Wiecker Bote 20

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WIECKER BOTE

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Die Odessiten geben gern ein bisschen an: Odessa ist ein „Stückchen“ Paris. Ich weiß nicht. In Paris war ich nicht. Aber wenn Paris ein riesiges Gebiet ist, bebaut mit zehn Odessas, so muss es unglaublich langweilig sein, dort zu leben.

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WIECKER BOTE

Literarische Hefte 2007 | 13. JAHRGANG | 20. HEFT | 2,00 EURO | ISSN 1615-2484 | ISBN 3-935458-15-0 herausgegeben 1913–14 von Oskar Kanehl, neubegründet 1995 Herausgeber: Literaturverein Wiecker Bote e.V. Redaktion: Stefan Kalhorn, Sascha Fricke, Raija Hauck, Michael Düring Kontakt: Wiecker Bote, Postfach 3128, 17461 Greifswald, www.wiecker-bote.de, info@wiecker-bote.de Bankverbindung: Stefan Kalhorn, Sparda Bank Berlin eG, BLZ 120 965 97, Konto 52 98 172 Abonnement: 5 Hefte für 10,- Euro; 10 Hefte für 20,- Euro (jeweils inklusive Versand) Titelbild: Unter Verwendung eines Fotos des Richelieu-Denkmals in Odessa © Alle Rechte bei den Autoren, soweit nicht anders angegeben


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Lew Pasynkow

Pfauenschweif. Über Odessa ... Odessa ist eine laute, bunte, vielfarbige Stadt. Die Odessiten geben gern ein bisschen an: Odessa ist ein „Stückchen“ Paris. Ich weiß nicht. In Paris war ich nicht. Aber wenn Paris ein riesiges Gebiet ist, bebaut mit zehn Odessas, so muss es unglaublich langweilig sein, dort zu leben. Es gibt nichts Traurigeres als theatralische Ungerechtfertigkeit. Odessa jedoch ist, wenn man dem ersten Eindruck Glauben schenkt, die theatralischste, vorsätzlichste Stadt Russlands. Eine Stadt, wo die Häuser ein einziges Amphitheater aus Sesseln sind, die Straßen – rote Läufer zwischen den Sesseln, die lila Lampen der elektrischen Beleuchtung – das Rampenlicht, und die üppige Dekoration bildet das Meer, das die Stadt von drei Seiten umfasst. Aber in diesem wundervoll eingerichteten Theater gibt es keine guten Schauspieler. Die Seele dieser dekorativen Stadt stirbt. Wenn man genau hinsieht, bemerkt man, dass in Odessa nichts ernst ist. Kommt ein Wind auf, erzittern die staubigen Dekorationen durch und durch. Es gibt viele schöne, breite Straßen, aber im Grunde lebt und atmet nur eine Straße: die Jekaterinenstraße. In dieser Brust gibt es zwei Lungen: Robina! Fankoni! Die Richelieu-Straße ist die Konfettistraße. Die Deribas-Straße die Papierschlangenstraße. Ein ununterbrochener Korso, wobei die Richelieu-Straße sich irgendwie vornehmer und zurückhaltender vergnügt, und die Deribas-Straße vergnügt sich hysterischer. Heiser klingen die Hupen der bunten Automobile, es glänzen die goldenen Flanken verwegener Hengste, die langen Wagen der Tram rasen umher – Karneval, ein ununterbrochener Karneval, aber irgendwo hinter den Fassaden der Häuser, die mit Mettlacher Kacheln grob verziert sind, hört man ein geisterhaftes Läuten: Bomm!.. Bomm!.. Bomm!..


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Das ist das Festmahl während der Odessaer Pest... Das verpestete, verschreckte, in eine entfernte Ecke verjagte Odessaer Leben selbst. Diese Ecke – ist die Jekaterinenstraße, wo alles real und lebendig ist. Beide Lungen, Robina und Fankoni, atmen abwechselnd die frische Luft der Spekulationen ein und aus. Hier ist noch das alte Odessa zu sehen. Ich weiß nicht. Man sollte meinen, dass hier nur die Robinsons des alten Odessa sitzen und Mokka trinken, gestrandet an fremdem Ufer. Sie kennen die Deribas-Straße nicht. Sie wollen die Richelieu-Straße nicht kennen. Sie kennen nur diese zwei Kaffeehäuser, wo sie in schwarzen Flüssen von Kaffee ihre Erinnerungen an die Vergangenheit wie in der Lethe ertränken. Langweilig. Langweilig. Die Glocken der Zeit treiben zur Eile: Bomm... Bomm!.. Und sie sitzen da, saugen den warmen Kaffeesatz durch die runzligen, greisenhaften Lippen und hören zu. Immer schien mir irgendwie, dass Odessa hauptsächlich eine Stadt ist, wo der jüdisch-russische Typ überwiegt... Aber es zeigte sich, dass die Griechen hier stärker zu spüren sind. Die alten Griechen aus uralten Zeiten. Solch exotische Gesichter sah ich nur in Taganrog, einer griechischen Stadt voller Anekdoten über das griechische Gold und das sorglose griechische Leben. Sie tragen komische sandfarbene Regenmäntel. Um die tiefen Kragen sind riesige breite Krawatten gebunden, erhellt vom Lichtspiel eines Brillianten. Die rot-blauen Lichtreflexe spielen auch auf ihrem rasierten, von weichen grauen Backenbärten umrahmten Kinn. Das ist die alte Garde Odessas. Wovon leben sie? Ob sie arbeiten? Erzählen sie Anekdoten? Leben sie von Rente? Auf alle Fälle sind sie nicht hungrig. Wie bedächtige nächtliche Uhus sitzen sie da, unbeweglich, an Marmortischen, die Hände hinter den Gittern der Umzäunung verschränkt. Hier gibt es die gesamte Vitrine eines Juwelierladens zu sehen. Dicke, behaarte Finger mit riesigen Steinen besetzt. Rote, fliederfarbene, opalfarbene, blaue Steine – das reicht Barschanskij für zwei Vitrinen...


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In ihnen spürt man Rasse. In ihnen spürt man Blut, dick wie guter griechischer Kognak. *** Bomm... Bomm... Die Glocken der Zeit läuten.Der ewige Karneval der Stadt am Meer lärmt mit einer halben Million Stimmen...

Aleksandr Grinblatt

Trala-lala-la Auf den hinteren Beinen seines Stuhles kibbelnd, schlug Wikentij Leonardowitsch sich auf den sperrangelweit geöffneten Mund, summte einige Noten aus einer Operette und kniff die Augen ganz fest zusammen… Und als er die Augen wieder öffnete, riss er die Hände nach oben und ließ den Stuhl auf den Zementboden der Gartenlaube knallen. „Mjaaa“, stieß er gedehnt hervor, kicherte und sagte genau so gedehnt „mneein“. Mit seiner rechten Hand mischte er die schwarzen Dominosteine auf dem geflochtenen Tisch, gähnte und begann unerwartet, zunächst mit zwei Fingern, dann mit allen fünfen, einen Marsch zu schlagen. Die Dominosteine hüpften unordentlich durcheinander, berührten sich auf eine skandalöse Weise und fielen friedlich auseinander. „Mjaa… mneein… was gibt’s, was gibt’s zum Mittag?..“ Wikentij Leonardowitsch krümmte seine Finger für den Abschiedsakkord auf der geflochtenen Klaviatur und begann nachzudenken. Mit zwei dünnen Fingern zog er eine silberne Uhr aus seiner Weste heraus, öffnete den Deckel und streckte die Hand nach vorne: „Halb was?“, er zwinkerte mit den Au-


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gen, „Halb zwei, nanana. Mein Gott, was ist das Haus für schöpferisch Tätige doch langweilig. Mit niemandem kann man Karten spielen! Romaancieeers, wo seid iiiihr? Es gibt keine Romanciers! Der eine schreibt Denunziationen, der andere macht sich an fremde Frauen ran. Schauuuuspieeler auf Touuurneeee. Auch diese Gecken gibt’s hier nicht. Wenn sie keinen Wodka saufen, dann koksen sie! Diiiichteer!.. nein, nein, verschone uns mit Dichtern!... Sie quälen uns… erschöpfen sich mit ihrem Genius und fordern schluchzend Bewunderung…“ Wikentij Leonardowitsch zog die zusammengefaltete „Izwestija“ aus der Tasche, schüttelte sie mit der Hand voller Abscheu aus und sah sich die erste Seite schräg von unten nach oben an. „Also, verschlingen wir doch mal, was sie uns für den 9. Juni 1982 so zusammen gebraut haben…Sooo… Sooo… ‚Wir verstärken den Kampf zur Erfüllung des Fünfjahresplans!’.. Liebe Freunde, das ganze Leben kämpfen wir um etwas. Nun, und was steht weiter oben? Weiter oben?... Sehr originell! ‚Es berichten Pioniere’. Wieder der ‚Treue Sohn’.. und schließlich ‚Dem historischen Kongress entgegen’… Ich muss doch sehr bitten, sind noch nicht einmal zusammen gekommen und schon Teil der Geschichte. Mjaaa! Mist bist du und keine Zeitung! ‚Izwestija’ ohne Neuigkeiten, wie die ‚Prawda’…, oh Mann, das geht zu weit! Da könnte man Ärger kriegen! Da ist es schon besser, sich eines Klassikers zu bedienen. Kann man unbeschadet ausnutzen… man kann sagen, speziell für Zitate das Kreuz zu tragen… Wie ist das bei ihm in der zeitgenössischen Redaktion? ‚Auf der Erde gibt’s kein Glück, es gibt nur Angst und Langeweile…’ Tral-la-la-la-la, Tral-la-la-la-la. Genau so! Ho, ho, ho. Man müsste jemanden erwürgen… Aber es lässt sich ja keiner einfach…“ Wikentij Leonardowitsch stellte den Stuhl wieder auf die hinteren Beine und begann gemessen zu schaukeln. Er sah nach rechts…, sah nach links… und seufzte vernehmlich. Plötzlich, als er eine große Spinne bemerkte, die zwischen zwei Pfeilern der Laube eine Brücke gebaut hatte, wurden seine Augen erkennbar lebendiger. Der Stuhl unter Wikentij Leonardowitsch fiel auf alle vier Beine, er selbst hatte sich erhoben und näherte sich schleichend dem Spinnennetz. „Das ist eine Neuigkeit!“ Er berührte vorsichtig die zusammengenähten Fäden. Davon aufgeschreckt, begann die Spinne nervös hin- und her zu laufen und schoss aus der Mitte zur Peripherie. Wikentij Leonardowitsch pustete sie an, aber die Spinne rührte sich nicht. „Ist wohl langweilig, den ganzen Tag ohne Arbeit herumzusitzen? Um


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nichts kämpfst du, niemandem erstattest du Bericht… Hm… Womit kann ich dich beschäftigen? Wie wäre es mit Essen?...“ Wikentij Leonardowitsch drehte sich um und umfasste mit einem Blick die Laube… „Ich hab’s, ich hab’s! Sie war… sie war.. ganz grün!“ Auf dem Tisch saß zwischen den Dominosteinen eine große, blau-grüne Fliege, nein, keine Fliege, sondern eine Riesenfliege, ein zotteliges, summendes Untier mit schiefen Flügeln. Wikentij Leonardowitsch glättete mit einer zärtlichen Bewegung die Zeitung, faltete sie vier Mal entlang der alten Faltung und … zack! Die Fliege rollte zur Seite und fiel inmitten der aufgeregten Dominosteine auf den Rücken. „Ja, so ist das, meine wertvolle Genossin Fliege“, sagte Wikentij Leonardowitsch mitfühlend, „entsprechend den Gesetzen des hysterischen Materialismus und dialektischen Kretinismus werden wir Sie nun dem verfluchten Blutsauger und Expropriator, dem Agenten des internationalen Zionismus und dem Kriegstreiber, der Bauchigen und Zotteligen Riesenspinne zum Fraß vorwerfen!“. Die Stimme Wikentij Leonardowitschs begann tragisch zu rollen: „Und Sie, hochwohlgeborenes Kind der sowjetischen Müllkippe, sterben unschuldig durch ihre widerwärtigen Intrigen!.. Nun denn, bitte sehr…“ Wikentij Leonardowitsch riss eine Ecke von der Zeitung ab und legte die ausgestreckte Fliege darauf. Sie gab ein schüchternes Summen von sich, bewegte die Füße und erstarb… „Genau richtig!“, flüsterte Wikentij Leonardowitsch, zog mit einem lautem Geräusch Luft durch die Nasenlöcher und sang lang gezogen die Melodie des Liedes ‚Sie fielen als Opfer im heldenhaften Kampf’. Nach einer Pause drehte er sich um und schnippte die Fliege mit einem abschließenden Urteil von der Zeitung: „Und damit sind Sie, Genossin Fliege, in das Netz des Klassenfeindes geraten… Amen!“ Doch die Fliege kam wieder zu Kräften und äußerte Zeichen von Unzufriedenheit. Wikentij Leonardowitsch wischte sich erregt die Handflächen. „Ach, Genossin Fliege, Genossin Fliege, Ihr bevor stehender Heldentod wird nicht sinnlos sein! Alle ehrlichen Fliegen dieses Planeten werden, angeregt von ihrem Sieg, die große Angelegenheit des Kuhfladens aufgreifen, und Tausende neuer Helden werden, stolz… Ja!... stolz Ihr… sollen wir nicht zum Du übergehen, wie es sich für Parteimitglieder gehört?.. Nun, wie denn!... Folglich, stolz Dein flatterndes Banner hochhebend… Ahaaa!... sie hat zu zittern begonnen… und noch einmal!... Nun, und du? Was ist mit dir, du fetter Kapitalist, der du die Säfte aus einer einsamen Proletarierin saugst… du


