Zelle Cyanobakterien aufgenommen und diese nicht verdaut hat. Wie oben dargestellt, waren auch die symbiontischen Cyanobakterien innerhalb der Wirtszelle von zwei Biomembranen umgeben, ihrer eigenen und der Vakuolenmembran der Wirtszelle. Es kam danach zu etwas wie einer Versklavung der aufgenommenen Cyanobakterien, die dadurch nicht mehr außerhalb der Wirtszellen leben konnten. Die vorher selbständigen Cyanobakterien wurden zu Chloroplasten. Der Verlust der Fähigkeit selbständig zu leben war Folge eines Übergangs von genetischer Information des Endosymbionten auf den Zellkern der Wirtzelle. Ein Teil der Erbsubstanz verblieb den zu Chloroplasten umgewandelten Endosymbionten, ein weiterer Teil wird verloren gegangen sein. Chloroplasten, die ihre Cyanobakterien-Struktur noch weitgehend bewahrt haben, sind die der Rotalgen. Hier gibt es Pigment-Komplexe, die Phycobilisomen, die im Bau denen der Cyanobakterien entsprechen. Das Photosynthese-Pigment Chlorophyll a ist in beiden Fällen von weiteren, den akzessorischen Pigmenten umgeben, die Lichtwellenlängen absorbieren, die das Chlorophyll-Molekül nicht

Abb. 3: Chlorarachnion reptans (erste 1930 beschriebene Art der Chlorarachniophyta von den Kanarischen Inseln) mit verzweigten und untereinander vernetzten Scheinfüßchen (Reticulopodien). Die Hauptzellkörper des Plasmodiums enthalten Chloroplasten. Differentieller Inter­ ferenzkontrast.

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Selbstversorger und trotzdem Räuber

auffangen kann. Die akzessorischen Pigmente geben die durch Lichtabsorption gewonnene Energie an das Chlorophyll ab und erhöhen auf diese Weise den für die Photosynthese nutzbaren Anteil des Sonnenlichtes. Die in den uns vertrauten grünen Pflanzen vorhandenen Chloroplasten mit den Chlorophyllen a und b werden direkt von den Chloroplasten der Rotalgen hergeleitet. Sowohl die meist roten Chloroplasten der Rotalgen als auch die grünen Chloroplasten der Grünalgen und der aus ihnen entstandenen höheren grünen Pflanzen haben zwei Hüllmembranen, die auf den skizzierten primären Endocytobioseschritt zurückzuführen sind. Außer dem primären gab es noch weitere Endocytobiose-Schritte, bei denen chloroplastenfreie Zellen solche mit Chloroplasten aufgenommen haben. Prinzipiell sind die zugehörigen Aufnahmeprozesse ähnlich abgelaufen wie bei dem primären EndocytobioseSchritt. Die aufgenommene Zelle, die eine äußere Plasmamembran aufwies, wurde in eine Vakuole der Wirtszelle eingeschlossen und somit von der Vakuolenmembran umhüllt. Auch hierbei kam es zu einer „Versklavung“ der aufgenommenen Zelle durch einen Übergang genetischer Information vom Zellkern der aufgenommenen Zelle zu dem der aufnehmenden Zelle. Weiterhin wurde die aufgenommene Zelle sehr stark reduziert, wodurch von ihr wenig mehr als die Plastiden erhalten blieben. Solche Plastiden werden als

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sekundäre oder zusammengesetzte bezeichnet, die im Gegensatz zu den primären Plastiden mehr als zwei, normalerweise vier Hüllmembranen aufweisen. Elektronenmikroskopische Untersuchungen erlauben die Anzahl der Membranen zu erkennen und somit auf die Entstehung der Plastiden rückzuschließen. Zwei Fälle von sekundären Endocytobiosen sollen hier betrachtet werden. Bei einem erfolgte die

Abb. 4: Synchroma grande: Jeweils in Bildmitte zwei Stadien einer Zelle in Teilung. Bei der linken Teilabbildung befindet sich ein Chloroplastenkomplex noch (in der hier kaum sichtbaren) Lorica der Mutterzelle, 5 Minuten später (rechte Teilabbildung) ist auch dieser Teil der Tochterzelle (vorübergehend eine wandernde Amöbe) freigesetzt. Zweiteilungen der festsitzenden Amöben sind in der Regel gegen 20 Uhr erkennbar, das Schlüpfen der wandernden Amöben erfolgt dann gegen 23 Uhr und dauert etwa 25 Minuten.

