Kommunikaze 27: Blut und Eulenpisse

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Ausgabe 27 / Dezember 2007 / Januar 2008

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BLUT UND EULENPISSE Mit fast schon automatenhafter Genauigkeit werden in Kommunikaze mittlerweile die großen Themen des Weltgeschehens abgerissen: Karriere, Liebe, Veit Larmann -- und dieses Mal eben Kunst: Die Redaktion hat all ihren Kunstverstand in die Wagschale geworfen - und wo der nicht reichte, mit reichlich Dummdreistigkeit nachgeholfen - und tritt nun an, das große Thema Kunst umfassend zu begehen und sich dabei möglicherweise bis auf die Knochen zu blamieren -- aber wann hätte uns das jemals von irgendetwas abgehalten?

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INTRO von Tobias Nehren „DIE EULE WAR‘S!“ von Olker Varnke, Tobias Nehren & Stefan Berendes VALDAS KAVISLAUSKAS - DAS PORTRÄT von Olker Maria Varnke VALDAS KAVISLAUSKAS - DAS WERK von Tobias Nehren KUNST IST NICHT FÜR ALLE DA! von Kalle Kalbhenn DAS KREUZ MIT DER KUNST von Stefan Berendes KUNSTGESCHICHTE HEUTE von Judith Kantner DIE KÜNSTLERIN von Stine Klapper LOST & BROKEN, FOLGE11 von Steffen Elbing

Seite 18

AM ENDE von Stefan Berendes

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WUNSCHFREI von Judith Kantner

Seite 20

DAS DEUTSCHE ABENDBROT IM WANDEL DER ZEIT von Finn Kirchner

Seite 22

LET‘S NOT PLAY THE BACKGROUND,... von Jennifer Neufend

Seite 24

KEINE MILCH FÜR NIEMAND! von Finn Kirchner

Seite 26

DIE LETZTE SEITE

Kommunikaze:Inhalt

Inhalt

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Intro

von Tobias Nehren

Von nun an wurden Phrasen wie „Hier äh...“ oder „Grillplatte für zwei Personen“ nicht nur zu Leitsätzen eines Sommers, sondern zu Parolen ganzer Bewegungen, und immer öfter fanden die von uns verfassten Texte den direkten Weg in das geistige Zentrum unserer Konsumenten.

MIT BEITRÄGEN VON:

Aber all dies hat sich natürlich nicht aus sich selbst heraus (re-)produziert. Die ständige Selbstreflektion unseres Schaffens und die metaphorische Feile, die wir an unser Werk immer und immer wieder anlegten und legen, wurde stets von externen Einflüssen angereichert. Unentwegt haben wir das Haupt erhoben und den Blick schweifen lassen über die uns umgebende Kulturlandschaft. Dabei sind unsere Augen, immer an Werken, Produktionen und Produzenten hängen geblieben, die unser Bewusstsein und unser Unterbewusstsein nachhaltig beeinflusst haben. Hier, auf den folgenden Seiten dieser Ausgabe, nehmen wir nun das Recht und die Pflicht jedes Schaffenden wahr, den Laien einen Blick auf ein Werk und vor allem auf das dahinter stehende Denken werfen zu lassen. Wir öffnen an dieser Stelle unsere geistige Schatulle und laden Euch ein mit uns über Kunst, geistige Produktivität und mentale Flatulenz zu sinnieren und zu reflektieren. Bevor wir Euch endgültig entlassen in die Weite dieses Periodikums, soll noch ein weiteres Motto unserer Tätigkeiten zitiert werden, dass Euch bei der Lektüre stets bewusst sein sollte, da die Kenntnis den Zugang enorm erleichtert. Am 27.1.2004 schrie Kirchner mit Fango (Symbol für Erdverbundenheit) und Milch (Lebenselexier aller Säuger) bedeckt: „Kunst für alle, für immer, überall und zwar umsonst und kostenlos!“.

Olker Maria Varnke, Tobias Nehren, Stefan Berendes, Kalle Kalbhenn, Judith Kantner, Stine Klapper & Steffen Elbing

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ie Produktion geistigen Genusses ist lebensl ie Produktion geistigen Genusses ist lebenslang ein Teil unseres Antriebes gewesen. So legte Olker Maria Varnke schon im Alter von vier Jahren das Wort „ARTIFIZIELL“ aus Gummibärchen auf den tropenhölzernen Küchentisch seines Elternhauses. Stets haben wir versucht, die Permeabilität bestehender medialer Grenzen voranzutreiben. Zunächst versuchte sich jeder allein als Einzelkämpfer im Dschungel des mentalen Ergusses. Später fanden wir an der ehrwürdigen „Hochschule für Geschichte, Sozialwissenschaften und Verschiedenes“ gemeinsam ein geeignetes Forum für unsere kognitiven Auswüchse: Wir schlossen uns zur Redaktion der Kommunikaze zusammen, die zunächst noch unter dem Arbeitstitel „Groupe double K“ firmierte. Zum Zweck der Schaffung wirklichen geistigen Guts entwickelten wir aus diesem intellektuellen Zirkel eine uns eigene Sprache, die stets Bestehendes neu erfand und Innovatives aus Konservativem speiste. Wir verloren dabei aber die Aussage niemals aus den Augen. Ein Indiz dafür ist der Satz, den Grundorf bei einer unserer Versammlungen im Juni 2003 in den Nachthimmel schrie: „Schreib Sprechendes und Schreiendes, denn Flüstern tun nur die kleinen Geister“. Er brachte hier unser Motto hervor, und wir fanden in diesem Moment das Zentrum unseres geistigen Strebens.

Im Laufe der Zeit hat sich zu dieser Sprache eine gestalterische Form entwickelt, die die schon angedeutete Transzendenz der Gattungen weiter vorantrieb und bisweilen sogar vollendete. Erinnert sei hier an zahlreiche Produktionen der späten 05er und 06er Monate, mit denen Berendes die Welt des Offset praktisch revolutionierte. Auch die Zukunft wird noch einiges von uns zu erwarten sein , bevor die perfekte Verschmelzung von Wort, Laut, Bild und Krach endgültig vollzogen ist.

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„Die Eule war‘s!“ Interview mit Valdas Kavislauskas von Olker Maria Varnke, Tobias Nehren & Stefan Berendes

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ls unlängst der litauische Beitrag zur Biennale des Künstlers Valdas Kavislauskas vom Kuratorium abgelehnt wurde, war der Skandal perfekt, und auch in der Kommunikaze-Redaktionskonferenz stand das einhellige Urteil schnell fest: In der Ablehnung von Kavislauskas‘ visionärem Konzept ringen Feigheit und Duckmäusertum um die Vorherrschaft! Wir machen da nicht mit! Der Kunstbetrieb mag Kavislauskas totschweigen, wir hingegen stellen uns unserer Verantwortung, auch unangenehme Weltsichten zuzulassen und uns relevanten Diskursen zu stellen. Kommunikaze im Gespräch mit Valdas Kavislauskas über sein Werk, seine Enttäuschung und die Bedrohung der Menschheit durch nachtaktive Vögel.

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Kunst ist Krieg – Werke wie Picassos „Guernica“, Goyas „Erschießung der Aufständischen – 3. Mai 1808“ oder „Petzi und die Pfannkuchenräuber“ sind bestens bekannte Belege für diese Feststellung. So wundern wir uns nicht, dass im verträumten litauischen Städtchen Panevėžys der Zweite Weltkrieg noch nicht beendet zu sein scheint. Bereits beim Verlassen unseres Waggons am Bahnhof „Vilnia Glasnostauskas“ vernehmen wir den uns bestens vertrauten Klang detonierender BASF – Stielhandgranaten des Modells 24 mit Hafthohlladung HHL 3. Der Bahnhofswärter Visnief weist uns den Weg zu einer idyllischen Stadtvilla. Nur noch durchs verschnörkelte Gartentor und schon stehen wir mitten in einer weitläufigen Anlage, die in ihren Ausmaßen an einen Park erinnert, jedoch durch die zahlreichen Granattrichter eher an die Maginot-Linie gemahnt. Gerade rechtzeitig bevor Kollege Grundorf durch einen Stolperdraht zu Fall gebracht wird, kommt der Hausherr auf uns zu und entschuldigt sich für die Lärmbelästigung. Während Kunstgeschichteredakteur

