KOMMUNIKAZE 1
Herr Larmann KOMMUNIKAZE
über Eckbälle, Samuel Beckett und seine Zeit in Portugal 0
AUSGABE 14
JULI 2005
ABGABE KOSTENLOS
WWW.KOM MUNIKAZE.ORG
facts & fiction
Außerdem: MTV Campus Invasion Tickets zu gewinnen! Infos auf der Rückseite!
IN H ALT 2
TITEL
Herr Larmann
EvENTS
ab Seite 4
FICTION
F ACTS
Die Frau mit den komischen Träumen Seite 9 Le Malpensant Seite10 Bahnhof der Konjunktive Seite 12
Er/Sie/Eskimo Auf dem Dach Tischgebet
Zeitschrift für Facts & Fiction
Jan Paulin photocase.de
Redaktion:
verantwortlich fürFinanzen: Layout/Satz: Fotos:
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KOMMUNIKAZE
Jan Paulin JP (ViSdP) Stefan Berendes SB Darren Grundorf DG Anna Groß AG Ronny Kamrath RK Sven Kosack SK Stephanie Schulze ST Michael Weiner MW Nicolai von Ondarza NvO
Jan Paulin Stefan Berendes Darren Grundorf
Seite 14 Seite 16 Seite 18
Auflage: Realisation:
400 Exemplare Druckerei Klein, Osnabrück
Die mit Namen gekennzeichneten Beiträge geben nicht zwingend die Meinung der gesamten Redaktion wieder. Für den Fall, dass in diesem Heft unzutreffende Informationen publiziert werden, kommt Haftung nur bei grober Fahrlässigkeit in Betracht.
Ein toller Preis
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EEDITORIAL
twas Tolles sollte es beim Jubiläums-Gewinnspiel in der letzten Ausgabe für denjenigen geben, der das richtige Lösungswort als erster parat hat. Diese zugegebenermaßen etwas nebulös formulierten Gewinnaussichten haben unsere verehrte Leserschaft offenkundig weitestgehend kalt gelassen: Ein einziges Mal schlug das gesuchte Lösungswort Kopfsalat in unserem Postfach ein. Dennoch waren wir eher gespannt als enttäuscht: Wer mochte sich wohl hinter dieser ganz und gar solitären Wettbewerbsteilnahme verbergen? Als Absender der Gewinnermail stellte sich schnell Veit Larmann heraus, der seine Mail auch dazu nutzte, uns für die Qualität der Kommunikaze zu loben -- vor lauter Rührung blieb uns also keine andere Wahl, als den allertollsten Preis rauszurücken, der uns einfällt: Titelseite und -rubrik der aktuellen Ausgabe. Das große Interview mit Veit Larmann war uns also eine Selbstverständlichkeit und eine große Freude - vor allem deshalb, weil Veit den ganzen Irrsinn klaglos über sich ergehen ließ. Dafür sei ihm an dieser Stelle tief und aufrichtig gedankt. Aber auch für Euch besitzt die Titelstory Erkenntniswert: Endlich erfahrt Ihr en detail, wie man sich denn einen typischen Leser dieser Zeitschrift, die Jan, Darren und Stefan da herausgeben vorzustellen hat. Mittlerweile hat sich übrigens - ein Glück - mit Leserin Hilke Plötz eine zweite Wettbewerbsteilnehmerin gefunden. Auch Dir vielen Dank, Hilke! Zusätzlich zum Interview gibt s dieses Mal nicht nur den übrigen Mix aus facts & fiction, sondern auch wiederum ein Gewinnspiel - dieses Mal mit klar formuliertem Preis. Infos hinten auf dem Umschlag!
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Wir wünschen schöne Ferien und spannende Lektüre! Euer Kommunikaze-Team
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Herr Larmann
Veit Larmann über Eckbälle, Samuel Beckett und seine Zeit in Portugal
Grundorf: Langsam wird es wieder wärmer. Wie verbringt Veit Larmann den Sommer? Larmann: Hauptsächlich werde ich meine Abschlussarbeit schreiben, aber ich hoffe, es bleibt noch Zeit, dann und wann an den Baggersee zu fahren -- ich dachte, Ihr arbeitet jetzt hier den klassischen Hundert-Fragen-Katalog ab. Alle: Gibt s so was? Larmann: Ja. Grundorf: Nun gut. Machen wir nicht. Veit, Du bist schon länger Kommunikaze-Leser. Welches war denn bislang Deine Lieblingsausgabe? Und was gefällt Dir beson-
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eit Larmann, 31 Jahre alt, Student der Europäischen Studien an der Universität Osnabrück und bekennender Kommunikaze-Fan: Lange Zeit hatte er als Einziger am Gewinnspiel der Februarausgabe teilgenommen und das Lösungswort Kopfsalat an die Redaktion übermittelt. Für uns Grund genug, diesen vielleicht einzigen Leser im Interview einmal näher unter die Lupe zu nehmen. Ehrensache natürlich auch, dass das Interview von den drei großen, alten Männern der Kommunikaze, Paulin, Grundorf und Berendes, geführt wurde. Ihre Strategie für das Gespräch: ein Minimum an Vorbereitung gepaart mit einem Maximum an Dummdreistigkeit. Veit Larmann steht der Kommunikaze-Chefredaktion exklusiv Rede und Antwort. Lest selbst! ders gut an der Kommunikaze? Larmann: Die Amerika-Ausgabe habe ich sehr genossen. Prinzipiell finde ich einfach super, dass Leute einfach Initiative zeigen und eine Zeitschrift machen.. Alle: Soso, wir glauben übrigens, dass Du ungefähr unser einziger Leser bist. Larmann: Meint Ihr? Das sehe ich anders. Alle: Doch, doch. Wir glauben schon. Larmann: Hmm eigentlich hat ja auch meine Freundin das Rätsel gelöst. Da wären es dann ja schon zwei Leser... Berendes: Anderes Thema. Veit, Du hast ja sehr lange in Portugal ge-
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lebt Larmann: nein. Berendes: Ach so. Aber im Ausland warst Du mal? Larmann: Ja, ich war in Frankreich. Berendes: Aber Du hast doch auch mal in Irland gelebt? Larmann: Nein. Grundorf (entgeistert): Ja, aber Du kanntest doch mal in Irland einen Barkeeper, der ein Beckett-Stück auswendig konnte? Larmann: Nein, ich habe mal in Osnabrück als Barkeeper gearbeitet und dann einen getroffen, der in Radfahrerklamotten in
se schöner als an Grevenbroich? Larmann: Wo liegt das denn? Grundorf: Am Niederrhein. Larmann: Schön. Grundorf (zu Berendes): Wie hast du denn gerade Grevenbroich ausgesprochen? Berendes: Grevenbroich Grundorf: Es muss aber Grevenbroooch heißen!