Aufnahme einer Grünalge durch eine Zelle ohne Chloroplasten. Den ersten Vertreter dieser Organismengruppe entdeckte Geitler und beschrieb ihn 1930 als Chlorarachnion reptans (Abb. 3). Wie zu erwarten, ist der Chloroplast

Internationale Kooperation An der Erforschung der vorgestellten Organismen sind Wissenschaftler von drei Universitäten beteiligt: Prof. Dr. María Candelaria Gil-Rodríguez, Universidad de La Laguna, hat durch ihre hervorragenden Kenntnisse vom Litoral der Insel Teneriffa wesentlich zum Auffinden von Stellen, an denen amöboide Algen vorkommen, beigetragen. Aufsammlungen in Kolumbien wurden vom INVEMAR, Santa Marta, unterstützt. Aus den vom Autor gesammelten Proben hat dieser in Gießen die Organismen entnommen und für die spätere Kultur gereinigt. Die einzelnen Arten wurden danach lichtmikroskopisch beobachtet und dokumentiert. Elektronenmikroskopische Analysen führte Dr. Katrin Ehlers (Universität Gießen) durch. Die Ergebnisse erlaubten, den Bau von Chloroplasten und des Chloroplasten-Komplexes zu erkennen. An der Untersuchung von Chlor­ arachniophyta und besonders einer 2009 auf Teneriffa gesammelten amöboiden Alge bisher unbekannter systematischer Zugehörigkeit beteiligte sich Sophie Steinhagen, B. Sc. Als äußerst fruchtbar für eine erfolgreiche Arbeit an den amöboiden Algen erwies sich die Zusammenarbeit mit der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Christian Wilhelm (Universität Leipzig) und seinen Mitarbeiterinnen Dipl.-Biol. Birke Brumme, Dipl.-Biol. Kerstin Flieger, Dr. Susanne Horn, M. Sc. Christin Koch und Dipl.-Biol. Maria Schmidt. Von ihnen erarbeitete Daten zur Genetik und Molekularbiologie erlaubten die Beschreibung der ersten Arten der Gattung Synchroma und die Aufstellung der Klasse der Synchromophyceae.

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Schnetter

Abb. 5: Synchroma pusillum: Schlüpfen einer wandernden Amöbe (spindelförmige Zelle). Die wandernden Amöben bewegen sich häufig in Kontakt mit einem Strang des Reticulopodiennetzes. Differentieller Interferenzkontrast.

von vier Hüllmembranen umgeben. Bemerkenswert ist, dass der Zellkern der aufgenommenen Zelle als Rudiment erhalten blieb, welches als Nuc-

leomorph bezeichnet wird. Es dauerte über 50 Jahre bis 1987 ein zweiter Vertreter, Cryptochlora perforans, dieser Organismengruppe entdeckt wurde,

Der Autor Reinhard Schnetter, Jahrgang 1936, schloss 1963 sein Studium der Botanik, Chemie, Geographie und Zoologie mit einer Dissertation über Palynologie und der Promotion ab und erhielt 1969 nach seiner Habilitation die Venia legendi für das Fach Botanik. Er arbeitete rund sieben Jahre lang in Forschung und Lehre in Südamerika, davon knapp drei Jahre als Profesor Visitante Asociado an der Universidad Nacional de Colombia in Bogotá, Kolumbien. An der Justus-Liebig-Universität Gießen ist er seit 1972 als Professor für Botanik tätig und übernahm dabei auch Aufgaben in der akademischen Selbstverwaltung, u. a. als Institutsleiter und Dekan. In seinem Ruhestand widmet er sich insbesondere der Forschung über marine amöboide Algen und entdeckte dabei zuvor unbekannte Organismen. Eine Zusammenarbeit besteht mit Wissenschaftlern der Universität Leipzig sowie kolumbianischen und spanischen Kollegen. Er gehört wissenschaftlichen Akademien an, ist Miembro Correspondiente de la Academia Colombiana de Ciencias Exactas, Físicas y Naturales (Bogotá) sowie Miembro de Número del Instituto de Estudios Canarios (La Laguna).

