Essay „Theorie Adorno
der
Halbbildung“
von
Theodor
W.
Einleitung
In seinem Werk „Theorie der Halbbildung“ setzt sich Theodor W. Adorno mit sozialisierter Halbbildung auseinander. Doch was ist genau Halbbildung? Welche Auswirkungen hat dies auf die Gesellschaft? Und gibt es noch aktuelle Anknüpfungspunkte zu heutigen gesellschaftlichen Verhältnissen? Diese Fragen werde ich versuchen zu beantworten und im Verlaufe dieser Ausarbeitung genauer zu betrachten und kritisch zu hinterfragen. Um jedoch besser verstehen zu können, was Adorno zu diesem Thema schlussfolgert, ist es meiner Ansicht nach nützlich einige biographische Eckdaten von Adorno wiederzugeben. Theodor W. Adorno wurde 1903 in Frankfurt geboren und verstarb 1969 in der Schweiz. Er war Vertreter und Mitglied der „Frankfurter Schule“, ein Zusammenschluss von Theoretikern und Forschern, die sich im Frankfurter „Institut für Sozialforschung“ organisierten. Weitere bekannte Vertreter der „Frankfurter Schule“ waren der Gründer des Instituts Max Horkheimer und der Psychoanalytiker Erich Fromm. Schwerpunkte der Forschung lagen in der Kritischen Theorie und der Erforschung des autoritären Charakters. Durch den Faschismus in Deutschland musste das Institut ins Exil fliehen, da Kritik und Forschung, auch hinsichtlich einer marxistischen Denkweise, nicht in das totalitäre Weltbild des Dritten Reiches passten. Adorno beschäftige sich in seinen Forschungen vor allem mit den Fragen und der Auseinandersetzung mit dem autoritären Charakter, sowie der Erziehung nach Auschwitz
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und dem Faschismus. Allerdings in diesem Zusammenhang ebenfalls mit dem Themenfeld Bildung und der kritischen Auseinandersetzung mit der Gesellschaft und dem damit verbundenen Kapitalismus. Im Rahmen dieser Ausarbeitung soll es vor allem um sein Werk „Theorie der Halbbildung“ gehen, allerdings auch Verbindungen und Querverweise zu anderen Ausarbeitungen Adornos gezogen werden.
Halbbildung
Halbbildung ist und wurde nach Adorno „ […] zur herrschenden Form des gegenwärtigen Bewußtseins […].“1 Dies erfasst keine genaue Definition von Halbbildung, erlaubt aber einen ersten Eindruck von Halbbildung und dessen Auswirkungen. Adorno ist der Ansicht, dass das Halberfahrene, sprich die Halbbildung, nicht die Vorstufe der Bildung sei, sondern stets ihr Gegner bzw. ihr Gegenpol.2 Halbbildung ist nach Adorno also das Halberfahrene, das Halbverstandene, das Wissen, das reicht, um mitzureden, dazuzugehören. Allerdings sieht Adorno stets den gesellschaftlichen Bezug zur Bildung und damit auch zur Halbbildung. Es gibt nach Adorno keine Trennung zwischen Bildung und Gesellschaft.
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Adorno, Theorie der Halbbildung, S.94 Vgl. Adorno, Theorie der Halbbildung, S.111
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Halbbildung und Gesellschaft
Durch den Fokus der „Frankfurter Schule“ ist im Bezug zur Gesellschaft schon ein gesellschaftskritischer Moment gegeben, der sich natürlich und zwangsläufig auch auf die Ausarbeitungen und Annahmen von Adorno und seiner „Theorie der Halbbildung“ auswirkt. „Anpassung aber ist unmittelbar das Schema fortschreitender Herrschaft“3 schreibt Adorno. Dies erscheint im Zusammenhang mit der Halbbildung erst einmal womöglich etwas zusammenhangslos. Wenn man nun allerdings die gesellschaftliche Perspektive der Halbbildung und das damit verbundene Halberfahrene und das Mitreden berücksichtigt, wird deutlich, dass Anpassung nach Adorno stets Halbbildung impliziert. Doch woher kommt diese Anpassung, dieses Gebärden mitreden zu wollen? Nach Adorno sind hier die Herrschaft der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Narzissmus in diesem Zusammenhang von äußerster Wichtigkeit. Er folgert: „Die Attitüde, in der Halbbildung und kollektiver Nazißmus sich vereinen, ist die des Verfügens, Mitredens, als Fachmann sich Gebärdens, Dazu-Gehörens.