Nehren von der Lichtgestalt Kavislauskas geblendet ist, schweift Grundorfs Blick über die Kleidung des Litauers um irritiert auf einem verrosteten Armeekaribiner des Typs K98 zu verharren. Spätestens seit er 1972 von Werner Herzog am Ufer des südamerikanischen Stroms Totopakatetl mit einem bauartgleichen Gewehr unter Beschuss genommen wurde, ist er einfach nicht mehr derselbe. Ohnehin vertritt der Fachredakteur Investmentbanking und Car-Hi-Fi heute nur den kurzfristig verhinderten Redaktionsbonvivant Kalbhenn, der derzeit auf großer Butterfahrt in Mikronesien weilt, um steuerfrei unsere Kunstsammlung zu erweitern. Nach kurzer Begrüßung führt uns Kavislauskas in sein Atelier im Keller seiner Jugendstilvilla. Unser Interview beginnt. Nehren: Herr Kavislauskas, zu unserem Bedauern war es uns nicht möglich, Ihre Kunst auf der Biennale zu bewundern. Wir erinnern uns, Ihr Vorschlag, das Ausstellungsareal in die Luft zu sprengen wurde vom Kuratorium abgelehnt. Wäre dieser zerstörerische Akt nicht vielleicht das Zeichen gewesen, dass die nach Orientierung suchende Kunstwelt aufgerüttelt hätte? Kavislauskas (mit verzerrtem Gesicht): Vielleicht, vielleicht? Ganz sicher wäre es das gewesen. Der vage Charakter Ihrer Frage ist da gänzlich unangebracht. Nehren: Das Kulturmagazin „Das Kulturmagazin“ stellte die Aussage Ihrer Performance in Frage... Kavislauskas: Ja, aber was soll ein Kulturmagazin als Dokumentationsmedium des kollektiven Gedächtnisses anderes hervorbringen als Kritik an der Zerstörung des kollektiven Gedächtnisses? Nehren: Aber ich habe doch nicht völlig falsch verstanden, dass es Ihnen mit Ihrer Aktion vielmehr um die Manifestation der Zerstörung an sich ging? Kavislauskas: Ja genau, aber das kollektive Gedächtnis war sich bisher nicht der Vergänglichkeit seiner Existenz bewusst. Die Biennale als Symbol des sich laufend formatierenden und erneuernden kollektiven Gedächtnisses in die Luft zu jagen zeigt, dass dieser Prozess endlich sein kann und vermutlich auch wird. Die Festplatte wird gelöscht. Grundorf: Also doch alles kaputt machen?


Kavislauskas: Im Grunde geht es doch nicht um Aggression, sondern um die Verteidigung dessen was wir sind. Wir als Teil des kollektiven Erinnerns sind in der Pflicht, dem wahren Aggressor den Sieg über uns zu verweigern, auch wenn das bedeutet, dass wir uns selbst zerstören müssen. Grundorf: Wer ist denn dieser wahre Aggressor? Kavislauskas: Das Tier! Grundorf: Welches Tier? Nehren (zu Grundorf ): Na die GaiaTheorie. Die Überlegenheit des Planeten gegenüber den Individuen, die er hervorbringt. Kavislauskas: Nein nein, es ist der Eichelhäher, das Eichhörnchen und vor allem die Eule! Nehren: Womit wir bei Ihren Aktionen im Garten oben wären. Es ging Ihnen doch darum, die drohende Zerstörung auch in der Landschaft abzubilden. Kavislauskas: Ich wollte vor allem diese Tiere töten… Nehren (ins Wort fallend): …die Sie natürlich als Material für Ihre Kunstwerke benötigen. Denn das Tier darf jawohl als Ihr Lieblingswerkstoff gelten. Kommen wir damit zu einem anderen Aspekt Ihrer Arbeit: Die Kunstwelt war stets von Ihren revolutionären Methoden fasziniert. Ihre Idee mittels Handgranaten und anderen Waffen den flinken Werkstoff Tier seiner Mobilität zu berauben, ihn bearbeitbar zu machen und Sprengradius sowie Verbrennungsgrad als Katalysatoren Ihrer Aussagen zu nutzen, bleiben wegweisend für die moderne Kunst. Kavislauskas: Die Waffen der deutschen Wehrmacht, die ich Mitte der Vierziger Jahre im Keller dieses Hauses fand, sind durch ihre spezifischen Ei-

Valdas Kavislauskas - das Porträt

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aldas Kavislauskas wurde am 13. März 1931 im litauischen Panevėžys geboren. Seine künstlerische Ader entdeckte er bereits im zarten Alter von 8 Jahren, als er die beim Kartoffelroden erspähten Eichelhäher mit einem Stück Kohle auf den Wänden des elterlichen Hauses abbildete. Seit dem entstanden viele Naturbildnisse Kavislauskas‘, und rasch war die Stadt voll kohlschwarzer Tierdarstellungen. In seiner Grundschule „ Jonas Basanavičius“ war er schon bald als begabtes Kind bekannt, und der Kunstlehrer Norbertas Beresnevičius war fest entschlossen, den jungen Valdas an die litauische Kunstakademie in Vilnius zu schicken. Doch der Einmarsch der deutschen Wehrmacht im Sommer 1941 beendete die Idylle infantiler Kunst. Kavislauskas wurde der Besuch der Schule und das Bemalen von Wänden verboten. Außerdem wurde er zu harter Feldarbeit für die Nazibonzen gezwungen. „Täglich 17 Stunden Arbeit erst bei Hitze, dann bei dieser verdammten Kälte. Ich habe in diesen Monaten die Natur hassen gelernt.“ sollte Kavislauskas 1982 dem SPIEGEL sagen. Die Abneigung gegen die Natur kam am bisher aufsehenerregendsten in seiner Ausstellung „Blut und Eulenpisse. Die Widerwärtigkeit des Tierischen“ zur Geltung, die vom Ende der 70er bis in die frühen 80er Jahre hinein durch die europäischen Hauptstädte tourte. Sie bot den Besuchern neben Bildhauerei aus animalischen Exkrementen vor allem Darstellungen aus Teilen toter Tiere. „Wenn meine Ausstellung eines bewegt hat,“ so Kavislauskas in besagtem SPIEGEL-Interview, „dann die derzeitige Austrittswelle aus Tierschützervereinigungen.“ Und tatsächlich sprach der Rückgang der Zahl aktiver Tierschützer für sich. Nicht weniger als 100.000 Menschen verließen nach Besuch der Ausstellung „Blut und Eulenpisse“ NaBu und Co. Bis zu diesem Erfolg war es von 1941 an ein langer Weg. Die Ironie des Schicksals wollte es, dass ausgerechnet die deutschen Besatzer indirekte Wegbereiter von Kavislauskas‘ Karriere wurden. „Die Wehrmacht machte beim Einmarsch großen Eindruck auf mich. Vor allem ihre Waffen.“ Der zehnjährige Valdas wurde im Juni 1941 Zeuge eines Scharmützels zwischen Rotarmisten und Wehrmachtsangehörigen nahe Panevėžys, in dem durch die Detonation einer deutschen Handgranate auch zwei Eichelhäher ums Leben kamen. „Auf diesem Moment beruht im Grunde ein Großteil meiner Werke. Ein Schlüsselerlebnis.“ schildert Kavislauskas. Und so kann der Künstler den Deutschen trotz allen Leides, das der litauischen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg zugefügt worden ist, nicht böse sein: „Sie brachten mir nicht nur den notwendigen Hass auf die Natur und das erste unmittelbare Beispiel für meine Kunst. Sie hinterließen mir auch das nötige Handwerkszeug.“ Und tatsächlich bedient sich Kavislauskas noch heute für seine Kunst aus einem umfangreichen Waffendepot der Wehrmacht, das er über Jahrzehnte vor den Sowjets versteckt hielt. Valdas Kavislauskas ist ein Künstler, dem es immer wieder gelingt, Aufsehen zu erregen, ohne dabei seine klare Aussage aus den Augen zu verlieren. In Zeiten, in denen Kunst immer beliebiger zu werden droht, ist er mit seiner Arbeit eine erfreuliche Konstante. Für die Reputation der Biennale wird es nicht ohne Folgen bleiben, einem Künstler dieses Formats den Zugang verweigert zu haben.

