Festrede anlässlich des zehnjährigen Bestehens des Alfried Krupp Wissenschaftskollegs Greifswald 17. Mai 2013
Professor Dr. Drs. h. c. Helmut Schwarz Präsident der Alexander von Humboldt-Stiftung, Berlin
»Freiräume für Forschung, Austausch und Vernetzung: Zur Bedeutung wissenschaftlicher Kollegs für Internationalisierung und Exzellenzförderung«
Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald
Programm der Festveranstaltung zum zehnjährigen Bestehen des Alfried Krupp Wissenschaftskollegs Greifswald 17. Mai 2013 15.30 Uhr Begrüßung: Professor Dr. Bärbel Friedrich Direktorin des Alfried Krupp Wissenschaftskollegs Greifswald Grußwort:
P rofessor Dr. Johanna Eleonore Weber Rektorin der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald
Grußwort: C hristian Pegel Staatssekretär und Chef der Staatskanzlei Mecklenburg-Vorpommern 16.00 Uhr Festvortrag: P rofessor Dr. Drs. h. c. Helmut Schwarz Präsident der Alexander von Humboldt-Stiftung » Freiräume für Forschung, Austausch und Vernetzung: Zur Bedeutung wissenschaftlicher Kollegs für Internationalisierung und Exzellenzförderung « 16.30 Uhr
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Empfang
Verehrte, liebe Bärbel Friedrich, sehr geehrte Frau Weber, Herr Staatssekretär Pegel, meine Damen und Herren,
2013 ist ein Jahr, in dem die Wissenschaft und einige ihrer Repräsentanten so manches Jubiläum und so manchen runden Geburtstag begehen dürfen. Beispielsweise: Berthold Beitz, ohne den es dieses Kolleg nicht gäbe, wird bald 100 Jahre alt sein, der mit ihm eng verbundene Reimar Lüst wurde kürzlich 90 Jahre alt, und die Alexander von Humboldt-Stiftung feiert dieses Jahr ihren 60. Geburtstag. Das Alfried Krupp Wissenschaftskolleg hingegen begeht allerdings »erst« seinen 10. Geburtstag – ein Baby; und doch, in einer oft nur von kurzlebigen Trends und Moden beherrschten Zeit sind diese Stationen ein erfreulicher Beleg für Kontinuität – sie liefern ferner Fixpunkte und helfen, unser tägliches Wirken zu justieren und es kritisch zu reflektieren. Freude über das Erreichte, Blicke in die Zukunft und Rückblicke auf die Anfänge gehen bei Jubiläen natürlich Hand in Hand. Nun will und muss ich allerdings gleich vorausschicken, dass ich mich überhaupt nicht dazu berufen fühle, die Entwicklung des Krupp-Kollegs gebührend und angemessen zu schildern – hier könnte viel eher ich etwas von Ihnen lernen. Ebenso wenig möchte ich Ihnen nun einen langatmigen Vortrag über die keineswegs konturlose Geschichte der Humboldt-Stiftung halten. Wenn man aber einmal die Gründungsdaten der Humboldt-Stiftung und die des Krupp-Kollegs in Greifswald betrachtet, dann fällt auf: in beiden Fällen war die Gründung jeweils mit einer wichtigen und richtungsweisenden Veränderung im Verständnis von Wissenschaft und Gesellschaft verbunden: Als die Humboldt-Stiftung am 10. Dezember 1953 von der Bundesregierung eingerichtet wurde, stellte dies gleichsam auch ein Versprechen der jungen Bundesrepublik an die internationale Gemeinschaft dar, an der Deutsche noch wenige Jahre zuvor entsetzliche Verbrechen begangen hatten; Verbrechen, die auf einem menschenverachtenden, rassistischen Weltbild beruhten, und die einen in der Geschichte beispiellosen Zivilisationsbruch darstellten. Aber 