“4 Halbbildung wird also zum Maß der Anpassung an gesellschaftliche Strukturen. Hier tritt Adornos kritische Betrachtung von Herrschaft, Macht und Gesellschaft deutlich hervor. Er teilt die Gesellschaft in Klassen ein und spricht von Ausgebeuteten und Ausbeutern. Damit folgt er einer marxistischen Theorie und kritisiert die kapitalistische Gesellschaftsstruktur. In seinem Werk „Gesellschaftstheorie und Kulturkritik“ von 1975 schreibt er: „Der Unterschied von Ausbeutern und Ausgebeuteten tritt nicht so in Erscheinung, daß er den Ausgebeuteten Solidarität als ihre ultima ratio vor Augen stellte: Konformität ist ihnen rationaler.“5
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Adorno, Theorie der Halbbildung, S.96 Adorno, Theorie der Halbbildung, S.115 Adorno, Gesellschaftstheorie und Kulturkritik, S.11
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Hier wird deutlich, dass es Machtverhältnisse innerhalb der Gesellschaft gibt, die nicht ohne weiteres aufgebrochen werden können. Denn Konformismus und Anpassung erscheinen rationaler und naheliegender als Solidarität. Dies gilt hier ausdrücklich für die unteren Klassen der Gesellschaft. „Freiheit und Humanität etwa haben innerhalb des zum Zwangssystem zusammengeschlossenen Ganzen ihre Strahlkraft verloren, weil sich ihnen gar nicht mehr nachleben lässt.“6 Es erscheint in den herrschenden Verhältnissen - sprich dem Zwangssystem - einfacher zu folgen, mitzureden, halbgebildet zu sein, als selber zu denken und die Strukturen kritisch zu hinterfragen. Bildungsfragen werden hier zwangsläufig zu Machtfragen. Joachim Heydorn betrachtet in seinem Werk „Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft“ eben diese Fragestellung folgendermaßen: „Bildungsfragen sind Machtfragen; die Frage der Bildung ist die Frage nach der Liquidation der Macht.“7 Hier setzt er darauf an, dass, wer gebildet ist, einen Gegenpol zu herrschenden Verhältnissen darstellen kann. Dies stellt in keiner Hinsicht einen Gegensatz zu Adornos Ausführungen dar, sondern bestätigt die Annahmen von Halbbildung. Denn im Umkehrschluss bedeutet die Machtfrage hinsichtlich der Bildung, dass Halbbildung eben nicht zu einer Veränderung von gesellschaftlichen Strukturen führt bzw. führen kann, sondern diese Strukturen aufrechterhält oder verstärkt. Hier spielen der genannte Narzissmus, sowie die daraus resultierende Anpassung und Konformität immanente Rollen. Adorno folgert: „Frisch-fröhliche Verbreitung von Bildung unter den herrschenden Bedingungen ist unmittelbar mit ihrer Vernichtung.“8 Es ist also die indirekte Forderung die herrschenden Verhältnisse zu überwinden, um die sozialisierte Halbbildung durch Bildung zu ersetzen.
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Adorno, Theorie der Halbbildung, S.109 Klafki, Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik, S. 14 Adorno, Theorie der Halbbildung, S.111
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Halbbildung und Kultur
Für Adorno sind Kultur und das gesellschaftliche Zusammenleben bedeutende Eckpfeiler von Bildung, aber auch hier kritisiert er die bestehenden Verhältnisse. Er sagt: „Bildung ist nichts anderes als Kultur nach der Seite ihrer subjektiven Zuneigung“9, allerdings sieht er, dass Kultur „ […] wo sie als Gestaltung des realen Lebens sich verstand, einseitig das Moment der Anpassung hervorgehoben [hat] […]“10 und das Chaotische und Autonome, was Bildung fördert und erst ermöglicht, einschränkt. Er sagt Kultur sei selbstgenügsam geworden und avanciere zu einem Wert.11 Hier nennt Adorno die Kulturindustrie, die er kritisiert, da diese die bedeutende Aufgabe übernimmt die Menschen in die kapitalistischen Herrschaftsstrukturen zu integrieren.12 Sie überflutet die Menschen und sorgt dafür, dass die Produktionsverhältnisse aufrechterhalten bleiben. Adorno schlussfolgert: „Der Sozialcharakter […] stirbt aus.“13 Hier erlaubt sich ein Rückschluss auf die im Unterpunkt „Halbbildung und Gesellschaft“ genannte Konformität, die wichtiger ist als Solidarität untereinander. Adorno schreibt weiter: „Der Gesamteffekt der Kulturindustrie ist der einer Antiaufklärung; in ihr wird Aufklärung, die fortschreitende technische Naturbeherrschung, zum Massenbetrug, zum Mittel der Fesselung des Bewußtseins. Sie verhindert die Bildung autonomer, selbstständiger, bewußt urteilender und sich entscheidender Individuen.“14