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Nehren (entgeistert): Äh…

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genschaften zum Töten der Viecher geradezu prädestiniert. Grundorf (auftrumpfend): Wie war das eigentlich genau mit den Nazis? Nehren: Wie auch immer. Zentral ist jedenfalls die historische Dimension ihres Waffenarsenals, welches ja bis in den aktuellen Zyklus „Die Eule muss weg“ eine gewichtige Rolle spielt. Wie ordnet sich dieser Zyklus denn in ihr Œuvre ein? Kavislauskas: Die Eule war‘s! Nehren: Das müsssten sie uns dann vielleicht doch noch einmal näher erleutern. Kavliskauskas: Die war es, die Eule ist es, die Eule wird es sein. Die Eule ist ein Wesen der Nacht, sie beobachtet und schlägt aus dem Nichts zu, sie sieht im Dunkeln, beobachtet und lauert. Grundorf (fassungslos): Sie haben Angst vor Eulen? Kavislauskas: Sie machen sich über mich lustig. Nehren: Nein, nein. Es wirkt nur … fremd. Wir versuchen Ihnen zu folgen. Grundorf: Ich möchte niemandem folgen, der Angst vor Eulen hat. Wer weiß, wo das hinführt. Nehren: Ich denke, der Krieg und das daraus entstandene Trauma bilden immer noch das Epizentrum Ihres Schaffens. Sie wollen Menschen wachrütteln und aus der Illusion der ihnen freundlich gesonnen Natur reißen. Sie sehen die Natur als etwas Bekämpfenswertes. Kavislauskas: JAAAA!! Die Eule! Die Eule, sie lauert, sie starrt in die Nacht. Ihr Blick. Die Eule. Die Eule. Ihr Schnabel nagt an meinem Skalp, will an mein Hirn, an unser aller Hirn. Grundorf: An Ihrem hat sie ihr Werk offensichtlich schon vollbracht.

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Kavislauskas: WAAAAS?

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Nehren: Herr Kavislauskas, wir danken Ihnen für das aufschlussreiche Gespräch. Wir machen uns auf Grund der etwas außer Kontrolle geratenen Situation eilig auf, während sich ein offensichtlich sehr aufgebrachter Kavislauskas selbst zu verlieren scheint. Er stürzt durch die gegenüberliegende

Tür aus dem Raum und wiederholt dabei wahnhaft die Worte: „Eule“, „Tod“ und „Stielhandgranate“. Während der Zug den Bahnhof „Vilnia Glasnostauskas“ verlässt, vernehmen wir wieder Detonationen einer weiteren symbolhaften Formatierung des kollektiven Gedächtnisses.


Bilder aus Valdas Kavislauskas‘ neuem Zyklus: „Die Eule muss weg!“ (mehr Eindrücke auf www.kommunikaze.de)

Valdas Kavislauskas - das Werk

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In der Performance spielt die Eule eine ganz zentrale Rolle. Sie bedroht Kavliskauskas und greift ihn an. Der Künstler versucht zunächst verzweifelt, sich der Angriffe zu erwehren, sich Distanz zu verschaffen, was er mit dem Einsatz der Glasscheibe, die Künstler und Eule trennt, deutlich macht. Die Eule ist allerdings Teil der Natur, die einen Kokon der Unzerstörbarbkeit um das Tier wickelt, der es dem Menschen unmöglich macht über das Tier zu siegen, es zu vernichten. Alle Versuche, alles Blut, dass er über sie vergießt, können sie nicht wirklich erreichen und perlen an ihr ab. Die These des Künstlers geht noch weiter. Die Eule durchbricht im Laufe der Performance die Glasscheibe und damit den Schutz, den Kavliskauskas, zu seinem Erhalt, errichtet hat und greift den Künstler an. Dieser fällt auf seine Urinstinkte zurück. Er benutzt schließlich rohe Gewalt, symbolisiert durch die Forke, um sich gegen das Tier zu wehren. Aber auch diese vermag es nicht, den Kokon zu durchbrechen. Verstärkt wird die Wandlung vom zivilisierten menschlichen Individuum zum allein auf Selbsterhalt bedachten Organismus durch den Wandel der Umgebung. Beginnt die Aktion in einem scheinbar modernen Badezimmer, gespickt mit allerlei Accessoires des modernen Konsumalltags, wie Rasierer und Shampoo, so endet der Kampf in einer spärlich beleuchteten Keller, der bis auf eine einzelne Lichtquelle alle Merkmale einer vormenschlichen Höhle aufweist.

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ie Eule muss weg“ lautet der Titel des neuesten Zyklus des Künstlers Valdas Kavislauskas. Mit dieser Performance, die er zu einer Bilderserie zusammengestellt und daraus eine Wanderausstellung generiert hat, wird der litauische Künstler in der ersten Jahreshälfte um die Welt reisen.

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Kunst ist nicht für alle da! von Kalle Kalbhenn

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ch bin für eine Kunst, die etwas anderes tut, als auf ihrem Arsch im Museum zu sitzen. Ich bin für eine Kunst, die entsteht, ohne zu wissen, daß sie überhaupt Kunst ist, eine Kunst, die die Chance erhält, beim Nullpunkt zu beginnen. […] Ich bin für eine Kunst, die sich selbst in den alltäglichen Unsinn verwickelt und doch an seiner Spitze steht […] Ich bin für eine Kunst, die ihre Form direkt aus dem Leben bezieht […]“ – Ellen H. Johnson

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Der Beschluss, Osnabrück Ungeachtet der Unkenrufe selbsternannter Kunstexperten, die nicht müde werden, in der Fachpresse vor dem baldigen Platzen der Kunstblase zu warnen, beschloss der Betriebsrat der Kommunikaze GmbH auf seiner letzten Sitzung, das Gesellschaftervermögen teilweise in eine Kunstsammlung zu investieren. Flugs wurde die Stiftung Kommunikart notariell beurkundet und somit aus der Taufe gehoben. Den Grundstock der Sammlung sollen die Elfenbeinskulpturen bilden, die Kollege Nehren aus Afrika mitgebracht hat (so etwas will zwar niemand sehen, ist aber trotzdem wertvoll). Darauf aufbauend soll vor allem in zeitgenössische Kunst ab 1925 investiert werden (das will jeder sehen, und es ist trotzdem wertvoll). Kurator Grundorf sprach sich als Einziger für einen umfangreichen Skulpturenpark im Garten von Paulins Eltern aus. Skulpturen seien einem alten Satz nach „die besten Freunde des Menschen in der Not“. Der Vorschlag verschwand aber bis auf weiteres in der Schublade. Da irgendjemand im Internet gelesen hatte, der skandinavischen Kunst sei eine gute Zukunft bescheinigt, wurde mir der Auftrag erteilt, eine umfassende Sammlung anzukaufen um baldmöglichst mit der Planung einer Eröffnungsausstellung zu beginnen. So machte ich mich auf zu den Hotspots der skandinavischen Gegenwartskunst, durch Museen, Ateliers und Auktionshäuser in Stockholm, Helsinki, Tartu und Riga.

Moderna Museet, Stockholm In Museen, in denen es zeitgenössische Kunst zu sehen gibt, gibt es regelmäßig zwei Sachen zu sehen: Zeitgenössische Kunst und zeitgenössische Menschen. Die schöne Kunst lockt vornehmlich schöne Menschen. Darum soll es heute nicht gehen. Wir wollen wissen, wie man eine Ausstellung konzipiert, mit der man schöne junge Menschen in unsere Ausstellung locken kann. Doch von kreativer Raumaufteilung keine Spur. Die Bilder hängen chronologisch geordnet an der Wand. Dazu gibt es Geschriebenes. Wer hat da gemalt oder fotografiert? Wann und wo? Woran ist er gestorben, und warum ist das Kunst? Letzteres wird zumeist nur unzureichend beantwortet, erübrigt sich aber, da alles was im Museum hängt auch Kunst ist. Im Keller ist die hochgelobte Sonderausstellung von Lars Tunbjörk mit dem Titel Winter/Home zu sehen. Dabei handelt es sich um große Abzüge des privaten Fotoalbums des Herren Tunbjörk. Er fotografiert bevorzugt triste nordschwedische Landschaften ab. In Punkto Ausdruckskraft nicht zu Vergleichen mit dem Werk seines Kollegen Robert Capa, der 2 km weiter nördlich im Nobelmuseet ausgestellt wird, und von dem Ressortleiter Krieg Olker Maria Varnke mehrere Abzüge sein Eigen nennt. Gallerie Forsblom, Helsinki Die renommierte Galerie Forsblom in Helsinki stellt zur Zeit den finnische Newcomer Jarmo Mäkliä aus. Die Gemälde des 55-Jährigen hängen an den weißen Galeriewänden und laden zum Träumen ein. Alpträumen. Seinen Menschenfiguren fehlen zumeist die elementaren Organe wie Mund oder Ohren. Sie sind verloren in dunkelbunten Collagen. Ich entschließe mich zwei Bilder zu je 15.000 Euro mitzunehmen. Bei diesen Preisen kann sich niemand beschweren. Letztendlich haben wir es ja selbst in der Hand, mit ein paar lobenden Worten in unserer vielgelesenen Kunst-Sonderausgabe den Wert der Kunstwerke zu steigern. Also nehme ich zwei Bilder von der Wand und gehe mit ihnen zur Kasse. Draußen wartet bereits Paulin im Sprinter mit laufendem Motor und freut sich ob der ersten Exponate für die geplante Ausstellung in den neuen Büroräumen. Auktionshaus Budkowski, Stockholm Dass das Stockholmer Auktionshaus Budkowski so etwas wie das Sotheby‘s Skandinaviens ist, dürfte dem Kunstfreund geläufig sein. Dass es dort aber das beste