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In den folgenden zehn Minuten entbrennt eine Diskussion darüber, wie der Name Grevenbroich auszusprechen ist. Schon bald spitzt das ganze Kaffeehaus aufmerk-
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sam die Ohren. Paulin beendet die Debatte mit der Bemerkung, dass das Hinzufügen einiger Schnalzlaute zur korrekten Aussprache unabdingbar sei und kehrt dann zum eigentlichen Interview zurück. Paulin (zusammenhanglos): Und was ist mit Kassel? Larmann: Da war ich mal auf einer Party. Alle: Schön. Grundorf: Veit, Du lebst ja nicht nur in Osnabrück, sondern machst hier auch irgendwas mit EU Larmann: Ja, ich arbeite im Euro-Info-Cen-
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der Disco war und das Beckett-Stück Erste Liebe auswendig gelernt hatte. Und der kam aus Irland hatte ich Dir nicht mal ein Beckett-Buch geliehen? Grundorf: Veit, Du bist ja Beckett sehr verbunden? Eigentlich nicht was hat der denn sonst noch so geschrieben? Paulin: Zum Beispiel Warten auf Godot Larmann: Ach ja, sicher. Berendes: Du lebst ja schon längere Zeit in Osnabrück. Was ist denn an Osnabrück beispielswei-
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habe mal in Osnabrück als Barkeeper gearbeitet und dann einen getroffen, der in Radfahrerklamotten in der Disco war und das Beckett-Stück Erste Liebe auswendig gelernt hatte. Und der kam aus Irland
TITEL ter der FH. Grundorf: Das passt gut, denn die EU ist ja gerade ziemlich in der Krise, und damit noch nicht genug: Deutschland am Abgrund, die Regierung strauchelt, dann noch der letzte Platz beim Grand Prix, mit Schumacher zusammen mag keiner mehr fahren wie tief kann Deutschland noch sinken? Larmann: Mit einer Frau Merkel wird es jedenfalls kaum besser werden. Es wird sich ja noch nicht mal was ändern. Im Grunde ist das ja nur ein Manöver für eine große Koalition ist eigentlich einer von Euch bei der SPD? Alle: Wir stellen hier die Fragen. Larmann: Ich habe ja gehört, dass die Regierung jeweils nur 25% von allem beeinflussen kann, weil das alles so institutionell verschränkt ist. Grundorf: Ach so. Um noch einmal auf Portugal zurückzukommen, wo Du ja lange gelebt hast: Sollte Portugal Mitglied der EU werden? Larmann: Portugal ein Land, in dem ich übrigens tatsächlich NIE gelebt habe, aber Mitglied in der EU sind sie ja trotzdem schon. Grundorf (skeptisch): Was meinst Du: Sollten sie denn austreten? Larmann: Nein, ich finde, alles sollte beim Alten bleiben. Grundorf (versunken): Ja, so ist es sicherlich das Beste
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Alle halten kurz inne und schauen eine vorbeikommenden Frau im knappen Bikinioberteil nach. Außer Veit natürlich, denn der hat eine Freundin. Weiter im Text: Berendes: Veit, Du bist auch eine Person des öffentlichen Lebens. Ich spiele da vor allem auf Deinen Internetauftritt http://www.veit-
larmann.de an. Wie lebt man eigentlich damit, wenn man so gefragt ist? Larmann (bescheiden): Eigentlich stand ja bei dem Internetauftritt im Vordergrund, dass ich einen sehr komplizierten Lebenslauf habe, und da wollte ich einfach mal Klarheit schaffen. Grundorf (verunsichert): Ach so, na ja, wir haben uns eigentlich nur die Fotos von Deinen Cocktailpartys angeguckt Sollen wir jetzt Fragen zu Deinem Lebenslauf stellen? Larmann: Ich weiß nicht. Kurze Stille. Paulin: Veit, Du hast ja bekanntermaßen einen sehr komplizierten Lebenslauf. Wie kommt es eigentlich dazu? Larmann: Naja, ich fand es in der Schule scheiße und habe erst mal eine Ausbildung gemacht. Danach habe ich dann das Abi nachgeholt. Paulin: Was hast Du denn für eine Ausbildung gemacht? Eigentlich habe ich mal Schlosser gelernt: Mein Vater war Industriearbeiter. Schweißer Grundorf: Schweizer? Larmann: SCHWEISSER! Grundorf: Ach so. Wenn Du nun aber keiner Lust auf Schule hattest, was hast Du denn dann noch so gemacht? Larmann (verschmitzt):Ach, nichts Besonderes. Obwohl ich aus dem Nordkreis komme, habe ich nie einer Mofagang angehört und war auch nie Messdiener. Berendes: Hmmm. Veit, Stichwort portugiesische Außenpolitik der 60er Jahre Larmann: Ja, was denn? Grundorf: Ja, kannst Du Dich dazu
TITEL Hundert-Fragen-Katalog wird auch gefragt, was denn so die Lieblings-CD ist. Könnt Ihr mich nicht so was fragen? irgendwie äußern? Larmann: War das nicht damals eine Diktatur? Berendes (ertappt): Ja, kann sein. Larmann (insistierend): Ich glaube schon. Grundorf (auftrumpfend): Ja, doch das stimmt. Und einer der Aufständischen, die da die Demokratie mit eingeführt haben, stand glaube ich letzte Woche bei Gestorben im Spiegel drin oder in der Süddeutschen. Schweigen. Larmann: Ich hatte mal in Frankreich eine portugiesische Mitbewohnerin. Schweigen. Grundorf: Veit, was meinst Du: Welcher deutsche Kaiser war wohl Martin Luthers größter Wiedersacher? Larmann: Das weiß ich nicht. Paulin: Kaiser Wilhelm.
