Die Chroniken von Ravan

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Die Chroniken von Ravan GESCHRIEBEN VON KIRSTEN SCHWARZ

Kirsten Schwarz | Die Chroniken von Ravan | Februar 2017


Anfang Der Wind zerrte an den Bäumen von Ravan, gleich einem tobenden Meer bewegten sich die Elemente um die Burgstadt. Das Donnern im pechschwarzen Himmel ließ die mächtigen Wände in ihren Fundamenten erschüttern. Haguz Bri-las bot seinem Volk seit Jahrhunderten Schutz und trotzte den Kräften der Natur. In dieser Nacht allerdings war es keinem ihrer Einwohner möglich, ruhigen Schlaf zu finden. Zwölf Reiter hetzten ihre Pferde im kopflosen Galopp über die Wege. Es war unmöglich abzuschätzen, wer von den Begleitern ihrer wertvollen Fracht diesen gefährlichen Weg überleben würde. Keiner der Männer hatte je so ein Unwetter in Ravan erlebt. Das panische Wiehern der Rösser ging im Tosen der Winde und der gebeutelten Bäume völlig unter. Jeder Befehl oder Ruf war zwecklos, denn die Stimmen wurden vom ungebärdigen Sturm im Mund zerdrückt. Drei Tage lang waren die Reiter bereits unterwegs und das Wetter hatte sich zunehmend verschlechtert. Sie waren am Ende ihrer Kräfte, doch ihre Reise konnte kein klareres Ziel haben: die gefallene Königin so rasch wie möglich zurück in ihre Burg zu bringen. Ob dort eine Rettung ihres Lebens zu erhoffen war, blieb zweifelhaft. Doch es ward so entschieden worden, denn die Heiler und Chirurgen im Lager der königlichen Armee wollten die Verantwortung nicht übernehmen, die Königin unter ihren Händen sterben zu sehen. Hilfe und Schutz an Tagen wie solchen im Wald zu erhoffen, war sinnlos, und ein Befehl war ein Befehl. Die Kämpfe gegen die Unih trugen sich an der Front ohne Unterlass aus. Der König konnte die Sicherheit seiner Gemahlin in solcher unmittelbaren Nähe des Feindes nicht gewähren. Und alte Traditionen zwangen die mächtigsten Männer zu unglaublichen Entscheidungen. Die Abordnung der Reiter war gesandt worden, um die schwerverletzte Loris zurück nach Haguz Bri-las zu schleppen. Zwei Pferde waren bereits gestürzt und was aus den Männern geworden war, wusste niemand. Weder Fackel noch Lampe konnten diesem Wetter standhalten, die Männer waren gezwungen in der wilden Finsternis weiterzureiten und ihre Pferde hart anzutreiben. Die Wipfel der Bäume wirbelten hoch über ihren Köpfen in einem irrsinnigen Tanz, das Brausen des Sturms war begleitet vom unablässigen Ächzen und Krachen der Äste und Stämme. Mit einem verhängnisvollen Bersten stürzten Bäume auf den Weg und begruben die vorderen Reiter unter sich. Der Befehlshabende der Gruppe zerrte verzweifelt am Zügel seines Rosses und zwang es dazu, nicht auszubrechen. Er brüllte und fluchte vor Angst und Schrecken. „Das ist der Untergang der Welt!“, hörte er seine eigene Stimme wie fremd in seinem Kopf. Die Außenwelt tobte so laut, dass die anderen seine Worte nicht hörten. Er wandte sich zu denen, die an seiner Seite ritten und jenen die hinter ihm waren. Mehr als vier Schatten konnte er nicht erkennen. Wo waren die anderen? Die Königin musste noch im Sattel von einem der Männer gehalten werden. Sie waren gezwungen, umzukehren und einen anderen Weg einzuschlagen. Insgeheim zählten die Männer auf den siebten Sinn ihrer Reittiere und das sie sich nah genug an der Burgstadt aufhielten. Die Pferde würden vielleicht trotz der üblen Finsternis und dem chaotischen Sturm den Weg zurück in ihre schützenden Stallungen finden.