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Adorno, Theorie der Halbbildung, S.94 Ebd. Ebd. Adorno, Theorie der Halbbildung, S.100 Adorno, Theorie der Halbbildung, S.105 Liessmann, Die großen Philosophen und ihre Probleme, S.177
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Fazit und kritische Auseinandersetzung
Was bleibt uns nun jedoch als Ausblick auf unsere Gesellschaft? Und sind Adornos Aussagen über die Bildung noch aktuell? Meiner Ansicht nach hat sich seit dem Verfassen der Texte und der Analyse der Gesellschaft durch die Frankfurter Schule nicht allzu viel verändert. Der Anspruch des Leitbildes zur Konformität und der Aufrechterhaltung dieser Gesellschaft bleibt in diesen kapitalistischen Verhältnissen nach wie vor aktuell. Durch das G8-Schulsystem beispielsweise soll die Bildung, die durch die Schule vermittelt wird, meiner Meinung nach, weiter verkürzt und komprimiert werden. Welchem Nutzen das dienen soll bleibt mir jedoch unverständlich und fragwürdig. Es folgt meiner Ansicht nach Halbbildung, Halbwissens und halbes Verstehen, da keine Zeit bleibt sich vertieft und sinnlich mit den Lerninhalten auseinanderzusetzen. Es fehlt an pädagogischer Autonomie und Vermittlung von Freiheit. Enge Lernpläne und Vorstellungen von Erziehung engen nicht nur die zu Erziehenden und Lernenden, sondern auch die Erziehenden und Lehrenden ein. Hierbei soll vor allem auf konformes Denken, oder zumindest Denken innerhalb der gesellschaftlichen und sozialen Erwünschtheit, Wert gelegt werden. Einheitsklausuren und deren Benotung sind nur ein Beispiel dieses konformen und gleichgeschalteten Denkens. Allerdings sollte es Ziel pädagogischen Handelns sein „[..],daß die Menschen im vernunftmäßigen Miteinander-Sprechen und -Diskutieren und im reflexiven Verarbeiten ihrer
Erfahrungen
eine
fortschreitende
Humanisierung
ihrer
gemeinsamen
Lebensbedingungen und eine vernünftige Gestaltung ihrer gesellschaftlich-politischen Verhältnisse erreichen […].“15 Es wird allerdings notwendig sich an die bestehenden Verhältnisse anzupassen und diese möglichst zu reproduzieren. Adorno schreibt dazu in seinem Werk „Erziehung zur
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Klafki, Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik, S. 14
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Mündigkeit“ von 1972: „Die Notwendigkeit solcher Anpassung, die zur Identifikation mit Bestehendem, Gegebenem, mit Macht als solcher, schafft das totalitäre Potential. Es wird verstärkt von der Unzufriedenheit und der Wut, die der Zwang zur Anpassung selber produziert und reproduziert.“16 Hier liefert er einen Zusammenhang mit totalitären Verhältnissen, welcher noch einmal verdeutlichen soll, wozu Anpassung, Konformismus und Kritiklosigkeit führen können. Ich bin der Meinung, dass diese Mechanismen aus einer bestehenden Halbbildung folgen oder noch folgen können. Nur mit Bildung und damit einhergehend mit einer kritischen Betrachtungsweisen hinsichtlich der eigenen Person, sowie der gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse, ist es möglich Veränderung zu gestalten. Allerdings müssen wir erkennen, dass wir alle zumindest zu einem Teil schon sozialisiert halbgebildet sind. Adorno führt dies so aus: „Eitel aber wäre auch die Einbildung, irgend jemand – und damit meint man auch immer sich selbst – wäre von der Tendenz zur sozialisierten Halbbildung ausgenommen.