KARUNA KOMPASS 5/2018-19

Page 1

#5 | 2018-19 Preis: 1,50€ 100 % für Verkäufer_innen

REDEN!


2

KARUNA

In Aldous Huxleys Roman „Eiland” wird den Vögeln der fiktiven Insel Pala beigebracht, das Wort KARUNA zu rufen, um die Inselbewohner*innen täglich an Achtsamkeit und Mitgefühl zu erinnern. Aktives Mitgefühl statt passivem Mitleid brauchen wir – und das von den unterschiedlichsten Menschen: von Kindern, Theoretiker*innen, Künstler*innen, Aktivist*innen, Ingenieur*innen, Lehrer*innen, Jugendlichen, Wissenschaftler*innen, Senior*innen und Obdachlosen. Lasst uns alle zusammen darüber nachdenken, in welcher Welt und in welchem Berlin wir morgen leben wollen.


3

„Für den gesellschaftlichen Dialog braucht man eine Art Discjockey, jemanden, der anmoderiert und motiviert, auf den anderen wieder zuzugehen.“ So das Fazit von Jörg Richert, Vorstandvorsitzender KARUNA eG, nach einem Theaterbesuch. Karuna-Kolleg*innen und Jugendliche waren im Berliner Ensemble und haben sich das Stück „Auf der Straße“ angesehen. Den Bericht dazu findet Ihr – wir hatten uns ja für das Duzen entschieden – hier. Die Bühne wird zur Plattform für Schauspieler*innen und Menschen in schwierigen Lebenssituationen: Sie reden dort miteinander. Und damit sind wir beim Thema für dieses Heft. Wie wichtig das Reden ist, zeigt eindrücklich ein Gespräch mit der Psychotherapeutin Christine Broermann, die traumatisierte geflüchtete Jugendliche betreut: Heilung beginnt in dem Moment, in dem es Worte für das Erlebte gibt. Menschen, die wenig Gehör finden, brauchen eine Stimme. Eine solche ist auch Hydra e.V., die Berliner Beratungsstelle für Prostituierte. Hydra spricht in ihrem Namen und mit uns, hier, im Karuna Kompass. Die Ausstellung zum Thema ist bis Anfang Januar im Salon Berlin des Museums Frieder

KOMPASS

Burda zu sehen: Candice Breitz gibt Sexarbeiter*innen aus Südafrika eine Stimme und ein Gesicht. Ausnahmsweise reden wir auch einmal in eigener Sache. Jörg Richert nimmt Stellung zu den Debatten um den ehemalig geplanten Google-Campus, in dessen Räumlichkeiten ja nun die gemeinnützige Aktiengesellschaft Betterplace mit ihrer Spendenplattform sowie die Sozialgenossenschaft KARUNA mit Initiativen rund um Straßenkinder und Menschen in Not ziehen werden. Die Aufregung um Google war groß, über die neue Lösung wird wenig gesprochen. Die letzten Wochen des Jahres bedeuten für viele Menschen Stress. Die einen hetzen durch die Shoppingmalls, die anderen leiden jetzt besonders unter ihrem Mangel, an sozialer und ökonomischer Sicherheit. Eine besonders gute Zeit, kurz anzuhalten und miteinander zu reden. Als DJanes und DJs ein wenig Karuna, Mitgefühl, in unsere Stadt zu bringen. Eure Redaktion des Karuna Kompass


4

KARUNA

GOOGLE-HUPF IN EIGENER SACHE VON JÖRG RICHERT, VORSTANDVORSITZENDER KARUNA EG


5

KOMPASS

Zutaten für das Grundrezept: Wie backe ich einen Google-hupf? 20 g Kreuzberg 10 ml Google ( alternativ Zalando ) 1% „nur über unsere Leiche“ 40% „nö, wolln wa nich“ 50% „is mir egal“ 9% „watten hier los?“

Zubereitung: Man nehme das ehemalige Umspannwerk in Kreuzberg, acht frische Googler, wahlweise digitale Pioniere und soziale Tüftler. Dann verrühren. Google Masse abdecken, bis alles hochkommt. Jetzt aufdecken. Unverhoffte Zutaten, wie „nö, wolln wa nich“, mit der Hand versuchen einzukneten. Setzen sich bestimmte Zutaten ab und lassen sich nicht unterbuttern - vorsichtig mit einem Teelöffel abschöpfen. In diesem Fall Grundrezept verändern, jetzt Betterplace und eine Prise KARUNA einstreuen. Google setzt sich ab. Neue Masse besprechen. Alles glatt streichen und an einem warmen Ort aufgehen lassen. Tipp: Servieren Sie, nachdem alles abgekühlt ist!


6

Liebe Berliner*innen, liebe Kreuzberger*innen,

KARUNA

unser Googlehupf-Rezept hilft Ihnen vielleicht dabei, sich ein eigenes Bild zu machen, sich eigene Fragen zu stellen über das, was kürzlich für Schlagzeilen sorgte: „Der Google Campus kommt nach Protesten der Anwohnerschaft nicht nach Berlin-Kreuzberg.“ Dabei scheint es weniger von Interesse für die Journalist*innen zu sein, dass Google seine Investitionen für den Umbau, Ausstattung und Miete für die nächsten fünf Jahre des Umspannwerks von 14 Millionen Euro nun für ein Haus des sozialen Engagements spenden wird.


7

KOMPASS

Betterplace und KARUNA statt Google Campus

Ab April 2019, nach erfolgreicher Sanierung, ziehen nicht ein Google Campus, sondern die gemeinnützige Aktiengesellschaft Betterplace mit ihrer Spendenplattform sowie die Sozialgenossenschaft KARUNA mit Initiativen rund um Straßenkinder und Menschen in Not in das ehemalige Umspannwerk ein. Hinzu kommen viele andere Akteur*innen, die auf der Suche nach zeitweiser Nutzung von Räumen, Infrastruktur und Partner*innen sind. So wird Berlin ein einzigartiges Zentrum für soziale Innovation erhalten, zur Lösung dringender gesellschaftlicher Herausforderungen wie die steigende Zahl obdachloser Menschen in der Stadt Berlin.


8

KARUNA

Kiez-David gegen Google-Goliath?

Viel eher aber möchte man wissen, ob sich Google-Goliath durch Kiez-David geschlagen sieht? Haben die Anwohner*innen Kreuzbergs und Google-Gegner*innen es geschafft, Google in die Flucht zu schlagen? Ging es tatsächlich vornehmlich um die Angst vor einer Beschleunigung der Gentrifizierung im Kiez und schlimmen Folgen für die Bewohner*innen, wenn durch die Anwesenheit eines Google-Campus‘ im Herzen Kreuzbergs die Mieten steigen? Warum hingegen hat niemand gegen Red Bull protestiert, die schon seit Jahren als Global Player mit einem Umsatz von 70 Milliarden Dosen im gleichen Umspannwerk ein Berliner Domizil haben? Steht Google vielleicht stellvertretend für die Dauererregung vieler Menschen in Zeiten


9

KOMPASS

einer großen technischen Revolution? Ist Berlin eine Stadt für die Großen aus der Digitalwirtschaft, fragen sich besorgt die Wirtschaftsjournalist*innen. Bei Siemens bleibt es still

Dann, nur wenige Wochen später, die Nachricht von Siemens über einen Innovationscampus für 600 Millionen Euro in Berlin Spandau, der Geburtsstätte des Unternehmens. Geht doch rufen die einen, Berlin ist doch noch zu retten, und die anderen schlagen die Hände über dem Kopf zusammen. Sie fragen sich wohl, ob sie nicht am falschen Ende der Stadt demonstriert haben.