Dieser apokalyptische Sturm hielt schon seit Tagen an. Es hatten sich schwarze Wolken am helllichten Tag im Osten gesammelt, drohendes Grollen und peitschende Blitze waren die Vorboten des ungeheuerlichen Unwetters gewesen. Céthis hatte diesen Ablauf vom Turmfenster aus beobachtet, bis Kammerfrauen gekommen waren und sie in ihre Gemach allerhand Geschosse tiefer begleitet hatten. Dort hatte sie gewartet und wie gebannt das tobende Wetter hinter den verschlossenen Fenstern verfolgt. Das Mädchen betrachtete das Funkeln der Blitze hinter den farbigen Glasscheiben. Es war ihre Mutter gewesen, die es veranlasst hatte, im Wohnsitz ihrer Familie die Fenster mit bunten Scheiben zu versehen. Ein Wissen, welches sie von ihren Leuten mitgebracht hatte und in den letzten Jahren zu einer großen Mode wohlhabender Familien geworden war. Céthis überlegte, welche Magie in diesem durchsichtigen Material wohl stecken mochte, weil viele Menschen so geheimnisvoll von den Fenstern der Königin sprachen. Andere

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verabscheuten diese Erneuerung und sagte, die Königin würde zu viel Geld für fremdes Zeug aus Ravan ausgeben. Céthis verzog spöttisch ihren Mund, diese Dummköpfe, wo Ravan doch ihr Land war. So viel hatte sie in ihrem siebten Lebensjahr bereits begriffen: ihre Eltern waren Herrscher über Ravan, die Bridônen bewohnten Haguz Bri-las, während andere im Wald lebten. Loris war dort geboren, fühlte sich aber nicht mit den Bridônen verbunden. Das Mädchen schluckte mühsam und verdrängte die Tatsache, dass es sehr durstig war. Ihre vollen Lippen, die stets ein wenig provokant und schmollend unter ihren großen blaugrauen Augen prangten, waren rau und spröde von der langen Wartezeit. Sie hatte sich geweigert, jede Pflege von den Kammerfrauen anzunehmen und war in den Turm am Ostwinkel des Schlosses geflüchtet. Von dort konnte sie den Verlauf des Wetters besonders gut sehen, aber ihr war von selbst klargeworden, wie gefährlich es war, dort weiter auszuharren, wobei sie ein untrügliches Schwanken und Beben in den steinernen Wänden vernehmen konnte. Der Turm konnte jeden Augenblick von einem Blitz getroffen werden. Céthis wollte sich einreden, dass sie keine Angst vor dem Tod habe, aber sie wartete darauf, dass dieses Unwetter endlich zu Ende ginge. Sie saß auf ihrem großen Bett, ihre Beine reichten nicht bis auf dem Boden, die schweren Vorhänge des hohen Betthimmels waren beiseitegeschoben und nachlässig mit einem dicken Strang aus geflochtener Seide festgebunden. Im Winter diente diese Einrichtung dafür, die Wärme um die Schlafende zu halten, doch darum kümmerte sich an Abenden wie dieser niemand. Céthis war froh darüber, dass die Kammerfrauen sie endlich in Ruhe ließen. Sie wollten keinen von diesen falschen Personen sehen. Als das königliche Elternpaar den Hof verlassen hatte und ein paar Abgeordnete für die Verwaltung bestimmt worden waren, verliefen zunächst die Tage diszipliniert den strengen Protokollen folgend. Doch der Krieg hatte sich in die Länge gezogen und die ursprüngliche Euphorie und Zuversicht waren zunehmend verlaufen. Posten waren mit einem Mal unbesetzt und die Leute trafen sich in Gruppen an unvermuteten Ecken des Schlosses und tuschelten.