Banksy, Berlin Kreuzberg Die letzten Exponate sollen aus dem Bereich Fotografie

kommen. Ich reise also Richtung Berlin, wo die Galerie Lumas in den Hackischen Höfen den Markt für neue Fotografie aus erobert hat. Hier finden sich bestimmt noch zwei, drei Querformater, die unsere Sammlung abrunden. Während Fahrer Paulin draußen im Sprinter wartet, lasse ich mir vom Herrn Galeristen das System Lumas erklären. Er sagt, die niedrigen Preise der Werke kommen durch eine relativ große Auflage zustande. Ich gehe sofort. Zum Glück hat Paulin bei laufendem Motor gewartet. Dann die Lücken doch lieber mit dem Frühwerk von Frederik Vogel ausfüllen. Da reicht eine SMS, und die Sache ist geklärt. Die Reise ist beendet. Die Sammlung komplett. Ein letztes Bier in Kreuzberg. Als ich durch die Adalbertstraße laufe, fallen mir die Schablonengraffitis auf. Kleine Ratten sind das immer wiederkehrende Motiv an den Fassaden der Häuser. Ästhetisch ansprechend fügen sich die Graffitinager in ihre Landschaft ein. Der Londoner Graffitikünstler Banksy war auch hier unterwegs. Eigentlich ist er der Künstler der Stunde. Anstatt zu warten, bis seine Werke es in die großen Museen schaffen, hängt er seine Werke einfach selbst in der Londoner Tate Modern oder im New Yorker Metropolitan Museum auf. So werde auch ich meine Portraits, die ich für Kunstlehrer Ludolf anfertigen musste, in unsere Ausstellung schmuggeln und warten bis der erste Interessent ankommt. Von meiner Reise habe ich einige Schnäppchen mit nach Hause gebracht. Falls Schatzmeister Paulin die bemalten Leinwände rechtzeitig bezahlt, kann Direktor Berendes am Thema der ersten Ausstellung arbeiten. Man darf gespannt sein.

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Fingerfood Stockholms gibt, ist hingegen nur dem elitären Kreis der Sammler bekannt. Während ich darauf warte, dass die Bilder aufgerufen werden, für die ich Bietvollmacht habe, komme ich in den Genuss einiger Lachshappen. Der Hammer fällt im Minutentakt. Die zurückhaltenden und schüchternen Skandinavier verhalten sich dabei ruhiger als die anstandslose Meute bei den großen Herbstauktionen in London oder New York. Während dort der Pöbel zusammenkommt und es nur auf Bieten, Besitzen und Prahlen ankommt, geht es in Stockholm um die wahren Werte der Kunst (was auch immer die sein mögen). Wer hier etwas ersteigert, hat sich in ein Bild verliebt, nicht in sich selbst. Mit der Nummer 471 wird endlich die Serie „Three Portraits of Ingrid Bergman by Andy Warhol“ des enfant terrible Andy Warhol aufgerufen. Der Einstiegspreis liegt bei 73.500 Euro. Eigentlich haben wir keinen Platz mehr für eine solche Serie und eigentlich ist das auch alles zu teuer, doch ich besinne mich auf die Weisheiten eines bedeutenden Kunstsammlers, „Wer sagt, er habe nicht mehr genug Platz, ist kein Sammler. Wer sagt, er habe nicht genug Geld, ist kein Sammler. Wer sammelt, ist dem Abgrund immer nah.“ Da auch die Kommunikaze dem Abgrund immer nahe ist, hebe ich mehrmals meine Hand mit der weißen Pappkelle, bis endlich der Russe aus Reihe drei und die penetranten Amerikaner ihre Kellen unten lassen. Die drei Bilder gehören jetzt der Kommunikart-Stiftung. Nachdem ich meine Daten an der Rezeption abgegeben habe, gebe ich dem Russen noch eine Einladung zur Eröffnung der Ausstellung. Draußen wartet schon Kollege Paulin mit laufendem Motor im Sprinter.

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Das Kreuz mit der Kunst von Stefan Berendes

Wenn man nur oft genug zu Ausstellungen geht, dann sitzt man irgendwann im Sack.

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it der Kunst ist es so ein Kreuz: Spätestens seit ich in der elften Klasse ein mehrstündiges Referat über Picassos in jedem Wortsinn gewaltiges Rambazambabild Guernica gehalten habe, stehe ich bei Freunden in dem Ruf, mich mit Kunst auszukennen. Das ist oft eher ein Fluch als ein Segen, denn bei Ausstellungsbesuchen gerate ich ebenso schnell ins Schlingern wie alle anderen, und ohnehin ist im Grunde das Einzige, worüber ich einigermaßen trittsicher fabulieren kann, sowieso meine Haltung zu Kunst oder besser: deren Grenzen. Und wenn man damit erst einmal anfängt, dann kommt man hemmungslos ins Schleudern, und die Fettnäpfchen stehen verdammt dicht:

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Man landet ja so schnell im Klischeeabseits. So wie jener schwitzende Mittvierziger, der sich bei der MoMaAusstellung in der Neuen Nationalgalerie vor einem Jackson Pollock aufpflanzt und jenen schlimmsten aller Sätze sagt, nämlich: „Dit soll Kunst sein? Dit könnte ick och!“ Und es wäre soviel zu sagen zu diesem Mann, der fünf Stunden in der bratenden Sonne ausgeharrt hat, nur um dann bemerken zu können, dass er genauso malen könnte wie Jackson Pollock. Man könnte ihm erklären, dass Reproduzierbarkeit schon seit längerem kein gültiger Beurteilungsmaßstab ist, wenn es um Kunst geht. Man könnte seine zart aufkeimende Kreativität fördern, ihm Zugang zu Pinsel und Farbe oder jedem anderen gewünschten Material gewähren, auf dass er tatsächlich der nächste Jackson Pollock werde. Man könnte ihm auch einfach den sechshundertseitigen Ausstellungskatalog über den Schädel ziehen, bis Blut spritzt, und vielleicht wäre damit allen Beteiligten noch am ehesten geholfen (und auf dem Gemälde würden ein paar zusätzliche Spritzer vielleicht gar nicht auffallen). Aber das Gemeine ist: Irgendwann sind wir alle dieser Mann, der nichts versteht und trotzdem mitredet.

Wie bei dem Medienkunstfestival neulich: In einem Raum wurde ein Film gegen die Rückseite von Glitzerpapier projiziert, und die Reflektion machte dann auf der anderen Raumseite lustiges Flimmern an der Wand. Und wenn man dann gegen das Glitzerpapier drückte, dann änderten sich das Flimmern; und das alles deshalb, weil der Künstler die Interaktion zwischen Kunstwerk und Betrachter fördern wollte. Und ich hätte fast „Dit könnte ick och!“ gesagt. Es war eine knappe Sache. Überhaupt warf dieses Festival viele Fragen bei mir auf: Warum ist es sofort analytisch, wenn man einen Film rückwärts abspielt? Warum kann ein perfekt ausgeführter Freistoß keine Kunst sein, aber eine Videoinstallation, bei der er auf sieben Bildschirmen in Endlosschleifen immer wieder gezeigt wird (am besten analytisch rückwärts) schon? Und war die Idee mit dem Glitzerpapier vom Kinderland Herne geklaut? Was mich am meisten irritiert, ist der Glaube, der nötige theoretische Überbau könnte – pardon – aus Scheiße Gold (oder eben Kunst) machen. Ich bin da Purist: Das Kunstwerk selbst muss etwas mit mir machen, ganz ohne dass ich weiß, was der Künstler an seinem sechsten Geburtstag zum Abendessen bekommen hat. Und auch wenn die Lebensgeschichte von Joseph Beuys für mich ein Aha-Erlebnis war und mich gelehrt hat, dass seine Hinwendung zu den Werkstoffen Fett und Filz sehr viel praktischere Gründe hat als schlichte Beklopptheit, hat mich das dennoch nicht für sein Werk einnehmen können, denn manchmal ist eine mit Fett eingeschmierte Badewanne eben nur eine mit Fett eingeschmierte Badewanne. Aber eine Lösung ist das auch nicht, denn auch Bilder von kleinen süßen Katzen machen etwas mit einem (wenn auch nicht mit jedem das gleiche) und sind deshalb – bei aller Tierliebe – noch keine Kunst. Aber was ist denn dann Kunst? Mitten in meiner Meinungsbildung zu diesem Thema erreicht mich die Meldung, Dieter Bohlens Äußerungen im Rahmen des Superstarcastingshowwahnsinns seien nun laut allerhöchstem richterlichen Entscheid offziell Kunst. Gut, dass mir das Oberverwaltungsgericht die Entscheidung abgenommen hat…


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Kunstgeschichte heute von Judith Kantner

gaben (und das mit einem schwärmerischen Blick und sanften, entspannten Gesten) fast durchweg als Grund für ihr Studium an, dass die doch im Alter „die Liebe zu den schönen Dingen des Lebens“ gefunden hätten.