“17 Wie genau man diese Halbbildung umgehen oder auflösen kann, oder anders gesagt; wie man Bildung herstellen kann, bleibt in „Theorie der Halbbildung“ allerdings offen. Adorno liefert hier keine genaue Methodik, sondern lediglich eine Analyse der Halbbildung und Bildung, sowie gesellschaftlicher Merkmale dieser. Es bleibt ein, für mich, utopischer Gedankengang, der allerdings nach wie vor Bedeutung besitzt und nicht verkannt werden darf, da er eine gesellschaftskritische Analyse darstellt, die betrachtet werden sollte hinsichtlich realistischer Umsetzung. Denn „Gegenwärtig gedeiht weniger der kritische Intellektuelle als der, welcher die Mittel des Intellekts, oder was er damit verwechselt, zur Verdunklung benutzt“ (Adorno, 1972, S. 120). Durch kapitalistische Machtstrukturen entsteht und gedeiht nach meinem Standpunkt in der hiesigen Gesellschaft die Idee von Halbbildung. 16 Adorno, Erziehung zur Mündigkeit, S.23 17 Adorno, Theorie der Halbbildung, S.120 S. 7
Durch dauerhafte Lohnarbeitsstrukturen und wirtschaftliche Produktionssteigerung wird den Menschen in diesen Strukturen ein Gefühl der Ohnmacht gegenüber der Herrschaft impliziert. “Das Gefühl an die Macht des Bestehenden doch nicht heranzureichen, vor ihm kapitulieren zu müssen, lähmt auch die Triebregungen der Erkenntnis.“18 Gelähmte Erkenntnis, so definiere ich Adorno in diesem Fall, soll hier heißen, dass das Verständnis gegenüber der gesellschaftlichen Machtstruktur abgeschwächt werden soll. Dies dient einzig und allein der Aufrechterhaltung und Produktionssteigerung der Gesellschaft und seiner Wirtschaft.
Man könnte hierauf jedoch annehmen, dass durch Industrialisierung und fortschreitende Verbesserung der Lebensumstände in unserer Gesellschaft, auch eine Verbesserung der Bildung erfolgt. Adorno erwidert allerdings, wie ich finde vollkommen zurecht und auch auf heute anzuwenden: “Daß Technik und höherer Lebensstandard ohne weiteres der Bildung dadurch zugute komme, daß alles vom Kulturellem erreicht werden, ist pseudodemokratische Verkäuferideologie.”19 Hiermit spricht er mit deutlichen Worten und mit vehementer Kritik die vermittelte Form der Demokratie an. “Um überhaupt noch den Anforderungen zu genügen, welche die Gesellschaft an die Menschen richtet, reduziert Bildung sich auf die Kennmarke gesellschaftlicher Immanenz und Integriertheit und wird unverhohlen sich selber ein Tauschbares, Verwertbares.“20 Bildung, bzw. Halbbildung, avanciert hier schlichtweg zu einem Zwang hin zum Konformismus mit der Masse. Dies gilt es meiner Meinung nach durch Kritik und Handeln zu verhindern. Zusammenfassend kann meiner Ansicht nach gesagt werden, dass Halbbildung keinerlei Gesellschaftskritik inkludiert, sondern vielmehr die kapitalistischen oder auch totalitären Verhältnisse rechtfertigt, stützt und reproduziert. Wir müssen uns daher fragen, ob wir in
18 Adorno, Theorie der Halbbildung, S.117 19 Adorno, Theorie der Halbbildung, S.110 20 Adorno, Theorie der Halbbildung, S.115 S. 8
solch einer Gesellschaft leben wollen, oder doch lieber einen kritischeren Standpunkt hinsichtlich der (Macht)Strukturen einnehmen wollen. Um mit einem letzten Satz von Adorno zu schliessen: „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen.“21 Wir sollten uns fragen welches Leben wir leben und welches wir leben wollen.
Literaturverzeichnis Adorno, Theodor W.: Erziehung zur Mündigkeit, Hg. von Gerd Kadelbach, Frankfurt am Main: suhrkamp taschenbuch, 1972 Adorno, Theodor W.: Gesellschaftstheorie und Kulturkritik, Hg. Günther Busch, Frankfurt am Main: edition suhrkamp, 1975 Adorno, Theodor W.: Theorie der Halbbildung, Hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main: suhrkamp, 1972 Klafki, Wolfgang: Neue Studie zur Bildungstheorie und Didaktik – Beiträge zur kritischkonstruktiven Didaktik, Weinheim und Basel: Beltz Verlag, 1985 Liessmann, Konrad Paul: Die großen Philosophen und ihre Probleme – Vorlesungen zur Einführung in die Philosophie, Wien: UTB, 2003
21 Liessmann, Die Philosophen und ihre Probleme, S.178 S. 9