Während Céthis weiter auf die blinkenden Fensterscheiben starrte und ein Gedanke den anderen jagte, wurde plötzlich die schwere Tür zu ihrem Gemach mühsam aufgeschoben. Das Mädchen schreckte aus ihrer Starrheit auf und blinzelte ihre ermüdeten Augen aufmerksam. Sie hatte es zu lange versäumt, zu zwinkern und merkte jetzt, wie ihre Augen schmerzten. Unwillkürlich stiegen ihr Tränen auf, doch sie erkannte die Silhouette ihres Bruders durch den Tränenschleier. Brimon ähnelte seiner Schwester auf die einzigartige Weise eines Zwillingsbruders, die beiden Geschwister standen in Körpergröße einander um nichts nach und aus ihren aufmerksamen graublauen Augen blitzte dieselbe Wissbegierde, gefärbt von einem leichten Hauch des Misstrauens gegenüber anderen Menschen. Behutsam schob Brimon die Tür hinter sich zu und schob den Riegel vor, um sicher zu gehen, mit seiner Schwester allein gelassen zu bleiben. „Ich kann nicht schlafen …“, sagte er leise mit eintöniger Stimme, die vom tobenden Wetter beinahe übertönt wurde. Seine Schwester erwiderte nichts und wartete schweigend bis er es sich auf dem Bett neben ihr bequem gemacht hatte. „Hast du geweint? Deine Augen sind nass!“, bemerkte er sofort. Céthis wischte sich mit flinken Händen über die Augen und blickte ihn forschend an. „Was tust du hier? Hast du etwas Angst vor dem Gewitter? Keiner von uns beiden darf Angst haben, verstehst du? Mutter und Vater sind im Krieg und wir können nur auf uns zählen“, bestimmte sie mit fester Stimme, doch Brimon ließ sich davon nicht beeindrucken. „So ein Unwetter habe ich noch nie erlebt! Wann wird es wohl aufhören?“, fragte er. „Wenn Mutter wieder da ist …“, entfuhr es Céthis, woraufhin sie sofort die Lippen aufeinanderpresste und den Kopf senkte als habe sie zu viel gesagt. Brimon kannte seine Schwester

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gut genug, um zu wissen, dass sie etwas wusste, was von größter Bedeutung war, es aber nicht aussprechen wollte. „Was ist mit Loris?“, fragte er und richtete sich auf. Er vertraute seiner Schwester sehr und musste mit Bedauern feststellen, dass sein Atem unwillkürlich kürzer wurde, weil er sich davor fürchtete, was Céthis zu sagen hatte. „Ich bin im Wald gewesen“, begann die Prinzessin zögernd, ohne den Kopf zu heben. Der Wind rüttelte an den Fenstern und sang bedrohlich im weiten Kamin am anderen Ende des Zimmers. „Du weißt, dass Vater es nicht billigt, wenn du allein in den Wald gehst…“, sprach Brimon, um etwas zu sagen und ihr drückendes Schweigen zu unterbrechen. „Warum tut er das, wo unsere Mutter doch ein Kind des Waldes ist? Wir haben im Wald nichts zu fürchten …“, murmelte Céthis und blickte gedankenverloren an den bebenden Fensterscheiben hoch. Brimon konnte in ihren angstgeweiteten Augen sehen, wie erdrückend das Geheimnis sein mochte, welches sie mit ihm teilen musste. Plötzlich machte sich in seinem Mund ein bitterer Geschmack breit, doch er wagte es sich nicht, nach etwas zu trinken zu fragen und zog es vor, abzuwarten. „Ich habe Brinhinda aufgesucht!“ Die Worte seiner Schwester wogen schwer wie Mühlsteine mitten im Zimmer, denn dies war die letzte Person, die eine Prinzessin in Kriegszeiten ohne Aufsicht und Schutz ihrer Eltern aufsuchen durfte. „Warum hast du das getan?“, flüsterte Brimon fassungslos. Céthis wandte langsam ihren Kopf in seine Richtung und blickte ihren Bruder endlich in die Augen. „Warum wohl? Weil ich wissen wollte, wann der Krieg vorüber sein wird.“ Ihre Stimme war kaum lauter als ein verhaltenes Flüstern. Brimon änderte ungeduldig seine Sitzposition. „Und? Was hat die Hexe dir gesagt?“ Céthis presste erneut die Lippen aufeinander, bevor sie sich endlich entschloss, weiterzusprechen: „Ich hätte Brinhinda nie aufsuchen sollen, denn alles was sie mir gesagt hat, trifft gerade ein. Aber jetzt ist es zu spät und ich bin allein daran schuld.“ „Woran sollst du schuld sein?