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Paulin und Larmann schauen versunken ins Leere Grundorf: Noch mal zurück zur Kommunikaze: Wie lange liest Du uns schon? Larmann: hmmm ungefähr drei Jahre? Grundorf (zweifelnd): Gibt s uns überhaupt schon so lange? Berendes (versöhnlich): Naja, zweieinhalb Jahre sind es schon Grundorf: Ja, Veit, zweieinhalb Jahre: Kannst Du Dich denn noch an die Anfänge erinnern? Larmann: Eigentlich nicht. Paulin (halb zu sich): Kein Wunder (laut) Die Erste haben wir ja selbst hinterher aus den Papierkörben am Neumarkt sammeln müssen. Larmann: Was motiviert Euch eigentlich?
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Berendes (irritiert): Welcher Wilhelm? Grundorf: Du bist doch gar nicht dran. Na komm, Veit: Mit K. War das nicht der Papst? Grundorf (ungehalten): Nein, MIT K! Larmann (erbost): Ich WEISS ES NICHT! Karl der Große? Grundorf: Nein, Karl der Fünfte. Larmann: Ah ja... Im Hundert-Fragen-Katalog wird auch gefragt, was denn so die Lieblings-CD ist. Könnt Ihr mich nicht so was fragen? Paulin (die Augen verdrehend): Was ist Deine Lieblings-CD? Veit: von Belle & Sebastian die Rote. Paulin: Ah, die Rote, die heißt doch irgendwie so Veit: Ja irgendwie so. Paulin (entzückt): Und dann gab s da ja auch noch so eine Grüne. Die hatte so einen langen Titel. Larmann: Ja, die war auch klasse.
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Grundorf: Das weiß ich nicht (zu Berendes) Stefan, was motiviert uns eigentlich? Larmann (einhakend): Macht Ihr das aus Spaß, oder (verächtlich) nur für den Lebenslauf? Alle: Nein nein, schon für den Lebenslauf. Larmann: Aha. Wie bekannt seid Ihr denn mittlerweile? Berendes (aufgeregt): Vor zwei Jahren war glaube ich mal ein kleiner Artikel über uns im Stadtblatt Darren: den Du immer noch gerahmt auf dem Gäste-WC hängen hast. Larmann: Wollt Ihr eigentlich irgendwann mal Geld dafür nehmen? Berendes: Eher im Gegenteil: Wir versuchen eigentlich schon seit Jahren, inhaltlich an einen Punkt zu kommen, an den uns die Leser nicht mehr folgen können und wollen. Paulin: Der Punkt war spätestens mit der Pferdeausgabe erreicht. Berendes (unbeirrt): Genau. Als ich die in der Mensa wieder eingesammelt habe, wollte ein Mädchen ihr Heft unbedingt behalten, weil es sich so für Pferde interessiert.
Grundorf: Veit, was glaubst Du, könnte Kommunikaze besser machen? Larmann: Interviews. Paulin (ablenkend): Machst Du eigentlich auch Sport? Larmann: Mein Nachbar bringt mir jetzt Fußball bei Grundorf: Ist das nicht ein bisschen spät mit 31 Jahren? Larmann: Wieso? Da kann man direkt in
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Alle lachen.