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mieser Schädling und, für alle Fälle, mieser Jude?... Zittere, käufliche Seele! Sieh mal, du zitterst ja! Und kannst sogar laufen!... Und nun stehen wir uns in einem unversöhnlichen Klassenkampf nicht ums Leben sondern ums Lachen gegenüber! Soll er doch immer beim afghanischen Volk stehen!... Wir sind mit dir und in dir, Burkina Faso!... Höher die Nippel, ruhmreiche Töchter Nicaraguas. Ach, du Schuft! Ach, du Scheusal!.. Du bist mit deiner ganzen Unerbittlichkeit in eine ehrliche Stoßarbeiterin der Nicht-Parfümerieindustrie eingedrungen… aber wir ergeben uns nicht. Wir brummen und summen! Wir schlagen bis zum letzten Cent an die klebrigen Wände des Gefängnisses… So ein Schuft! Schau, wie er unsere ehrliche Heldin einwickelt, die sich ihm selbstlos hingegeben hat … Hm, wem ist sie denn hier ergeben?.. Ach ja!... Selbstlos hingegeben ist sie den rotärschigen Idealen! Schuft, du hast sie genau in dem Moment aus unseren zusammen geschmiedeten Reihen gerissen, als sich alle progressiv-paralytischen Kräfte der Erde in einer spasmatischen Eruption befanden… Nun, scheint es, ist sie eingepackt… Mjaaaa…, sehr schön hast du sie fertiggemacht.“ Wikentij Leonardowitsch lockerte seine Krawatte und zog den Kragen seines Hemdes auseinander. „Sehr schön!“, wiederholte er und lächelte. „Aber warum fressen nicht die Fliegen die Spinnen? So könnten sie sich gegenseitig auffressen! Welch ein glückliches, weltweites Leiden würde uns heimsuchen! Ja, lieber Freund Spinne, es ist schon seltsam, aber es gibt für dich im Reich der Fliegen keine Gerechtigkeit. Unsere heilige Fliegenmärtyrerin ist in deinem eigenmächtigen Schlund verschwunden, aber sie hätte sich des Vertrauens versichern und Karriere machen können, hätte Oberfliege werden können, oder, im schlimmsten Falle, irgendwo heldenhaft an Kuhjauche ersticken können… aber es ist ihr nicht gegeben, nicht gegeben… Aber hier ist noch ein anderes, genau so blau-grünes Vieh, das schon am zweiten Tag im Teller meines unschätzbaren Tischnachbarn planschte… Wie war noch mal sein Vatersname? Anatolij… Terentewitsch?.. Anatolij… Lawrentewitsch?.. Anatolij… Fressmich-Schlagmich. Insgesamt, Tolik, wie sie sich vorstellen… Also, in seiner Suppe schwamm eben so eine Schönheit herum… Und unser Tolik? Er, dass muss man sich mal vorstellen, löffelt so locker seine Suppe und – flutsch – wirft er die Quälfliege auf den Teller seiner unnachahmlichen Gattin Prostokvascha Skipidarovna. Das war so ein Scherz, verstehst du! Du, lieber Freund Spinne, wirfst Fliegen nicht in von Ehefrauen ausgeworfene Netze? Nein! Das bedeutet, dass Tolik ein wenig besser ist als du!.. In diesem


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Moment dreht ihre Hoheit Prostokvascha Skipidarovna ihren Kopf hin- und her und studiert auf ungute Art literarische Damen. Aber was vor ihrer Nase vorgeht, bemerkt sie nicht. Tolik zieht geheimnisvoll Fratzen und bedeutet mir mit dem Finger, ich solle schweigen… Und du, Zottel-Dickbauch, hingst nicht in der Nähe, so dass niemand Tolik von seiner Verspieltheit abbringen konnte… Prostokvascha Skipidarovna, die heilige Ziege, löffelt die Suppe und… springt vor Schreck auf, kippt den Teller um und bekleckert sich und Tolik! Tolik springt auch auf, sein Gesicht wird verzerrt-rot und er brüllt seine teuren drei Viertel an… Ich bemerke dein Unverständnis wegen der drei Viertel… Nun, das ist so, weil Prostokvascha Skipidarovna in ihrer Verbindung mehr als die Hälfte ausmacht. Und so schrieen sie sich gegenseitig an…, drohten mit den Händen… bis Prostokvascha Skipidarovna plötzlich auf Tolik zuspringt und ihm mit Pfannenbrutzeln einen über die nicht reinrassige Schnauze zieht, und das war trotzdem schmerzhaft… Konfusion, das sage ich direkt, in der heimischen Literatur! Und übrigens ist unser Tolik eine nicht unnütze Person… Ach, was sage ich! Ich habe, so kann man sagen, eine Reise dank seinem Bruder Nikolaj Kondratewitsch umsonst bekommen! Mein Gott, also heißt Tolik auch Kondratewitsch! Aber sicher, heilige V Väter! Was bin ich doch schlecht? Habe ich doch glatt Nikolaj Kondratewitsch vergessen! Ei, jei, jei! Er ist doch der Führer der Maße. Wenn er will, dann ist er wohltätig, wenn nicht, dann veröffentlicht er überhaupt nicht… Einer von gaaaanz oben! Einmal rief er mich zu sich ins Literaturamt und schlug mir vor, eine begeisterte Einführung zu einem Büchlein mit Versen seines Bruders nieder zu legen, nun ja, das von Anatolij Kondratewitsch! Und das Buch heißt ‚Unsere Lokomotive ist noch auf dem Weg’… So dass ich also auf dieser ‚Lokomotive’ mit der schöpferischen Mission hierher gekommen bin, das Vertrauen zu rechtfertigen, aber du hast wohl gedacht, dass ich dich hier mit Fliegen füttern werde… Na, da hast du dich aber geärgert, Zottel-Dickbauch! Was läufst du fort?... Am Faden lang – am Faden lang… Greift dir mein Histörchen denn nicht an die Seele? Du willst Verachtung gegenüber unserer ethisch-pathologischen Pflicht zeigen! Ach du haariges Arbeitsvieh! Dafür müsste man dich zerquetschen. Das heißt, du missachtest unsere Freundschaft! Dafür werden wir dich jetzt – Matsch! Hab keine Angst… hab keine Angst… Ich bin doch selbst eine Fliege… Wir sind alleee Fliegen… summen unter den Spinnen, kreisen und schnappen uns ihre Essensreste, und wer es aus dem Haufen nicht herausschafft, der wird wohl exkommuniziert und glättet sein trauriges Schick-


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sal auf einem langen Weg, denn im Lukasevangelium heißt es, dass Kultur kulturvoll sein solle, und Gras gräsern… und es gibt nichts Edleres auf der Welt, als Papa und Mama unter die Sicherheit des Staates zu stellen… Wohin läufst du denn, mein lieber Zottel-Dickbauch? Ich bin dir doch so ähnlich, ich bin doch kein Raubtier…, stehe mehr auf Aas… und Spinnen verehre ich, und nicht nur, dass ich sie überhaupt nicht esse, sondern noch nicht einmal darüber nachdenke… Übrigens, ist es nicht Zeit zu essen? Wikentij Leonardowitsch wühlte aus Gewohnheit in den Taschen seiner Weste, zog seine Uhr hinaus und pfiff: „Ach du meine Güte! Schon fünf nach zwei! Was habe ich hier mit dir, unwürdiges Geschöpf, in diesem historischen Moment meine Zeit vergeudet, in dem die entspanntesten der herausragenden Hausierer der vaterländischen Kultur mit ihren ausladenden Ärschen sich schon seit fünf Minuten am Trog drängeln! Vielleicht denken sie, dass ich mich von der Herde absetze! Peng! Peng! Mach’s gut, Zottel-Dickbauch!.. Weißt du, irgendwie ist Nikolaj Kondratewitsch dir ähnlich! Er hat genau so einen runden Bauch und exakt, aber wirklich exakt so boshafte Augen… Du hast nicht zufällig in den Organen gedient? Sehr schade! Da fehlt dir das Zeug zu einem Literaturabteilungsleiter! Also, mein lieber Flechter… Merk’s dir! Vielleicht taugt die unnütze Erfahrung einer gluckernden Seele noch mal was… Alles klar, ich verschwinde. Behalte mich in gutem Angedenken!..“ Wikentij Leonardowitsch drehte sich theatralisch auf einem Absatz um, drückte den Strohhut tiefer ins Gesicht und sprang elegant aus der Laube. „Tra-la-la-la-la, tra-la-la-la-la…” Er bückte sich, breitete die Arme aus wie eine große weiße Vogelscheuche und drehte sich im Kreis hin zu der einstöckigen gelben Baracke mit den zwei unterschiedlich braunen Säulen am Eingang. In der Luft tanzten Myriaden kleiner Fliegen. Von fern her klang schneidige Musik. Es roch nach von der Hitze erschöpftem Gras und Knoblauchborschtsch. Von Zeit zu Zeit war das Summen blau-grüner Fliegen zu hören. In freudiger Erregung und mit dem Glauben an die lichte Zukunft der gesamten Fliegenheit flogen sie dem Geruch nach in Richtung der schöpferischen Mensa. Von der Mensa aus gesehen ergab sich allerdings eine andere Sicht: Ohne eine große Zukunft, ohne einen hellen Glauben, nur eine bespritzte Müllkippe auf dem Hinterhof, über der sich zudringliches Gesumme erhob…


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Sergej Klein

Schnittpunkte denke ich an alle möglichen invarianten schnittpunkte mit dir schnittpunkte mit mir gibt es mich nicht bin ich stumm wie eine puppe kein gedicht fliegt mir zu versalzene suppe liebe

unverhofft du wirst mich treffen unverhofft unerhört im frühling oder herbst unverhofft ungestüm du wirst mich treffen unverhofft – wie der tod unverhofft – wie gott unverhofft – wie selbst dich eines tages irgendwann irgendwo triffst du wieder mich


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Sergej Tschetwertkow

Der gegen den Wind geht Früher Wintermorgen; Stadtrand. Ein Mann in mittleren Jahren im Mantel und ohne Mütze überquert einen kleinen, von einer einzigen Laterne beschienen Platz. Die Figur des Gehenden ist nach vorne geneigt, mit der rechten Hand bedeckt er sich den Hals. Rechts, auf dem Weg des Gehenden, leuchten in einem niedrigen Haus drei Fenster. Frage: Wohin bewegt sich der Gehende? Antwort: Das versteht sich doch von selbst, der Gehende bewegt sich zu dem Haus mit den erleuchteten Fenstern, wo soll er in dieser Frühe auch sonst hingehen? Gut. Frage: Und dieses Haus mit den erleuchteten Fenstern – ist das das Haus des Gehenden? Antwort: Na ja, in gewissem Sinne… ja. Man kann sagen, es ist seine zweite Heimat. Das Haus heißt „Zum Tröpfchen“ und ist nichts anderes als eine kleine, kompakte Einrichtung zum Trinken, in der der gegen den Wind Gehende, der sich hier vor der feindlichen Kälte des vormorgendlichen Windes schützt, endlich den ihn quälenden Durst löscht, die ihn ängstigenden tektonischen Prozesse unter seinen Füßen anhält (das ist das Zittern der Niere), das rastlose Hin- und Her der unerkannten fliegenden Wesen am Rande seines Blickfeldes unterbindet und die dichte, schwere Dunkelheit erhellt, mit der das kleine, wie ein Reh zitternde Herz, das gegen den Wind geht, bis zum Rand gefüllt ist. Frage: Und… Antwort! Eine selbst schließende Tür; schmerzendes, grelles Licht in den Augen; die Theke. Die schläfrige Vera (neben Treue Hoffnung und Liebe zugleich) gießt frei und ohne zu zielen hundertfünfzig Gramm Wodka ein und verschwindet im Nebenraum, wo sie weiter mit Gläsern und Krügen lärmt. Als Vorspeise eine angerauchte Zigarette; es ist nicht so, dass sie wegen eines Katers zittert, vielmehr ist die Hand wegen der ihr auferlegten Verantwortung äußerst erregt; die kalten Ränder des Glases und – du schaffst es noch nicht einmal bis zehn zu zählen (wenn du langsam zählst), und die uns umgebende Welt beginnt, nachdem sie sich in Bewegung gesetzt hat, hell zu werden, gut zu werden, sich auszubreiten… Hallelujah!


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Zu Hause habe ich Rührei gegessen, noch eine geraucht und mich aufs Bett geworfen. Ich war in sehr ungewöhnlicher Stimmung; es wäre schade gewesen einzuschlafen. Ich machte das Radio an. Im Sender „Freiheit“ diskutierten gedrängt um einen runden Tisch sitzend irgendwelche fixen Helden den Krieg in Tschetschenien. Vom Fensterbrett nahm ich eine Broschüre mit gelben, brüchigen Seitenresten: Meine liebste Lektüre seit zwei Wochen. Ein Katalog der Bildergalerie der kaiserlichen Eremitage aus dem Jahr 1887. Zweiter Band. Deutsche Schule. Langsam ging die Februarsonne auf und erfüllte den Platz hinter den Fenstern mit hellem Licht, ebenso die Zimmer im Haus und die eines nach dem anderen in meiner gastfreundlichen Phantasie entstehenden Bilder, deren Beschreibung ich im Katalog gelesen hatte. Die Rast der Reisenden. Zwei Männer und eine Dame im blauen Kleid und gelbem Umhang auf einem weißen Pferd mit einem kleinen Hund im Arm bleiben vor der Kneipe stehen. Einer der Männer zeigt der Frau lachend sein leeres Glas; der zweite steigt vom Pferd und redet mit dem Schankwirt. Von rechts nähert sich eine arme Familie mit einem Esel, der auf dem Rücken einen Korb mit einem Kind trägt. Links steht eine alte Frau am Eingang zur Kneipe. Kauf von Weintrauben. Im Vorraum, an dessen Wand eine geographische Karte hängt, kauft ein Mädchen im roten Kleid Weintrauben bei einer betagten Gemüseverkäuferin, die ihre Waren auf einer alten Waage auswiegt. Das Mädchen legt lächelnd Trauben in den Mund einer Dienerin, die auf den Knien ein Porzellantablett trägt, auf dem man Früchte ablegen kann. Nach dem Mädchen bezahlt eine Gouvernante im gelben Kleid mit weißer Schürze für den Einkauf; neben ihr schaut ein kleiner Hund auf seine Herrin. Rechts ein Stuhl, bezogen mit grünem Stoff. In der offenen Tür wird eine Landschaft sichtbar. Ein Zechbruder. Ein alter Mann mit abgeschmacktem Äußeren sitzt am Tisch und hält ein Glas Bier in der Hand; neben ihm stopft ein Bauer, auch sitzend, seine Pfeife. Weiter weg noch ein Bauer, mit dem Gesicht zur Wand. Kleine Figuren. Winter. Einige Männer laufen Schlittschuh und spielen auf dem zugefrorenen Kanal, an dessen Ufer eine Windmühle steht, Eishockey. Im Vordergrund verkauft ein Angler zwei Männern einen Fisch. Weiter hinten ist ein Hütte zu sehen; rechts ein Galgen mit zwei Gehenkten, im Hintergrund eine Stadt. Die erstarrten Körper schaukeln leicht im Wind; fröhliche Stimmen sind zu hören, das Kratzen der Schlittschuhe und der Ball beim Spiel…