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die zu einer eigenen Abteilung (Chlorarachniophyta) gestellt worden war. Da die Chloroplasten auf eine Grünalge zurückzuführen sind, weisen sie die Chlorophylle a und b auf. Der zweite Fall betrifft die erst 2007 beschriebene Klasse der Synchromophyceae, von der bis jetzt zwei Arten bekannt sind. Sie haben die Chlorophylle a und c und werden als Angehörige der Abteilung Ochrophyta angesehen, zu der beispielsweise auch die Braunalgen und die Kieselalgen gestellt werden. Viele Evolutionsbiologen gehen davon aus, dass alle Vertreter der außerordentlich formenreichen Ochrophyta auf einen einzigen sekundären Endocytobiose-Prozess, der Aufnahme einer Rotalge, zurückzuführen sind. Dementsprechend finden wir bei den Chloroplasten der Ochrophyta vier Hüllmembranen. Enthalten die Zellen von Ochrophyta mehrere Chloroplasten, so sind diese normalerweise unabhängig voneinander. Dies gilt für die Synchromophyceae jedoch nicht, in deren Zellen ChloroplastenKomplexe vorhanden sind, wie sie von keinem anderen pflanzlichen Organismus bekannt sind. Es ist so, dass eine Hülle aus zwei Membranen mehrere

Justus-Liebig-Universität Gießen


Selbstversorger und trotzdem Räuber

primäre Plastiden einschließt, die, wie zu erwarten, zwei Membranen aufweisen. Vier aufeinander folgende Membranen sind also vorhanden – und damit auch das Merkmal für sekundäre Plastiden. Obwohl der ChloroplastenKomplex der Synchromophyceae die Vorstellung nahelegt, dass er einer aufgenommenen Zelle mit mehreren Chloroplasten entsprechen könnte, gibt es hierfür bisher keinerlei gesicherte Hinweise. Dagegen sprechen genetische Untersuchungen für eine Verwandtschaft mit den übrigen Klassen der Ochrophyta und eine Vermehrung der primären Plastiden der aufgenommenen Zelle innerhalb der durch die sekundäre Endocytobiose entstandenen beiden äußeren Hüllmembranen des Komplexes. Obwohl nicht nahe miteinander verwandt, zeichnen sich die Lebenszyklen der Chlorarachniophyta und der Synchromophyceae durch erstaunliche Parallelen aus. Für die ungeschlechtliche Fortpflanzung ist in beiden Fällen eine Zweiteilung der Ausgangszelle charakteristisch. Sowohl bei den Synchromophyceae, die sich durch festsitzende Amöben mit einer als Lorica bezeichneten Hülle mit einer Pore, aus der ein verzweigtes und als Reticulo-

podium bezeichnetes Pseudopodium (Scheinfüßchen) austritt, als auch bei den Chlorarachniophyta mit Lorica (hier gibt es auch nackte Vertreter ohne Lorica, wie Chlorarachnion reptans) verhalten sich die beiden Töchter der Ausgangszelle unterschiedlich. Jeweils eine der Tochterzellen verbleibt in der Lorica der Mutterzelle und behält ihr Reticulopodium, die andere Tochterzelle schlüpft aus der Pore der Lorica und kriecht als wandernde Amöbe von der Ausgangszelle weg. Erstaunlicherweise ist es so, dass die Pseudopodien der wandernden Amöben steif erscheinen und den Axopodien der Sonnentierchen (Abb. 2) ähneln. Nach einer gewissen Zeit setzen sich die wandernden Amöben an anderer Stelle fest, umgeben sich mit einer Lorica und bilden ein Reticulopodium. Die wandernden Amöben können sich in Schwebstadien verwandeln, die durch Wasserströmungen verfrachtet werden. Das Schlüpfen von wandernden Amöben bei Synchromophyceae ist in Abb. 4 bei Synchroma grande und in Abb. 5 bei Synchroma pusillum zu erkennen. Die Geschlechtszellen (Gameten) der Synchromophyceae wie auch die der Chlor­ arachniophyta sind stets gleich