10

Reden statt beleidigen!

KARUNA

Einige Tage nach der gemeinsamen Pressekonferenz von Google, Betterplace und KARUNA kam es zu einer erneuten Demonstration gegen Google. „Wir feiern unseren Erfolg“, sagt ein sympathisch wirkender junger Mann und schwenkt seine Bierflasche. Zu spät bemerkt er, dass er mit Leuten von Betterplace und KARUNA spricht. Diese wollten die Möglichkeit zum Dialog suchen und mischten sich so unter die 30 Protestierenden. Dabei stürzte ein junges Paar auf einen der beiden KARUNA Vertreter zu: „Sind Sie nicht, äh, ich kenne Sie doch aus den rbb-Nachrichten?!“ Das Demonstrationspaar scheint sich schon längst sicher zu sein, jemanden von den künftigen Bewohner*innen des Umspannwerks ausgemacht zu haben. Ohne eine Antwort abzuwarten, beginnen seine Be-


11

KOMPASS

schimpfungen. Er ist erregt und lässt seinen neuen Gegner nicht antworten: „Ihr habt euch kaufen lassen“, ist einer seiner Sätze. „Ich bin hier, um mit Euch zu reden“, schaffe ich als Vertreter von KARUNA, den wortreichen Monolog zu unterbrechen, und frage: „Bist Du gekommen, um Menschen zu beleidigen, oder um mit uns zu reden?“ Die Antwort ist kurz: „Ich, ich bin nur zum Beleidigen gekommen.“ Ein anderer brummelt abseits des kleinen Wortgefechts, sichtlich darauf bedacht zu schlichten und etwas unsicher darüber, wie laut er sich äußern sollte: „Ick, also ick, hätte dit janz jut gefunden, wenn die von Google gekommen wären, ick bin nämlich Produktdesigner und naja, ick suche Arbeit. Aber dit die Wohnungen teurer werden, dit ist doch Scheiße. Muss man echt verbieten.“


12

KARUNA

Dann also, liebe Leser*innen, freuen wir uns auf Ihren Besuch ab April 2019 im Haus für soziales Engagement, denn auch wir werden mit der KARUNA KOMPASSRedaktion Teil des neuen Zentrums für Berlin werden. Ihr Jörg Richert


13

KOMPASS


14

KARUNA

EINE STIMME, VIELE KÖPFE KARUNA KOMPASS IM DIALOG MIT MARLEEN LAVERTE


15

KOMPASS Seit Jahrzehnten kämpft der Verein HYDRA e.V. gegen die Rechtlosigkeit von Prostituierten als Erwerbstätige. Seither hat der Gesetzgeber Schritte unternommen, um die Lage von Sexarbeiter*innen zu verbessern. Karuna Kompass hat gefragt: Reicht das den Betroffenen?

Wer oder was ist Hydra e.V.? Hydra e.V. ist ein Verein, der sich vor fast 40 Jahren gegründet hat. Wir setzen uns für die Rechte von Sexarbeiter*innen ein und tragen seit 1985 eine Beratungsstelle, die Sexarbeiter*innen in Berlin bei all ihren berufsbezogenen Fragen und Problemen zur Seite steht. Welches Angebot macht ihr denen, die zu euch kommen? Die Beratungsstelle richtet sich in aller erster Linie an Sexarbeiter*innen mit ihren Arbeitsund Lebensherausforderungen. Es gibt bei uns eine Orientierungsberatung für all jene, die überlegen, ob sie Sexarbeit machen möchten. Wir unterstützen bei Fragen zur Selbständigkeit, bei Absicherungen in Notsituationen wie Ansprüche auf ALG II, bei drohendem Wohnungsverlust, Zugang zur Krankenversicherung, aber auch bei der beruflichen Neuorientierung. Mit psychosozialer Beratung helfen wir Frauen auch in Gewalt- und Krisensituationen. Im Rahmen unserer aufsuchenden Arbeit ist auch unser Peer-to-Peer Projekt wichtig, bei dem Sexarbeiter*innen aus verschiedenen Ländern mit unterschiedlichen Muttersprachen in den Bordellen Workshops geben, die dem aktuellen Bedarf der dortigen Sexarbeiter*innen entsprechen. Zur Zeit sind wir dabei, ein neues Angebot aufzubauen: Das Hydra-Café wird ein offener Treffpunkt für alle Sexarbeiter*innen in Berlin.

Auch wenn wir hier von Sexarbeiter*innen sprechen, vermute ich, ganz klischeehaft, es kommen überwiegend Frauen zu euch. Wie sieht es mit männlicher Prostitution aus? Ja, wir bieten unsere Beratungsangebote vor allem cis-, aber auch trans-Frauen* an. Für männliche Sexarbeiter gibt es die Beratungsstelle subway. An uns können sich auch Angehörige von Sexarbeiter*innen wenden, ebenso wie Freier, zum Beispiel, wenn sie im Kontakt mit einer Sexarbeiter*in unsicher waren, ob die Dienstleisterin Druck von Dritten bekommt. Ein weiterer Punkt ist die Arbeit gegen Stigmatisierung, da diese den Lebensalltag von Sexarbeiter*innen massiv negativ beeinflusst. Im Jahr 2002 wurde mit dem Prostitutionsgesetz die Sittenwidrigkeit der Prostitution abgeschafft. Was hat das konkret für die Sexarbeit bedeutet? Das Prostitutionsgesetz von 2002 hat Sexarbeiter*innen Rechte gegeben: das Recht, dass der Vertrag zwischen Dienstleister*in und Freier ein rechtswirksamer ist. Das war vorher nicht der Fall; wenn Freier nicht zahlten, konnten Sexarbeiter*innen sich ihr Honorar nicht vor Gericht einklagen. Weiter wurde uns das Recht gegeben, uns sozialversicherungspflichtig anstellen zu lassen. Vorher war das nicht möglich. Leider ging dieser Paragraph an der Realität vorbei, da quasi alle Sexarbeiter*innen selbstständig sind und das Bordell so nutzen, wie andere Selbständige Co-Working Spaces. Für den Fall, dass die Möglichkeit von Anstellungsverhältnissen genutzt worden wäre, wäre außerdem das Weisungsrecht von Arbeitgeber*innen eingeschränkt gewesen: Diese hätten nur bestimmen dürfen, wo und wann die jeweilige Sexarbeiter*in arbeitet, aber nicht, was sie mit wem zu tun hat.