die Altherrenmannschaft. Paulin: Kennst Du denn die Regeln? Larmann: Es geht. Grundorf (streng): Was gibt s denn zum Beispiel beim Tor-Aus? Na? Larmann: ..vielleicht Eckball? Grundorf: Richtig. Das war knapp, Veit. Was machst Du sonst für Sport? Larmann: Früher Radrennen. Heute Muckibude. Grundorf: Hast Du denn das Radrennen professionell betrieben? Larmann: Ja, schon. Grundorf (aufgeregt): Hast Du einen Pokal. Larmann: Nein. Habt Ihr eigentlich bei der Kommunikaze irgendwelche Traditionen? Zum Beispiel zusammen am Rubbenbruchsee Pastis trinken? Alle (ratlos): Nein. Larmann: Hmm. Kurze Stille. Larmann: Naja, ich muss dann jetzt auch Paulin: Wie sagt man noch auf Portugiesisch Larmann: ICH WEISS ES NICHT! Alle: Veit Larmann, wir danken für dieses Gespräch. Interview: JP, DG, SB Fotos: JP
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Die Frau mit den komischen Träumen
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ch sitze im Auto. Carsten fährt. Daniela sitzt auf dem Beifahrersitz und dreht an den Radioknöpfen. Wir trinken Bier aus großen Dosen und fahren durch einen Wald. Zwischen den Bäumen scheint die Sonne durch. Ich halte Ausschau nach einer geeigneten Stelle, um ein Picknick zu machen. Plötzlich kommt ein bestimmtes Lied im Radio. Daniela dreht die Lautstärke hoch und singt mit. Carsten dreht es leiser und schnauzt sie an, sie wüsste, er könne das nicht haben. Um die Stimmung etwas aufzulockern, erzähle ich ihnen, dass ich im nächsten Jahr mit der Schule nach Wien fahre. Carsten fragt, wie ich dort hin kommen will. Ich antworte, ich fahre einfach die Roopstraße runter und schon bin ich mitten in Österreich. Dabei habe ich die Landkarte genau vor Augen. Endlich finden wir eine geeignete Stelle auf einer großen Wiese. Wir haben nur eine Decke und Bier dabei. Wir legen uns auf die Decke und genießen die Natur. Daniela sagt zu Carsten: Ich möchte mit dir Volvo, Audi oder Lancia fahren, einen Hund und ein Haus und Kinder haben. Sie sagt, nimm mich ernst, ich bin nicht betrunken. Er sagt: Setz mich nicht unter Druck. Ich bemerke kleine schwarze Käfer auf den gelben Blumen. Als Daniela aufsteht um im Wald Pinkeln zu gehen, sehe ich, wie Carsten die Augen verdreht. Ich stehe auf und trete ihm in die Rippen. Ich trete ihn weiter. Andere Stellen bieten weniger Widerstand. Er krümmt sich. Ich trete ihn solange bis er sich nicht mehr bewegt und Blut sein Gesicht bedeckt. Als Daniela wiederkommt, rollen wir ihn in die Decke ein und graben ein tiefes Loch mitten in der Blumenwiese. Als es dunkel wird, werfen wir ihn hinein und schütten das Loch zu. Erst als wir beim Auto sind, sagt Daniela: Ich kann wohl schon wieder fahren, wir haben uns ja viel bewegt. Wir hören laut Radio. AG
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Le Malpensant geht zur Maiwoche
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aum, dass sich der Winter aus unseren Gefilden verkrümelt hat und nun die Australier mit Schneeballschlachten erfreut, kommt der Frühling. Er unterhält die Menschen mit Blumen, Blattgrün und Vogelgezwitscher, während ich das Kommen des Osnabrücker Sommers dadurch bemerke, dass der Regen ein wenig wärmer geworden ist. Denn ich bin der Malpensant, und ich hasse das Leben. Sobald der Frühling sich aber erst mal durch seinen Ich-weiß-noch-nichtso-richtig-was-ich-aus-mir-machen-soll-Monat April gewurschtelt hat und sich dann doch für ein bisschen Sonne, Wärme und Kurs auf Sommer entschieden hat, machen die Osnabrücker ihn direkt wieder kaputt, indem sie einfach ein riesengroßes Freiluftbesäufnis abhalten, die Maiwoche. Großartig. Man sperre einfach die Fußgängerzonen der Stadt für ein paar Tage ab, gruppiere ein paar Kisten und Stehlampen zu Bühnen zusammen, stelle darauf ein paar Musiker und viele Bierwagen drum herum und lasse das Volk anrollen, damit es sich die Birne pelzig saufen kann. Soweit die Theorie. In der Praxis musste man an diesem Plan ein paar Abstriche machen, weil weder Robbie Williams oder Madonna noch Ralf Siegel Zeit fanden für einen Livegig in der Weltstadt Osnabrück. (Ja-ha, lieber Leser, Du schmunzelst, aber hey, wir sind auf dem besten Wege, Bundesgartenschaustadt 2010 und Europas Kulturhauptstadt im Jahr 2421 oder so zu werden!) Da musste man eben Künstler der näheren Umgebung verpflichten. Das sind dann so namhafte Gruppen wie Les compagnons de l Aubance, Black Milk oder das Jugendorchester des Klosters Oesede. Ebenfalls namhaft sind die Namen, die die Organisatoren für die Bühnen gefunden haben. Schmücken sich andere Festivals mit Bühnennamen wie Rote/blaue/gelbe Bühne (Rheinkultur in Bonn) oder Centerstage/Suzuki Alternastage (Rock am Ring), so haben die Kreativköppe für Osnabrück Namen wie buw-Goldrush-Bühne oder Elektrolurch-Bühne erfunden. Diese sympathische Provinzialität gerät aber vollkommen ins Lächerliche, wenn die Performer nun versuchen, die Gesten der Großen nachzuahmen. So gerät das put your hands up in the air in seiner deutschen Version ein wenig bieder, und auch Is there anybody from out-of-town/county/state verliert bei seiner Adaption ein wenig. Das alles sind allerdings stilistische Feinheiten, die den Künstler