1953 wollte man einen Weg zurück in die internationale Staatengemeinschaft finden. So besann man sich auf das Prinzip der international vernetzten Wissenschaft, eines Prinzips, das den Ruf Deutschlands als Wissenschaftsnation im 19. und frühen 20. Jahrhundert weltweit begründet hatte. Wissenschaft sollte als eine Diplomatie des Vertrauens eingesetzt werden. Gleichzeitig wollte man zum Ausdruck bringen, dass Förderung von Wissenschaftlern und ihre persönliche Wertschätzung untrennbar miteinander verbunden sind. Deshalb hieß es in der Satzung, dass die Stiftung »wissen-
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schaftlich hochqualifizierte junge Akademiker fremder Nationalität ohne Ansehen des Geschlechts, der Rasse, Religion oder Weltanschauung« fördern werde. Dieses Credo hat sich bis heute praktisch überhaupt nicht verändert, und dem Prinzip der Förderung von Personen, ohne Quoten welcher Art auch immer, folgen wir bis heute – uns, in der Humboldt-Stiftung, interessiert nur die wissenschaftliche Exzellenz der Bewerber. Wir fördern Menschen – keine Projekte! Derzeit vergeben wir jährlich ca. 500 Forschungsstipendien an Postdoktoranden; hinzu kommen ca. 100 Forschungspreise für international ausgewiesene Spitzenforscher. Die Förderung durch Stipendien und Forschungspreise stellt aber nur den Anfang einer lebenslangen Beziehung zu unseren Geförderten, den Humboldtianerinnen und Humboldtianern, dar. Von Beginn an waren der Aufbau und die Pflege eines Alumninetzwerkes, das sich zu einer mittlerweile 26.000 Personen umfassenden Humboldt-Familie in 140 Ländern entwickelt hat, ebenfalls ein wichtiges Leitprinzip der Stiftung. Unser Motto lautet ganz einfach: »Einmal Humboldtianer, immer Humboldtianer«. Dieses Prinzip speist sich aus der Überzeugung, dass die Schaffung von Vertrauen zunächst zu Partnern, dann zu Institutionen und schließlich in unser Land eine, vielleicht die wichtigste Grundlage für langfristige und fruchtbare wissenschaftliche Kooperationen mit unserem Wissenschaftssystem darstellt. Humboldtianer werden nicht selten als Deutschlands beste Botschafter angesehen. In der Gründung des Alfried Krupp Wissenschaftskollegs Greifswald vor zehn Jahren erkennt man einen Entwicklungsprozess, in dessen Zentrum der internationale, wissenschaftliche Austausch steht. Wissenschaft kannte eben nie und kennt keine nationalen Grenzen. Knapp eineinhalb Jahrzehnte nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wurde im Krupp-Kolleg die wunderbare Idee verwirklicht, die Tradition des weltoffenen Ostseeraums für den wissenschaftlichen Dialog wiederzubeleben und nutzbar zu machen. Jahrhundertelang war diese Region, als Teil der Hanse, eine Drehscheibe für den Austausch zwischen unterschiedlichen Kulturen gewesen. Und in der historisch bedeutsamen Stadt Greifswald sollte nun ein Ort geschaffen werden, der eine konzentrierte, erstklassige Forschung ermöglichen würde. Dass Exzellenz eine besondere Förderung erfordert und verdient, dies war eine Einsicht und Erkenntnis, über die vor 10 Jahren – also lange vor der bundesweit praktizierten Exzellenzinitiative – im deutschen Wissenschaftssystem allerdings keineswegs Konsens bestand. Es ist ja auch kein Zufall, dass die Zahl der Wissenschaftskollegs oder der Institutes of Advanced Study erst durch die Exzellenzinitiative so stark befördert wurde. Das Prinzip von Wissenschaftskollegs ist ziemlich einfach; es besteht darin, einer kleinen Zahl von handverlesenen Fellows ein kostbares Geschenk anzutragen: das