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s ist an der Zeit über ein paar Irrtümer der Kunstgeschichte aufzuklären. Zumindest im hiesigen Fachbereich.

In der letzten Redaktionssitzung der Kommunikaze wurde die Frage aufgeworfen, warum sich heutzutage Menschen dafür entscheiden Kunstgeschichte zu studieren. Auch unter den Redaktionsmitgliedern befinden sich solche Exemplare, die sich jedoch nicht wirklich erklären können, wie sie nun eigentlich dazu gekommen sind. Fest steht: Es war definitiv nicht der Anblick eines lichtüberfluteten Monet-Sammelalbums mit niedlichen Seerosen. Wir wollten wahrscheinlich einfach auch so wichtig reden können. Kollege Nehren begründet seinen Entschluss zumindest folgendermaßen: „Weil mich das Hinterfragen des Geschwafels interessiert hat. Es wird viel aufgeblasen und hintergründig über Sachen geredet, die vordergründig keinen Hintergrund zu haben scheinen.“

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Wie kommen also all die Menschen dazu, in Museen einem gelangweilten Publikum eine Sache näher bringen zu wollen, die einst angesagt war? Wahlweise auch aktuell darüber zu philosophieren, was die Kunst daran ist, eine 1000-Mann starken Trupp Chinesen in Kassel zu zerstreuen und das ganze als Kunst zu deklarieren?

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Um dieser Frage nachzugehen, machten wir uns die durchaus zeitintensive Mühe, eine repräsentative Umfrage unter den geschätzten 200 Osnabrücker Kunstgeschichtsstudierenden durchzuführen. Um den Wind gleich vorweg aus den Segeln zu nehmen: Unser Fazit ist erschreckend. Aber hier ein wohl gewählter Auszug der Resultate. Beginnen wir also mit den älteren Semestern, den Seniorstudierenden, die in diesem Fach nicht selten vertreten sind. Warum eigentlich? Die Seniorstudierenden *Namen von der Redaktion geändert.

In einem intensiven Gespräch mit Frau zum Schein* erfuhren wir, dass es doch nichts Bezaubernderes gäbe, als in die faszinierenden und exotischen Gemälde eines Gaugin („gähn“ Anm. der Red.) zu versinken. Dass der liebe Herr in der idyllischen Südsee viele Frauen (zuletzt ein 14jähriges Mädchen, seine „Lebensgefährtin“) schwängerte und diverse Krankheiten erlitt, an denen er schließlich unter Morphiumeinfluss elendig verreckte, behalten wir stillschweigend für uns. Ein Mann, den sie wahrscheinlich, stünde er ihr gegenüber, noch nicht mal mit ihren vorzeigbaren Samthhandschuhen die syphilisinfizierte Hand schütteln würde. Auch Herr Hermann Pflotz* ist Seniorstudent. Das einschneidende Erlebnis, das ihn dazu machte, war eine Kaffeeäh Fortbildungsfahrt nach Amsterdam vor zwei Jahren. Dort besuchte der bis dato Singlerentner das Van-Gogh-Museum. Die Fahrt gewann er in einem Preisausschreiben der örtlichen Tageszeitung. Nicht nur der Liebe zur Kunst wurde dort auf die Sprünge geholfen, sondern auch die zu Frau Dr. Erika Siemer*. Die vermögende Frau Doktor der Medizin im Ruhestand verliebte sich auf Anhieb


Frank Wilker* steht kurz davor, seinen Magister in Kunstgeschichte zu erhalten - nach knapp 30 Semestern und in sorgevollem Anbetracht der (Langzeit-) Studiengebühren. Er blickt jedoch ganz optimistisch in die Zukunft: „Ich habe schon 25 Praktika absolviert. In Museen wie dem MARTA in Herford, aber auch Führungen auf der documenta IX-XI habe ich gemacht. Zudem bin ich freier Mitarbeiter bei der ART. Ich habe überall meine Connections.“ Hohe Ziele hat sich auch Erstsemesterstudentin Stefanie Wagner* mit der Wahl ihres Studienfachs gesteckt, gibt sich jedoch vom Studienstandort desillusioniert. „Ich möchte später einmal Museumsdirektorin des Museum of Modern Art (MoMA) werden. Fließend Englisch sprechen kann ich schon. Kunstgeschichte ist meine wahre Leidenschaft. Ich beschäftige mich Tag und Nacht damit. Ich werde jedoch nach dem Bachelor den Studienort wechseln, weil Osnabrück mir einfach zu klein ist.“ Erstsemester-Studentin Gaby von Stein* beteuerte im Seminar „Impressionismus I“, in dem eben diese unsere Hierseins-Frage aufgeworfen wurde, dass sie im Kunst- LK Gefallen daran gefunden habe, aus

unzähligen Punkten (sie meinte gewiss den Pointillismus eines Seurat) ein so glanzvolles Bild, mit einer so intensiven Leuchtkraft erzeugt zu haben, dass ihrer Großmutter, der sie ihr Gemälde im von den Eltern gesponserten 1000 Euro-Rahmen unter den Tannebaum legte, vor Rührung fast der Herzschrittmacher explodiert wäre. „Eine solche Intensität hatte ich bis dato noch nie erlebt. Daher war mein Entschluss klar, meinen Rechenfähigkeiten nicht nachzugehen, meiner Begabtenförderung eine Absage zu erteilen, und stattdessen Kunstgeschichte zu studieren.“ Auf unsere Frage, warum sie denn nicht Kunst studiere, gestand sie, dass sie das eigentlich an der Akademie in Dresden tun wollte, aber dazu waren ihre Punktbilder wohl nicht ausdrucksstark und zeitgemäß genug. Mit ihren Kunstgeschichtskenntnissen imponiert sie dafür schwer ihre vermögende Großmutter, die sie dafür finanziell zur Genüge entlohnt. Von dem Geld pudert Gaby sich gerne das Näschen, damit sie ihre Affäre mit einem dickbäuchigen Hochschulprofessor besser erträgt. Sehr besorgniserregend, wie wir finden. Drogen scheinen aber nicht nur bei den Studierenden im Spiel zu sein. Eine Hochschulprofessur vom Fach (nennen wir sie Professor IchbindurchmitderKunst) zeigte sich im Kommunikaze-Interview entsetzt. IchbindurchmitderKunst bekannte in einer schwachen Stunde, dass sie die unqualifizeirten Äußerungen der Studierenden nicht mehr ertrage und daher zeitweise Psychopharmaka vor den Vorlesungen zu sich nehmen müsse. Zudem besuche sie regelmäßig eine Selbsthilfegruppe (die „Anonymen UnARTigen“) in Bonn, die sich intensiv mit der Thematik der Kunst, ihrer miserablen Rezeption durch angehende KunsthistorikerInnen und schließlich ihrem Zerfall befasse. Dort träfen sich alle vier Wochen Hochschullehrer, Künstler und Vertreter aus der staatlichen Kulturpolitik. Bei viel Wein und Marihuana philosophieren sie über die guten alten Zeiten „als Kunst noch nicht von Schickimicki Striegeltussies totgeredet wurde“. Wirft man einen Blick auf das Auditorium eines Seminars, so macht sich Verständnis breit. Erstsemester-Student Stefan Rogier* hingegen scheint ein Ausnahmefall zu sein. Er beteuerte im Kommunikaze-Interview, dass er schlicht und ergreifend nix besseres zu tun hatte, sich zugesteht, dass er nicht klar käme. Nicht klarkäme auf die Mitstudierenden, auf seine Umwelt, auf die Welt. Daher würde er sich gerne von nicht weniger klarkommenden Menschen, die Kunst fabriziert hätten, eine Scheibe abzuschneiden „und dann mal gucken.“

Kommunikaze:Titel

in den Harz IV-Empfänger mit den dilettantischen Van Gogh-Kenntnissen. Sein Leben gewann seitdem nicht nur auf kultureller Ebene an Gehalt. Auch sein Mantel aus der Altkleidersammlung wechselte ins Etikett Armani, und sein allabendliches Dosenbier weicht seitdem einem guten Rotweintröpfchen aus dem hauseigenen Weinkeller.