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Ich schlief vier Stunden; dann erwachte ich, das Radio lief immer noch auf dem Sender „Freiheit“; es kann aber auch sein, dass der Sender sich verstellt hatte und dann wieder zurückkam. Erneut ging es um Tschetschenien. Aus dem tschetschenischen Informationsministerium (auch dort in den Bergen gibt es so etwas) erzählte man den flinken Helden eine grausame Geschichte. Direkt auf der Autobahn zwischen Rostow und Baku (direkt auf der Autobahn) hatten russische Infanteristen ungefähr achtzig Türken-Mescheten abgeschlachtet. Direkt auf der Autobahn. Und all das geschah vor den Augen der Passagiere eines vorbei fahrenden Autobusses, der mit Frauen und Kindern besetzt war. So wurde es berichtet. Gerade dieses „mit Frauen und Kindern“ (warum kümmern sie sich die Alten nicht um ihren eigenen Kram?) gefiel mir am besten. Die Helden im Studio stimmten zu, seufzten zurückhaltend, aber schmerzerfüllt. Natürlich glaubten sie kein bisschen an diesen ganzen Quatsch, aber vielleicht bezauberte sie einfach das ihnen präsentierte Bild, so wie mich die Beschreibungen der Bilder aus meinem Katalog bezauberten? Und so stellte ich mir diese Szene selbst vor: Die von Qualen verzerrten Gesichter der Opfer, blutig, die im Frost dampfenden Halbpelze der Infanteristen, die an den Autobusfenstern platt gedrückten Gesichter besonders der Frauen und Kinder… An diesem Tag hatte ich viel zu tun. Im „Zum Tröpfchen“ trank ich kämpferische hundertfünfzig Gramm und machte mich auf in die Stadt. Genauer gesagt hatte ich nur eine Angelegenheit zu erledigen, aber das war für mich schon viel. Die Cousine meiner verstorbenen Mutter, die eine einsame alte Jungfer gewesen war, hatte schon vor langer Zeit ihre am anderen Ende der Stadt gelegene Einzimmerwohnung auf der Zawoksalnajastraße auf mich überschrieben, die mir nach ihrem Tod dann auch zufiel. Seit zwei Jahren vermiete ich sie an ein Ehepaar mit einem Kind, Flüchtlinge aus Tadschikistan. Und nun fahre ich an jedem Fünfzehnten des Monats zu ihnen, um die Miete zu kassieren, von der ich, zugegebenermaßen, lebe. Bei den Mietern erwartete mich eine unangenehme Überraschung. Sie hatten kein Geld. So teilte es mir Zoja, die Mieterin, mit. Dazu noch, versteht sich, Erröten vor Verwirrung, Händeringen, flehende Bitten und so weiter. Das Geld war da gewesen, noch vorgestern war es da gewesen, aber dann musste man es dringend für eine Operation der Schwiegermutter nach Murmansk schicken. Zudem, als wenn das nicht schon genug wäre, verzögerte sich die Lohnauszahlung des Ehemannes und das Geld, das sie verliehen hätten, bekämen sie auch nicht wieder, die Leute haben keine Scham, kein


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Gewissen, und so weiter in diesem Sinne und mit einer weinerlich-flehentlichen Intonation… Die Wirkung der im „Zum Tröpfchen“ getrunkenen hundertundfünfzig Gramm ließ nach. In solchen Momenten werde ich ein wenig zynisch. Was tun, sagte ich, Tränen erleichtern das Leiden nicht, tragen wir also die Sachen raus und verabschieden uns. Zoja rannte in die Küche und, nachdem sie einen Mantel angezogen hatte, zur Tür. Ich gehe nur eben zur Nachbarin, sagte sie. Wir blieben zu zweit zurück, ich und Zojas Tochter, sechzehn Jahre alt und Oberstufenschülerin. Ich ließ mich auf einen Stuhl fallen und begann zu rauchen. Das Mädchen saß mir gegenüber, die Beine übereinander gelegt, in ein Buch vertieft, und wischte sich von Zeit zu Zeit die Haare aus der Stirn. Ihre ganze Pose strahlte demonstrative Verachtung meiner Person aus, eines seelenlosen, gewissenlosen, nichtigen Erpressers. Zoja kehrte schon bald zurück, ich konnte nicht einmal die Zigarette zu Ende rauchen, und legte Geld vor mir auf den Tisch. Ganz offensichtlich hatte sie es gehabt, sie war gar nicht zu einer Nachbarin gegangen, sondern hatte nur einige Minuten im Treppenhaus gestanden. Man müsste ihnen für diese Tricks noch einen Zehner draufschlagen, dachte ich mir, nahm das Geld und ging. Auf der Straße war es noch immer sonnig. Ich hatte keine Lust, nach Hause zu gehen und so entschloss ich mich, noch ein wenig durch die Stadt zu schlendern. Ich lief ungefähr eine halbe Stunde umher, bis ich plötzlich und ganz unerwartet ins Zentrum gelangte und entschied, jemanden zu besuchen. Auf den Straßen lief eine Unmenge schöner Mädchen herum, von denen viele mich mit Interesse ansahen. Ich habe schon seit langem bemerkt, dass ich bei Mädchen, die mir auf der Straße entgegenkommen, Erfolg habe, wenn ich einen Kater auskuriere. Zwar wird ein Besäufnis mein Äußeres nicht unbedingt veredeln, aber vielleicht erscheine ich ihnen – unrasiert und schwermütig – ungemein romantisch und erfahren?... Versteh einer die Weiber. Also, ich entschied, jemanden zu besuchen. Aber nicht irgendwen, sondern Sawitskij. Dazu ist eine kleine Erklärung notwendig. Beginnen wir mit einer Binsenweisheit: Jeder Mensch hat in seinem Leben irgendetwas, was als unauslöschlicher Fleck auf seinem Gewissen liegt, was als schwere Belastung empfunden wird. Das gilt auch für mich. Nein, ich habe keine Unglücklichen im Kerker erschossen, habe Witwen mit einer Horde Kinder nicht ihr letztes Geld gestohlen und die minderjährigen Kinder vergewaltigt. Und trotzdem. Ich… mit einem Wort, war irgendwann


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aufgrund einer unglücklichen Verquickung von Umständen ein Mitglied der Kämpfer für das Recht in unserer Stadt geworden und habe sogar zwei Jahre Aufseher gespielt. Und genau an diese Tatsache aus meiner eigentlich uninteressanten Biographie kann ich mich nicht ohne brennende Scham erinnern, die manchmal sogar zu inneren Krämpfen, zu Schmerzen in den Gelenken führte. Damals, in diesen schon lange zurück liegenden Jahren schrieb ich ein wenig (übrigens, übrigens, meine Erfahrungen mit der Prosa waren Gott sei Dank gänzlich harmü los) und geriet, wie alle in unserer Stadt Schreibenden, in den Freundeskreis Sawitskijs. Wein, viel Wein, Verse schreibende Mädchen mit ungewaschenen Hälsen und mehr als ausdrucksvollen Blicken, bärtige Künstler, nicht verstummende Radiostimmen (welch eine Freude, wenn irgendein Papagei hinter dem Kordon sich an deinen oder an einen dir bekannten Namen erinnert), Samisdat, Tamisdat und so weiter, und so weiter. Wahrscheinlich kam ich damals einfach zupass in irgendeine Veranstaltung. Man hatte mich zusammen mit Sawitskij wegen Schmarotzertums drangekriegt. Dabei war das Lustigste, dass Sawitskij mit eindringlichen Gesprächen bei der Staatssicherheit davon kam, während ich zwei Jahre auf Baustellen der Volkswirtschaft zubringen musste. Und diese zwei Jahre machten mich in den Augen der Öffentlichkeit zum Kämpfer für das Recht. Es ist zum Lachen. Aber nur, wenn man den unauslöschlichen Fleck und die inneren Krämpfe des Nachts nicht zählt. Meine Rückkehr fiel genau mit den im Land in Kraft tretenden Veränderungen zusammen. Sawitskij begann damals ins Ausland zu reisen, hielt sogar Vorträge (was für welche?, wem?, worüber?), ich aber verkroch mich auf meinem Weiler. Anfangs erkrankte meine liebe Mutter (die Ursache für die Krankheit war die Geschichte mit mir), dann der ungeliebte Onkel, nachdem ich beide unter die Erde gebracht hatte, erfasste mich die Leidenschaft für Alkohol… Mit einem Wort, Sawitskij und ich hatten uns schon einige Jahre nicht mehr gesehen. Ich weiß nicht einmal, was mich plötzlich zu ihm drängte. Na ja, ich kaufte eine Flasche Wodka und machte mich zu der mir gut bekannten Adresse auf. Schon nach einer halben Stunde, ach was sage ich, schon nach fünfzehn Minuten verstand ich, dass ich besser nicht hingegangen wäre. Durch die staubigen Fenster strömt hell die kalte Februarsonne. Wir, also ich, Sawitskij und sein junger Freund Vadik (ich wusste schon seit langem von dieser


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Neigung Sawitskijs, die er früher sorgfältig verheimlichte) tranken Wodka, aßen Apfelsinen, es gab nichts, worüber wir reden konnten. Aus den verschiedenen Ecken des Zimmers beobachteten uns zwei uralte kastrierte Kater – Bobtschinskij und Dobtschinskij, die ich schon als kleine Kätzchen gekannt hatte. Ich hatte große Lust aufzustehen und zu gehen, nur der nicht zu Ende getrunkene Wodka hielt mich zurück. Sawitskij und ich gingen unsere gemeinsamen Bekannten durch, mit denen, wie schnell deutlich wurde, er absolut nichts mehr zu tun hatte. Und ich erst recht nicht. Mit diesem Thema mussten wir auskommen. Scheiße, dachte ich, musste ich so ein Idiot sein und mir so einen wunderbaren Tag verderben!.. Das hatte ich jetzt davon. Das Treffen der Freunde. In einem von der Sonne hell erleuchteten Zimmer sitzen drei Männer an einem Tisch. Ein Päderast mittleren Alters im gelben Hemd und brauner Weste, sein junger Liebhaber im grünen Sweater und mit einem Ring im Ohr, dazu noch ein ausgemergelter, unrasierter Mann von fadem Äußeren im Mantel, offenbar ein Gast. Auf dem runden Tisch, auf dem eine samtene, purpurfarbene Tischdecke liegt, befinden sich eine Flasche Wodka, Gläser, zwei Apfelsinen, von denen eine in Teilchen geschnitten ist. An der Wand zwischen den Fenstern steht ein Sessel im Empirestil, auf dem eine große, flauschige, rauchfarben gestreifte Katze liegt, die, ihre Pfoten unter sich, die am Tisch Sitzenden anschaut. An der Wand über dem Stuhl hängt eine farbige Mandaladarstellung. Kleine Figuren. Ich fragte Sawitskij, ob er sich wie in jedem Jahr im Frühling zu seiner Datscha aufmacht. Er antwortete, dass er das nicht vorhabe, weil seine Datscha verkauft sei, genauer gesagt das Grundstück, da das Häuschen vor zwei Jahren abgebrannt war. Ich fragte, ob er herausgefunden habe, wer das getan hatte. Sawitskij zuckte irgendwie weibisch mit den Schultern und sagte: Was macht das für einen Unterschied, das bedeutet nur, dass es so kommen musste… Wahrscheinlich irgendwelche Rowdys… Wir nennen sie „Karmapfleger“, ergänzte er noch. Ich verstehe nicht, sagte ich. Ich sage: Wir nennen sie „Karmapfleger“, wiederholte Sawitskij. Aaaha, dachte ich bei mir, was sind denn das für Pfleger, und wer sind „wir“ – Sawitskij, Wadik, Bobtschinskij und Dobtschinskij?.. Und hier brauste Sawitskij plötzlich auf und erzählte, immer schneller werdend, irgendetwas von Karma, von seiner Besserung, von irgendeiner Energie, von guten Welten, von schmutzigen Strahlen, von Programmen und so weiter und so weiter. Und schon eine Viertelstunde später schien es mir, als wäre mein Kopf angefüllt mit staubigem Mulm oder schmutzigen Lappen. Mit Rausch war er jedenfalls nicht


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angefüllt, und meine Hände zitterten im Verlangen, die Flasche zu nehmen und sie ihm über den Schädel zu hauen. Ohne über die Einhaltung der Etikette nachzudenken, beendigte ich seine Predigt, verabschiedete mich und machte mich aus dem Staub. … Sauer, hungrig, durchgefroren kehrte ich nach Hause zurück, auf meinen Weiler, und welch eine Freude war es für mich, die hell und fröhlich leuchtenden Fenster im „Zum Tröpfchen“ und die Schatten der Gäste hinter den Gardinen zu sehen!.. An diesem feuchten, wolkigen Abend war das „Zum Tröpfchen“ bis zum Bersten voll. In der hintersten Ecke saß mein nächster Nachbar, Ivan (das Haus, in dem ich wohne, ist in zwei Hälften geteilt, von denen eine ihm gehört); neben ihm saß noch jemand, der müde den Kopf auf die auf dem Tisch liegenden Fäuste gesenkt hatte. Ohne zu fragen nahm ich für beide und für mich je hundert Gramm Wodka. „Guten Abend“, sagte ich, stellte die Gläser auf den Tisch und streckte Ivan die Hand hin. „Wie sieht’s aus?..“ „Na ja… Es gibt nichts Gutes. Seit vier Tagen tut mir das Kreuz weh“, antwortete Ivan, riss sich von der Zeitung los und blinzelte mir durch den Zigarettenqualm zu. „Was ist der Grund für die Einladung?“ Ich antwortete schwülstig: „Anlässlich des verloren gegangenen, aber wieder erlangten seelischen Gleichgewichts. Mit einem Wort: Auf die Freude der Erlangung!“ „Freutte“, nuschelte Ivans Freund in den Tisch. Ivan und ich tranken aus, sein Freund nicht. „Ist es dir schon mal passiert, Ivan“, begann ich, nachdem ich den Wodka mit Tomatensaft heruntergespült hatte und eine sehr angenehme Erregung sowie den ungewöhnlichen Wunsch verspürte, zu reden und zu reden, „ist es dir schon mal passiert, dass die dich umgebende Welt plötzlich vor einem schlechten Bild erscheint, das schlecht auf einem schlampig erleuchteten, im Wind dröhnenden Blatt Blech gemalt ist?“ „Blesz“, verbesserte mich Ivans Freund ohne den Kopf zu heben. „Ist dir das schon einmal passiert, Nachbar?“ „Schwierige Frage“, antwortete Ivan ausweichend und lächelte nur mit den Augen. „Mir ist das schon passiert. Und wenn du bloß wüsstest, was das für eine Abscheulichkeit ist!..“ „Abpszeuliszczkeicz…“ „Lernt dein Freund Polnisch?“, fragte ich.