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nicht zu interessieren scheinen, wenn er mit heiserer Stimme auf der Bühne umherspringt und periodisch die 10 tanzenden Fleischereifachverkäuferinnen mit Dauerwelle mit Sprüchen wie wo sind eure Hände? Ich will eure Hände sehen! Ihr seid ein tolles Publikum, hier in äh Osnabrück! zu animieren sucht. Ebenfalls toll ist es, wenn gefragt wird, ob irgend jemand aus Rheine (ui!), Bersenbrück (uiui!) oder gar Löningen (wow!) kommt.Wenn jemand auf die letzte Frage mit ja antwortet, kann er sicher sein, für diesen Abend der heißeste unter unseren tollen Fans zu sein, die sogar bis aus Löningen zu unseren Auftritten anreisen. Ja genau. Ich fahre auch immer nach Griechenland, nur weil da eine Lalaklimpernde Dorfband in der Kneipe aufspielt. Und auf die Maiwoche kommt ja auch keiner zum Besaufen, die wollen alle nur Philipp Boa und Pamela Falcon sehen. Mein absoluter Favorit der Sinnlosigkeit unter den Anfeuerungsrufen ist aber: Seid ihr noch da? . Wen hätte es da nicht schon mal im Finger gejuckt, nein, nein, ich bin schon im Bett und schlafe zu antworten? Lasst mich zum Abschluss noch einige Worte zu den lukullischen Genüssen verlieren, die einem von dem fahrenden Volk geboten werden. Frittiert enden talgige Tierkadaver in Garküchen und naschhafte Dickwänste schlemmen alles leckere Zeug in Gierigkeit. Wer den tieferen Sinn hierin sucht, sollte sich dem Anfangsbuchstaben zuwenden. Wer nicht, ist ein durchaus offener Optimist für erfreuliche Stunden, attraktiv, reich, sympathisch, charakterlich hervorragend, liebenswert, ostentativ charmant + hochgeschätzt! SK
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Bahnhof der Konjunktive Folge 9:
Markt der Unmöglichkeiten
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lohmärkte sind für mich eine Welt voller Zauber. Einerseits natürlich wegen all der schönen Sachen, die man auf ihnen kaufen kann, andererseits aber auch wegen all des herrlichen Irrsinns, dem man auf ihnen an allen Ecken und Enden begegnet. Noch schöner sind dabei Nachtflohmärkte, weil zu möglichst später Stunde einige Faktoren, die den gemeinen Flohmarkt mithin unerträglich machen (schulpflichtige Kinder, Eltern mit manchmal sogar mehreren Kinderwagen, Überraschungseierfigurenverkäufer), entweder gänzlich abgestellt oder aber doch auf ein Mindestmaß begrenzt sind. Der Genießer schnappt sich also eine Taschenlampe und macht sich auf die Suche nicht nur nach raren Schallplatten und Dekoaccessoires, sondern auch (oder erst recht) nach schrägen Vögeln, denn die bieten sich auf Flohmärkten fast ebenso häufig, wie jene Stände die scheinbar ausschließlich jenen Kladderadatsch feilbieten, der sich über Jahre hinweg am unteren Ende von vergessenen Umzugskisten zu sammeln scheint. Eine ausschließlich auf Flohmärkten anzutreffende Gattung sind so beispielsweise jene Familienväter, die mit bodenlos traurigen Augen Unmengen an Vinylsingles, Modelleisenbahnbedarf oder Bierfilzen veräußern. Ihr Schicksal steht diesen tragischen Gestalten klar ins gramgezeichnete Antlitz geschrieben: Die über Jahrzehnte zusammengetragenen Plattensammlungen, Modellbahnanlagen und Bierfilzbestände sollen, meist auf das Drängen einer allzu resoluten Ehefrau hin, mal gründlich ausgemistet werden. Infolgedessen lädt der Gatte mit brechendem Herzen Unbezahlbares in den Familienkombi und verkriecht sich dann auf dem Flohmarkt in der hintersten Ecke. Denn wenn die Flohmarktbesucher seinen Stand nur übersehen, so sein Kalkül, dann kann er am Ende der Nacht alles wieder einpacken, und die heißgeliebten Preziosen sind einstweilen sicher (weil vermeintlich unverkäuflich) zumindest bis zum nächsten Flohmarkt. In Folge ihres Schicksals fühlen sich diese Männer dann aber sowohl dem