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Die Künstlerin von Stine Klapper

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Kommunikaze:Titel

enn man sich zu spät drum kümmert, muss man zur Untermiete wohnen. Auch wenn es nur für drei Monate ist, kann das zu einer wahnsinnigen Quälerei werden. Ich kümmer mich generell zu spät drum, und nach Erfahrungen als Ersatztochter für eine omnipräsente 70-jährige Zentralamerikanerin war ich eigentlich ganz froh, als sich meine neuen „Übervermieter“ als unkompliziert und kunstinteressiert beschrieben. Er Fotograf, sie Skulpturistin und, wie sich später herausstellen sollte, vieles andere mehr.

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Der erste Tag vor Ort bringt sofort Ernüchterung. Eine geschmacklos eingerichtete Wohnung; in der Küche hängen unzählige eingerahmte Postkarten, alle ausschließlich zum Thema Essen, spießige Möbel und hier und da einige seiner Fotografien, die Motive „Laub“, „Traube“ und „Huhn“ in kitschigem Einklang mit pastelfarbenden Rahmen zeigen (in seinem Arbeitszimmer hängt hingegen ein lebensgroßes, weibliches Unterwäschemodel, was allerdings nicht von ihm fotografiert wurde). Sie erklärt mir im ersten Gespräch, dass sie nicht nur Künstlerin, sondern auch Journalistin und ab und zu Lehrerin sei und wahnsinnig gerne Klavier spiele. Natürlich nehme ich das am Anfang alles ernst, doch in den nächsten Tagen entdecke ich nach und nach ihre Kunst. Sie baut Häuser aus Pappmaschee. Zweistöckig und mit kleinen Möbelchen, Bücherchen und Bildchen an den Wändchen, was alles eher langweilig und ein wenig schlecht verklebt aussieht. Um das Ganze dann zu ernsthafter Kunst zu machen, schreibt sie das recht gewagte Statement „Arbeit macht frei“ an die Hauswand. Ob völlig daneben oder lächerlich, in Kombination mit ihrem musikalischen Engagement ist es auf jeden Fall endgültig

unerträglich. Ihr Klavierspiel hört sich an wie Schulenglisch. Jahrelang hat sie geübt, doch ein Gefühl für die Sache nie entwickelt. Trotzdem kloppt sie unermüdlich auf die Tasten und schiebt sich durch ein Stück nach dem anderen. Es kann ihr eigentlich keinen Spaß machen. Hinzu kommen ab und zu unreflektierte gesellschaftspolitische Aussagen, die hauptsächlich ausdrücken, wie sehr sie der Gesellschaft dient, indem sie ein Zimmer untervermietet (recht teuer allerdings). Warum tut sie das? Warum baut sie hässliche kleine Pappmascheehäuser, warum setzt sie durch ihr Klavierspiel sowohl Zuhörer als auch sich selbst so großem Stress aus? Das alles wohl nur, um eine Künstlerin zu sein. Vielleicht hat sie irgendwann gemerkt, „Hm, malen kann ich ja überhaupt nicht, basteln tu ich ganz gerne, dann baue ich doch was aus Pappmaschee! Das macht Spaß und ´ne gute Aussage pack ich auch noch irgendwie rein.“ Da auch das nicht so richtig klappt, kann man eigentlich nur Mitleid haben. Wie bitter ist es denn, wenn jemand unbedingt Künstlerin oder Künstler sein möchte, es aber einfach nicht kann? Oder fühlt sie sich von der Gesellschaft unter Druck gesetzt, „was mit Aussage“ zu machen, obwohl sie eigentlich nur basteln und kochen will? Manchmal möchte ich einfach hingehen und sagen: „Es ist schon okay, du musst das nicht. Komm, wir gucken, dass da unten niemand lang geht und dann schmeißen wir Pappmaschee, Klavier und den ganzen anderen Scheiß vom Balkon.“


Kommunikaze:Titel

von Steffen Elbing

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Am Ende

von Stefan Berendes

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m Ende gibt es nichts mehr zu sagen oder zu tun, weil ich alles gesagt und getan habe, was ich konnte und nichts davon genug war. Weil es einfach nicht gereicht hat. Am Ende geht alles zu schnell, und es läuft an mir vorbei wie ein Film, in dem ich mitspiele, dessen Handlung ich aber nicht mitbestimmen und den ich nicht anhalten kann. Am Ende stehe ich unten auf der Straße vor Deinem Haus und weiß, dass es vorbei ist. Und weiß, dass ich erst später begreifen werde, dass es vorbei ist. Am Ende fühlt es sich an, als würde jemand mit einem scharfen Löffel Melonenbällchen aus meinem Herz schälen.

Kommunikaze:Facts

Am Ende passt ein halbes Jahr in eine kleine Schachtel. Die Kerzen von dem Geburtstagskuchen, den Du

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mir gebacken hast. Das Foto von Dir, auf dem Du so ernst guckst, weil Du findest, dass nur Dein ernster Gesichtsausdruck auf Fotos einigermaßen gut aussieht. Die Kinokarte von dem Film, den ich wunderschön fand und Du furchtbar kitschig (und beides stimmte). Die Colaflasche, deren Inhalt wir uns damals in der Disco geteilt haben, als wir uns kaum kannten und fast nichts zueinander sagen konnten, weil wir fast nichts voneinander wussten, außer, dass wir gern mehr voneinander wüssten, damit wir mehr zueinander würden sagen können. Am Ende würde ich auch all die Momente gerne in diese Schachtel legen, all die Augenblicke. Den Tag am See. Den Tag im Wald. Den Tag, an dem wir dem Meer hinterhergefahren sind. Den Tag, an dem Du krank warst, und ich Dir Toast und Tütensuppen gebracht habe. Ich würde es gerne zu den anderen Sachen in die Schachtel legen, damit die Erinnerungen nicht verblassen, damit es nicht weniger wird. Damit diese Momente andauern, am Ende wenigstens diese Momente. Ein halbes Jahr. Ein Leben. Ein Universum.


Wunschfrei von Judith Kantner

blüte oder wahlweise die Kerzen auf der Geburtstagstorte mit einem Mal umpusten, „Wir haben das gleiche Wort zusammen gesagt, jetzt dürfen wir uns etwas wünschen...“...

Eigentlich ist es jetzt aberglaubentechnisch nicht korrekt, wenn ich den Wunsch jetzt hier preisgebe, aber nieder mit dem Aberglauben und scheiß auf den Wunsch (die Wimper hat mir ja schon prophezeit, dass dieser eine Wunsch einfach nicht in Erfüllung gehen will – und ich hab es nicht nur mit der Wimper versucht!). Ich habe mir gewünscht, dass...nee ich sag es doch nicht. Vielleicht geht er dann erst recht nicht.... Aber wieso gibt es eigentlich diese komischen Rituale und Glücksbringer? Ja genau: Vierblättriges Kleeblatt, Schornsteinfeger, Sternschnuppen, die Löwenzahn-

Einer meiner Profs hat die Theorie aufgestellt, dass Menschen immer an das glauben, was ihnen irgendwie hilft. Egal ob man jetzt glaubt, dass die Studiengebühren wieder abgeschafft werden, der 1. FC Köln irgendwann noch mal in der ersten Liga tanzt, Menschen (besonders die, die einem momentan sehr zu schaffen machen) sich verändern, an den Weihnachtsmann oder an Gott. Irgendwie hat er Recht. Dieser Glaube macht einem Mut, hilft einem vielleicht ein wenig über die eigene desolate Situation, über Machtlosigkeit und Verzweifelung hinweg. Man wird gelassener und glaubt einfach, dass alles gut wird. Irgendwann. Man muss eben nur fest genug dran glauben. Denn wer sich etwas wünscht, der fühlt sich lebendig, lebt in Erwartung. Und auch der abgebrühteste Realist gerät hier und da in die Wunschschleuder. Ich versuch mich noch mal an meiner Wimper, denn alle guten Dinge sind schließlich drei, oder? Mögen alle guten Wünsche in Erfüllung gehen!

Kommunikaze:Facts

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lso nee. Ich sitze hier und hab‘ schon zwei Mal eine ausgefallene Wimper von meinem Finger in die Luft gepustet, die Augen geschlossen und mir dabei ganz fest etwas Bestimmtes gewünscht (das macht man doch so?). Jedes Mal fliegt die Wimper auf meine Tastatur und ich sammele sie wieder auf, positioniere sie erneut auf meinem Zeigefinger, puste sie wieder weg und wünsche mir noch mal das Gleiche. Vielleicht soll mir dieser Wunsch einfach nicht gewährt werden?