16

KARUNA

Und wie sieht das in der Realität aus? In der Realität, wo sich Bordellbetreibende und Sexarbeitende als Selbständige begegnen, gab es Hausordnungen, die die Sexarbeiter*in entweder akzeptieren konnte – oder sie hat sich halt einen anderen Laden gesucht. Diese Hausordnungen konnten beispielsweise vorschreiben, dass man bestimmte Praktiken anbieten muss, damit man überhaupt Räume mieten konnte. In Deutschland wurde auf diesem Weg, anders als in vielen anderen Ländern, auch die sogenannte „Förderung der Prostitution“ aus dem Strafgesetzbuch gestrichen. Das ist richtig. Vorher konnten Betreiber*innen verurteilt werden, wenn sie schöne saubere Räume mit bereitgelegten Handtüchern und Kondomen vermietet haben. Wenn das Prostitutionsgesetz für leider durchaus existierende Missstände verantwortlich gemacht wird, so ist das nicht zutreffend: Es war zu schwach, um Fehlentwicklungen in der Branche zu verhindern. Die Unzulänglichkeiten des ProstG wurden bereits in seiner Evaluation 2007 erkannt und veröffentlicht, allerdings versäumte das zuständige Frauenministerium, seiner Verantwortung nachzukommen und das Gesetz entsprechend nachzubessern.

In Berlin wurde lange um das hiesige Prostituiertenschutzgesetz gerungen. Nun ist es seit Juli letzten Jahres in Kraft. Danach müssen Prostituierte ihre Tätigkeit persönlich anmelden und sich gesundheitlich beraten lassen. Juristisch, wenn ich das richtig verstehe, sind Sexarbeiter*innen damit anderen Erwerbstätigen gleichgestellt. Habt ihr damit euer Ziel erreicht? Eine Gleichstellung mit anderen Erwerbstätigen erfolgte durch das sogenannte Prostituierten“schutz“gesetz definitiv nicht. Krankenversichern mussten sich Sexarbeiter*innen auch vorher schon, ebenso wie Steuern zahlen. Es herrscht außerdem eine ziemliche Verunsicherung. Seither kommen sehr viele Anfragen, wie und wo man sich registrieren muss, und was das eigentlich bedeutet. Hier müssen wir sehr viel Aufklärungsarbeit leisten, um die Versäumnisse des Gesetzgebers, über das neue Gesetz ausreichend zu informieren, abzufedern. Die „Anmeldung“ bei den extra geschaffenen Anmeldebehörden darf weder verwechselt werden mit einer Anmeldung beim Einwohnermeldeamt, noch mit der steuerlichen Anmeldung beim Finanzamt. Beiden Pflichten unterlagen Sexarbeiter*innen genauso wie allen anderen Bürger*innen sowieso. Die zusätzliche Zwangsregistrierung bei einer extra dafür eingerichteten Behörde, verbunden mit einem Informationsgespräch und einer vorzuweisenden gesundheitlichen Zwangsberatung, vermarktet der Gesetzgeber als „Schutz der Prostituierten vor Ausbeutung“. Nach der Registrierung erhält man einen Hurenausweis, der beim Arbeiten mitgeführt und Bordellbetreibenden vorgelegt werden muss. Wer nicht registriert ist, darf nicht mehr in Bordellen arbeiten.


17

KOMPASS

Auch hier wieder – wie sieht die Realität aus? Es wird sich vermutlich nicht jede Person gern bei Behörden registrieren lassen. Richtig. Expert*innen aus Fachberatungsstellen gegen Menschenhandel erklärten, warum die Hoffnung der Regierung, dass Betroffene von Menschenhandel sich den Mitarbeiter*innen offenbaren und ihnen geholfen werden kann, unrealistisch ist: Betroffene von Menschenhandel benötigen viel Vertrauen in eine Person, um sich zu offenbaren. Dieses Vertrauen genießen Behördenmitarbeiter*innen in der Regel nicht, schon gar nicht, wenn man befürchten muss, dann ohne Hurenausweis, also illegalisiert, arbeiten zu müssen. Tatsächlich dürfte dahinter das Bedürfnis nach validen statistischen Erhebungen stehen. Man will wissen, wie viele Prostituierte es in Deutschland gibt – wobei sich sehr viele Sexarbeiter*innen nicht registrieren können oder wollen und stattdessen in die Illegalität gehen. Da die Daten der Zwangsregistrierung automatisch ans Finanzamt weitergeleitet werden, dürfte auch die Unterstellung, Sexarbeiter*innen würden auf die gesamte Branche gesehen sehr viele Steuergelder hinterziehen, einen hohen Anreiz für den Gesetzgeber dargestellt haben.

Das betrifft nun die einzelne Sexarbeiter*in. Hat sich auch die Situation der Bordelle durch das neue Gesetz geändert bzw. haben sich die Arbeitsbedingungen der dortigen Sexarbeiter*innen verbessert? Bordelle müssen sich nun eine Lizenz holen. Die Hürden für die Erlaubnis sind sehr hoch. Gerade kleinere, von Frauen und Sexarbeiter*innen selbstgeführte Bordelle machen daher reihenweise zu. Während Großbordelle, die hauptsächlich von Männern geführt werden, kaum Schwierigkeiten haben, die rechtlichen Anforderungen zu erfüllen. Sie können ihre Etablissements mit deutlich weniger Konkurrenz weiterführen. Diese Entwicklung kritisieren wir, da sie auf Kosten von Frauen geht. Wir haben bereits die Gesetzesentwürfe als total fehlgeleitet bewertet und sehen im Beratungsalltag, wie sich unsere Befürchtungen nach und nach bestätigen. Eine Gleichstellung mit anderen Erwerbstätigen fand damit definitiv nicht statt. Was fordert ihr? Wir fordern, dass das sogenannte Prostituierten“schutz“gesetz wieder abgeschafft wird. Die Anzahl illegalisiert arbeitender Prostituierter hat massiv zugenommen. Und dadurch auch die damit verbundene höhere Vulnerabilität. Da das Gesetz nur aus Pflichten, aber keinen Rechten besteht, hat sich die Wahrscheinlichkeit, gegen Gesetze zu verstoßen und damit Bußgelder zahlen zu müssen, deutlich erhöht. Statt Geld in Registrierungsbehörden zu stecken, wäre die Finanzierung von Peer-Arbeit deutlich effektiver. Peer-to-Peer-Arbeit bedeutet, dass Sexarbeiter*innen andere Sexarbeiter*innen über ihre Rechte und Pflichten und zu Professionalisierung aufklären. International ist der Erfolg dieses Ansatzes anerkannt.