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gemeinen Anbieter (der einfach nur den Keller freimachen will) wie auch dem normalen Flohmarktkunden (der für möglichst wenig Geld möglichst viel Unsinn erstehen möchte) haushoch überlegen. Dieses verzweifelte Festklammern am Besitzerstolz bekomme ich am eigenen Leibe zu spüren, als ich eine Siebzigerjahre-Schallplatte zu erwerben suche: Das Exponat wird mir aus den Händen gerissen, sein zukünftiger ehemaliger Besitzer schaut mich mit irrsinnsumwölktem Blick an und sagt mit flehentlichem Unterton: Die ist noch 1a in Schuss! Bei mir bekommst Du keinen Müll! . Ja , antworte ich, diese Platte ist wirklich sehr schön und dazu ungewöhnlich gut in Ordnung! Dann endlich darf ich sie mitnehmen, denn ich habe seine Seelenpein gelindert. Wer nun Menschen im Bekanntenkreis hat, die sich auf Flohmärkten gerne lautstark über den Musikgeschmack des jeweiligen Standbesitzers erheitern, der mag sich Aug in Aug mit einem solchen zur Aufgabe seiner über die Jahre angehäuften Plattensammlung gezwungenen Mittfünziger wohl auch mal in Lebensgefahr befinden, aber das ist eine andere Geschichte... Die kostbarsten Blicke in den Abgrund verfügt einem ohnehin ein ganz anderer Menschenschlag: Ich stöbere eben ziellos durch die New WaveSchublade eines anderen Plattenstandes, als neben mir eine Kundin den Standbesitzer bittet, ihr doch mal was mit Trommeln zu verkaufen, Aber so richtig rootig (sic!), nicht so x-beliebigen Ethnoscheiß . Der flinke Marketender hat da natürlich just das Richtige im Angebot, namentlich ne echt super Scheibe von total authentischen Buschtrommlern. Nicht so Touristenquatsch, sondern richtig nah dran an der örtlichen Community. Und ich schwöre bei Gott: Dieses Gespräch hat es so gegeben. Im Jahre 2005. Für einen Zwanni soll nun der nicht-x-beliebige Ethnoscheiß den Beistzer wechseln, aber das Ende der Transaktion bekomme ich schon nicht mehr so recht mit. Ich bin schon wieder ins Getümmel eingetaucht. Es gibt noch viel zu sehen, und der Nachtflohmarkt ist noch jung! SB
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m Kiosk neben dem Teich gab es nur Capri und Nogger. Ich fragte ihn: Hast du nicht auch mehr Bock auf Waffel? Da hat er mich angeschaut, als ob er sich entschuldigen wolle, dass es dort keine gibt. Ich sagte: Hey, kein Problem, wir können ja auch zu Bertolini. Da kann man draußen sitzen. Eigentlich ist er ja ganz süß. Nicht so ein Kerl der gleich Feuer machen und ein Wiege für unser Baby schreinern will. Die Letzten waren alle so.Trotzdem könnte er den Auspuff meines Wagens reparieren, wenn er kaputtginge. Nette Kombination. Aber soll ich ihm jetzt am Reck vorturnen, dass ich ihn gut finde? Sonst ist er doch auch
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lle sagen dauernd etwas. Die Sexualtherapeutin Barbara Keesling sagt: Kurz vor der Ejakulation müssen sie ihren trainierten PCMuskel anspannen, die Augen weit öffnen und tief einatmen. Auf dem Kinderspielplatz gegenüber sagt ein Zehnjähriger zum Anderen: Du Arschgefickter. Daraufhin entgegnet der Andere: Du Unterhose mit roten Herzen drauf. Junge Nummer Eins muss deshalb fast heulen. Ich könnte jetzt noch eins draufsetzen und zu ihm hinüberschreien: Du alter Pubcoccygeus-Muskel, würdest du nur nicht dauernd krampfen! Millionen Männer könnten einen Orgasmus haben, ohne zu ejakulieren. Aber das wäre unfair, ich bin ja viel älter. Stattdessen sage ich etwas zu meiner Begleitung: Das Königreich von OZ hat seinen Namen, laut seines Erfinders L. Frank Baum, von einem Karteikasten mit der Beschriftung `O-Z´. Ach Echt? , fragt sie. Ja. Echt, antworte ich. Ich bin in sie verliebt. Sie hat schöne Haare. Sie würde niemals einen Pauschalurlaub buchen. Und wenn doch, dann würde sie an Tag Drei sagen: Heute leihe ich mir ein Mofa, zünde mir eine Zigarette an und beobachte, wie schnell die wegbrennt bei 60 km/h. Jetzt denkt sie nach. Steht das da drin? Sie deutet auf das Heftchen, das ich vorhin im Café mitgenommen habe. Ja , antworte ich. Gleich neben dem Artikel über multiple Orgasmen. Ich komme mir vor, wie organisierter Teppichverkauf. Pauschalurlaub eben. Sie heißt Edda. Vor ein paar Tagen sind wir zusammen die Stufen vor der Uni hinuntergelaufen. Aus einer der steinernen Stufen rankte schon der erste Löwenzahn. Sie sagte nur: Löwenzahn. Da hat es mich weggehauen. Da habe ich mich so in sie verknallt wie noch nie in einen Menschen zuvor. Jetzt sitze ich mit ihr auf einer Parkbank und weiß nicht, was ich sagen soll. Wir schweigen umwogen von Naherholern. Von Außen betrachtet sind wir ein Paar. Drinnen sind wir gemeinsam uneins. Ich frage: Willst du ein Eis? Sie blinzelt und schiebt ihren Mund zusammen. Mmmjoa.