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„Wahrscheinlich. Ich sehe ihn überhaupt zum ersten Mal“, sagte Ivan. Wir tranken auch die hundert Gramm aus, die ich dem Unbekannten mitgebracht hatte und gingen zu mir, weil das „Zum Tröpfchen“ schon zumachte und Vera begann, die Gäste rauszuschmeißen. Mein Nachbar Ivan ist ein geheimnisvoller Mensch. Ganz offensichtlich ist er der einzige Erbe meiner Nachbarin, der verstorbenen Irina Petrowna. Er wohnt seit etwa einem Jahr bei uns auf dem Weiler. Bisher weiß ich nur sehr wenig über ihn, aber vielleicht wüsste ich mehr (aber daran zweifle ich), wenn ich nicht ein so nichtsnutziges, von Alkohol zerfressenes Gedächtnis hätte. Kapitän im Ruhestand, sein letzter Dienstort war irgendwo in Deutschland. Hier fand er in irgendeiner Baufirma Arbeit. Er säuft gerne. Einmal in zwei oder drei Wochen nimmt er sich ein Mädchen für eine Nacht, in der Regel ein Mädchen letzter Kategorie. Allem Anschein nach sammelt er sie nicht weit von hier an der Autobahn ein, an der so genannten „Meile“. Das scheint alles über ihn zu sein. Ich denke, dass wir kaum zusammen gekommen wären, wenn wir nicht so nahe beieinander wohnten. Also: Irgendwo über dem Territorium Deutschlands senkt sich eine fliegende Untertasse mit Außerirdischen oder, wenn es besser gefällt, Humanoiden herab. Die Deutschen gehen ihnen mit Hurra entgegen. Die Humanoiden, die sich äußerlich übrigens nur wenig von uns unterscheiden, verhalten sich sehr zurückhaltend, schweigen die meiste Zeit, reagieren auf alles sehr träge und pressen die Lippen zusammen. Die Deutschen jedenfalls entschlossen sich, ihnen das Land zu zeigen und schleppten sie durch ganz Deutschland, durch ihre geleckten und akkuraten Städte, Burgen und Bäder. Sie fuhren und zeigten, und dann machten sich die Humanoiden schnell wieder auf den Rückweg. Und alle Überredung, noch ein wenig zu Gast zu bleiben, war zwecklos. Na ja, mit Gewalt kann man sie ja nicht zurückhalten. Die Hausherren richteten eine prunkvolle Abschiedszeremonie aus. Am Ende der Zeremonie fragt einer der Brüder im Geiste, nachdem er sich für den warmen Empfang bedankt hat und sich schon wieder in seinem Chromteller verstecken will mit unverhohlenem Ekel: „Aber trotzdem, wie können Sie wie die Schweine bis zu den Ohren im Dreck leben?!“ Und flog weg, ohne eine Antwort abzuwarten. Schweigen unter den Verabschiedenden. Diese Geschichte (oder, wenn’s beliebt, dieses Gleichnis) als Illustration der einfachen These, dass alles in der Welt relativ ist, erzählte mir Ivan während eines unserer ersten Gelage. Überhaupt gefällt mir sein eigentümlicher


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Humor. Mit dem folgenden, bemerkenswerten Vergleich bestimmte er sein Verhältnis zu seiner ehemaligen, des Fremdgehens überführten Ehefrau (Aha, über seine Frau hatte er mir schon einmal etwas erzählt!). „Weißt du“, sagte er mir damals, „das ist so, als wenn du im Waggon dritter Klasse des Zuges von Saratow nach Pavlodar deinen Pass auf den Boden der Toilette fallen lässt: liegen lassen darfst du ihn nicht, aber aufnehmen möchtest du ihn auf keinen Fall…“ … Herr, Herr, Herr… Erbarme dich meiner, Gott, und lehre mich Deine Rechtfertigung, bestrafe mich, Herr, für meine Sünden, aber gib mir, ich flehe Dich an, gib mir die Gelegenheit, dieses blutige Gedränge, dieses schreckliche, schwierige Gewimmel, dieses aufsteigende Tschetschenen nicht zu sehen, aus deren Innerem dieses glitschige, klebrige Wesen, dieser weiche und geile Xaviersolana heraus kriecht, mit gefletschten Zähnen, sich windend, Lächeln nach links und rechts verteilend… … mitten in der Nacht wachte ich auf… Im Wohnzimmer brannte Licht, das Deckenlicht, alle vier Lampen im Lüster. Die Uhrpendel tickten regelmäßig. Und man hörte Schritte. Die weichen Schritte eines Menschen. Als würde jemand dort im Zimmer umhergehen. Dazu muss ich sagen, dass ich einmal nachts ein merkwürdiges Erlebnis hatte. Genauer gesagt war es nicht nachts, sondern vor der Morgendämmerung, als es gerade begann, heller zu werden. Auf dem Rücken liegend wurde ich wach und sah vor mir ein merkwürdiges, sogar erstaunliches Bild – bezaubernd-schön und abstoßend zugleich. Im dünnflüssig-grauen Licht des beginnenden Morgens sah ich, dass die Decke über mir drei, wenn nicht fünf Meter höher war und ganz mit verschnörkelten, gemusterten Schnitzereien versehen war, die mich wegen ihrer sehr feinen Raffiniertheit um den Verstand brachten. Und auf allen Lichtungen und in allen Rillen strömt an der ganzen Decke langsam dichter, fahl-bunter Rauch, der keine noch so schmale Vertiefung ausließ. An allen vier Wänden kroch der Rauch nach unten, kam aber nicht bis zu mir, sondern löste sich unterwegs auf. Ich lag mit zurückgeworfenem Kopf, schaute nach oben und wünschte mir nichts sehnlicher als einzuschlafen. Und nicht einmal diese ungewöhnliche Sicht konnte diesen Wunsch in mir bezwingen. Dabei erkannte ich ganz genau, dass ich in dieser Minute nicht schlafe, und ich hatte zudem den Eindruck, dass meine Zimmerdecke die ganze Zeit in diesem Zustand ist, wenn ich sie nicht sehe, dass ich ungewollt nach ihr schaute, dass ich die Decke dann so


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sehe, wie sie tatsächlich ist. Ich hielt noch einige Minuten durch und schlief ein. Und morgens kam es mir nicht einmal in den Sinn, dass ich dies alles nachts geträumt hatte. Sie sagen: Das Resultat dieser Angelegenheit ist doch ganz offensichtlich (Trinkergeste), das Delirium naht, ja, und ich werde das auch nicht bestreiten, aber vielleicht hatte Herr Swidrigajlow ja doch recht, na ja, dort, wo er über die benachbarten Welten redet, über ihre Nähe in den Zeiten der Krankheit und so weiter?... Also, ich werde mitten in der Nacht wach, sehe, dass im Wohnzimmer Licht brennt und höre weiche, langsame Schritte. Mein ganzer Körper, jedes seiner Gefäße und jede seiner Muskeln, war erschöpft und geschwächt; mir fröstelte und ich wollte nur schnell wieder einschlafen. Ich zog mir die Decke bis zum Kinn, drehte mich mit dem Gesicht zum Wohnzimmer auf die Seite und begann zu warten, wer das wohl sein könnte. Ich empfand keine Unruhe, keine Angst, mich quälte nur eine schläfrige Neugier. Zuerst dachte ich, dass es mein Nachbar Ivan sein könnte, ja sein müsste. Vielleicht brauchte er nachts ein wenig Brot, oder Salz, oder Streichhölzer, vielleicht sind ihm die Zigaretten ausgegangen, wer weiß?.. Dann aber dachte ich, dass Ivan zwar ein merkwürdiger Mensch ist, vielleicht sogar besonders merkwürdig, aber dennoch nicht so merkwürdig, Licht im Zimmer anzumachen und im Haus herumzulaufen, ohne mich vorher zu wecken. Es wäre ihm wohl auch kaum unangenehm gewesen mich zu behelligen, er wäre einfach hinein gekommen und hätte mir alles erklärt, so wie es schon öfter geschehen war. So entschied ich, dass es sich um einen der hiesigen Burschen handeln musste, vielleicht war irgendeiner der Stammgäste aus dem „Zum Tröpfchen“ in der Hoffnung ins Haus gekommen, einen guten Schnitt zu machen. Nun, für diesen Fall war ich vollkommen ruhig – bei mir gab es nichts zu holen, außer den Lampen im Lüster und einer Flasche Wodka, die am Kopfende stand. Allerdings, noch einmal, ich konnte nicht verstehen, warum der Gauner das Deckenlicht angeschaltet hatte. Mit einem Wort, um Schlaf ringend, lag und wartete ich weiter, überzeugt davon, dass unser Treffen, wenn es denn stattfindet, mich weniger erschreckt als den Fremden. Unterdessen verstummten die weichen Schritte, kamen wieder und näherten sich schließlich. Nach einer Minute erschien in der Türöffnung eine schwarze Silhouette, ein Unbekannter stand auf der Schwelle und stütze sich am Türrahmen ab. Er war von nicht großem Wuchs und von ungewöhnlicher Form – irgendetwas war mit seinem Kopf oder auf seinem Kopf. Und er erinnerte mich an jemanden. Ja, er erinnerte mich an meinen Vater, als er, noch gesund, auf die Schwel-


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le hinausging und dort stand um zu rauchen. Aber wer konnte das sein?.. Plötzlich hörte ich eine mir wohlbekannte Stimme: „Schläfst du nicht?“ Papachen. Höchstselbst. Endlich hatte ich erkannt, dass auf dem Kopf meines Vaters ein Zylinder saß, überhaupt war er insgesamt recht wundersam gekleidet. Mit etwas Langschößigem, in der Art eines Fracks, die gestreiften Hosen legten sich wie eine Harmonika auf die matt glänzenden Schuhe, in der rechten Hand hielt er einen Spazierstock, ja, ja, einen Spazierstock!.. „Nein“, antwortete ich auf seine Frage. „Und du… welcher Zufall?..“ „Ach, nur so. Ich bin zu Besuch gekommen.“ Er stand da, den Kopf leicht auf die Seite geneigt und klopfte mit seinem Spazierstock leise auf den Boden. „Nun, wie ist es dort bei Euch?“, fragte ich. „Nicht schlecht. Absolut nicht schlecht. Viel besser als ich erwartet habe“, antwortete er schnell, es war klar, dass er auf so eine Frage vorbereitet war. „Ach, hast du irgendetwas erwartet? Irgendwie bezweifle ich das…“ „Woher willst du wissen, ob ich was erwartet habe oder nicht? Wenn ich mich recht erinnere, haben wir uns über diese Themen ja nicht unterhalten.“ „Quatsch“, sagte ich. „Einen Dreck hast du erwartet. Dann brauchst du mir davon auch nichts zu erzählen.“ Wir schwiegen. „Na, und wie ist es dort bei Euch?“, fragte ich erneut. „Baden alle in ewiger Seligkeit im Licht?“ „Nun ja, das kommt vor, dass wir auch baden. Aber insgesamt ist es einfach nur ruhig. Ich würde sogar sagen: einfach nur angenehm.“ „Und jeden Ankömmling kleiden Sie so ein?“ „Wieso ‚einkleiden’, jeder sucht sich seine eigene Kleidung und seine Stellung aus. Nach seinem Geschmack und in Übereinstimmung mit seiner Vorstellung von Eleganz und vom Schönen.“ Fast musste ich lachen. „Das einzige, was man dir nie vorwerfen konnte, war, dass du lügst. Hier hast du nie gelogen. Hat man dir das dort beigebracht? Eine ehrenwerte Institution, da kann man nichts sagen…“ „Aber ich lüge nicht.“ „Aber natürlich! Du willst sagen, dass du dir selbst diesen dämlichen Zylinder und diesen Spazierstock ausgesucht hast? Du hast doch nie gewusst,


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wie die überhaupt aussehen! Genau so, wie du dir nie eine Vorstellung davon gemacht hast, was ästhetisch ist…“ Es schien, als ob ihn mein ironischer Ton ein wenig stutzig machte. „Du verrennst dich“, entgegnete er. „Du sprichst über etwas, von dem du nicht die geringste Ahnung hast. Nach deiner Auffassung konnte ich überhaupt keine Vorstellung vom Schönen haben… So ist es aber nicht. Ich habe schließlich in meinem Leben auch so allerhand gesehen, das kannst Du ja wohl nicht bestreiten. Und unter dem, was ich in meinem Leben gesehen habe, war eben manchmal auch Schönes und Elegantes… und ausgesucht Raffiniertes… Ja, ja, lach nicht. Und auch, wenn ich darauf nicht geachtet haben soll, was aber nicht so ist, wenn ich dem auch keine Bedeutung beigemessen habe, ich habe das alles gesehen. Zwar nur mit dem Rande des Auges, aber eben doch gesehen… im Kino, im Fernsehen…, irgendeine zufällig gesehene schöne Verpackung zum Beispiel; Geschirr – erinnerst Du dich an die zwei alten Teller?.. „Die du zerschlagen hast, als Du besoffen warst. Einen auf meinem Kopf“, bemerkte ich nebenbei. „Und ich rede schon gar nicht von der Natur“, fuhr er fort, ohne auf meinen Einwand zu achten. „Welch eine Schönheit, welche Erhabenheit!.. Die Dörfer, Blumen, Tiere!.. Berge! Ich war in meiner Jugend schließlich in Georgien. Dort geht alles. Alles fügt sich aus verschiedenen Details zusammen, aus Splittern, Erinnerungsfragmenten, man vergisst nichts… Natürlich ist es schwierig, mich mit irgendeinem Künstler oder Sammler zu vergleichen, einem Liebhaber des Schönen, aber, das sage ich Dir, der Unterschied ist insgesamt gar nicht so groß. Der Unterschied besteht nur darin, dass er das Schöne sieht und weiß, dass es schön ist, und ich es sehe und es nicht weiß. So ist es also noch nicht ganz klar, wer mehr Glück gehabt hat – er oder ich. Er kennt das alles schon, aber für mich ist alles neu und frisch. So ist das. Und Du hast vermutlich gehofft, dass ich in der Hölle schmore, oder?..“ „Und wie geht es Mutter? Siehst Du sie dort?“, fragte ich und spürte, wie es mir die Kehle zuschnürte. „Nein, wir sehen uns nicht.“ „Gott sei Dank. Das heißt, dass dort Henker und Opfer getrennt sind… Wenigstens dafür danke ich.“ „Du redest Unsinn. Es gibt dort weder Opfer noch Henker, wir treffen uns nur deshalb nicht, weil wir darin absolut keine Notwendigkeit sehen. Ich nicht, sie nicht.“


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„Also gut“, sagte ich. „Berge, Teller und Verpackungen haben sich bei Dir zum Schönen zusammengefügt. Und zu was haben sich Dein trunkener Radau, Deine unflätigen Schimpfereien und das Hinauswerfen von Mutter und mir auf die Straße zusammengefügt… und die Splitter eben dieser Teller?“ „Aber es gab doch gar keinen trunkenen Radau.“ „Wie das? Gab es nicht?“ „Gab es nicht.“ „Klasse! Und was hat es gegeben?“ „Nichts hat es gegeben. Es gibt nichts. Auch Dich gibt es nicht. Es gibt nur mich.“ „Warum zum Teufel bist Du dann hier bei mir aufgetaucht?“ „Ich bin überhaupt nicht aufgetaucht. Das ist ein Traum. Nur ein Traum. Und rate mal wessen.“ „Aha. Jetzt fängst Du also an, mir die Geschichte von dem bescheuerten Chinesen und seinem bescheuerten Schmetterling unterzujubeln? Danke, kein Bedarf.. Damit kannst Du bitte zu Sawitskij gehen.“ „Aber ich habe gar nicht vor, Dir irgendetwas unterzujubeln, wie Du es ausgedrückt hast. Warum sollte ich? Du bist doch schließlich selbst genau dieser bescheuerte Schmetterling.“ „Meinetwegen. Gut. Verpiss Dich“, sagte ich und drehte mich auf die andere Seite, mit dem Gesicht zur Wand.