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Geschenk der Zeit. Zeit, die allein der Forschung und der Weiterentwicklung der eigenen Persönlichkeit dient. Alexander von Humboldt, von dem ich gleich noch etwas mehr erzählen möchte, hat Zeit einmal »das wichtigste Gut des Gelehrten« genannt. Heute wird die Verfügbarkeit von Zeit, statt sie als eine Voraussetzung und Notwendigkeit für erstklassige Forschung anzusehen, allzu oft als Luxus geschmäht. Und nicht selten wurde – auch uns in der Stiftung – von Haushältern der Parlamente die Frage gestellt: Darf man sich Luxus leisten, ihn gar alimentieren, und wenn ja: wozu soll dies überhaupt gut sein? Tatsächlich wurde in der Vergangenheit auch immer wieder einmal die Befürchtung geäußert, dass mit der Einrichtung von Wissenschaftskollegs die Universitäten gleichsam »ausgehöhlt« würden – und diese Ansicht wurde keineswegs nur von Bürokraten und den ewig Gestrigen geäußert, sondern auch von Spitzenwissenschaftlern. Als, zum Beispiel, 1980 das Wissenschaftskolleg in Berlin, das Wiko, gegründet werden sollte, wurden die Präsidenten der Wissenschaftsorganisationen eingeladen, bei der Gründung mitzuwirken und ordentliche Mitglieder des Vereins zu werden. So auch der damalige Präsident der Humboldt-Stiftung, der spätere Physik-Nobelpreisträger Wolfgang Paul, der in diesem Jahr der Wissenschaftsjubiläen übrigens seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte. Bei der Beratung über die Einrichtung des WiKo in der Vorstandssitzung der Humboldt-Stiftung gab Wolfgang Paul ganz offen zu, dass er zunächst geglaubt habe, die Einrichtung eines solchen Kollegs würde zum »Ausbluten« der Universitäten beitragen, wenn man denn beabsichtige, einzelne Wissenschaftsbereiche ohne Not ganz aus den Universitäten herauszuziehen und in das Wissenschaftskolleg zu verlagern. Wolfgang Paul plädierte daher dafür, diesen »Elfenbeinturm« – so nannte er das Wiko wörtlich –, zwar zu bauen, ihn aber unbedingt auch für den wissenschaftlichen Nachwuchs zu öffnen, um so eine »vernünftige Mischung« von älteren und jüngeren Fellows zu gewährleisten, und ferner regte er an, akademische Nabelschnüre zu den Universitäten der Region einzurichten. Dass der Weltbürger Wolfgang Paul die Einrichtung des WiKo nach dem Vorbild des Institute for Advanced Study in Princeton nicht ungeteilt begrüßte, mag manch einen zunächst überraschen – vor allem, wenn man an Pauls eigene enge Verbindungen in die USA denkt! Bei näherem Hinsehen aber werden seine Vorbehalte schnell verständlich. Wolfgang Paul sagte in der damaligen Diskussion nämlich auch, dass die Universitäten keinen weiteren Verlust an »wissenschaftlicher Atmosphäre und Exzellenz« erleiden dürften. Seine Sorge galt also ganz und gar der Zukunft der Universität; er hatte schnell und früher als andere begriffen, dass die Gefahr für die Hochschulen keineswegs von den Wissenschaftskollegs ausging, die Gefahr war schlechthin ein Kind der Universitätskrise.