Genau: Weil manche Dinge einfach nicht in Erfüllung gehen und Mensch sich mit seinem Schicksal partout nicht abfinden will oder die Welt einfach nicht verbessern kann. Da bleibt die leise Hoffnung und irgendwie glaubt man dann doch, dass der Wunsch ja doch irgendwann vielleicht in Erfüllung gehen könnte...

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Das deutsche Abendbrot im Wandel der Jahrtausende von Finn Kirchner

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as Abendrot ist ein seit jeher beliebtes Naturschauspiel. Man sitzt am Strand, auf einem Berg oder wahlweise an einem anderen exponierten Ort, schaut gen Westen und ist darüber entzückt, dass die Sonnenstrahlen auf ihrem durch die Schrägstellung der Erde längeren Weg durch die Atmosphäre eine rote Farbe annehmen. Seit Jahrtausenden erfreut es die Menschen, und auch heute, in Zeiten von Hollywood und Telenovelas, gesteht sich der eine oder andere eine gewisse Rührung beim Anblick dieses so simplen wie entzückenden im wahrsten Sinne alltäglichen Ereignisses ein.

Kommunikaze:Facts

Das Abendbrot dagegen stirbt einen langsamen und einsamen Tod. Beim Frankreichaustausch in den Neunzigern erzählte ich meinen Gasteltern noch, dass man in Deutschland abends kalt esse. Sie übersetzten das,

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was ich ihnen als kaltes Abendessen beschrieb, mit dem Wort Sandwich, ich akzeptierte und versuchte gar nicht, das dazugehörige Brettchen zu erklären. In Frankreich aß man Mittags irgendetwas Belang- und Geschmackloses in der Schule, und abends gab‘s dafür Allerfeinstes auf die fourchette. Dass das Mittagessen in der Schule bereits warm gewesen war, daran störte sich niemand, nach französischem savoir vivre gab es keine Regeln für die Temperaturverteilung der am Tag eingenommenen Speisen. In Deutschland dagegen schon. Mittags warm, abends kalt. So nostalgisch dieser Text anfing, so abrupt soll sich sein Tenor nun ändern. Ich senkte nämlich stets das Haupt vor Enttäuschung und Neid, wenn meine ausländischen Mannschaftskameraden nach dem mittäglichen Sport schon wussten, welche Art von Braten sie abends kredenzt bekommen. Ich dagegen konnte mir Graubrotes mit Scheibenkäse sicher sein. Von Abendbrot im engeren Sinn halte ich also gar nichts. Wenn mir Gerichte aus anderen Bestandteilen als Brot, Butter, Wurst ODER (und niemals UND) Käse besser schmecken, dann scheiße ich auf die Tageszeit. Da bin ich Kosmopolit. Brot mit fulminanter Auflage kann ich mir auch als Zwischenmahlzeit zubereiten. Der Abend als Ende des Tages sollte aber den kulinarischen Knaller bereithalten. Auch zwei Knaller am Tag sind ange-


Abendbrot und Abendrot haben also wenig gemein. Höchstens die Tageszeit. Doch auch hier ist Bewegung drin, während früher im tiefsten Winter Abendbrot und Abendrot zeitlich zusammenfielen, wandert Deutschlands Abendessenszeit mehr und mehr auf internationales Mai-Niveau, die Tagesschau ist teilweise schon erreicht, bis zur spanischen Zehn (der deutschen Zweiundzwanzig) ist es jedoch noch ein weiter Weg. Bei den Studenten, die meist einen nach hinten verschobenen Tag-Nacht-Rhythmus pflegen, etwa zeitgleich mit den Azoren, verhält sich das Ganze ohnehin anders. Die erste vorsichtige Nahrungsaufnahme findet in der Mensa statt, zur Telenovelazeit wird zusammen gekocht, und wenn man nachts nach Hause kommt, macht man sich noch ein Leberwurstbrot. Auf dem Brettchen. Erschreckt stelle ich fest: Wir sind die Spießer der Azoren.

Kommunikaze:Facts

bracht, die Nachkriegszeit ist schließlich vorbei. Glücklicherweise spielt mir der Zeitgeist in die Hände. Sittenverfall und Wertewandel haben dem Abendbrot schwer zugesetzt. Die Kernfamilie mit morgens kochender Mutter, Vormittagsschulkindern und arbeitendem Vater, dem der Kantinenfraß als einziges warmes Essen genügt, ist ja kaum noch existent. In der modernen Familie bereiten sich die Kinder nach der Schule Tiefkühlkost zu, während die Mutter in der Mittagspause im Café einen Salat nimmt und der Vater beim Geschäftsessen Internationales schlemmt. Abends hat der Vater wieder ein Geschäftsessen, es könnte spät werden, tatsächlich wird er von einer jungen Dame in der Südstadt wärmstens bekocht, während die Mutter den Kindern kaltes Sushi oder warme Falafelteller mit Halloumi mitbringt, selbst aber nichts isst in der Hoffnung, dass Vati dann nicht mehr so viele Geschäftessen annimmt.

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Let‘s not play the background, let‘s play the music von Jennifer Neufend

immer studieren, am liebsten Modedesign. Auf der Nähmaschine, die sie von ihrer Mutter geerbt hat, näht sie heute noch, manchmal. Sie hat die zweite Schicht, der größte Andrang ist schon vorüber.

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Kommunikaze:Fiction

ie Scheinwerfer schieben das Schwarzblau der kalten Nacht Stück für Stück nach vorne. Alles, was von dem Lichtkegel unbeobachtet bleibt, ist unsichtbar und unwichtig für sie. Der Himmel ist klar, der Wagen bewegt sich weiter, immer weiter Richtung Westen. Was erwartet sie? Während er das Lenkrad gerade hält, öffnet sie die silberne Thermoskanne. Eine warme, dampfende Wolke verbreitet sich im Wagen und legt sich als leichter Schleier auf die Scheiben. Der Proviant ist längst verzehrt, das beinahe letzte Geld für Benzin ausgegeben. Sie kramt in ihrer Strickjacke, in der Seitentasche hat sie noch zwei Dollarscheine. Im Aschenbecher sind noch drei. Er dreht die Musik etwas lauter „ ... she’s out there knocking on my door what do you want this time? How can a blind lead the blind? It’s alright,just you step right inside ...“. Seit Stunden hat sich die Nadel an der 60-Meilen-Marke festgehakt. Hin und wieder kommt ihnen ein Lastwagen entgegen. Sonst kein Tier, kein Mensch. Nicht einmal ein Tramper. Sie haben nichts, kein Geld, keinen Job, keine Ersparnisse. Nur diesen alten Cadillac – und sich. Vor Tagen sind sie in Newark aufgebrochen, auf den Weg haben sie sich gemacht nach Westen, ins neue Land, in eine neue Zukunft.

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Mary hat es nicht einfach. Der kleine schreit schon wieder. In den letzten Tagen weint er viel, vermisst Mary. Sie hat einen neuen Job, einen weiteren neuen Job. In dem Coffee-Shop ist es eigentlich ganz ok. Zumindest bis jetzt. Leider bleibt ihr nicht viel Zeit für ihren Sohn. Die U-Bahn ist voll. Einen freien Platz findet Mary zwischen einem Banker und einer Reinigungsfrau. Der eine fährt zur Arbeit, die andere kommt von ihr. Mary denkt sich gerne die Geschichten zu den Menschen aus. Was machen sie, wo fahren sie hin, wo kommen sie her? Noch drei Haltestellen. Eigentlich wollte Mary

Endlich die Lichter der Stadt, einer Stadt. Die Sonne färbt den Horizont in ein Rubinrot. Es scheint, als ende der Tag, nicht als breche er an. Der Verkehr nimmt zu. Menschen in grauen Autos und grauen Anzügen fahren aus der Stadt, ihnen entgegen, und in die Stadt, eine graue Kolonne. Jetzt wird sie wach, streckt sich. Langsam dreht er seinen müden, schweren Kopf zu ihr und lächelt. Sie sagt: „Es ist schön, mit dir zu fahren!“, und berührt ihn kurz an der Hand, die, sich ausruhend, auf seinem Schenkel liegt. Latte, Cafe Latte, den verkaufen sie sehr häufig. Auch schwarzen Kaffee. Gerne sitzen die Bewohner dieser Stadt vor dem großen Fenster und schauen nach draußen, die einen sehnsüchtig, die anderen verträumt. Wieder andere lesen Zeitung. Hier riecht es immer gut. Mary beginnt die Stehtische abzuwischen. Der Wagen rollt in die Stadt, schwer und träge liegt er auf dem Asphalt. Die nächste Möglichkeit zu parken nutzt er. Sie müssen nicht weit laufen, bis sie zu einem Coffee-Shop gelangen, die Zahnbürsten in den Jackentaschen, sie hat einen kleinen Kamm dabei. Hier ist es warm, und es riecht gut. Gerösteter Kaffee, Kuchen und warme Milch. Leise läuft Musik. Er verschwindet auf der Kundentoilette, während sie zwei Kaffee bestellen will. „Sehr müde sehen die zwei aber aus“, denkt Mary. Keine üblichen Gäste am Morgen, nicht frisch geduscht, mit Aktentasche oder Handtasche. „Zwei große Kaffee, bitte“, sagt sie, freundlich. Mary schaut sie an. Die Blicke treffen sich und bleiben einige Sekunden aneinander hängen. – „Large oder Extra Large?“, fragt Mary.