“ „Sie hat mir gesagt, dass in der Nacht vor dem neuen Vollmond eine Armee schwarzer Wolken den Himmel verfinstern würde.“ „Wann wird der nächste Vollmond sein?“, erkundigte sich Brimon. „Das war vorgestern.“ „Ich habe ihn nicht gesehen …“ „Niemand konnte ihn sehen, wegen der Wolken, du Dummkopf!“, schalte Céthis ihren Bruder, der verlegen den Mund verzog. Er wusste, wie genau es seine Schwester mit den Naturerscheinungen nahm und dass Loris ihnen die Wichtigkeit des Mondkalenders hat beibringen wollen. „Du kannst unmöglich die Ursache von diesem verflixten Wetter sein.“ „Brinhinda hat mich böse ausgelacht! Das Schicksal der Bridônen sei besiegelt, der Krieg würde bald enden, so oder so, doch es sei Zeit für eine neue Königin – so ihre Worte.“ Brimon runzelte fragend die Stirn, und seine Schwester fuhr erklärend fort: „Ich habe den Sinn dieser Sätze auch nicht sofort begriffen. Also hat die böse Frau es mir mit einfachen Worten erklärt. Eine Tochter des Waldes habe in Haguz Bri-las nichts zu suchen und noch weniger einen Platz

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neben dem Thron des Herrschers. Und weil ich eine unfolgsame Prinzessin sei, habe ich mir allein den Tod von Loris zuzuschreiben.“ Brimon seufzte schwer und schüttelte den Kopf. „Diese bösartigen Worte sind nur dazu da, dich zu verletzen, hörst du? Mutter ist nicht tot – sie fehlt uns nur.“ „Wir sind alt genug, um ohne Mutter zu leben. Aber ich könnte es mir nie verzeihen, wenn eine neue Königin ihren Platz einnehmen würde …“ Céthis Worte wurde von einem schrillen Klirren unterbrochen. Unzählige von Glasscheiben splitterten auf den Steinboden. Die Kinder schreckten auf. Der Wind hatte das größte Fenster in der Mitte aufgedrückt und die Läden klapperten haltlos im Sturm, dass die bunten Scheiben zerbrachen und zwischen den im wallenden Vorhängen die Scherben wirbelten. Brimon ergriff seine Schwester bei der Hand und zerrte sie vom Bett. Rasch eilten die beiden zur Tür, schoben den Riegel beiseite und rannten über den breiten Flur zum Treppenturm. Sie hörten aufgeregte Stimmen von den unteren Geschossen und liefen auf blanken Füssen die Treppe hinunter. Brimon und Céthis gelangten an eine lange Balustrade, von der sie den Saal sehen konnten, in dem normaler Weise die königliche Familie ihre Speisen einnahm. Loris hatte es vorgezogen, so oft wie möglich in der Küche zu essen, wo sie liebend gerne die Zubereitung der Speisen selbst überwachte. Die Geschwister sahen, wie sich Leute aus dem Gefolge zuriefen und beeilten, den anderen zu folgen. Niemand kümmerte sich um die Kinder. „Komm! Wir sehen, was los ist!“, sagte Brimon zu seiner Schwester. Beide trugen sie die Kleidung, die sie seit Tagen nicht abgelegt hatten. Er trug seine ledernen schwarzen Reithosen und ein Hemd aus schwerer Seide. Normalerweise achtete immer jemand darauf, dass es ordnungsgemäß zugebunden war, damit die wertvollen Stickereien zur Geltung kamen. Doch dergleichen war seit Tagen nicht mehr geschehen. Céthis langes hellblaues Kleid trug am Saum die Spuren von Staub und zeugte von der Vernachlässigung der königlichen Geschwister. Ihr langes Haar war lange nicht von einer Kammerfrau gebürstet worden, aber sie machte sich daraus nichts. Mit Herzklopfen rannte sie neben ihrem Bruder runter, hinter den Leuten her, um zu sehen, was diese Aufruhre mit sich hatte. Die Flammen der Fackeln an den Wänden tanzten unruhig und der Sturm tobte sich weiter um die Stadtburg aus. Hölzerne Gerüste ächzten müde unter dem unermüdlichen Wiegen der mächtigen Wände. Céthis und Brimon eilten zum Thronsaal, blickten rasch durch die halbgeöffnete Tür und verfolgten ihren Lauf sobald sie sicher waren, dass sie von niemand gesehen wurden. Hinter dem Saal befand sich eine riesige Halle, in der sich ohne Weiteres hundert Reiter aufhalten konnten. Von dort aus gelangte man direkt in den Hof der sieben Prinzen. Der größte Aufruhr ging von dort aus. Die Kinder hörten Pferde wiehern und Hufe auf dem Pflaster klappern. Die Banner der Familie wurden vom Sturm gepeitscht und zerriss der Länge nach. Alle Aufmerksamkeit galt den Reitern, die ebene gerade eingetroffen waren. Die Botschaft der geheimnisvollen Reisenden war trotz des Unwetters wie ein Lauffeuer durch die Stadt gerannt und kurz vor ihrer Ankunft am Hof gemeldet worden. Céthis warf ihrem Bruder einen fragenden Blick zu. „In die Kapelle!