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Zur Bedeutung wissenschaftlicher Kollegs für den internationalen Austausch und die Förderung exzellenter Forschung möchte ich nun mit Ihnen einige Gedanken teilen. Dabei will ich zunächst zwei Stichworte aus dem Argumentationsgebäude Wolfgang Pauls etwas näher adressieren: Nachwuchsförderung und Elfenbeinturm. Das Thema Nachwuchsförderung hat für einen Präsidenten der Humboldt-Stiftung natürlich stets oberste Priorität – ganz gleich ob dieser Werner Heisenberg, Feodor Lynen, Wolfgang Paul, Reimar Lüst, Wolfgang Frühwald oder Helmut Schwarz heißt. Förderung junger Forschender heißt immer auch, die Vernetzung zwischen den Wissenschaftlergenerationen zu fördern. Die Humboldt-Stiftung ermöglicht dies dadurch, dass ausländische Bewerber um ein Forschungsstipendium in Deutschland einen Gastgeber oder eine Gastgeberin haben müssen. In der Regel sind dies erfahrenere Kollegen, die nicht nur den Forschungsstandort Deutschland sehr gut kennen, sondern den Forschungsstipendiaten auch mit Rat und Tat bei der Skizzierung und Durchführung des eigenen Projekts zur Seite stehen können. Eine vergleichbare Funktion erfüllen Humboldt-Alumni. Sie fungieren in ihren Heimatländern als Gastgeber für jüngere deutsche Wissenschaftler, die mit einem Feodor Lynen-Stipendium der Humboldt- Stiftung ins Ausland gehen. Nachwuchsförderung ist also ein elementarer Beitrag zum wissenschaftlichen Austausch, der ja wesentlich auf der kontinuierlichen Erneuerung der Sichtweisen – sprich: der Einbeziehung jüngerer Generationen – beruht. Das wusste übrigens auch schon Alexander von Humboldt: Weltreisender, Entdecker, Kosmopolit und als Wissenschaftler ein Universalgenie auf verschiedenen Gebieten – seien es Botanik, Geographie, Physik oder Geologie, um nur einige zu nennen. Er, Humboldt, ist ja nicht nur der Namensgeber unserer Stiftung, sondern auch Vorbild für unsere Arbeit. Humboldt hat niemals eine Gelegenheit versäumt, junge Kollegen zu empfangen, mit ihnen über ihre Interessengebiete zu diskutieren und ihnen weitere Kontakte in seinem eigenen riesigen Netzwerk zu vermitteln, das er im Laufe seines Lebens mit ca. 3.000 Briefpartnern aufbaute, die von ihm nicht weniger als 50.000 handgeschriebene Briefe erhielten. Wie sein Biograph Douglas Botting schreibt, hat es Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa kaum einen Wissenschaftler von Rang gegeben, der nicht zu Beginn seiner Karriere von Humboldt gefördert worden wäre. Übrigens hat Humboldt als junger Mann selbst von solchen Kontakten profitiert. Geweckt wurde seine Leidenschaft für die Naturwissenschaften ebenfalls durch wichtige Mentoren, die er an entscheidenden Punkten seines Lebens traf: Gerade einmal 19 Jahre alt, traf Humboldt den Botaniker Carl Ludwig Willdenow, Autor eines richtungsweisenden Werks über die Pflanzenwelt in und um Berlin (Florae berlinensins prodomus). Jahre später schrieb Humboldt dazu: »Von welchen Folgen war dieser Besuch für mein übriges Leben! Er bestimmte mir Pflanzen, ich bestürmte ihn mit Besuchen. In drei Wochen war ich ein enthusiastischer Botanist.”