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nicht so schüchtern. Hört man zumindest. Wir schlendern in Richtung Ausgang. Ich spüre, wie es in ihm arbeitet. Wenn er nicht gleich Luft holt, muss er platzen. Ein Familienvater kommt uns mit seiner Tochter auf den Schultern entgegen. Das Mädchen fragt: Du Papi, spielen wir nochmal Rennpferd? Er schiebt die Augen nach oben zu seinem Kind und sagt: Papa will heute nicht mehr galoppieren. Wir sind sowieso gleich am Spielplatz. Ich muss schmunzeln. Irgendwie sind wir hier total fehl am Platz, inmitten all dieser bereits verankerten Existenzen. Ich komme mir vor wie jemand sehr weit Hergekommenes, ein Eskimo etwa, der mit Fischottermütze und Bärenfell auf einmal in der Fußgängerzone am Bratwurststand steht. Als ich zu ihm hinüberschiele sagt er: Mann, ich glaube fürs erste Date wären wir besser woanders hingegangen. Auf ein Musikfestival oder so. Musikfestival? Er grinst. Ja klar, lauter Leute in unserem Alter, die zelten, Bier trinken, rumknutschen und dazu ihre Lieblingsbands live hören. Ich nehme seinen Arm. Und keine Ausflügler die Goldfische füttern? Hmm, ich weiss nicht so. Er schaut mich betroffen an und ich schaue gespielt ernst zurück. Dann hat er es kapiert und wir lachen beide. Der Bann ist gebrochen. Ich glaube, das wird ein guter Sommer. Ich glaube, ich nehme bei Bertolini einen Eskimo-Becher. JP
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urchs Fenster zu klettern mit 4 Bier in der Hand ist schwieriger als man gemeinhin denkt, zumal wenn man sich durch die eingeschlagene untere Fenstertür zwängt, mussten wir feststellen. Die leeren Zimmer durchstreiften wir vier ohne Probleme, die rostige Treppe aufs Dach ebenso. Einer nach dem anderen stieg auf das Flachdach mit seiner teerigen Dachpappe, Patrick war der erste und fluchte über unser Trödeln, die Sonne war schneller da gewesen als wir, auch wenn sie heute, einen Tag vor Sommersonnenwende, eigentlich länger hätte warten können, sie war bereits untergegangen, bevor wir den Aufstieg geschafft hatten. Orangerot glomm sie hinter dem Horizont und verhalf den wenigen Wolken zu einem letzten dramaturgischen Höhepunkt, während die Nacht von Osten her die Ahnung von blau unter ihrem Mantel verschwinden ließ, die noch an den vergangenen Tag erinnerte. Der Mond war beinahe voll und ließ die Schornsteine und Rohre, die die Decke der Platte durchstießen, Schatten über das Dach werfen. Den Mond im Rücken, den Blick auf den Abendstern gerichtet, so verbrachten wir einige Minuten schweigend. Es wird doch noch ein orangener Tag, sagte Patrick später. Wir machten es uns gemütlich hier im fünften Stock der verfallenen, baufälligen Platte. Die Party unten, von der wir geflohen waren, hörten wir noch und wir köpften die ersten Biere und prosteten zu der Musik aus dem Nachbarhaus. Ob man auf das Dach dort hinten springen könnte? , sagte Patrick und deutete auf die Gewächshäuser 20m hinter und 5m unter dem Rand des Daches. Nein , antworteten die anderen von uns im Chor, und Martin ergänzte; bei dieser Höhe stirbst Du doch nicht einmal, dann brichst Du Dir doch bloß was, und bist am Ende noch querschnittsgelähmt und merk Dir: Ich schieb Dich dann nicht im Rollstuhl durch die Gegend. Patrick ließ ein kurzes Lachen hören, zuckte mit den Schultern und nahm noch einen Schluck Bier. Mirko nahm sich eine Flasche Bier vom Schornstein, ließ den Kronkorken fliegen, und gemeinsam standen wir noch eine Weile so da und blickten auf die Häuser und Hügel der Stadt. Ein spätes Flugzeug überflog uns und setzte zur Landung an. Einer nach dem Anderen setzten wir uns hin. Die Dachpappe war noch ganz warm, kleine Bröckchen Teer bröselten unter unseren Fingern, wenn wir uns beim Zurücklehnen mit den Händen abstützten, um in den Himmel zu blicken, wo
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nach und nach immer mehr Sterne sichtbar wurden. Patrick lehnte sich an einen Schornstein und wandte sich an Mirko, Du hast hier drei Typen: Den Nihilisten, den Halb-Nihilisten und den Moralisten. Wenn Du Probleme hast, kannst Du bei uns alle Meinungen und Antworten hören. So ist das bei dem Quartett, Axel fehlte, der war spazieren gegangen, Patrick, Martin und Stefan konnten jetzt für ihren Gast das kollektive Gewissen darstellen, wie es sonst bei ihnen üblich war. Hatte einer von ihnen ein Problem im Leben, dann hatte er mit den anderen drei immer drei total andere Positionen und Blickwinkel auf seine Lage, um dann selber eine Lösung zu finden; meist waren es jedoch weit mehr als drei Positionen, denn Philosophen sind von Berufs wegen schizophren. Auch heute Abend machte die kleine Selbsthilfegruppe ihre Arbeit, auf diesem Dach, unter den 8000 Sternen träumte jeder von uns einen eigenen Tram und jeder andere hörte zu, meist dem schweigenden Blicken in den Himmel. Nie kam man zu einer einvernehmlichen Lösung, aber darum ging es ja nicht. Es ging darum beieinander zu sein, heute waren wir miteinander auf dem Dach, wo wir mit unseren Träumen vom Glück einmal abseits der lauten Partygesellschaft, fast abseits der restlichen Welt, einfach nur einmal eine Weile Ruhe hatten. Stefan merkte an, dass die Welt um uns herum viel langsamer lief, die Autos auf der nahen Bundesstraße schwammen vorbei, die Sterne legten sich mit ihrer Stetigkeit