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Sergej Tschetwertkow

Heimkehr Für zwei Männerstimmen, eine hoch, eine tief Hoch: Tief: Hoch: Tief:

Hoch: Tief: Hoch: Tief:

Hoch: Tief:

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Als er vom Besäufnis kam… kaum lebendig, halb-verrückt… … da trafen ihn die zwei Frau und Sohn… Bleib stehn, bleib stehn: Als er vom Besäufnis kam kaum lebendig, halb-verrückt… … da trafen ihn die zwei Frau und Sohn… Nun bleib schon stehn!.. Als er vom Besäufnis kam… Was soll ich jetzt sagen? Oh mein Gott!!!.. Als. Er. Vom Besäufnis. Kam. Halb-verrückt. Kaum lebendig. Was fühlte er denn da? Welche… Von der Finsternis verblüfft er war?.. Ge-nau! Verblüfft durch Finsternis. Noch genauer – von der Stummheit alles dessen, was ihn so umgab, was war, und sang und kicherte… …schluchzte und rühmte und ängstigte… …und nicht nachließ in keinem Moment… seitdem er zum Besäufnis ging. Und so ging er… Und so ging er. So wie immer seelenschwer… …auf dem Boden liegend spürte er Wie alles sich in ihm versteckt.


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Tief: Hoch: Tief: Hoch: Tief: Beide:

Hoch: Tief: Hoch: Tief: Beide:

Tief: Beide:

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Noch erstarb nicht die Bewegung in diesem Abgrund… … Hölle? Unterwelt?. … wo er in tiefem Nachdenken fast ganz zwei Monate verbracht. Dann stand er auf; die Wand berührend, ging in die Küche, hin zum Tisch… Sch-schrecklich waren dort die Wechsel, so wie er sie nun erblickte! Zur Rasur vor Schreck er sich entschloss; schlagend den Schaum mit dem Pinsel, schnell schauend in die Gesichter des Sohnes, der Frau, nur an eines er dachte: Wohin verkriechen? Wo sich verstecken, verbergen? Wie nur verschwinden, sich auflösen? Oder den ew’gen Schlaf beginnen… Des Schicksals ewige Heimtücke in vollem Maße er spürte – durch die trunkenen Quälereien schleppte er sie alle mit! Wie – er wusst’s nicht, aber schleppte. Und diese unzücht’ge Erfahrung ein Mal ganz schrecklich hinterließ! Und irgendeines gift’gen Flüsterns… Ach, übrigens, wes Flüstern war’s denn? Gedacht, Komödien zu sprengen… Na bestens… Also, irgend’nen Flüstern: flüsternd „Wie früher kann er nicht mehr we-erden…“… … er zittert wie zweihundertzwanzig, oder vielleicht noch mehr… Oh, mein Gott! Schneller – verstecken und verschwinden!.. Schlüssel und Geld!..


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Hoch: Tief: Hoch: Tief: Beide:

Hoch: Tief: Hoch: Tief: Hoch: Tief: Hoch: Beide:

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Alles klar! Los!.. Auf der Straße schweißgebadet vier Werst er legt zurück sehr schnell. Durch die Stadtrandmüllhaufen die Umleitung durchlief er… Und die Welt, die ihn umgibt zieht ihn ständig immer tiefer ins Chaos, wundersam geordnet, wo er schon lange Zeit nicht war. Im schläfrigen Rascheln des Herbstes die Wolken, herausgefüttert, flogen nach Süd – wie eine Herde; dorthin bewegte sich ein Fluss… Wie Blätter Leiden niedersanken, und Müll verbrannte zu Asche; in allem sah er nur das Schicksal, und dieses Glück bestärkt sein Tun als schlüge Lebensraum man vor: hier hast du Freiheit, hast du Frieden – mit Körper und Seele nimm sie an, und leb im Einklang mit dir selbst… Wie ein Betrunkener er schwankte… Seligkeit ihn überschwemmte… Vom Kopfe an ihn überdeckte!.. „Mehr, mehr!“, die Seele flüsterte… Der Schamlosen war’s nicht genug… Und so zu Tränen trieb man ihn… So eine Freude ihn erfasste!.. Dem Trunk erneut er sich ergab!!! Fröhliches Lachen Nun, bis zu unserm nächsten Mal? Na sicher doch…, pass auf dich auf… Nachdem Sie sich die Hände gegeben haben, gehen sie auseinander.


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Vladimir Truchnin, Irina Poltorak

Stadtszenen Ein Journalist und ein Beamter gehen die Stra Straße entlang. Beamter:

Journalist:

Beamter:

Journalist: Beamter:

Journalist: Beamter:

Wir freuen uns, Sie hier zu sehen. Was führt so einen berühmten hauptstädtischen Journalisten hierher zu uns, in die Provinz? Ich habe erfahren, dass in Ihrer Stadt eine interessante Tradition entstanden ist: Alle alten Möbel auf die Straße hinaus zu werfen – so wie in Italien zu Neujahr. Das soll Glück bringen! Man muss öfter die alten Möbel hinaus werfen und neue kaufen. Und das nicht nur zu Neujahr sondern an jedem beliebigen Tag. Warum? Damit man mehr hat von diesem na... Glück! Und überhaupt nähern wir uns so mehr an Europa an! Hm... ja... Leise, sieht sich um. Ja und unser Bürgermeister – ist der Besitzer der Möbelfabrik... Direkt vor ihnen ffällt ein Stuhl auf die Stra Straße. Der Journalist erschrickt. Oh! Hier muss man ja mit Helm durch die Stadt laufen! Was fällt Ihnen ein, das ist verboten! Leise, sieht sich um. Der zweite Bürgermeister ist der Besitzer des städtischen Krankenhauses.


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Auf der Blutspendestation liegt ein Spender, die Krankenschwester sticht ihm in die Vene. Blutspender: Schwester! Sagen Sie, Blut spenden, ist das etwa gefährlich? Schwester: Spenden Sie etwa zum ersten Mal? Keine Angst, der Mensch hat ungefähr fünf Liter Blut, und wir entnehmen Ihnen nur 300 Milliliter. Entspannen Sie sich, Sie könnten sogar ein Nickerchen machen Das Handy der Krankenschwester klingelt, sie nimmt ab und geht auf den Flur. Schwester: Galja? Grüß dich, von dir hab ich ja schon ewig nichts mehr gehört. Wie geht’s? Und du? Und er? Und du? Das ist ja schrecklich! Das musst du mir ausführlich erzählen! Eine halbe Stunde später kommt von unten empört ein Arzt angelaufen. Arzt: Sind Sie verrückt geworden? Was ist denn hier los? Sie überschwemmen uns ja! Das ist schon ein ganzes Meer! Schwester: in den Hörer Oh, wir haben uns wohl verquatscht! zum Arzt Nun übertreiben Sie aber – ein ganzes Meer! Das sind maximal fünf Liter...


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Natalja Simisinowa

Im Boot Oh mein Gott, was für ein abscheulicher Geruch in diesem Krankenzimmer. Die stinkende Luft erschlug einen, sowie man die Krankenhausschwelle übertrat. Das war eine giftige Mischung – dick und zäh. Und es roch hier weder nach Blumen noch nach grünem Laub (eigenartig, alle Fenster und Balkontüren waren doch weit auf), Regen oder sonnenerwärmter Erde. Sondern nach Urin, einer aufdringlichen Mischung aus Tropfflaschen, Schweiß, faulender menschlicher Materie und Angst. Ja, die Angst, genauer einer ihrer Abstufungsgrade – das Grauen, besaß auch einen Geruch, stellt sich heraus. Im Übrigen schenkte das gesamte Personal, das von Krankenzimmer zu Krankenzimmer lief, diesem Geruch keinerlei Beachtung. Alle hatten sich so an ihn gewöhnt, dass sie an Feiertagen im Arztzimmer auf ihr Wohl anstießen und ein bisschen was dazu aßen, an gewöhnlichen Tagen Tee zu einfachen belegten Broten tranken, und danach wieder losgingen, ihre Pflichten, derer sie überdrüssig waren, zu erfüllen. Zwei alte Männer lagen im Zweibettzimmer Nummer 18 der neurologischen Abteilung des Militärkrankenhauses. Beide nach einem Schlaganfall: der Bootsmann, Obermaat, nach einem etwas schwererem, der Major des medizinischen Dienstes nach einem etwas leichterem. Dem Major sollte die Pflegerin Natascha einen Einlauf machen. Seine Tochter hatte, als sie der Pflegerin die Griwna gab, besonders auf dem Klistier bestanden, selbst schämte sie sich, die Pflegerin hatte bislang keine Zeit gefunden, und als sie sich auf einmal erinnerte und ins Krankenzimmer kam, schliefen die beiden Alten längst. Die Pflegerin stand nachdenklich ein, zwei Minuten auf der Schwelle, horchte auf das Schnarchen und ging dann gähnend ins Wachzimmer. Für ihre vermaledeite Arbeit, Toiletten und Fußböden putzen, Klistiere und Schieber verabreichen, Bettwäsche unter den liegenden Patienten wechseln, bekam sie 150 Griwna im Monat, deshalb brauchte sie das Geld, das ihr zugesteckt wurde, so nötig, es half ihr, die Familie, die aus Mutter und zwei Töchtern bestand, so gut es ging zu unterhalten. An ihre Arbeit hatte sie sich gewöhnt und schloss schon nicht mehr die Augen beim Anblick der dünnen


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Greisenhintern und kraftlos herunterhängenden Geschlechtsteile. Früher einmal, in unvorstellbarer Ferne, hatte sie davon geträumt, Ärztin zu werden und in einem raschelnden weißen Kittel mit einem netten schwarzen Köfferchen von Haus zu Haus zu gehen, mit dem Hörrohr die Lunge abzuhorchen und Rezepte auszuschreiben. In dieser Ferne schien die Arbeit schön, sauber und geheimnisvoll. Damals hatte sie einen dicken blonden Zopf und Grübchen auf den Wangen. Jetzt war vom Zopf nichts mehr übrig, die Grübchen waren verschwunden, und das Leben floss trostlos dahin. Im Wachzimmer legte sich Natascha auf das Sofa, und bevor sie einnickte, versprach sie sich fest, dass sie gleich morgens dem Alten aus der Achtzehn den Einlauf machen und ihn auf den Topf setzen würde. Dann träumte sie von der Liebe, die noch kein Gesicht und keinen Namen hatte, aber die sie sich so sehr wünschte. Und mit diesem süßen Traum schlief sie ein... … Die Alten in der Achtzehn wachten gleichzeitig vom leisen Knarren auf, als Natascha die Tür schloss, und starrten eine Zeitlang in die von dünnen Lichtstreifen aus dem Korridor durchschnittene Dunkelheit. „Michailytsch, schläfst du?“, fragte der Bootsmann heiser. „Nee“, antwortete der Major. „Und wat wollen wir bis zum Morgen machen? He?“ Da sie in den vorangegangenen Nächten fast alle Themen – wer wo gedient hat, auf welchen Schiffen usw. – abgearbeitet hatten, und über Politik zu reden keine Lust hatten, schwiegen sie lange. „Nicht schlecht dieses Mädel, die Natascha, stimmt’s?“, sagte nachdenklich der Bootsmann. Und fügte hinzu: „Wenn man da so zehn Jahre ablässt, oder in der Jugend – hättest du so eine nicht beachtet?“ „Keine Ahnung, sie trägt eine Brille, ich mag keine Frauen mit Brille“, versteifte sich der Major. „Ich hätte sie beachtet, das Mädel ist nicht zu dünn, voll Saft und Kraft“, beharrte der Bootsmann auf seiner Meinung. Im Übrigen sprach er mit Mühe, Buchstaben verschluckend und Wörter lang ziehend. Seine Zunge gehorchte ihm nur noch genauso schlecht wie Arme und Beine. Nachdem sie über die Pflegerin gesprochen hatten, schwiegen beide eine Zeit lang. Wahrscheinlich flackerten in beiden Köpfen Bilder ihrer längst vergangenen Jugend auf, als es noch nicht nach Schlaganfall und Nachttöpfen roch. Vielleicht erinnerte sich der Major des medizinischen Dienstes daran, was für weite Hosen er ’47 trug, als er die Medizinische Fachschule abschloss,