18

KARUNA

Internationalität ist ein gutes Stichwort. Im Moment ist im Berliner Salon des Museums Frieder Burda die Videoarbeit „TLDR“ („Too long, didn‘t read“) von Candice Breitz zu sehen. In dem Video äußern sich Mitglieder einer südafrikanischen NGO, in der Sexarbeiter*innen organisiert sind und fordern mit viel stimmlicher Präsenz ihr Recht. Parallel dazu hat im September eine Tagung zum Thema Sexarbeit stattgefunden, bei der du auch gewesen bist. Hast du das Gefühl, dass solche künstlerischen Arbeiten zumindest etwas zur Aufklärung über Sexarbeit beitragen? Hintergrund der Arbeit ist, dass Amnesty International im August 2015 eine Resolution verabschiedet hatte, um Sexarbeit zu entkriminalisieren. Da Amnesty International nicht die Macht hat, Sexarbeit tatsächlich zu entkriminalisieren, konnte dieser Versuch im Prinzip nicht scheitern. Die Resolution wurde allerdings massiv von Prostitutionsgegner*innen angegriffen, die eine Reihe sehr bekannter Hollywood-Schauspielerinnen für ihre Sache mobilisiert hatten. Hier wurde fälschlicherweise die Entkriminalisierung von Sexarbeit mit der Entkriminalisierung von Zuhälterei, Menschenhandel und anderen Ausbeutungen und Gewalttaten gegen Sexarbeiter*innen gleichgesetzt. Meiner Meinung nach lohnen sich die Videoinstallation „TLDR“ und die dazugehörigen Interviews mit den Sexarbeiter*innen aus Südafrika für alle, die offen sind, sich mit ihren Vorstellungen und Vorurteilen über Sexarbeiter*innen im globalen Süden auseinanderzusetzen.

Wie sieht es denn EU-weit aus? Ist die Gesetzeslage in den jeweiligen Ländern mit der in Deutschland vergleichbar? Nein, da müsste noch viel aus den Strafgesetzbüchern gestrichen werden. Hier einige Beispiele: • Frankreich verbietet die Anwerbung von Kund*innen durch das Warten auf der Straße. • Hauseigentümer*innen in Schweden gelten als Zuhälter*innen, wenn sie Sexarbeiter*innen eine Wohnung vermieten, selbst wenn ihnen diese nur zum Wohnen und nicht zum Arbeiten dient. Sexarbeiter*innen in Schweden stehen damit mit einem Fuß in der Wohnungslosigkeit, sollte ihr*e Vermieter*in von ihrem Beruf erfahren. • Das Führen von Bordellen ist in Frankreich, Schweden und Großbritannien verboten. Dabei sind Bordellbetreibende nicht automatisch Ausbeuter*innen, im Gegenteil: Bordelle sind die Orte, wo Sexarbeiter*innen geschützter arbeiten können als auf dem Strich oder bei Haus-/Hotelbesuchen. Diese Kriminalisierungen schaden den Lebensbedingungen von Sexarbeiter*innen. Amnesty International hat eine ausführliche Studie gemacht und ist zu dem Schluss gekommen, dass die Einhaltung der Menschenrechte von Sexarbeiter*innen in Ländern, wo Sexarbeit entkriminalisiert ist, deutlich besser gewährleistet ist als in Ländern, in denen Sexarbeit kriminalisiert wird. Dann sag uns doch bitte zum Schluss noch, wieso ihr euch für das Bild der Hydra entschieden habt. Denn in der Mythologie wird die Hydra am Ende doch bezwungen. Uns hat die Idee begeistert, dass der Hydra beim Abschlagen eines Schlangenkopfes immer mehr Schlangenköpfe herauswachsen. Je mehr Politik und Gesellschaft Sexarbeit bekämpfen wollen, desto stärker wehren wir uns als Sexarbeiter*innen in der Hurenbewegung.


19

KOMPASS

MARLEEN LAVERTE

Marleen Laverte ist Sexarbeiterin und Mitglied bei Hydra e.V. WEITERE INFORMATIONEN:

Das neue Projekt von Hydra ist das Hydra Café, das Anfang 2019 eröffnen wird. Wer hierfür spenden will, findet Infos unter folgendem Link: www.leetchi.com/c/hydra-cafe Für alle Sexarbeitenden, die durch das ProstSchG Probleme haben, hat die Hurenbewegung ein Beschwerdeformular eingerichtet, über das Probleme gemeldet werden können, damit das Gesetz evaluiert werden kann www.beschwerdeformularsexarbeit.de Die Ausstellung „Candice Breitz: Sex Work“ ist noch bis zum 5. Januar 2019 im Museum Frieder Burda | Salon Berlin, Auguststraße 11-13, zu sehen.


20

KARUNA

RAUS DAMIT! ANNA WITT


21

KOMPASS

Radikal denken – wie geht das? Kann man das einfach so, und was heißt überhaupt radikal? Über diese Fragen hat sich die Künstlerin Anna Witt Gedanken gemacht und sie Passanten in Wien und Jugendlichen in Leipzig gestellt. In welcher Gesellschaft wollt ihr leben? Was würden Sie ändern? Im Großen, im Kleinen, in der Welt, in Ihrem

und eurem Alltag? Utopische Denkansätze wurden so offen und unkommentiert ausgesprochen. Die Ergebnisse aller drei Befragungen wurden auf Video festgehalten und wurden zum Kunstwerk, als Bewegtbild und in Schriftform. Wir zeigen die so entstandenen Siebdrucke hier im Karuna Kompass. Danke der Künstlerin und der Galerie Tanja Wagner


22

KARUNA

Radikal Denken, Hauptbahnhof Wien 2013/2018 Siebdruck, 90 x 70 cm Courtesy Galerie Tanja Wagner, Berlin


23

KOMPASS

Radikal Denken, Lugner City 2009/2018 Siebdruck, 90 x 70 cm Courtesy Galerie Tanja Wagner, Berlin


24

KARUNA

Radikal Denken, Leipzig 2018/2018 Siebdruck, 90 x 70 cm Courtesy Galerie Tanja Wagner, Berlin


25

KOMPASS

THE POSSIBILITY OF AN ISLAND...


26

KARUNA

SPRECH-THEATER Jร RG RICHERT IM DIALOG MIT BETTINA HOPPE

ANZEIGENTEXT

Foto: Julian Rรถder


27

KOMPASS

„Auf der Straße“ ist ein Theaterstück des Berliner Ensembles – und ein Theaterstück, das einem die Wut in die Adern treibt. Die Stücke der Regisseurin Karen Breece werden auf der Basis intensiver Recherchearbeit und persönlicher Gespräche entwickelt. Sie bringt Menschen auf der Bühne zusammen, die nahezu alles verloren haben, und Menschen, die alles zu besitzen scheinen. Sie alle begegnen sich in dem Theaterstück: die Schauspieler*innen Bettina Hoppe und Nico Holonics sowie die Darsteller*innen Psy Chris, Alexandra Zipperer und René Waller. Und tun das, was wir alle tun sollten, sie sprechen miteinander. „Hier habe ich gelebt, auf einer Bank im Wald, sehr, sehr lange...“, erzählen abwechselnd René, dann der Jugendliche Psy Chris: „Ich schlafe in einem Zelt mit meinen Freunden. Es ist oft so kalt. Wir angeln Fische in der Spree, um etwas zu Essen zu haben.“ Oder wir hören Alexandra, wie sie mit den Behörden um ihre geliebte Wohnung kämpfen musste, weil sie einen Quadratmeter zu groß war und immer noch ist: jahrelanger Psychoterror zwischen dem Jobcenter und einer Frau, die seit ihrer Kindheit gegen ihre Depressionen kämpft. Die gespielt-fragende Naivität der Schauspieler*innen des Berliner Ensembles als Wohlhabende trifft auf Antworten derer, die wir obdachlos nennen, und die hier auf der Bühne des ehrwürdigen Hauses mutig von und über sich sprechen. Wir hören von drei Menschen, die es wissen müssen, von harten Schicksalen, von psychischer Erkrankung, von beispielloser Gewalt in der Kindheit. Wir werden erinnert an die Sollbruchstellen unseres eigenen Lebens. Glück gehabt.