“, riefen Männer und die Kinder sahen die Menschen durcheinander rennen. „Bringt sie in die Kapelle!“ Die Prinzessin gab Brimon zu verstehen, ihr zu folgen und huschte im tiefen Schatten der hohen Mauern entlang, um sich in die besagte Kapelle zu mogeln. Das Mädchen drängte sich zwischen den Menschen hindurch und wollte sehen, wen oder was die Männer angeschleppt hatten. Auf den Gesichtern der Anwesenden standen Besorgnis und Entsetzen geschrieben. Céthis entschloss sich, kein Antlitz mehr zu beachten und konzentrierte sich einzig auf das, was sich vor dem Altar der Kapelle abspielte. Dort wo Priester normalerweise den Göttern Opfer darboten und mit den

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anwesenden Gläubigen hofften, dass ihre Gebete angehört werden, hatten sich abgekämpfte Reiter gebeugt und ihre Last niedergelegt. Ein Priester war anwesend, ebenso ein Heilender, mit besorgter Miene, den Körper betrachtend. Céthis kam herangetreten, gefolgt von ihrem Bruder und erkannte das bleiche Gesicht ihrer Mutter. Loris schien zu schlafen, doch jedes Leben war aus ihren Wangen gewichen, ihre Lippen waren farblos und ihre Augenlider friedlich geschlossen. Unter den Augen zeichneten sich dunkle Schatten ab, sie gehörte nicht mehr zu den Lebenden. Die Traditionen verlangten es, dass eine Fremde auch nach dem Tod zu den Bridônen zählen konnte, wenn sie innerhalb der Mauern von Haguz Bri-las ihren ewigen Frieden fand. Céthis blickte strafend von einem Gesicht der umstehenden Männer zum anderen. Sollte sie der Weissage der verrückten Brinhinda Glauben schenken und sich denken, sie trage die Schuld am Tod ihrer Mutter? Oder waren es nicht diese blöden Männer mit ihren Befehlen, die sie der Traditionen wegen ausführen mussten, wobei Loris viel eher an einem anderen Ort hätte geheilt werden können. Stattdessen hatten sie die schwerverletzte Königin bei einem Unwetter ohne Gleichen durch den Wald geschleppt. Sie sah, wie Brimon sich dem Leichnam näherte und über Loris Gesicht beugte. Seine Hautfarbe war beinahe ebenso bleich wie die der Verstorbenen. Seine Augen schimmerten nass, doch er brach nicht in Tränen aus. Der Priester sprach zu den Umstehenden und gebot, ein paar Schritte zurück zu treten. Céthis nahm die Worte, die er aussprach nicht wahr, sie vermischten sich mit dem anhaltenden Lärm des Sturms, doch sie spürte, dass sie vorerst in Sicherheit war. Sie musste in der Nähe der toten Königin bleiben und kauerte sich neben die in vor Dreck starrenden Decken, in die man die Verletzte eingehüllt hatte. Jemand beugte sich zu ihr hinab, es war einer der Reiter, doch sie kannte seine Augen nicht. „Bleibt bei eurer Mutter. Sie ist im Kampf gegen die Unih gefallen. Sie war eine bemerkenswerte Schwertkämpferin“, sprach der bärtige Mann und nahm seinen Helm ab, damit die Prinzessin sein Gesicht sehen konnte.“ Céthis beobachtet eindringlich seine stockenden Bewegungen, seine Hände steckten in schwarzen Handschuhen, deren Leder durch Schmutz und unermüdliche Benutzung hart geworden war. „Ich weiß!