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Kommunikaze:Fiction


Keine Milch für niemand! von Finn Kirchner

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ch saß am Frühstückstisch und las die Nachrichten, als die Welt noch stimmte. Irgendwas im Irak, Putin, Chavez, Spears; die Morgensonne ließ meinen OSaft blühen. Das Lächeln meines Mundes hatte eine Breite, als wolle es von Kobe bis Grosny reichen. Da las ich die vier Worte. Sie trafen mich wie die vier Flugzeuge des elften Septembers: Die Milch ist teurer. Mein Gesicht fror zur Salzsäule, das halb zerkaute Käsebrötchen floss aus dem Mund wie heiße Lava. Der Rest des bisherigen Frühstücks folgte und ergoss sich über mein T-Shirt mit dem Aufdruck „Pompeji“.

Kommunikaze:Fiction

Die Milch ist teurer! Sofort war mir klar, was das bedeutete, denn ich wusste, wo überall Milch drin ist: Butter, Joghurt, Frischkäse, beim Reis war ich mir unsicher. Aber auch ohne den Reis fühlte ich mich wie ein Deutscher am D-Day. Die Milch! Wie sollte das

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gehen? Sollten die tapferen Arbeiter ihr Kakaopulver jetzt etwa in Bier schütten, wie sie es mit dem Doppelkorn taten? Müssten die hilflosen Säuglinge in Zeiten, in denen das mütterliche Stillen den Seltenheitswert der unbefelckten Empfängnis bekommen hatte, ohne ihr Methadon Kuhmilch verhungern? Würde im heiligen Land nur noch Honig fließen können? Oh du Ausgeburt der Hölle, soll das ganze Volk verdursten? Ich musste handeln. Chomeini hatte sich auch nicht ficken lassen. In Boxershorts und mit vollgekotztem T-Shirt rannte ich zum Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Dort war von Siebzehntem Juni jedoch wenig zu spüren, lediglich die Gruppe „Hartz IV, nicht mit mir“ stand müde vor den geschlossenen Toren der Trutzburg. Meine Versuche, Passanten zu spontanen Brandschatzungen zu bewegen, liefen ins Leere. Der Staat schien die Menschen eingelullt zu haben, so dass sie es klaglos zuließen, wenn sich die feisten Kühe unser Geld in die Taschen stopften, wenn sie mit noch pralleren Eutern noch fetter wurden. Also hielt ich selbst das Streichholz an die Glasfront. Spürst du den Volkszorn, Bastille?! Es erlosch wie eine Kerze im Wind. Doch mein Wille wurde nur stärker, ich griff zu härteren Mitteln. Nach zwei Stunden Hungerstreik konnte ich eine Mitarbeiterin des Ministeriums abfan-


Ich fühlte mich gedemütigt und verletzt, wie ein Türke vor Wien, wie ein Türke auf Zypern, wie ein Türke in Brandenburg. Die Schlacht war verloren, aber der Krieg tobte. Hungerstreik war das falsche Mittel, eine Revolution musste her. Eine Revolution, die ihrem Namen noch gerecht wurde. Einst waren noch Herrscher gelyncht und Hälse durchtrennt worden, heute sprach man an allen Ecken und Enden von Revolutionen. Begonnen hatte die ganze Verweichlichung des Widerstandes mit Gandhi und enden würde sie heute und hier. Es ging nicht um irgendwas, es ging um

Milchpreise. Ich musste das System dort treffen, wo es ihm weh tat, in Herz und Hirn zugleich. Ich musste es zermürben wie die IRA die Briten, musste es durch gezielte Nadelstiche bewegungsunfähig machen, nicht wie Stauffenberg im Kampf gegen Hitler, eher wie die USA in der Schlacht um Hiroshima. Brenne, Troja der Euterwirtschaft! Während ich die Freimilchrepublik ausrief, übergoss ich mich mit Benzin und entzündete mich selbst. Ich gehe davon aus, dass die Welt danach nicht mehr dieselbe war.

Kommunikaze:Fiction

gen. Ich tat meinen Unmut kund, erklärte ihr, dass mein Hungern aufgrund des ausgekotzten Frühstücks besonders druckvoll sei. Dem kleinen Mann die Milch zu verteuern sei die Christenverfolgung der Postmoderne, die Apartheid des 3. Jahrtausends, die Inquisition im Kühlregal. „Na dann sparen sie mit ihrem Hungern ja mächtig Knete“, sagte sie mit aller Arroganz der Macht und offenbarte die hässliche Fratze des Großkapitals.

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DIE LETZTE SEITE

IMPRESSUM Kommunikaze Zeitschrift für facts & fiction REDAKTION: Jan Paulin (ViSdP) Darren Grundorf Stefan Berendes Anna Groß Kalle Kalbhenn Olker Maria Varnke Tobias Nehren Esther Ademmer Steffen Elbing Finn Kirchner Judith Kantner GASTAUTOREN: Stine Klapper Jennifer Neufend

letzte worte:

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inige werden es vielleicht gemerkt haben: Die aktuelle Kommunikaze präsentiert sich in überarbeitetem Layout: Nach gut zwei Jahren war eine optische Frischzellenkur mal wieder dringend nötig. Für den Kollegen Berendes als Cheflayouter war‘s jedoch auch ein sentimentaler Abschied vom liebgewonnenen (aber leider hoffnungslos veralteten) alten Satzprogramm. Aber halb so wild: Ein herzlicher Dank geht an dieser Stelle an Florian Stöhr, der Ideen fürs neue Layout lieferte und uns die Bedienung der Software, die man heutzutage so zum Layouten benutzt, näherbrachte...

Kommunikaze:Letzte Seite

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er öfter mal auf www.kommunikaze.de vorbeisurft, der weiß es vielleicht schon, alle Anderen werden jetzt aufgeklärt: Der neue Shopbereich unserer Seite bietet nicht nur verschiedene todschicke Kommunikaze-Buttons zum günstigen Preis, sondern neuerdings auch ein Kommunikaze-Abo: Wer also einerseits nicht mehr regelmäßig in der Osnabrücker Mensa die aktuelle Ausgabe einpacken kann, andererseits aber weder seinen Bekannten noch dem Nachsendeantrag der Deutschen Post vertraut, bestellt sich die Kommunikaze künftig einfach frei Haus. Dann liegt die aktuelle Dosis facts & fiction ganz bequem von selbst im Briefkasten.

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as Jahr ist bald vorbei, und dann wird richtig durchgestartet: Derzeit plant Team Kommunikaze die nächste ausgewachsene Lesungstour, die ersten Dates in der Lagerhalle stehen schon fest (los geht‘s am 24. Januar), und weitere Termine werden folgen. Außerdem gibt‘s natürlich auch im kommenden Jahr 2008 wieder alle zwei Monate die neue Kommunikaze. Und wer weiß, was uns noch alles einfällt? Wie dem auch sei: Es gibt also keinen Anlass zur Sorge!Bis wir uns wiedersehen, wünschen wir ein frohes Weihnachtsfest und einen guten Rutsch ins neue Jahr! Kommunikaze 28 erscheint zum Ende der Vorlesungszeit Anfang Februar Redaktions- und Anzeigenschluss ist der 10. Januar 2008

FINANZEN: Volker Arnke LAYOUT/SATZ/GRAFIK: Stefan Berendes BILDQUELLEN: www.photocase.com Eva Breitbach ILLUSTRATIONEN: Christian Reinken DRUCK: Druckerei Klein, Osnabrück Tel. 0541/596956 AUFLAGE: 1.100 Exemplare REDAKTIONSANSCHRIFT: c/o AStA der Universität OS Alte Münze 12 49074 Osnabrück info@kommunikaze.de www.kommunikaze.de Die mit Namen gekennzeichneten Beiträge geben nicht zwingend die Meinung der gesamten Redaktion wieder. Falls in dieser Ausgabe unzutreffende Informationen publiziert werden, kommt Haftung nur bei grober Fahrlässigkeit in Betracht.


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