Obdachlosigkeit ist Krieg ohne Kameradschaft Drei Schicksale werden vor uns auf der Bühne ausgebreitet, und die Menschen dahinter bleiben dabei würdevoll. Man würde am liebsten zu ihnen eilen, um sie zu umarmen. Oder doch lieber nicht? Irgendwie macht sich Angst breit. So, als wenn man jemandem mit einer ansteckenden Krankheit nicht zu nahe kommen möchte. Ich werde nachdenklich. Und Wut macht sich breit. Wut, wenn man hört, dass bei dem Jugendlichen Psy Chris alle weggesehen haben, als er Gewalt in seiner Familie erleiden musste und dann in ein geschlossenes Heim kam. Das Jugendamt bestraft ein Kind mit struktureller Gewalt, weil die Männer der Mutter das Kind immer wieder geschlagen haben. Wenn der Weg auf die Straße kürzer ist als der Weg zum Amt, wie es im Programmheft des Ensembles heißt, oder der Weg zum Amt im nächsten Terror mündet. Obdachlosigkeit ist Krieg ohne Kameradschaft. So erfahren wir von René, dass er seine Parkbank mit einer Fahrradkette verteidigt, wie auch wir es nicht zulassen würden, dass sich jemand in unser Bett legen würde. Die Lebenserwartung eines Obdachlosen beträgt im Durchschnitt 49 Jahre. Das Leben auf der Straße ist Krieg und fordert seine Opfer.

Wir haben das Stück mit Jugendlichen besucht, die selbst Erfahrungen mit dem Leben auf der Straße gemacht haben. Im Anschluss haben wir mit der Schauspielerin Bettina Hoppe, Mitglied des Berliner Ensembles, gesprochen.


28

KARUNA

Viele laufen an Obdachlosen achtlos vorbei. Eine Angst, einmal selbst dort landen zu können? Was meinst Du? Ich weiß nicht, ob es die Angst ist. In unserem Stück sagt es ja Nico auch: „Warum gehst Du nicht auf denjenigen zu, der da liegt? Weil Du Angst hast, morgen auch da zu liegen.“ Ich glaube aber, dass ganz viele denken, ich würde da nie liegen. Ich glaube, dass es viel Desinteresse gibt. Man denkt sich, das ist ein Loser, der stinkt vielleicht auch noch. Was habe ich von dem? Hat das Stück Dein Leben verändert? Das hat schon konkret etwas verändert, insofern, als ich jetzt viel mehr Betroffene kenne und auch während der Probezeit zum Stück kennengelernt habe. Früher habe ich immer gedacht, dass man schon richtig viel Mist gebaut haben muss, um auf der Straße zu sein. Das sehe ich inzwischen anders. Ich sehe, dass bei vielen, die auf der Straße leben, die Scham besonders groß ist.

Weil sie nehmen müssen? Es fühlt sich toll an, geben zu können. Aber wie ist das mit dem, der auf dich angewiesen ist? Ich habe großen Respekt davor, dass er oder sie unsere Hilfe annimmt. Dass umgekehrt Menschen, die draußen leben, uns und sich selbst gegenüber Respekt zeigen, ist eine unglaubliche Leistung. Es ist Hochleistungssport, auf der Straße zu schlafen und zu leben. Das sehe ich so. Das ist doch irre, mit der Kälte und der Lautstärke zurechtzukommen. Ich kann mir gar nicht vorstellen, ein Leben zu führen, wo es keinen Rückzugsraum gibt, wo Du nicht die Tür zumachen kannst und Ruhe hast. Wenn Du auf der Straße schläfst, hast Du immer dieses Hintergrundrauschen. Und ich weiß auch nicht, wie das läuft mit der Intimität. Wie soll man, wenn man verliebt ist oder mal irgendwie..., wie soll das gehen? Wie soll man eine intime Beziehung eingehen? Das sind so Sachen, die jetzt erst durch meinen Kopf gehen. Erst jetzt habe ich verstanden, was damit alles verbunden ist.

Als Du im Stück so ausgerastet bist wegen der ständigen Ignoranz der anderen, die ein System bilden, das Menschen bewegungslos macht – war das in dem Moment Dein Text, oder anders: Ist das gespielt? Karen Breece, die Regisseurin, hat im Groben einen Monolog geschrieben, aber was ich mittlerweile da rede, ist zu neunzig Prozent von mir. Es ist auch meine private Wut. Das ist auch jedes Mal anders. Ich versuche, mich hineinzubegeben. Für mich war zum Beispiel neu, dass fünfzig Prozent aller Hartz-IV-Bezieherinnen alleinerziehende Mütter sind. Ich habe unter meinen Freunden zwei alleinerziehende Mütter, und diese sind berufstätig. Für sie ist es schon total schwer. Ich habe auch ein Kind, und wir sind zu zweit, ich und meine Frau. Wir haben ein einziges Kind, haben beide einen guten Job und verdienen gut. Ein Kind groß zu ziehen ist immer schwer. Aber das alleine zu machen und vielleicht keinen Job zu haben? Ich glaube, das reicht schon um rauszufallen. Ich finde, dass diese Gesellschaft nicht genügend Respekt für alleinerziehende Mütter aufbringt. Das zu leisten, ist ein Wahnsinn. Diese Doppelt-und Dreifachbelastung - davon kann man sich gar keine Vorstellungen machen, wenn man nicht selber drin steckt. Ich finde, die staatliche Unterstützung für alleinerziehende Mütter ist ein Witz. Die müsste viel, viel höher sein. Das ist absolut respektlos.


29

KOMPASS

„ICH FINDE DAS WORT OBDACHLOSIGKEIT ABGEDROSCHEN. ICH FINDE, DAS SIND MENSCHEN MIT ARMUTSERFAHRUNGEN.“ WERNER

Du wirst als Schauspielerin ja auch Erfahrungen mit Arbeitslosigkeit haben. Ich war nie Hartz-IV-Empfängerin, aber eine Weile arbeitslos und habe Arbeitslosengeld empfangen. Der Rechtfertigungszwang ist wirklich schrecklich. Schauspielerei fällt beim Arbeitsamt unter Erholung und Unterhaltung. Da versteht niemand, was unser Job ist. Da die Contenance zu behalten, puh, hart. Armut ist ein Armutszeugnis dieser Gesellschaft – die Tatsache, dass wir nur eine Art von Kapital kennen, nämlich das materielle. Aber das ganze Kapital, das brach liegt, nämlich die Freuden einer funktionierenden Gesellschaft, eines Zusammenhalts, eines voneinander Lernens, aufeinander Eingehens - das geht uns alles flöten. Das sind Güter, auf die wir nicht zurückgreifen. Auch ökonomisch gesehen ist das ein Fiasko. Diese Gesellschaft ist eine Ödnis. Hast Du denn eine Vision für unsere Gesellschaft? Ich habe ein ganz großes Bedürfnis, eine große Sehnsucht nach einer Gesellschaft, aber ich kenne nur Mikrokosmen. Ich kenne Freunde, Familie und den Arbeitsbereich und dann ist schon Schluss. Aber so ein Gefühl von Gesellschaft ist nicht vorhanden. Das beobachte ich ganz allgemein. Auf einmal wird Fußball zu einer Ersatzreligion oder das Oktoberfest, weil die Leute da merken: geil, ich bin nicht nur Freund, Familie plus x, sondern hier sind fünftausend, die wollen das Gleiche wie ich. Wie geil wäre es, wenn sechzig Millionen das Gleiche wollen würden und wir uns für die gleichen Werte interessieren würden? Es ist ganz wichtig, miteinander zu reden. Vielleicht ist unser Stück ja ein ganz kleiner Beitrag.