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Ein gutes Jahr später, 1789, machte Humboldt an der Universität Göttingen zwei weitere entscheidende Bekanntschaften: Zum einen Georg Forster, großes und bewundertes Vorbild als Entdecker, Forschungsreisender, Wissenschaftler und Humanist. In Göttingen erhielt Humboldt aber endlich auch entscheidende Impulse aus der Universität selbst – man könnte sagen: hier hat er sich mit dem akademischen System, das ihm bislang wenig zu geben vermochte, ausgesöhnt. Denn hier, in Göttingen, lehrte Georg Christoph Lichtenberg. Lichtenbergs Kolleg machte die Hörer vertraut mit Mathematik und Experimentalphysik, mit Geodäsie, Meteorologie, Astronomie oder Chemie, vieles unterstützt durch erhellende Experimente. Von Lichtenberg also erhielt Humboldt nicht weniger als das akademische Rüstzeug, das er benötigte, um verschiedenste Naturphänomene zu erkennen, sie zu beschreiben, zu verstehen und sie dann in einen größeren Zusammenhang einzuordnen. Lehrer, wie Lichtenberg oder Forster, entzündeten in Humboldt die Leidenschaft, seine Talente voll zu entwickeln, so dass er später aus seiner mehrjährigen Reise durch Amerika jenen Nutzen ziehen konnte, der die Wissenschaft seiner Zeit völlig verändern sollte. Folglich überrascht es nicht, dass Humboldt seinem Lehrer Lichtenberg am 3. Oktober 1790 in Dankbarkeit jene berühmt gewordenen Worte schrieb: »Ich achte nicht bloß auf die Summe positiver Erkenntnisse, die ich Ihrem Vortrage entlehnte – mehr aber auf die allgemeine Richtung, die mein Ideengang unter Ihrer Leitung nahm. Wahrheit an sich ist kostbar, kostbarer noch die Fertigkeit, sie zu finden.« Um diese Fertigkeit – heute sprächen wir wohl von Fähigkeit – voll und ganz zu entwickeln und auszuschöpfen, ist »Zeit« wiederum eine Voraussetzung, und darüber hinaus: Orte, wie dieses Kolleg in Greifswald, an denen man diese »Zeit« nutzen kann. Das zweite Stichwort, das ich den Worten von Wolfgang Paul entnehme, heißt daher: »Elfenbeinturm«. Zugegeben, dieser Ausdruck gehört mit Sicherheit zu den eher ambivalenten Begriffen, mit denen wissenschaftliches Arbeiten gelegentlich assoziiert wird. Die Vorstellung des Wissenschaftlers, der sich in den geschützten Elfenbeinturm zurückzieht, um dort, fern von den Sorgen und Nöten oder auch den Ablenkungen der ihn oder sie umgebenden Welt, sich ganz und gar der Forschung zu widmen, wurde schon oft und meistens arg strapaziert; sie gleicht an vielen Stellen einem Klischee. Im Reformeifer oder -furor, der in den letzten 20 Jahren die Universitäten wie eine Feuerbrunst erfasst hat, wurde immer wieder die Forderung erhoben, dass die Wissenschaft den Elfenbeinturm verlassen müsse, dass sie sich und ihr Tun stärker rechtfertigen und ferner in einen lebhafteren Austausch mit der Gesellschaft eintreten müsse, sie – die öffentlich finanzierte Wissenschaft – habe schließlich eine Bringschuld, müsse deshalb ihre Nützlichkeit für die Gesellschaft belegen. Leider birgt dieser Rechtfertigungsdruck in sich die enorme Gefahr, dass Wissenschaftler gar nicht mehr zum Forschen kommen, nämlich Schneisen ins wirklich Unbekannte zu schlagen. Große Werke, die den Ruf von
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Forschenden begründen und bestätigten, konnten und können jedoch nur entstehen, wenn die Voraussetzungen stimmen. Einrichtungen, wie das Krupp-Kolleg, bieten die Möglichkeit, ein wissenschaftliches Werk entscheidend voranzutreiben oder es gar zum Abschluss zu bringen. Denn von einem Turm aus – auch einem aus Elfenbein – hat man nun einmal einen herausgehobenen Blick auf die einen umgebende Welt, und behält genügend Abstand, um die unerlässliche, objektive Sichtweise des Wissenschaftlers beizubehalten. Alexander von Humboldt schrieb hierzu treffend: »Wissenschaft fängt erst an, wo der Geist sich des Stoffes bemächtigt, wo versucht wird, die Masse der Erfahrung einer Vernunfterkenntnis zu unterwerfen.