in diesem Moment über unsere hetzenden Leben. Es war ruhig hier oben, so ruhig wie lange nicht mehr. Patrick stand auf und widmete ein Lüftungsrohr eines Schornsteins kurzerhand zum Pissoir um. Nach und nach folgten wir anderen seinem Beispiel. Die gewichtigen Fragen des Lebens und das Leben selbst ruhten jetzt. Auf dem warmen Dach ausgebreitet heulten wir den Mond an. Es war, wie es war, und es war schön. Ein kleiner Moment im Fluss des Lebens, winzig in Raum und Zeit, unvorstellbar winzig, vier Menschen wie wir auf einem Dach irgendwo im Universum, geradezu absurd. Und doch hallte unser Heulen tiefer, tief in unsere Seelen zurück. Und diese kurze Fülle der Zeit, der Augenblick, dieser Abend auf dem Dach konnte in seiner absurden Winzigkeit wirken wie ein Funke in dunkler Nacht. Nicht Vergessen fanden wir auf unserem Platz über der Welt, sondern Mut. Und hoffnungsgefüllt stiegen wir schließlich von unserem Augenblick ins Leben zurück. Das war der Abschied, der Tod des Moments und die Geburt des nächsten MW
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FICTIO
KOMMUNIKAZE
ls Kind musste ich immer am Lakaientisch sitzen. Mit meinen schmierigen Fingern und dem rauen Kittelchen musste ich dort sitzen und die Reste essen. Mit den Fingern habe ich die staubig schmeckenden Fleischstückchen direkt aus der Pfanne, aus der dicken braunen Soße geangelt und mir in den Mund gesteckt. Finger abgeleckt und mit dem Handrücken die schwitzigen Strähnen aus der Stirn gewischt. Heiß! Heiß! Die Nase läuft. Hab ich mit dem Ärmel abgewischt und heimlich die zaddeligen Knorpelstücke in meinen Kragen gespuckt. Sonst wird alles wieder aufgewärmt in der braunen Soße. Schmutzig. Schmutzig, klebrig und versalzen. Das kleine braune Gesicht. Mit den feuchten Fingern helle Stellen reingewischt. Hhm. Lekker. Happa happa. Ein für Mama, ein für Papa. Messer, Schere, Gabel, Licht, sind für kleine Kinder nischt. Wenn der Teller weggeräumt wird, schnappe ich nach der Hand. Mit meinen spitzen kleinen Zähnen. Sie packt mich fest im Nacken, wie ein Schraubstock. Ich winde mich und rolle mit den Augen. Mit dem Spüllappen wird mein Mund abgewischt. Pfui, der stinkt! Aber ich stinke auch! Der ganze Dreck. Der ganze Dreck, den ich gefressen hab . Lieber Gott, bitte hilf mir. Er geht nicht mehr ab. Lieber Gott, bitte vergib, was ich verbrochen hab. Ich mach alles, was du willst und werde nie mehr lügen. Aber bitte nicht mehr der Lakaientisch! Der schmutzige lausige stinkende Tisch. Sonst renn ich weg. Sonst mach ich Schluss. Das Teppichmesser hab ich unter der Matratze versteckt. Der Plan ist lange ausgeheckt. Oder ich verwandle mich in ein Tier. In eine schwarze Katze. Ich muss nur lange genug auf allen Vieren herumkriechen und maunzen und meinen Kot verscharren und Mäuse fangen auf den Bahnschienen und ihnen das Genick durchbeißen, dann werde ich eine. Lieber Gott, wenn du mich rettest, dann gehe ich ins Kloster und diene dir für den Rest meines Lebens. Pflücke ich weiße Blumen für dich.Vergiss mich nur in diesem Elend nicht. In der Schule weiß es ja keiner. Da sitze ich nur und gucke aus großen weißen Augen aus meinem schmutzigen Gesicht. Ach, die Lehrerin ist schön. Sie ist sauber und riecht gut. Eigentlich bin ich ihr Kind, nur im Krankenhaus vertauscht worden. Die anderen Kinder und sie selbst wissen das nicht. Aber eines Tages, wenn es rauskommt, schließt sie mich in ihre Arme, ihr verlorenes Kind, und weint vor Freude und vor Rührung und küsst mein Gesicht. Und dann, dann schreib ich alles auf. Dann schreib ich ein Buch über das Leben, und wie gemein alle zu mir waren. AG
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Tischgebet
K O M M U N I K A Z EtztA SAitA diA lA
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Bilderserie:
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KOMMUNIKAZE
Dinge, die die Erde noch retten kรถnnen (Folge XIV)
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A KOMMUNIKAZE
m 03. Juli kommt die MTV Campus Invasion nach Osnabrück. Mit dabei: Fettes Brot, Money brother, Silbermond, Gentleman und das Farin Urlaub Racing Team. Das Problem: Die Tickets für das Spektakel sind schon seit eineinhalb Monaten ausverkauft, und die Schwarzmarktpreise drohen Mama und Papa in den Ruin zu treiben. Was tun? Kommunikaze wäre nicht Kommunikaze, wenn wir nicht einen Ausweg anbieten könnten: Eure liebste Zeitschrift für facts & fiction verlost kurzfristig und exklusiv
1x 2 ermäßigte Tickets für die MTV Campus Invasion am 03 Juli.
Was Ihr dafür tun müsst? Ganz einfach: Schreibt bis zum 01. Juli 2005, 12.00 Uhr mittags eine Mail mit dem Betreff MTV Campus Invasion an kommunikaze1@gmx.de und teilt uns Euren Grund mit, warum Ihr unbedingt diese verdammten Karten haben müsst! Der witzigste, skurrilste oder schlicht überzeugendste Grund gewinnt!
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WICHTIG! Gebt in der Mail bitte eine Telefonnummer an, unter der wir Euch kurzfritsig erreichen können, um die Kartenübergabe rechtzeitig zu organisieren. Mit der Teilnahme am Wettbewerb gebt Ihr uns die Erlaubnis, Euren Grund in der Kommunikaze zu veröffentlichen -- auch dann, wenn er nicht gewonnen hat! Ermäßigte Tickets gelten nur für Schüler und Studierende. Und der Rechtsweg ist natürlich ausgeschlossen! Viel Glück!