“, erwiderte sie mit überraschend fester Stimme. Die Umstehenden, die sie vernommen hatten, verstummten und blickten sie verwundert an. Das Mädchen ließ sich nicht verschüchtern und musterte jedes Gesicht. Sie kannte niemand von den Anwesenden und fragte sich, wo das andere Pack vom Hof war. Wahrscheinlich konnten sie nicht näher herantreten, weil die kleine Kapelle von Menschen überfüllt war. Sie traute keinen dieser Leute, die dort standen und die Leiche ihrer Mutter betrachteten. Sogar der Priester verhielt sich zögernd und abwartend. Noch bevor Céthis sich weitere Fragen stellen konnte, drehte sie sich zu ihrer Mutter um und löste die Deckenhülle von ihren Beinen. Sie wusste, wo Loris ihre Klingen verbarg und glitt mit tastenden Händen an ihren Beinkleidern hinunter. Dabei beobachtete sie, wie sich ihre Hände vom vergossenen Blut der Königin dunkel färbten. Céthis atmete bewusst flach, um den penetranten Geruch des Blutes so weit wie möglich zu vermeiden. Als sie den Schaft der Stiefel erreicht hatte, fühlte sie den harten Griff des Dolches und löste ihn aus seiner Hülle. Der dunkle Stahl wog schwer in ihrer zarten Kinderhand, sie presste die Lippen aufeinander und konzentrierte sich, damit niemand sofort sehen konnte, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben eine Waffe in den Händen hielt. „Jetzt seid Ihr vom Blut des Krieges getauft und werdet nicht ruhen, bevor Eure Rache gestillt ist“, sprach der Reiter, der als erstes seinen Helm Céthis gegenüber abgenommen hat. Die Prinzessin blickte ihn erneut an. „Wie ist dein Name, Soldat?“, verlangte sie zu wissen. „Ich nenne mich Orgond, Majestät und es war Euer Vater, der mir die letzte Reise Eurer Mutter anvertraut hat.“ Die Prinzessin nickte und wünschte sich, allein gelassen zu werden. All diese fremden, neugierigen Menschen sollten verschwinden und aufhören, ihre Mutter zu begaffen. Sie

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wollte, dass ihre Mutter schön aussah, wenn sie zu ihrer letzten Ruhe begleitet wurde. All das, was um sie herum geschah, war nicht richtig. In diesem Moment wagte der Priester, allmählich die Anwesenden zum Rücktritt zu geleiten. Orgon nickte den Männern an seiner Seite zu, Ruhe und Stärkung brauchten sie, um bei klarem Sinne zu bleiben. Die Unruhen des Krieges kosteten den Menschen viel Entbehrung, doch es war an der Zeit, etwas zu essen. Orgon blickte auf die Kinder, die neben ihrer verstorbenen Mutter hockten. Die Prinzessin schien trotz ihres jungen Alters die Gefahr, die sie umgab zu spüren. Machtgierige Angehörige des Stadtrats konnten über unerwartete Mittel verfügen und den Thronfolgern Leid zufügen. Allein das war der Grund gewesen, warum der König veranlasst hatte, seine schwerverletzte Gemahlin in das Innere der regierenden Stadt bringen zu lassen. Nur innerhalb der Mauern von Haguz Bri-las blieb ihr Status als Königin bestehen und ihre Kinder behielten den Anspruch auf den Thron.

Céthis fühlte sich leer und erschöpft. In ihrem Kopf herrschte eine unsägliche Leere, beinahe so als habe der stetige Sturm jedes Gefühl und sämtliche Gedanken davon gefegt. Sie konnte so tun als sei sie groß und stolz, doch die Tatsache, dass sie noch zu jung für Entscheidungen in der Welt der Erwachsenen war, wurde ihr bewusster denn je. Schlimm genug, dass selbst die Betagteren nicht wussten, was sie zu tun hatten und Angst und Unsicherheit auf ihren Gesichtern geschrieben standen. Irgendwann erschien dieser Orgon wieder an ihrer Seite, sie hatte die Geräusche seiner schwerverdreckten Reitstiefel auf dem Steinboden der Kapelle wiedererkannt. Zwischen seinen schmutzigen Händen hielt er einen Zinkteller, auf dem ein Stück trockene Wurst und etwas abgelagertes Brot lagen. Der grobe Mann warf dem Priester einen kurzen Blick zu und entschied sich, in der Nähe der Kinder auf den Stufen vor dem Altar Platz zu nehmen. Céthis musste bedrückt feststellen, dass der Duft dieser Nahrung, ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Sie vermochte es nicht zu sagen, wann sie das letzte Mal etwas gegessen hatte und nahm dankbar ein Stück Brot und Wurst an. Orgon nickte verstehend und kaute ausführlich, wie er es sich in den vergangenen Monaten angewöhnt