« Daher mein Fazit: Wissenschaftliche Exzellenz braucht Elfenbeintürme, beziehungsweise Institutionen, die einen Rückzug und die Freiheit gleichermaßen ermöglichen! Allerdings gilt auch, dass die Aufgabe wissenschaftlicher Kollegs nicht nur darin besteht, Elfenbeintürme oder Freiräume für die individuelle wissenschaftliche Arbeit zu schaffen, sondern auch den Dialog zwischen exzellenten Forschenden zu befördern. Das Krupp-Kolleg ermöglicht dies durch das internationale Profil seiner Fellows. Damit leistet es einen unverzichtbaren Beitrag zur internationalen Vernetzung der Wissenschaft im Ostseeraum, aber auch weit darüber hinaus. Eines sollten wir nie vergessen, oder wir sollten uns in der gegenwärtig existierenden europäischen Krise zumindest daran erinnern: Die enge Zusammenarbeit von Wissenschaftlern in Europa, die wir heute als selbstverständlich ansehen, ist überhaupt nicht selbstverständlich, sie ist eine historische Errungenschaft. Vor allem gilt dies für unser Land: Deutschland hat nach dem Zweiten Weltkrieg ganz langsam und erst allmählich das Vertrauen seiner näheren und ferneren Nachbarn zurückgewonnen. Oder, genauer: Dieses neue Vertrauen wurde uns als eine Leihgabe zuteil, ein Geschenk, dessen wir uns immer wieder würdig erweisen müssen. Kürzlich hat Heinrich Pfeiffer, der die Humboldt-Stiftung fast vierzig Jahre, nämlich von 1956 bis 1995 als Generalsekretär leitete, in einem Interview für unsere Alumni-Zeitschrift KOSMOS hierzu folgendes gesagt. Ich zitiere: »Die deutsche Geschichte hat uns anfangs sehr belastet. Da kamen ab 1953 Wissenschaftler aus Ländern wie Polen zu uns, die Deutschland wenige Jahre vorher überfallen hatte. Viele Stipendiaten reisten mit gemischten Gefühlen hierher. Ich hatte diese Vorbehalte selbst erfahren, als ich nach dem Krieg als Stipendiat nach Schweden ging und von dort in die USA. Oft wurde ich gemieden, weil ich Deutscher war. Vertrauen und Sympathie aufbauen, menschlich sein und persönlich, das war damals unsere Hauptaufgabe, und ist es heute noch.« Wie wahr!
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Gerade die Beziehung der Humboldt-Stiftung zu unserem östlichen Nachbarland Polen zeigt, wie gut dies gelingen kann. Derzeit gibt es in Polen 1022 HumboldtAlumni, mehr als in irgendeinem anderen europäischen Land. Viele von ihnen sind Mitglied der polnischen Humboldtianervereinigung, der Societas Humboldtiana Polonorum. Aktuell verzeichnen wir zwar nicht mehr die hohen Bewerbungszahlen der 1970er und 1980er Jahre, und dies einfach deshalb, weil Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Polen heute – endlich und glücklicherweise! – die ganze Welt offensteht. Und ferner: ein bedeutender Teil deutsch-polnischer wissenschaftlicher Zusammenarbeit wird heute via Brüssel mit EU-Mitteln finanziert. Dennoch ist das Humboldt-Netzwerk in Polen, mit jährlich ca. 12 bis 14 neu ausgewählten Stipendiaten, stabil und wird somit kontinuierlich bereichert durch junge aufstrebende Kolleginnen und Kollegen, die sich für einen Forschungsaufenthalt in Deutschland entscheiden. Nichtsdestoweniger würden wir uns über noch mehr erstklassige Bewerbungen aus diesem für die Humboldt-Stiftung – und Deutschland – so wichtigen Nachbarland freuen; denn der Mehrwert dieser wissenschaftlichen Beziehungen für Deutschland und seine Forschungslandschaft – wie auch für die einzelnen Wissenschaftler – ist enorm und unermesslich. Interdisziplinär angelegte Wissenschaftskollegs, wie das Krupp-Kolleg in Greifswald oder das WiKo in Berlin, bieten den Fellows aber auch die Möglichkeit, sich über Fächergrenzen hinweg auszutauschen, und dies jenseits aller Nützlichkeitsüberlegungen, die