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und wie lange er durch die Höfe gelaufen war auf der Suche nach dem Mädchen, das ihm gefiel – Nelja aus dem Medizinischen Institut. Und wenn er sie nicht gefunden hätte, gäbe es auch nicht die Tochter, die der Pflegerin das Geld fürs Klistier dagelassen hatte. Dann erinnerte er sich noch an die Donauflottille, in die er als siebzehnjähriger Bursche kam, und vor allem, wie ihn die Älteren schützten, indem sie ihn nicht aus dem Kielraum ließen, und an die fröhliche Stadt Budapest erinnerte er sich, wo sich die gesamte Mannschaft die Gonorrhö eingefangen hatte, die gesamte Mannschaft, außer ihm und zwei weiterer Grünhörner, die an den Budapester Prostituierten noch kein Interesse hatten. Vieles kam den Alten in den Sinn, während sie in der tiefen Dunkelheit der heißen Julinacht in ihrem stinkenden Zimmer lagen. „Wer zum Teufel braucht so ein Leben“, sprach der boshafte Bootsmann bissig aus der Dunkelheit, „anstatt gleich, eins fix drei, zu sterben, muss man sich vorher noch quälen. Wofür, he?“ Für eine kurze Zeit schwiegen beide, stellten sich eine Sekunde lang vor, wie sie im Grab liegen. Der Major schaute misstrauisch alle Umstehenden an: Frau, Tochter, Enkelin, Urenkel, Schwiegersohn. Er sah die Gesichter von Freunden und Nachbarn. Sieht aus, als ob alle gekommen wären. Er betrachtete die Blumen und die Aufschriften auf den Kränzen. Dass er still daläge, konnte er sich nicht vorstellen. Immer schien ihm, als ob er den Kopf hin und her drehen würde, um die dicht um ihn gedrängten Leute sehen zu können. „Weißt du“, fuhr der Bootsmann fort, „eine Beerdigung kostet nicht weniger als anderthalb Tausend Griwna, ich weiß das, ich habe nachgefragt, das sind fast dreihundert Dollar. Zu Hause haben wir jetzt nicht soviel Geld, das heißt, meine Frau muss sich etwas leihen, aber wovon zurückzahlen? Und wie viel sie fürs Krankenhaus ausgegeben hat: Die Medikamente haben schon dreihundert Griwna gekostet, und kein Ende ist in Sicht, und dann noch der Tropf – ein Fünfer jeden Tag, und Klistiere zu je vier. Da kannst du dir ausrechnen, in was für einen Schlamassel wir alle geraten sind. „Ja zum Teufel mit ihnen, soll uns doch der Staat beerdigen“, winkte der Major unbekümmert ab. „Bis die dich beerdigen, wirst du so stinken, dass man auf einen Kilometer nicht an dich rankommen kann...“ Wieder verfielen sie in Schweigen. Im Dunkeln zu liegen wurde immer schrecklicher. Dieses Liegen versprach in der Perspektive nichts Gutes. „Hör mal“, fing der Bootsmann wieder an, „und wenn man jetzt was


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bräuchte, da kannst du klingeln und klingeln – da kommt niemand. Alle schlafen.“ Der Bootsmann wusste, wovon er sprach: Vor einer Woche hatte er sich im Dunkeln auf die Toilette geschleppt, war gestürzt und hatte da bis zur Morgenvisite auf dem Fußboden gelegen. Jetzt hatten sie Angst, nachts zu gehen, neben jedem stand auf einem Stuhl ein kleiner Schieber, so ähnlich wie eine Gießkanne mit breiter Tülle. „Ja“, bestätigte der Major. „Stille wie auf einem U-Boot. Ob du schreist oder nicht, niemand kommt. Also müssen wir stark bleiben und auf den Morgen warten.“ Die Dunkelheit, die sie einhüllte, erinnerte wirklich an die dicke Hülle eines U-Bootes. Es war unheimlich, stickig, ein Anfall von Klaustrophobie begann. Und um die Ängste zu zerstreuen, die aus der Dunkelheit kamen, schaltete der Bootsmann das Radio ein. „Und nun zum Wetter“, sprach einschmeichelnd eine männliche Stimme. „Morgen wird es in Odessa trocken bleiben, der Himmel ist wolkenlos, die Temperaturen erreichen 27-28 Grad, die Wassertemperatur...“ Der Bootsmann kurbelte böse weiter, auf eine andere Frequenz. „Hör mir zu, du du, Hör mir zu, u-u“, überschlug sich die erotische Stimme einer Sängerin. Die Welt hinter den Fenstern war nur für Junge, Starke und Gesunde. Für Alte ist auf dieser Welt kein Platz mehr. Das Leben endete traurig in einer Atmosphäre absoluter Feindseligkeit und eigener Nutzlosigkeit. Vielleicht gab es irgendwo hinter den Ozeanen glückliche Achtzigjährige, die in bequemen Sesseln auf den Veranden weißer Häuser sitzend Cola tranken und den Sonnenuntergang genossen. Oder um die Welt reisten. Oder in einer Atmosphäre von Freundschaftlichkeit und herzlichem Entgegenkommen lebten. Und für alles war genug Geld da – sowohl für Medikamente als auch für Reisen und anständige Beerdigungen. „Du weißt auch nicht, für welchen Sch... wir unser Blut vergessen haben“, fragte heiser der Seemann. „Und die gute Laune verlässt euch nie“, presste das Radio hervor. „Die Laune ist gut, wir sinken auf den Grund. Die Flutventile öffnen“, sagte der Major mannhaft. Und der dicke, halbgelähmte Bootsmann sprach in der dichten Dunkelheit plötzlich mit klarer Stimme vom Nachbarbett: „Auf Deck, Kameraden, macht euch bereit...“


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Der Major auf dem Nachbarbett, nahm schwach den Ton auf: „Heraus zur letzten Parade...“ „Die stolze ’Warjag’ ergibt sich nicht dem Feind“, schrieen beide, und damit sie leichter und lauter schreien konnten, mussten sie sich aufsetzen. Und der Text der ’Warjag’ drang ins Nachbarzimmer und weckte den Kapitän zur See: „Es flattern die Wimpel und klirren die Ketten“, sangen nun schon drei Krankenzimmer. „Herauf, die Anker gelichtet“, reihten sich die U-Boot-Leute aus der Vierzehn ein. „Zum Kampfe in Reihen die Waffen klar, todbringend in der Sonne blitzen.“ Und weiter, weiter wurde die ’Warjag’ fort getragen durch dünne Wände und Gemeinschaftstoiletten. „Lebt wohl, Kameraden, mit Gott, hurra!“ dröhnte es durch alle Krankenzimmer. „Uns ruft das brodelnde Meer! Wer hätte es gestern noch gedacht, dass heut in den Wellen wir sterben...“ Die ’Warjag’ sangen Flieger und Steuermänner, Panzerfahrer, Spionageabwehrleute und Infanteristen. Und schon wiederholte die gesamte Abteilung die erste Strophe. Die, die stehen konnten, gingen an die Türen und öffneten sie, die anderen sangen im Sitzen. Nur ein paar Menschen, die am Tropf lagen und nicht bei Bewusstsein waren, sangen nicht mit. Übrigens ist bis zu einem bewusstlosen Fregattenkapitän doch etwas vorgedrungen, weil irgendwo aus dem schwarzen Loch, in das er schon lange gefallen war, auf einmal grünes Gras auftauchte; er ging durch das Gras und sah ganz klar, als ob er daneben stünde, seine Uniformhose und die weiße Uniformjacke mit den Schulterstücken, an der Seite baumelte der Dolch, und unter der Schirmmütze schaute die Haartolle hervor. Und ganz am Ende plätscherte das blendend blaue Meer, auf dem ein Zerstörer lag und auf ihn wartete, und mit Flaggen signalisierte, he Bruder, beeil dich, es geht los. Und dann beruhigte sich die ganze Abteilung, wie auch das ganze Krankenhaus, und die Alten schliefen mit verweinten Gesichtern ein. Von oben erinnerte die Abteilung mit ihren erleuchteten Fenstern an ein Schiff, das


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mit unwahrscheinlicher Geschwindigkeit eine riesige Menge Alter an Bord in unbekannte und traurige Weiten brachte. Nur das leise Lachen und das heiße Geflüster der neunzehnjährigen Krankenschwester Lidotschka, die sich zu dieser mitternächtlichen Stunde im leeren, dunklen Zimmer Nr. 2 dem sympathischen Seemann Serjoscha hingab, sorgte für eine Dissonanz und störte diese gleichmäßige und unablässige Bewegung in schwarze Fernen und weckte verrückte Hoffnungen und Fantasien in den alten Köpfen, die in den Nachbarzimmern schliefen. Es war ja Sommer, alle Fenster und Türen standen weit offen, und das leidenschaftliche Stöhnen des jungen Liebespaares wurde durch die ganze Abteilung getragen...

„In ungewöhnlichen, oft drastischen Bildern und in bittersüßem Grundton schildert Kozyrew eine Diktatur, wo der Imperator den Titel eines Erretters trägt ... Die Anspielungen auf das faschistische Deutschland sind deutlich – genauso wie die Parallelen zur stalinistischen Sowjetunion. “ Barbara Klett, NDR-Kulturjournal

Eine satirische Trouvaille aus dem Jahr 1936

Michail Kozyrew (1892-1942) debütierte 1921 mit der Erzählung „Krokodil“. und wurde als satirischer Autor rasch populär. 1930 wurde Kozyrew aus dem sowjetischen Schriftstellerverband ausgeschlossen und 1931 als „bourgeoiser Schriftsteller“ gebrandmarkt. Seiner Publikationsmöglichkeiten beraubt, schrieb er fortan weitestgehend für die Schublade. „Die fünfte Reise Lemuel Gullivers“ ist eines seiner letzten Werke, es sollte 1936 erscheinen. Dazu kam es nicht – der Autor verschwand im Gulag. 1942 starb er im Gefängnis von Saratow.

Aus dem Russischen und mit einem Nachwort von Michael Düring

Michail Kozyrew Die fünfte Reise Lemuel Gullivers

Roman, 160 Seiten, 2005 EUR 14,50, SFR 26,50 ISBN 3-924652-33-3

PERSONA VERLAG Weberstraße 3, D-68165 Mannheim www.personaverlag.de


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Michail Zhilin

Der Wagon Diese Ereignisse sind frei erfunden, Übereinstimmungen bereinstimmungen daher rein zuf zufällig. Kolja trank. Viel, aber nicht regelmäßig. Viele luden Kolja ein. Und ihn kannten praktisch alle. Auch Kolja kannte viele. Und dann kannte Kolja noch die Stadt sehr gut, in der er lebte, er kannte sie aber auf eigene Art. Einer kennt die Geschichte der Stadt, ein anderer weiß, wo sich welche Straße oder welches Denkmal befindet. Doch all dies war für Kolja wie ein leeres Glas. Eigentlich sieht man alles, aber drinnen ist Leere. Doch es musste nur jemand nach dem Weg fragen und sagen, welcher Ausschank oder welche Bierkneipe sich neben dem Gesuchten befindet, Kolja hatte gleich eine Vorstellung. Es bedurfte nicht einmal des Namens - die Beschreibung des Interieurs reichte, und Kolja erklärte augenblicklich, wie man dort hinkommt. Dabei nannte er gleich einige Alternativen für die verschiedenen Tageszeiten. Übrigens, Kolja arbeitete als Docker im Hafen von Odessa. Aber das ist eine andere Geschichte. Diese Geschichte erzählt jeder, dem sie gerade einfällt. Doch wem sie gerade nicht einfällt, der schweigt davon. Aber wenn du irgendein Lied nicht singst, wird es wenigstens nicht schlechter. Ein Docker, das ist euch nicht Rabinowitsch, der am Telefon die Beatles singt. Deshalb beginnt unsere Geschichte mit Schweigen. Ohne ein Wort zu sagen, trank Kolja im Schewtschenko-Park mit Kumpanen eine Flasche Stolitschnaja-Wodka und sah auf den Hafen hinunter. Der Quarantänehafen lebte sein eigenes, nur den Hafenarbeitern verständliches Leben. Aber wenn im Hafen die Lichter angingen, wurde dieses Leben vertrauter und verständlicher, weil alles schöner wurde. Wie soll man nicht trinken, wenn man von so etwas umgeben ist?


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Also, Leere drang in das Flascheninnere. Die Morgendämmerung aber überschritt die Stadtgrenze und flog mit Lichtgeschwindigkeit über die Häuser hinweg, nach und nach den schwarzen Umhang ablegend, den sie gewöhnlich für die Nacht überwirft. Und als es ganz hell wurde, fand Kolja sich auf einer Bank unter einer noch brennenden Laterne wieder. Dort, wo es heller ist, ist es auch leichter, etwas zu finden. Bis zur Schicht blieb keine Zeit mehr und man musste sich beeilen. Und Kolja ging los. Lange ging er. Wie er auf das Gelände gelangte, merkte er gar nicht. Er bemerkte nur die lächelnde Tante Tanja an der Pforte. Gott gebe ihr Gesundheit und einen guten Mann. Und dann prägte es sich ein, wie er in einen überdachten, leeren Wagon gekrochen ist – um ein Stündchen zu schlafen und dann sofort zum Schiff – zum Beladen. Und dann ging’s los. Genauer gesagt, bei Kolja ging’s los, auf dem Gelände aber nur die Diesellok und ein paar Wagons. Kolja schlief, ohne zu wissen, dass er schlief. Und wenn du nicht weißt, was du tust, dann kannst du dir nicht vorstellen, wohin du gerätst. Aber praktisch alle wissen, wo du niemals auftauchen wirst. Wie schön die Parkallee oberhalb des Meeres auch sein mag, es gibt viele Menschen, denen sie nicht gefällt. Doch die Allee muss auch nicht allen gefallen, wenn auch nur deshalb, weil nicht alle dorthin geraten. Man kann sogar sagen: die Allee muss niemandem gefallen, weil sie ja nicht lebt. Räder dröhnten, Kolja aber träumte von dieser nicht lebendigen Allee und sah im Traum etwas Ekelerregendes. Schwankend ging Kolja auf dieser Allee, weil sein Traum der Traum eines Betrunkenen war und im Eisenbahnwagon geträumt wurde. Und im Eisenbahnwagon sind alle Träume unsicher – ein starkes Schwanken des Wagons und du wachst auf. Und Kolja erwachte. Sechzig Kilometer vom Hafen entfernt. Anfangs begriff Kolja gar nicht, wo er sich befand und dachte, dass man ihn einfach im Laderaum eingesperrt hatte. Stille, dunkle und geschlossene Räume ähneln einander. Doch man muss nur etwas sagen und sie werden zu ganz unterschiedlichen, weil ein Wort alles verändert. Und Kolja sagte: „Sch...“ – und begriff sofort, dass er weiß der Teufel wo ist. Als Kolja noch einmal „Sch…“ sagte, begriff er, dass er schnell eine Vorstellung davon bekommen musste, wo er sich befand, oder - wenigstens - wohin er musste.