große wandernde Amöben, obwohl bei den Chlorarachniophyta auch begeißelte Schwärmer auftreten. Für die Chlorarachniophyta ist nachgewiesen, dass nach der Gametenverschmelzung auch eine Fusion ihrer Zellkerne stattfindet, bei den Synchromophyceae ist dies wahrscheinlich. Die diploiden Zygoten können sich durch Zweiteilung vermehren. Dies bedeutet, dass es zwei Generationen gibt, eine haploide (dominierende) und eine diploide. Aus den diploiden Zellen entstehen nach Meiose wieder haploide. Bei den bisher beschriebenen Synchromophyceae und fast allen Chlorarachniophyta können die Reticulopodienäste benachbarter Zellen miteinander fusionieren, es bildet sich so ein netzförmiges Plasmodium mit räumlich voneinander getrennten chloroplastenhaltigen Hauptzellkörpern (Abb. 3, 5, 6 und 7). Die Netze sind Fangeinrichtungen (Abb. 7 und 8), Bakterien und andere Einzeller können aufgenommen und in Nahrungsvakuolen verdaut werden. Ganze Plasmodiennetze von Chlorarachniophyta ohne Loricae sind zu Wanderungsbewegungen befähigt und weiden dabei kleine Organismen ab, auf die sie stoßen.

Abb. 6: Lotharella polymorpha (Chlorarachniophyta) mit vernetzten Reticulopodien. Bei dieser Art können innerhalb des Netzes Hauptstränge ausgebildet werden, die über die vorhandene Ansammlung festsitzender Amöben hinausreichen. Entlang dieser Hauptstränge kriechen oft die wandernden Amöben. Phasenkontrast.

Spiegel der Forschung · Nr. 1/2013

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Schnetter

Abb. 7: Synchroma pusillum: Reticulopodiennetz, auch sehr feine Verästelungen sind erkennbar. Die Hauptzellkörper befinden sich außerhalb der Schärfenebene. Phasenkontrast.

Chlorarachniophyta und Synchromophyceae kommen in tropischen und subtropischen Meeren vor. Sie wurden überwiegend im Biofilm des oberen Sublitorals auf Steinen und Felsen gefunden werden, soweit sie dem Benthos angehören. •

ǺǺ

LITERATUR

Dietz C, Ehlers K, Wilhelm C, Gil-Rodríguez MC, Schnetter R: Lotharella polymorpha sp. nov. (Chlorarachniophyta) from the coast of Portugal. Phycologia 42, 582-593, 2003

Horn S, Ehlers K, Fritzsch G, GilRodríguez MC, Wilhelm C, Schnetter R: Synchroma grande spec. nov. (Synchromophyceae class. nov., Heterokontophyta): An amoeboid marine alga with unique plastid complexes. Protist 158, 277-293, 2007 Koch C, Brumme B, Schmidt M, Flieger K, Schnetter R, Wilhelm C: The life cycle of the amoeboid alga Synchroma grande (Synchromophyceae, Heterokontophyta) – highly adapted yet equally equipped for rapid diversification in benthic habitats. Plant Biology 13, 801-808, 2011

Schmidt M, Horn S, Flieger K, Ehlers K, Wilhelm C, Schnetter, R: Synchroma pusillum sp. nov. and other new algal isolates with chloroplast complexes confirm the Synchromophyceae (Ochrophyta) as a widely distributed group of amoeboid algae. Protist 163, 544-559, 2012

KONTAKT Prof. Dr. Reinhard Schnetter Justus-Liebig-Universität Institut für Botanik, c/o HHA Senckenbergstr. 17, 35390 Gießen Telefon: 0641 99-35160 Reinhard.Schnetter@bot1.bio.uni-giessen.de

Abb. 8: Synchroma pusillum: Vorderkante eines sich ausdehnenden Reticulopodiennetzes (Plasmodium), das auf der Substratoberfläche vorhandene Bakterien abweidet. Deutlich ist zu erkennen, dass die Anzahl der Bakterien zwischen den Netzmaschen geringer ist als in dem von unten nach oben ziehenden Bereich in der rechten Bildhälfte, der von dem Netz noch nicht erreicht worden ist. Hauptzellkörper meistens außerhalb der Schärfenebene, Loricae (farblose Hüllen um Hauptzellkörper) teilweise erkennbar. Differentieller Interferenzkontrast.

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