der Grundlagenforschung immer schon mehr geschadet als genutzt haben. Ich selbst besuche gerne literarische und musikalische Abendveranstaltungen am WiKo in Berlin, wann immer ich es einrichten kann, und fühle mich jedes Mal reich beschenkt. Ebenso bietet das kulturelle Programm, das hier in Greifswald geboten wird, den Fellows und der Stadt eine Vielfalt an inspirierenden Ideen, Gedanken und ästhetischen Erfahrungen. Oft, ganz unvermutet, entstehen daraus auch Anregungen für die eigene, meistens in einem völlig anderen Gebiet angesiedelte Forschung. Alexander von Humboldt hat übrigens ganz direkt sein Interesse von den Naturphänomenen auch auf die Naturbilder in Dichtung und Landschaftsmalerei ausgeweitet. Ein langes Kapitel im zweiten Band seines epochalen Opus magnus »Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung« ist der Geschichte dieser ästhetischen Naturbeschreibung gewidmet, die Humboldt als »Anregungsmittel zum Naturstudium« bezeichnet hat. Zu welchen Höchstleistungen eine solche Offenheit für die verschiedensten Eindrücke anspornen kann, dafür sind Humboldts Leben und Werk das beste Beispiel. Und auch für den Austausch mit einer breiteren Öffentlichkeit, wie er in Wissenschaftskollegs – so auch im Krupp-Kolleg – gepflegt wird, ist Alexander von Humboldt Pionier und Vorbild: Mit seinen insgesamt 61 Vorlesungen, die er in den Jahren 1828/1829 an der Sing-Akademie hielt, führte er ein bestenfalls partiell gebildetes,
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jedoch immer neugieriges Berliner Publikum in völlig neue Welten ein: Er sprach vor oft über 800 Menschen über die Planetenbewegungen ebenso wie über die Struktur der Erdkruste oder die Verbreitung der Tier- und Pflanzengattungen in den verschiedenen Erdteilen. In der Stadt Berlin, die Humboldt nach seinem Rückzug aus Paris eher wie eine geistige Wüste erschien, in der – nach seiner Sicht – die Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften einem Hospital für Siechende glich, hatte es Derartiges zuvor noch nie gegeben. Humboldt selbst blieb einfach den Idealen der Aufklärung treu, für die er sein Leben lang eintrat. Schon 1799 schrieb er dazu in einem Brief: »Ideen können nur nützen, wenn sie in vielen Köpfen lebendig werden.« Für diesen Ideentransfer – zwischen Nationen, zwischen Generationen und zwischen Wissenschaft und Gesellschaft – eine Brücke zu bauen, das ist die zentrale Leistung, die auch wissenschaftliche Kollegs ermöglichen sollten. Seinen vollen Mehrwert entfaltet ein Wissenschaftskolleg aber vielleicht erst in der engen Kooperation mit benachbarten Universitäten. So geschieht es hier in Greifswald, so geschieht es an anderen Einrichtungen, wie etwa dem Lichtenberg-Kolleg in Göttingen, dem WiKo in Berlin und anderswo. Das Krupp-Kolleg fördert in Kooperation mit der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald beispielsweise Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler mit Promotionsstipendien im Rahmen von Graduiertenkollegs und fächerübergreifenden Forschungsprojekten. Damit leistet es einen wichtigen Beitrag zur Förderung des Nachwuchses in dieser Region. Von den Fellows am Krupp-Kolleg wird überdies die Bereitschaft erwartet, mit Fachkollegen und Studierenden der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald zu kooperieren. Auf diese Weise, so könnte man sagen, zahlen die auf Zeit privilegierten Fellows den Hochschulen reichlich Zins. Machen Sie in der Universität doch noch mehr Gebrauch von diesem Angebot! Ich komme noch einmal zurück auf Wolfgang Paul und seine, bei der Diskussion über die Einrichtung des WiKo in Berlin, damals zum Ausdruck gebrachte Sorge um die Zukunft der Universität, für die er einen weiteren Verlust von akademischer Atmosphäre und Substanz befürchtete. Wie gerne würde