BETTINA HOPPE

Bettina Hoppe ist eine deutsche Schauspielerin. Nach ihrem Studium an der Hochschule der Künste in Berlin erfolgten ihre ersten Auftritte am Deutschen Theater Berlin und am Maxim Gorki Theater. Des Weiteren war sie als Ensemblemitglied an der Schaubühne Berlin und am Schauspiel Frankfurt. Seit der Spielzeit 2017/18 ist sie Teil des Berliner Ensembles. WEITERE INFORMATIONEN:

www.berliner-ensemble.de


30

KARUNA

DEN BANN BRECHEN ASTRID MANIA IM DIALOG MIT CHRISTINE BROERMANN


31

KOMPASS Viele Geflüchtete, die bei uns Schutz suchen, sind schwer traumatisiert. Sie haben Schreckliches erlebt. Hilfsangebote gibt es viel zu wenige. Das Berliner Zentrum ÜBERLEBEN (vormals Behandlungszentrum für Folteropfer e.V.) ist eines davon. Es setzt sich national und international für Erwachsene, Kinder und Jugendliche ein, die Folter und Gewalt in kriegerischen Auseinandersetzungen erlebt haben und traumatisiert sind. Astrid Mania hat mit der Psychotherapeutin Christine Broermann vom Zentrum ÜBERLEBEN gesprochen.

Christine, das Zentrum ÜBERLEBEN verfügt über eine ambulante Abteilung für Kinder und Jugendliche, in der du arbeitest. Wer kommt zu euch? Die Mädchen und Jungen, die in unserer ambulanten Abteilung aufgenommen werden, sind in der Regel zwischen drei und 18 Jahre alt. Gemeinsam ist ihnen, dass sie Traumatisches erlebt haben, wie Entführung, Inhaftierung, Folter, Misshandlung oder sie haben die Misshandlung und Tötung ihrer Eltern/ Familienmitglieder und/oder anderer Menschen mitansehen müssen. Sie sind vor Krieg und der damit einhergehenden Gewalt geflohen und haben oftmals sehr lange und bedrohliche Fluchtwege hinter sich. Wir haben es aber auch mit Fällen von geschlechtsspezifischer Verfolgung und kinderspezifischen Fluchtgründen zu tun, wie der Zwangsrekrutierung von Kindersoldaten, aber auch Genitalverstümmelung oder Zwangsverheiratung. Du hast es gerade schon angesprochen, auf der Flucht sind die Kinder und Jugendlichen meist weiterer Gewalt ausgesetzt. Vor allem die unbegleiteten Jugendlichen sind ohne erwachsene Begleitperson der Gefahr sexueller, körperlicher und ökonomischer Gewalt und Ausbeutung ausgeliefert. Ich höre beispielsweise in letzter Zeit häufig davon, wie die Schlepper zum Teil untereinander vernetzt sind und sich die Flüchtenden zur Ausbeutung einander weiter reichen. Die Erschütterung in das Welt- und auch das Selbstvertrauen derer, die solches erleben müssen, ist entsprechend tiefgreifend.

Wie lang waren die Kinder und Jugendlichen, die von euch betreut werden, auf der Flucht? Das ist unterschiedlich. Einige sehr wenige fliegen mit ihren Eltern direkt nach Deutschland ein und andere (und das sind die weitaus meisten) haben Entsetzliches erlebt und sind viele Jahre auf der Flucht, wobei in diesen Fällen auch lange Zeiträume der „Inhaftierung“ o.ä. vorkommen. Mit „Inhaftierung“ meine ich die Internierung in Lagern, von denen es die schlimmsten wohl in Libyen gibt. Diese werden von Milizen betrieben, die die Arbeitskraft der Geflüchteten ausbeuten und in denen sich Grausames ereignet. Wenn diesen Kindern und Jugendlichen nun aber die Flucht gelingt und sie hier in Deutschland ankommen ... Unbegleitete Minderjährige werden zunächst vom Jugendamt in Obhut genommen und in sog. Clearingstellen werden ihre medizinischen, psychischen und sozialen Bedarfe geprüft und dementsprechend nach guter Versorgung gesucht. Wenn die Jugendlichen Glück haben, finden sie nach einigen Monaten zu einem guten Jugendhilfeträger, der sich ihrer annimmt. Wenn es dort kompetente, verlässliche und zugewandte Bezugspersonen gibt, bedeutet das sehr viel Stabilisierung für die Jugendlichen. Wenn sich das soziale Umfeld stabilisiert, man in die Schule gehen kann, ein eigenes Zimmer bekommt, gute zwischenmenschliche Kontakte entstehen usw., beruhigen sich schon viele Symptomatiken. Manchmal jedoch tauchen psychische Schwierigkeiten erst in relativer Sicherheit auf oder werden dann erst zur großen Belastung. Dann rufen häufig die Sozialarbeiter*innen aus der Jugendhilfeeinrichtung bei uns an.


32

KARUNA

Und bei Kindern, die mit ihrer Familie geflohen sind? Bei den Familienkindern ist es anders. Sie sind in der Obhut ihrer Eltern, was einerseits natürlich eine große Ressource ist, da sich die Familien einen großen Halt geben können. Andererseits ergeben sich häufig auch Schwierigkeiten für die Kinder, sofern sie schwer belastete Eltern stützen müssen. Kinder lernen in der Regel schneller eine neue Sprache, passen sich schneller an, und ein Schritt aus dem Familienverbund heraus (und in die eigene individuelle Entwicklung) wird dann als ein Im-Stich-Lassen der Eltern empfunden. Dies macht nicht nur eine kind- und jugendlichengerechte Entwicklung, sondern auch die Bearbeitung von eigenen belastenden Erfahrungen schwierig. Eine Therapie anzufangen kann dann als ein sehr autonomer Akt empfunden werden. Diese Kinder sind in der Anfangszeit einer Therapie oft nur mit der Frage beschäftigt, wie es ihren Eltern geht. In dieser Dynamik muss natürlich das ganze System berücksichtigt werden. Ihr habt eine Telefonsprechstunde, bei der jeder anrufen kann, der denkt, dass ein Kind oder Jugendlicher in Not ist. Rufen die betroffenen Kinder und Jugendlichen auch selbst an? Das habe ich bisher noch nicht erlebt. Es rufen die Eltern an oder diejenigen, die eine Familie in einem Flüchtlingsheim begleiten, die Sozialpädagog*innen aus den Jugendhilfeeinrichtungen oder den verschiedenen weiteren Hilfeeinrichtungen der Stadt, auch Lehrer*innen, Vormünder, das ist ganz unterschiedlich. Jeden Mittwoch von 12 - 13 Uhr gibt es die Gelegenheit, bei uns anzurufen und sich beraten zu lassen. Was ist mit den sprachlichen Hürden, die es sicher gibt? Es gibt bei uns im Zentrum für fast jede Sprache sogenannte Sprach- und Kulturmittler*innen.