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Das Leben bereitet Überraschungen. Je weniger du verstehst, wo du dich befindest, desto genauer begreifst du, warum du dich hier eingefunden hast. Das Verständnis der Ursachen verschärft sich besonders dann, wenn du im Zustand eines schlimmen Katers in Richtung des vermuteten Ausgangs kriechst. Das Verständnis des Lebens kommt oft zusammen mit Kopfschmerzen, und noch öfter geht es mit ihnen wieder weg. Als Kolja aus dem Wagon herauskam, verstand er, dass das Leben ihm eine harte Nuss vorsetzte. Als er sich umsah, dachte Kolja, dass man vor „Nuss“ das Wort „Kopf“ hinzufügen könnte. Aber von dem Wort „hinzufügen“ schmerzte der Kopf noch mehr. Alles andere begann von dem Gedanken zu schmerzen, dass er irgendwohin gehen musste. Von welchem Gedanken er kotzen musste, wusste Kolja nicht. Doch als er versuchte, nicht zu denken, begriff er, dass er an und für sich kotzen musste. Das beruhigte ihn. Wenn etwas an und für sich begann, dann befand sich Kolja immer dort, wo es für ihn angebracht war. Und tatsächlich, nach kaum dreißig Sekunden stand neben Kolja eine Diesellok, dessen Lokführer neugierig fragte: „Du auf Schusters Rappen, Kolja? Und leck mich doch..., was stehst du besoffen auf diesen besch… Schienen?“ Worauf Kolja antwortete, dass er ein Docker aus dem Odessiter Hafen sei, auf dass der Hafen noch dreihundert Jahre stehe und dass Lohn ausgezahlt werde. „Aus dem Hafen? Ja leck mich…!“, wunderte sich der Lokführer. „Genau“, bestätigte Kolja. „Kletter’ auf die Lok, ich muss ohnehin in den Hafen.“ Und Kolja kletterte rauf. Kolja wusste nicht, was Alpinisten sind, aber er wusste, dass es verrückte Menschen gab, die aus Langeweile auf Berge krabbelten. Und auf den Bergen gab es nichts – außer eben solchen Verrückten. Aber an diesem Tag änderte Kolja seine Meinung. Immerhin – ein Gipfel, das ist schon was! Dort sind Ruhe und Frieden. Und der Zug fährt in den Hafen von Odessa. Und der Lokführer goss ihm fünfzig Gramm ein. Und eigentlich ist alles nicht so schlimm, wie es dir scheint. Sie fuhren etwa eineinhalb Stunden. Als sie durch die Einfahrt fuhren, versteckte sich Kolja. Und zehn Minuten später motzte ihn der Vorarbeiter


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aus. Er motzte lange, und je länger er motzte, desto wärmer wurde es Kolja ums Herz. Je mehr sie motzen, desto geringer die Gefahr, dass sie einen entlassen. Und das bedeutet, dass Kolja weiterhin durch die vertraute Pforte gehen wird, von der man sagt, dass sie einen zum Menschen mache, an den Hafenkränen entlang, die die Schiffe beladen. Es wird noch so etwas geben, von dem alle wissen, über das sie aber schweigen werden, weil Lärm den Hafen bei der Arbeit stört.

Das Kleid Mir scheint, dass ich irgendetwas vergessen habe oder gerade vergesse. Aber ich weiß, womit ich anfangen muss… Ich muss mit der nächtlichen Straße anfangen, die ich allein fahre. Mit großer Geschwindigkeit. Die Bäume fliegen nur so vorbei. Die Scheinwerfer entreißen der Dunkelheit sich ähnelnde Baumkronen, ganz so, als träumte irgendjemand ein und denselben Traum. Und wenn du hinter dem Steuer an einen Traum denkst, und dir es angenehm ist, daran zu denken, dann kann es passieren, dass du nicht da ankommst, wo du eigentlich hin wolltest. Der Traum wird zu Musik, die man nicht hört, aber von der man gehört hat. Ein Blasorchester kann dich hinter der Kurve erwarten, in einem entgegenkommenden Auto fahren, es kann einfach unter einem großen Baum schlafen und in dem Moment aufwachen, in dem du einschläfst. Deshalb sollte man es der Stille in keinem Fall erlauben, dir monoton irgendwelche Zahlen ins Ohr zu flüstern… Je höher die Geschwindigkeit, desto größer die Stille, die dir fremd ist… Je höher die Geschwindigkeit, desto eher ähnelt die Stille dem Schlaf… Und wie im Schlaf drehte ich mich um und sah auf der Straße ein Mädchen in einem weißen Hochzeitskleid liegen. „Oha.“ Irgendwann einmal hatte mir die Nachbarin gefallen und ich wollte sogar heiraten. Ich war schon kurz davor, in meinem Unterbewusstsein wurde schon der Hochzeitsmarsch von Mendelssohn gespielt. Aber meine Nachbarin spielte das Spiel „Ohne mich kannst du nicht“. Und so blieb ich im letzten Moment stehen, ich sagte mir einfach „Stop“.


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Aber jetzt schrie ich mein Auto an – „Stop“! Mit mir zusammen quietschten die Reifen, die sich am Asphalt festkrallten wie am Rande eines Abgrunds. Die Bremsklötze kreischten. Zusammen ergab dies ein ganzes Orchester. Am Wegesrand stand gleichsam Chopin und dirigierte es. Einem Mann fällt es sehr schwer anzuhalten, wenn in seiner unmittelbaren Nähe ein Mädchen liegt, aber mir gelang es. Wenn du über die Piste rauschst, dann verfolgt dich die Angst, aber sie erreicht dich nie. Aber sobald du scharf vor einem Hindernis bremst, dann erwischt sie dich. Sie überrollt dich wie eine Welle. Und je schneller du gefahren bist, umso stärker ist die Welle. Meine Welle war hinreichend stark. Sie überschüttete mich von Kopf bis Fuß und innerhalb einer Sekunde war ich vollständig durchnässt, so als wäre ich mit dem Kopf im Wasser untergetaucht und verstünde nicht wo die Oberfläche ist und wo der Grund. „Woher kommt das?“ Ich bin ganz klein und werfe Steine ins Meer. Ich drehe mich um und um mich herum ist niemand. Meine Eltern nicht. Ich bin ganz allein. Ganz und gar. Ich fürchte mich. Ich habe oft einen solchen Traum… Und jetzt muss ich aus dem Auto aussteigen und zu dem Mädchen gehen. Wissen sie wie schlimm es manchmal ist, zu einem Mädchen zu gehen? Sie ist ganz weiß und schön, aber… Wenn sie nicht so schön wäre, dann wäre alles viel einfacher. In solchen Fällen muss man das Mädchen einfach nur sehr aufmerksam anschauen und sich an einem Detail festhalten: zerknitterte Falten, Runzeln an den Augen. Irdische Details rücken uns das Bild näher, das Ideal entfernt es uns. Und ich schaute sehr aufmerksam. Sehr aufmerksam. Bis ich bemerkte, dass auf der Straße ein riesiger Blumenstrauß liegt… Nur Blumen!.. „Als hätte sich jemand von der Piste verabschiedet…“ Es entstand etwas Bedrückendes. Als hätte ich die Familienuhren in dem Haus vergessen, in das ich nicht mehr zurückkehren würde. Und ich habe keine Kraft und keine Zeit, mich zusammen zu reißen… „Wenn die Uhren stehen bleiben, werde ich mich daran erinnern, wo ich sie vergessen habe? Der Tod tötet die Zeit.“ Nachts, wenn der Wind weht, versteckt sich die Stille hinter großen Bäumen und kommt hervor, wenn der Wind verstummt. Ich saß auf der Straße, dem Blumenstrauß direkt gegenüber. Lange dachte ich nach, woran, daran erinnere ich mich nicht. Und sehr lange konnte ich nicht weiterfahren.


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Krokodile Marian arbeitete auf der Intensivstation. Er hatte nur Nachtschichten, weil er tagsüber am medizinischen Institut studierte (genauer gesagt ging er nur dorthin) und deshalb nicht auf die Intensivstation kommen konnte (genauer gesagt konnte er schon, aber nicht zur Arbeit). Auf der Intensivstation war Marian gut angesehen, während seines Dienstes schlief er üblicherweise und trank nur sehr selten. Wenn man Kranke brachte, wachte er auf, ging hinaus, um zu schauen, was es denn so Interessantes gebe. Fluchen tat er nur im Schlaf. Insgesamt für die heutige Zeit also ein sehr wertvoller Mitarbeiter. Und wenn man einen Alkoholiker im Delirium brachte, der auf das Fensterbrett kletterte, um sich herauszustürzen, dann warteten zur Lösung des Problems alle auf Marian. Dieses Bild verschärft sich dann, wenn dir niemand etwas erzählt. Deshalb ruft die Intensivstation von außen betrachtet bei den Menschen den Eindruck hervor, sie sei etwas Bedeutsames und Wichtiges. Tatsächlich aber besteht die Bedeutsamkeit dieses Ortes nur darin, dass du hier sehr schnell verstehst, dass nichts Wichtiges und Bedeutsames existiert. Es reicht, auf die schmutzige Liege und das verzerrte Gesicht des Assistenzarztes zu schauen, und schon wird das Leben zu einem Korridor voller Zigarettenstummel, die verwirrte Verwandte zurück gelassen haben. Und wenn Marian zur Arbeit kam, dann warf er seinen Zigarettenstummel genau dahin, wohin sie alle anderen warfen. Das Bild des Alkoholikers im Fenster berührte etwas Geheimes, daher musste Marian aus einer löchrigen Tasche eine Flasche Wodka nehmen und sie auf den Tisch stellen. „Was ist los, Mann, komm runter!“ Marian goss Wodka in zwei Gläser. „Wir müssen triken.“ „Verf… Theater! Ich springe jetzt! Wo soll ich sonst hin? Sag mal!“ „Auf die Reise, ein russischer Brauch!“ Marian führte das Glas zur Nase, und ihm schien es, dass der Wodka nach einer noch glühenden Zigarette roch. „Das ist doch alles Scheiße! Hier ist doch alles voller Krokodile!!! Sie werden mich fressen! Sollen sie doch verrecken!“ „Was ist los mit dir, Mann, bist du das erste Mal hier? Das sind doch die Intensivstationskrokodile – sie beißen nicht.“


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„Wie, sie beißen nicht?“ Der Alkoholiker schielte nach der Flasche. „Na ja, ich sitze doch auch hier und nichts passiert.“ „Dich kennen sie ja auch.“ „Woher sollen sie mich kennen – ich bin gerade erst gekommen, und du hängst schon lange da am Fenster!“ Der Alkoholiker dachte nach. Marian trank sein Glas aus und versuchte sich vorzustellen, alles sei gut. Als ihm dies nicht gelang, stieg der Alkoholiker vom Fensterbrett und trank. Sie tranken die halbe Nacht. Dann kamen die Krankenschwestern und der Anästhesist. Dreimal fuhren sie, um Wodka zu kaufen. Für was zu Essen – einmal. Morgens, als Marian aufwachte, dröhnte es in seinem Kopf wie fließendes Wasser. Das machte ihn aufmerksam, aber als Marian sich umgesehen hatte, verstand er, dass alles in Ordnung war – er hatte nur auf der Toilette geschlafen. Als er auf den Korridor heraustrat, erblickte Marian beunruhigte Menschen – man hatte jemanden gebracht. Der Alkoholiker war nicht mehr zu sehen. Ein wenig verwirrt ging Marian auf die Intensivstation, nahm seinen Beutel und ging ins Institut. Dabei dachte er, ob während irgendeines Dienstes nicht etwas Interessantes passieren könnte.


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Sergej Syrow

Erster Fall Einmal wurde Pjotr Iwanowitsch traurig, verschiedene Gedanken kamen ihm in den Sinn und Zweifel. Schwer wurde das Leben, nichts machte mehr Freude. Warum es schlecht ist, konnte er nicht begreifen. Also ging Pjotr Iwanowitsch zum Arzt und sprach: „Ich bin dumm. Ich verstehe gar nichts. Können Sie mich nicht heilen und weise machen?“ „Warum nich? Dat jeht. Aber für wattn brauchens die Weisheit?“, fragte der Arzt, ein Doktor in weißem Kittel, weißen Schuhen, weißer Krawatte. Alles an ihm war weiß, sogar die Handschuhe in der Tasche des weißen Mantels am Garderobenhaken. „Um mit ihr zu leben. Lange genug habe ich als Dummkopf gelebt, bin durch die Welt gelaufen. Der dumme Kopf gibt keine Ruhe.“ Der Arzt sagte mit eindringlicher, professioneller Stimme: „Glauben Se mich mal als Doktor und Mensch, der davon Ahnung hat – als Fachmann sozusagen: Gerade mit Weisheit zu leben ist am schwersten.“ Aber der Patient bestand darauf, und er bekam Tabletten verschrieben, wurde ins Krankenhaus eingewiesen, Manipulationen unterworfen, Studenten sahen ihn an (und berührten sogar seinen entblößten Körper), später wurde er operiert. Als die Narben verheilten, wurde Pjotr Iwanowitsch weise, was er auch erreichen wollte. Er kam als neuer Mensch aus dem Krankenhaus – kaum wiederzuerkennen. Die erste Zeit zeichnete hoffnungsvolle Perspektiven im erneuerten Bewusstsein Pjotr Iwanowitschs, aber das war bald vorbei. Pjotr erinnerte sich an die Worte des Doktors, als er am eigenen Leibe die Schwierigkeiten erfuhr, die auf einen weisen Menschen lauern, vor allem im Innern. Sich zu vergiften oder zu erhängen erlaubte die erworbene Weisheit nicht, und Pjotr Iwanowitsch begann den Sinn des Lebens und der eigenen Existenz zu suchen, wobei er sich manchmal in Abenteuer verschiedener Art einließ. Ich könnte viel darüber erzählen, aber alle wissen auch so, wie sich ein weiser Mensch fühlt und wie es ihm ergehen kann.