ich konstatieren: Gut, dass diese düstere Prognose sich nicht ganz erfüllt hat. Doch leider erweisen sich die Worte Wolfgang Pauls im Rückblick als geradezu prophetisch. Ich kann auch hier vor Ihnen nur wiederholen, was ich schon oft an anderen Stellen bekräftigt habe: Wo immer Universitäten blühten, da waren sie Orte, an denen primär alle Anstrengungen dem Erkenntnisgewinn schlechthin galten, wo über Themen und Fragen nachgedacht wird, deren Bedeutung, praktischer Nutzen und alltägliche Verwertbarkeit sich möglicherweise erst Jahrzehnte später voll entfalten. Heute aber
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ist die Gefahr einer übertriebenen Ökonomisierung der Universitäten oft nicht mehr zu übersehen; die Haltung, Projekten mit knappen Zeitskalen und raschem, potentiellen Vermarktungserfolg per se den Vorzug zu geben, greift wie eine ansteckende Krankheit um sich, statt neugiergetriebene, auf längere Perioden angelegte Forschung in das Zentrum intellektueller Aktivitäten und praktischer Anstrengungen zu stellen und an Kants Prinzip festzuhalten, dass »Nützlichkeit zunächst nur ein Moment von zweitem Range ist«. Die Schuld dafür liegt keineswegs immer und ausschließlich bei den Bürokraten und Administratoren in den Hochschulleitungen, sondern der Fehler steckt vielmehr in einem System, das glaubt, Forschung sei prinzipiell planbar und müsse deshalb konsequent durchorganisiert werden, mit der Gefahr, dass auch der letzte Keim von Forschungsfreiheit, Kühnheit und Kreativität erstickt zu werden droht. In jüngerer Zeit mehren sich die mahnenden Worte – gefordert wird eine Entschleunigung der Wissenschaft an den Universitäten, ein Innehalten im endemischen Reformeifer, und nicht zuletzt ein Überdenken der Praxis, Forschung – speziell Grundlagenforschung – in Projekte zu zwängen, so, wie es derzeit in England und Kanada geschieht, also nur Projekte zu fördern, bei denen die Ergebnisse quasi schon bei der Beantragung vorweggenommen werden müssen. Dieser Irrweg wird sich nicht nur als kostspielig herausstellen, er wird auch zu Kollateralschäden des gesamten akademischen Systems führen. Meine Damen und Herren: Wissenschaftlichen Kollegs, so meine ich, kommt verstärkt die Rolle von Laboratorien zu. Sie sind in der Lage, den Beweis zu führen, dass exzellente Forschung tatsächlich nur in einem Klima der Freiheit gedeihen kann, dass Forschung zunächst nichts anderes benötigt als Zeit zum Denken. Und nur so kann die »akademische Atmosphäre«, von der Wolfgang Paul auch sprach, auf Dauer für die Wissenschaft erhalten bleiben. Und nur so kann die Universität, kann die Gesellschaft, aus den Freiräumen für exzellente Forschung, für internationalen Austausch und Vernetzung, die die wissenschaftlichen Kollegs bieten, den vollen Mehrwert schöpfen. Das »Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald« müsste gegründet werden, wenn es nicht schon 10 Jahre existierte. Wünschen wir diesem wunderbaren Sprössling eine große, glückliche, uns alle bereichernde Zukunft! Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Das Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald ist eine wissenschaftlich unabhängige Einrichtung in der Trägerschaft der Stiftung Alfried Krupp Kolleg Greifswald. Gründer der Kollegstiftung sind die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, Essen, das Land Mecklenburg-Vorpommern und die Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald. Die Arbeit des Wissenschaftskollegs dient vornehmlich dem Ziel, Forschung und Wissenschaft an der Universität Greifswald zu fördern und damit den akademischen Standort Greifswald zu stärken.
Stiftung Alfried Krupp Kolleg Greifswald · 17487 Greifswald Telefon 0 38 34 / 86-1 90 01 · Telefax 0 38 34 / 86-1 90 05 info@wiko-greifswald.de · www.wiko-greifswald.de