Die dann, wie ihr auch, keine einfachen Geschichten hören. Wie werden sie, wie werdet ihr damit fertig? Es stimmt, die Sprach- und Kulturmittler*innen sind großen Belastungen ausgesetzt. Als Therapeutin kann ich aufgrund der fehlenden Sprachkenntnisse gar nicht anders, als zunächst die emotionale Atmosphäre, die Mimik eines Kindes oder Jugendlichen zu beobachten und zu spüren, ich verstehe aber noch nicht, was gesagt wird. Der Inhalt wird mir dann von den Sprach- und Kulturmittler*innen zeitlich versetzt vermittelt. Das schützt mich, weil ich den emotionalen Gehalt des Gesagten quasi häppchenweise aufnehmen kann, und gerade das ist den Sprachmittler*innen nicht möglich. Für sie gibt es eine regelmäßige Supervision, also eine Art Beratung und Reflexion. Bei uns sind außerdem theoretisch nach den 50 Minuten Psychotherapie zehn Minuten für eine Nachbesprechung mit den Sprachund Kulturmittler*innen vorgesehen. Um nachzubesprechen und idealerweise aufzufangen, was besonders belastend war. Allerdings muss ich sagen, dass das häufig hinten runter fällt. Da müssen wir Behandler*innen uns immer wieder disziplinieren. Und wie verarbeitet ihr Therapeut*innen das Gehörte und Gesehene? Wir haben alle 14 Tage Supervision, und alle sechs Wochen treffen wir uns mit einer Intervisionsgruppe, die aus Kolleg*innen von Xenion (einer Beratungsstelle für politisch Verfolgte - auch dort gibt es eine ambulante Abteilung für Kinder und Jugendliche) und einer niedergelassenen (für die Gruppe der psychisch belasteten Geflüchteten sog. „ermächtigten“) Psychotherapeutin besteht. Dieser Austausch ist sehr entlastend. Dennoch muss jeder Mitarbeiter, jede Mitarbeiterin natürlich gut auf sich aufpassen, um offen für die Patient*innen zu bleiben und trotzdem das Gehörte verarbeiten zu können. Wie groß ist euer Team? Aktuell sind wir vier Psychotherapeut*innen, ein Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie zwei Sozialarbeiterinnen. Eine Anwältin berät uns und unsere Klient*innen im 2- wöchigen Rhythmus zu Fragen des Asylverfahrens.


33

KOMPASS Und wie viele Kinder und Jugendliche könnt ihr maximal betreuen bzw. betreut ihr derzeit? Zurzeit stehen 30 Therapieplätze zur Verfügung. Zusätzlich gibt es die Möglichkeit, über einen Termin in unserer Sprechstunde, die wöchentlich stattfindet und ca. 1-3 Sitzungen umfasst, Beratung zu erhalten. Weiterhin haben wir viele Anfragen in der Telefonsprechstunde. Nicht für jeden ist eine Therapie sinnvoll, wir vermitteln dann an andere Stellen weiter. Wer finanziert euer Angebot? Die therapeutischen und medizinischen Leistungen sind Krankenkassenleistungen. Auch das Kinder- und Jugendhilfegesetz spielt bei uns eine große Rolle, denn darüber werden Psychotherapien mit Hilfe des Jugendamts ermöglicht, bei denen zusätzlich soziale Unterstützungsangebote berücksichtigt werden können. Die Angebote der sozialen Arbeit, aber auch die der Kultur- und Sprachmittler*innen werden aus Spenden-, Stiftungsund Projektmitteln finanziert. Wie verläuft eine Therapie mit traumatisierten Jugendlichen? Wo setzt ihr an? Bei uns im Zentrum arbeiten immer zwei Behandler*innen mit einer Patientin, einem Patienten, und zwar in der Kombination Therapeut*in/ Sozialarbeiter*in. Beide Professionen haben die Stabilisierung unserer Klient*innen zentral im Blick, wenn sie diese auch mit unterschiedlichem Handwerkszeug versuchen zu fördern. Die Sozialarbeiterinnen haben dabei verstärkt die soziale Situation im Auge und wollen hier eine Stärkung und Selbstbemächtigung sowie eine Emanzipation von belastenden, manchmal erdrückenden äußeren Umständen erreichen, indem sie - im Rahmen eines verlässlichen und langfristigen Bindungsangebots - informative und emotionale Klarheit und Sicherheit in den verschiedensten Lebensbereichen (Asylverfahren, Wohn- und Schulsituation, Freizeitaktivitäten etc.) vermitteln.

Und in der Psychotherapie? Ziel einer Traumatherapie ist, sehr verknappt gesagt, die Integration traumatischer Erlebnisse. Das Erlebte soll begriffen und Erinnerungslücken geschlossen werden. Dabei kann man sich die traumatischen Ereignisse wie im Gehirn eingefroren und nicht vernetzt vorstellen, und wenn diese Eiszapfen durch Reize, die einen (bewusst oder unbewusst) an irgendeinen Aspekt des ursprünglichen traumatischen Ereignisses erinnern, angestoßen werden, dann wird der ganze Organismus von sogenannten Intrusionen überschwemmt. Das ist dann wie ein unkontrolliertes Wiedererleben der besonders schweren Erlebnisse, so als würde das eigentlich ja bereits Vergangene im Hier und Jetzt wieder geschehen. Außerdem leiden die Betroffenen typischerweise unter psychischer und körperlicher Übererregung (zum Beispiel in Form von Alpträumen, Schlafstörungen, innerer Anspannung, Gefühlsüberflutungen, Impulsdurchbrüchen in der Folge usw.) und/ oder unter dem Gegenteil: sie fühlen gar nichts mehr und ziehen sich auch sozial extrem zurück. In der Psychotherapie versuchen wir meist als erstes, diese Schwierigkeiten in den Griff zu bekommen, denn diese Symptome, insbesondere das plötzliche Einschießen des Vergangenen, der „alten“ Bilder, „alten“ Gefühle und Gedanken, der „alten“ Schmerzen in den Alltag, beeinträchtigt unsere Klient*innen sehr, die meist selbst sagen: „Das will ich kontrollieren können.“ Was heißt das konkret? Bei mir ist es so, dass ich meist zunächst nach den Wegen frage, mit denen die Betroffenen bisher mit dem ständig erhöhten Stressniveau umgegangen sind und von da aus suchen wir dann weiter nach dem, was hilft. Vielen hilft Sport, indem sie sich auspowern, oder auch das Gegenteil davon: Beruhigung. Manche brauchen vor dem Schlafen ein Hörspiel o.ä. oder sie profitieren davon, eine Imagination zu erlernen, eine Meditation, beruhigende Atem- oder Körperübungen. Viele berichten davon, dass es ihnen hilft, zu beten. Wir arbeiten dann viel und lange an der Fähigkeit, Gefühle und Handlungsimpulse in Worte zu übersetzen, diese differenziert auszudrücken und zu verstehen, sie sozusagen zu mentalisieren, was dabei hilft, im Handeln und Reagieren wieder flexibler zu werden. Das verringert auch die Tendenz, impulsiv zu handeln, was zuvor schnell zu zwischenmenschlichen Konflikten geführt hat. Die Kontrolle über die Auswirkungen des Erlebten lässt sich wiederherstellen, aber es ist ein langer Weg.