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Herbst Der alte Jewgenij Fjodorowitsch Borowkow kommt jede Woche auf den Friedhof. Nein, nicht an freien Tagen, wenn die Verwandten, die ihre in die Erde versenkten Verbindungen noch nicht vergessen haben, kommen, um sich um die bekannten Gräber zu kümmern... Er kommt einfach her und spielt auf dem Saxophon traurige Melodien, Jazzstandards aus der Mitte des vergangenen Jahrhunderts... Ich habe Jewgenij Fjodorowitsch kennen gelernt und weiß viel über ihn. Dass er 54 Jahre alt ist. Dass seine männlichen Bedürfnisse nicht verschwunden sind, er mit einer zehn Jahre jüngeren Frau in wilder Ehe lebt. Sie wohnen unweit von hier, und seine Ein-Zimmer-Wohnung vermieten sie. Er hat ein Hochschuldiplom in Musik, aber wer braucht so was heute schon? Auch heute höre ich das Saxophon und gehe näher. Es ist Abend. Das Stück ist zu Ende, und ich bitte wie gewöhnlich: „Summertime, bitte, wenn es Ihnen nichts ausmacht.“ Jewgenij Fjodorowitsch spielt. Ich höre zu. Das Herz tut weh, weil der Sommer vergangen ist. Ich stehe in gelbem Laub. „Ach früher, das waren noch Zeiten...“, sagt der Musiker. „... Auf Beerdigungen spielte unbedingt ein Orchester. Damals hab ich soviel Geld verdient! Ich hab dann mal gezählt – ich hab 5000 Menschen beerdigt.“ Manchmal nennt Jewgenij Fjodorowitsch die Toten nach alter Gewohnheit zynisch „die Blinden“. „Haben Sie keine Angst abends auf den Friedhof zu kommen?“, frage ich. „Heutzutage sind die Lebenden schrecklicher...“, grämt sich Fjodorowitsch. „Warum sollte ich Euch denn fürchten?“ „Ja, tatsächlich...“, sage ich und gehe zurück, meine Parzelle ist in der fünfzehnten Reihe, Nummer 355, und ich glaube, dass niemand von den Lebenden sich noch an meinen Namen erinnert...

Nachts im Lagerhaus Nachts wandern weißliche gespensterhafte Figuren durch das Lagerhaus. Nein, das sind keine einfachen Geister. Das sind die Seelen der schlafenden Lagerarbeiter, die gekommen sind, um immer und immer wieder die Ware zu zählen. Eine furchtbare Sache – materielle Verantwortung!


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Ein Schreiben Oft bemerken die Menschen die Aufschriften nicht, die uns umgeben... Ich habe einmal ein Schild entdeckt, das an einer Schnur hing, die eine im Asphalt, Erde und Lehm ausgehobene Grube abgrenzte. Dort stand geschrieben: „Hier arbeiten!“ Ich arbeite dort und habe bis jetzt meinen Entschluss, dem Ruf des weißgrünen Schildchens zu folgen, nicht bedauert.

Ängste Wenn ich allein auf der Arbeit bin, bekomme ich häufig einen Schreck. Und ich verstecke mich auf der Toilette, und da sitze ich und habe Angst, raus zu gehen. Mir scheint, dass ich verfolgt werde. Und vor kurzem ist Folgendes passiert. Gehe ich doch abends raus, um Wasser zu holen. Es ist dunkel und windig. Und man muss zwischen einem Lattenzaun auf der einen Seite und der Steinmauer der Konservenfabrik auf der anderen Seite langgehen. Und zwischen dem Zaun und der Mauer fliegt eine weiße, schreckliche Plastiktüte. Ich dachte mir: „Wahrscheinlich verfolgt sie mich!“ Und dachte: „Ich muss ihr aus dem Weg gehen!“ Ich versuchte, ihr aus dem Weg zu gehen, aber die Tüte schlug mir ins Gesicht.

Ein Märchen Ein oder zwei Verbrecher nahmen eine Arbeit als Kesselwärter auf, das heißt als Heizer. Extra um ihre dunklen Machenschaften zu organisieren. Nein, nicht die zahlreichen Leichen in den Öfen verbrennen oder Kohle klauen. Die Verbrecher heizten als Heizer, wenn Frost war, und besonders an warmen Tagen so, dass man in den Wohnungen vor Schwüle und Hitze nicht nur die Fenster öffnete, sondern auch die Tür zur Treppe. Und die Komplizen der Heizer raubten die offenen Wohnungen aus, indem sie mit der „Methode des freien Zugangs“ eindrangen.


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Odessa weltweit Odessa ist eine junge Stadt. 1794 auf dem Reißbrett gegründet, zeichnet sich das historische Zentrum, nicht sonderlich groß, zunächst durch ein Straßennetz aus, in dem es schwer ist, sich zu verlaufen. Allerdings wird im Verlaufe einer stürmischen Entwicklung im 19. Jahrhundert aus der zunächst kleinen Ansammlung von Häusern eine bedeutende Hafenstadt, die Menschen verschiedenster Herkunft anzieht und ihnen zur Heimat wird. Darunter sind neben Ukrainern und Russen unter anderem Juden, Griechen, Türken, Serben, Deutsche und sogar Schweden. Somit zeichnet sich diese Stadt in mancherlei Hinsicht durch kulturelle Vielfalt aus – angefangen bei den zahlreichen kulinarischen Köstlichkeiten, fortgesetzt mit architektonischen Besonderheiten und aufhörend mit einer sehr quirligen zeitgenössischen Kunstund Literaturszene. Odessa ist keine gewöhnliche Stadt. Sie ist neben anderem eine Stadt der Literatur, in der zahlreiche Autoren des 20. Jahrhunderts ihre Wurzeln haben – etwa Isaak Babel, der mit einem Band von Erzählungen aus Odessa seiner Heimatstadt ein literarisches Denkmal setzte, auch wenn er dort als Jude mehr als einmal Pogrome gegen sein Volk miterleben musste. Aber auch Juri Olescha ist zu nennen, der als Kind mit seinen Eltern nach Odessa übersiedelte und in seinen Erinnerungen von der Vielfalt der Eindrücke schwärmte, die sich ihm unauslöschbar einprägten. Olescha empfand Odessa als eine westliche, europäische Stadt, mit der untrennbar überdies Valentin Katajew sowie Ilja Ilf und Jewgenij Petrow verbunden sind, die mit ihren beiden Romanen Zwölf Stühle und Das goldene Kalb, verbunden durch die Figur des „großen Kombinators“ Ostap Bender, Odessa in der Literatur verewigten und der Stadt noch einen Ruf anhängten – den der Stadt der Gauner und der (Klein)-verbrechen, wie sie in der Literatur Erwähnung finden.

Odessa ist eine europäische Stadt. Doch das europäische Odessa, von dem Olescha gesprochen hat, hat in den siebzig Jahren Sowjetherrschaft viel von seiner Anziehungskraft verloren – allerdings ändert sich dies seit einigen Jahren durch Instandsetzung der Gebäude im Stadtzentrum, vor allem durch die wiederhergestellte Oper, die seit 2005 in neuem altem Glanz erstrahlt. Überhaupt ist das Zentrum, sind die zentrumsnahen Strände, die Parkanlagen Charakteristika einer Stadt im Umbruch, und dieser Umbruch vollzieht sich seit der Wiedererlangung der nationalen Unabhängigkeit auf vielfältige Weise. Neben den erwähnten baulichen Rekonstruktionen auch im formal-administrativen Bereich. Darin ist die Sprachenpolitik von besonderer Bedeutung, insofern das Ukrainische auch in Odessa zur Amtssprache geworden ist: In Behörden, Schulen und Hochschulen wird also Ukrainisch gesprochen, während sich das Alltagsleben in den Straßen, Kneipen, aber eben auch in der Literatur, die in Odessa entsteht, zumeist weiterhin auf das Russische stützt. Á propos Literatur – Odessa pflegt den Mythos der Stadt der Literatur auf vielfältige Weise. So gibt es an der Universität Odessa einen lockeren Zusammenschluss von Studierenden, die einen Almanach herausgeben, der jungen Autorinnen und Autoren ein erstes Publikationsforum bietet. Es gibt zahlreiche Cafés, Kneipen und Ateliers, in denen Schriftsteller ihre Texte lesen, und es gibt – last but not least – den „Vsemirnyj Klub Odessitow“, den „Welt umfassenden Klub der Odessiten“, der sich seinen Namen gegeben hat, um den nach den politischen Kataklysmen des 20. Jahrhunderts in alle Welt zerstreuten Bewohnern Odessas, die vor allem nach Israel, in die USA und nach Kanada emigrierten, ein (Diskussions)-Forum zu bieten. Dieser Club ist Herausgeber zweier Periodika. Zum einen erscheinen monatlich die „Vsemirnyje Odesskie Nowosti“, die „Welt umfassenden Odessaer Nachrichten“, zum anderen wird ein im weitesten Sinne kulturwissenschaftlich und literarisch geprägter


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Almanach herausgegeben, in dem vierteljährlich Aufsätze zu Fragen der Geschichte Odessas, zur Kunst- und Kulturgeschichte sowie zur Literatur erscheinen. Zugleich werden in diesem Almanach, der den schönen Titel „Deribasovskaja-Rischelewskaja“ trägt und damit zwei für die Entwicklung der Stadt wichtige historische Personen nennt, nämlich den des neapolitanischen Generalmajors Joseph de Ribas, Statthalter Odessas bis 1797, und den des Armand Emmanuel du Plessis, Herzog von Richelieu, Statthalter von 1803 bis 1814, aber auch literarische Werke Odessaer Autoren herausgegeben – leben sie nun dort oder weltweit verstreut. Heute freilich verbindet man mit dem Titel des Almanachs wohl eher zwei der pulsierenden Einkaufsstraßen Odessas mit all ihrem Glanz und Elend… Mit der in dieser Nummer des Wiecker Boten vorgelegten Auswahl an Texten aus dem Almanach soll die Vielfalt einer sehr lebendigen, meist noch russischsprachigen Literaturszene eingefangen werden. Eröffnet wird das Heft mit der Erzählung „Pfauenschweif. Über Odessa“ von Lew Pasynkow, der versucht, ein Bild der Stadt am Schwarzen Meer an der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert zu entwerfen. Aleksandr Grinblatt ist der zweite, für dieses Heft ausgewählte Autor, seine Erzählung „Trala-lala-la“ ist ein Beispiel für sehr dichte, auf Mythen des Sowjetkontexts zurückgreifende Prosa. Es folgen zwei Gedichte von Sergej Klein sowie eine längere Erzählung von Sergej Tschetwertkow

(„Der gegen den Wind geht“), ein Text der mit Alkoholismus und einem Vater-Sohn-Konflikt ewige Themen der Literatur aufgreift, und eine „dramatische Szene“ des gleichen Autors. Tschetwertkow wird gefolgt von zwei – vielleicht – typischen Odessaer Anekdoten (Wladimir Truchnin und Irina Poltorak), während die Krankenhauserzählung „Im Boot“ von Natalija Simisinowa (sowjetische) Geschichte mit zeitgenössischem Klinikalltag verknüpft. Drei kurze Erzählungen von Michail Zhilin, die verschiedene Facetten des Alltags erfassen, ergänzen das Spektrum der Texte, das abgerundet wird durch Prosaminiaturen des bildenden Künstlers und Schriftstellers Sergej Syrow, der als einziger nicht mit dem Almanach verbunden ist, sondern seine Texte in verschiedenen Literaturzeitschriften Odessas und anderswo veröffentlicht. Die Idee zur Zusammenstellung eines Sammelbandes mit literarischen Werken aus Odessa entstand während einer Reise im Herbst 2005, auf der sich die Gelegenheit ergab, direkt mit Schriftstellern und Künstlern ins Gespräch zu kommen. Vor allem der Besuch im „Vsemirnyj klub Odessitow“ sowie die persönlichen Kontakte zu Künstlern wie Vladimir Syrow und dessen Sohn Sergej regten zur Auseinandersetzung mit diesen Texten an und führten letztlich zu ihrer Übersetzung. Odessa, ach Odessa…

Michael Düring

Angelika Janz

Richard Anders

orten vernähte alphabetien

Wolkenlesen

116 Seiten | Paperback | 10,- Euro | ISBN 3-935458-05-3

168 Seiten | Paperback | 15,- Euro | ISBN 3-935458-06-1

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Gedichte und Prosa

Über hypnagoge Halluzinationen, automatisches Schreiben und andere Inspirationsquellen


W W W . W I E C K E R - B O T E . D E | ISSN 1615-2484 | ISBN 3-935458-15-0 | 2,00 EURO

3 | Lew Pasynkow Pseudonym für Lejba Pinchusowitsch Grejschman. Arbeitete im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts für die Zeitungen „Börsennachrichten“ und „Asower Gebietsnachrichten“.

5 | Aleksandr Grinblatt Schriftsteller aus Odessa. Veröffentlicht in der Anthologie „Deribasovskaja-Rischelewskaja“.

11 | Sergej Klein Geboren 1977, Schriftsteller. Lebte sechs Jahre in den USA, jetzt in Odessa, veröffentlicht Prosa, Essays und Gedichte unter anderem auch im Internet. Bezeichnet sich selbst als Agitationskünstler („PoetKünstlerMusikerJournalist“).

12 | Sergej Tschetwertkow Lebt in Odessa, Kino- und Theaterregisseur, Schriftsteller. Drehbuchautor des Film „Secondary people“ („Vtorostepennye ljudi“), der im Jahre 2001 Premiere bei den Berliner Filmfestspielen hatte und noch im gleichen Jahr auf dem Filmfestival in Sotschi ausgezeichnet wurde.

28 | Wladimir Truchnin Autor aus Odessa, Mitglied im in den 1980er Jahren gegründeten „Klub der Odessitischen Gentlemen“, lebt in Odessa und ist dort verantwortlich für das Programm „Das Städtchen“.

28 | Irina Poltorak Autorin aus Odessa, Mitglied im in den 1980er Jahren gegründeten „Klub der Odessitischen Gentlemen“, lebt in Odessa und ist dort verantwortlich für das Programm „Das Städtchen“.

30 | Natalija Simisinowa Autorin und Journalistin aus Odessa, neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit auch caritativ engagiert, Einrichtung eines Waisenhauses in Odessa.

36 | Michail Zhilin Schriftsteller, lebt in Odessa. Seine schriftstellerischen Arbeiten wurden in zahlreichen Zeitschriften veröffentlicht, darunter auch in den USA.

43 | Sergej Syrow Schriftsteller, bildender Künstler, Ausstellungen in Odessa und St.Petersburg, lebt in Odessa. Die Übersetzungen der Texte von Tschetwertkow und Grinblatt stammen von Michael Düring. Alle weiteren Texte wurden von Raija Hauck übersetzt.


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