34

KARUNA Aber wenn ich gelernt habe, mich und meinen Körper besser zu kontrollieren, heißt das noch nicht, dass das Trauma verarbeitet ist, oder? Hm naja, ich finde, das ist nicht so einfach pauschal zu beantworten, in der Therapie läuft ja nicht alles so strikt voneinander getrennt ab, wie es in der Theorie aussieht. Erstens geht es bei der Arbeit an der Stabilisierung ja häufig auch schon um die erlebten Traumata, die dann besprochen und gemeinsam erlebt werden (und manchmal müssen diese im Rahmen von Stellungnahmen für das Asylverfahren auch schon zu frühen Zeitpunkten in der Therapie berichtet werden). Und andererseits reicht bei einigen Klient*innen ein gelernter guter Umgang mit den Belastungen aus, um die traumatischen Erfahrungen erst mal in den Griff zu bekommen, und sie sind damit zufrieden. Sie entscheiden sich vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt dann noch einmal dafür, sich dem Vergangenen zuzuwenden. Bei anderen wiederum taucht irgendwann in der Therapie, vor allem dann, wenn es besser gelingt, sich zu regulieren, das Bedürfnis auf, über die besonders schwerwiegenden Erfahrungen zu sprechen. Letztlich geht es dann darum, dass die Erlebnisse, die so unaussprechbar, manchmal auch undenkbar sind, wieder hervorgeholt werden können und die Betroffenen diese in einem geschützten Beziehungsraum auf eine Weise wieder erleben, die nicht (erneut) überwältigend ist.

Ist das ein wenig wie im Märchen oder Mythos, wo das richtige Wort einen Bann brechen kann? Das ist ein schönes Bild. Tatsächlich, wenn ich noch im Trauma drin stecke, Körper und Geist wie damals reagieren, dann ist das wie ein Fluch, ich hänge immer wieder im eigentlich vergangenen Geschehen fest. Wenn ich Worte dafür finden kann, stimmige Worte, meine eigenen Worte, bedeutet das, dass an die Geschehnisse gedacht und davon erzählt werden kann, ohne dass ich davon unkontrolliert überschwemmt werde. Durch diese schrittweise Verarbeitung und damit die Integration wird dem Trauma-Ereignis ein erinnerbarer Platz in der eigenen Biographie zugewiesen. Dann ist es nicht weg und auch nicht vergessen, aber es hat mich nicht mehr im Griff, sondern ich kann jetzt entscheiden, wie ich damit umgehe. Auch wenn das Erlebte dadurch natürlich immer noch so passiert ist und manchmal sehr lange noch betrauert wird.

CHRISTINE BROERMANN

Christine Broermann arbeitet seit 2015 in der Ambulanten Abteilung für Kinder und Jugendliche im Zentrum Überleben und hat parallel dazu die Zusatzqualifikation in Spezieller Psychotraumatherapie erworben. Sie bietet tiefenpsychologisch fundierte psychologische Psychotherapie für Kinder, Jugendliche und Erwachsene an; seit 2016 zusätzlich in eigener Praxis. WEITERE INFORMATIONEN:

www.ueberleben.org Spenden an: Zentrum ÜBERLEBEN gGmbH IBAN: DE82 1002 0500 0001 5048 00 Bank für Sozialwirtschaft


ANZEIGEN

Unterwegs für Berlin Als einer der ersten freuen wir uns das Projekt „Karuna Kompass“ zu unterstützen und wünschen allen Berlinerinnen und Berlinern ein frohes Weihnachtsfest und einen gesunden Start ins neue Jahr!

www.BSR.de

1630.3113_AZ_Weihnachten_242x162_RZ.indd 1

30.11.18 14:22


36

KARUNA


37

KOMPASS


38

KARUNA

IMPRESSUM Herausgeber: KARUNA eG Hausotterstr. 49 13409 Berlin

KARUNA Vorstandsvorsitzender: JÖRG RICHERT Genossenschaftsregister GuR 821 B Amtsgericht BerlinCharlottenburg joerg.richert@karuna.family Tel.: +49 177 221 84 32

Partner: INDEPENDENT CONNECTORS GMBH KALCKREUTHSTRASSE 16 10777 BERLIN

Texte: CHRISTINE BROERMANN JÖRG RICHERT BETTINA HOPPE MARLEEN LAVERTE ASTRID MANIA Konzept: ASTRID MANIA astrid.mania@karuna.family Design & Illustration: ILYA FOX ilyafox7@gmail.com Redaktion: ASTRID MANIA Redaktionsassistenz SEZEN CAKMAK sezen@karuna.family +49 (0)15 90 40 13 135

Bilder: ANNA WITT JULIAN RÖDER Anzeigenleitung: ASK Berlin 0172 6740395 eighteen@ask-berlin.de Korrektorat: CHRISTINE EMMING Vertrieb: Helmut Cladders hcladders@web.de +49 159 04 57 53 30 Druck: BVZ Berliner Zeitungsdruck GmbH


39

KOMPASS

Anna Witt Tanja Wagner Bettina Hoppe Jörg Richert Werner Nicky Alexandra Zipperer Nico Holonics Psy Chris René Wallner Karen Breece Ingo Sawilla Oliver Reese Hannah Linnenberger Berliner Ensemble Astrid Mania Christine Broermann Marleen Laverte Team von Hydra e.V. Sabine Thümler Nina Raftopoulo Sandra Gehrer Ilya Fox Sezen Cakmak Candice Breitz Christine Emming Julian Röder

Mitmachen? info@independent-connectors.com


GOOGLE - HUPF

EINE STIMME, VIELE KÖPFE

JÖRG RICHERT

KARUNA KOMPASS IM DIALOG MIT MARLEEN LAVERTE

KARUNA EG

RAUS DAMIT! ANNA WITT SPRECH-THEATER JÖRG RICHERT IM DIALOG MIT BETTINA HOPPE

KÜNSTLERIN

HYDRA E.V

DEN BANN BRECHEN ASTRID MANIA IM DIALOG MIT CHRISTINE BROERMANN

SCHAUSPIELERIN, BE

ZENTRUM ÜBERLEBEN

ZEITUNG AUS EINER SOLIDARI SCHEN ZUKUNFT WWW.KARUNA-KOMPASS.DE


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.