hatte. Wenn einer langsam aß, hatte er das Gefühl, dass bisschen Nahrung würde mehr sein, denn in diesen Zeiten konnte niemand voraussagen, wann die nächste Mahlzeit möglich sei. Der Priester schien mit einem Mal sehr erschöpft zu sein. Er hatte die letzten Umstehenden aus der Kapelle begleitet und kam mit schlurfenden Schritten zum Altar zurück. Orgon stellte den Teller auf den Boden und kramte aus seinem Lederbeutel eine Weinflasche heraus. Céthis schaute sich den Behälter neugierig an. Mit den wertvollen Karaffen auf den Tafeln der königlichen Gelage von einst hatte dieses Ding nicht viel gemeinsam, eine unbestimmte Form aus dunklen, festen Leder, die sich wie ein lebloses Wesen unruhig zwischen den Händen seines Besitzers wandte und mit Kraftaufwand entkorkt werden musste. Orgond beobachtete das Mädchen und wartete einen Augenblick, bis sie ein paar Bissen geschluckt hatte. Schließlich kramte er einen Becher aus seinem Beutel hervor und schüttete etwas von dem Wein ein. Selbst der Priester sagte kein Wort als der Mann der Prinzessin zuerst von dem Getränk reichte. Céthis nahm den Becher schweigend an und roch misstrauisch daran. Das Zeug roch scharf nach gegarten Trauben und Gewürzen. Die einfachen Reisenden hatten Mittel gefunden, den Wein auf ihren Wegen trinkbar zu behalten. Als sie den Becher zu ihren Lippen fuhr, wurde ihr beinahe übel, doch sie nahm ihren Mut zusammen und ließ einen großen Schluck in den Mund laufen. Der warme Wein wirkte sofort in ihrem ungewohnten Gaumen und brannte sich in ihr Gedächtnis. Céthis blickte zu ihrem Bruder und reichte ihm den Becher. Brimon gehorchte und sie sah ihm dabei zu, wie auch er davon trank. Das Prinzenpaar verspürte zugleich den wärmenden Effekt des starken Alkohols in ihren Körpern. Die Glieder schienen sich zu entspannen und ihre Augenlieder wurden schwer. Nun war es soweit, die beiden kannten den Geschmack des Weines und ließen das fremde Getränk stumm wirken.

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„Wir werden wohl über die beiden wachen müssen …“, entschied der Priester und erhob sich schwerfällig von der hölzernen Bank. Brimon hatte den halbgeleerten Becher an den Reiter zurückgegeben, Orgond schüttete erneut davon ein, nahm selbst einen großen Schluck und reichte das Getränk dem Hüter des heiligen Ortes. „Ich werde hier mit meinen Männern abwechselnd Wache schieben. Solange bis der König eingeritten kommt. Ich habe nicht acht meiner Männer verloren und all die Strapazen auf mich genommen, um zur Belohnung den Kopf abgeschlagen zu bekommen“, brummte der große Mann. „Ich übernehme die erste Wache! Ihr geht und besorgt euch was zu essen, bevor euch eure Beine nicht mehr tragen können!“, wies er seinem Gefolge an. Die noch anwesenden Männer zögerten nicht lange, verbeugten sich kurz und verließen den tristen Raum. „Seid unbesorgt! Andere werden mit ihrem Leben bezahlen müssen und seine Majestät wird sie als abschreckendes Beispiel auf dem Marktplatz hängen lassen. Wie war doch gleich Euer Name?“ „Orgon, Sohn von Laurmech“, gab der Angesprochene knapp zu Antwort und schnitt sich ein Stück Wurst ab. „Ah, ein Sohn eines Schmieds. Die Laurmech sind seid Generation für ihre Schmiedekünste bekannt, man könnte regelrecht von einer Dynastie sprechen.“ Der Priester schob wie für eine Zeremonie seine Unterarme in den auslandenden Ärmeln seiner grauen Kutte übereinander, dass man seine Hände nicht mehr sah. Céthis befürchtete, dass er darunter eine Waffe verbarg. Jedenfalls hatte die Prinzessin dieses mögliche Versteck als intelligent empfunden. Orgon war jetzt allein, sein Gefolge außer Rufweite, möglich, dass der Priester einen Plan im Schild führte. Doch sie schien sich zu täuschen, die beiden Männer unterhielten sich ruhig weiter. „Unnötig mir zu schmeicheln, alter Mann. Die Schmiede werden immer hochangesehen, wenn es zu Kriegszeiten kommt. Doch das hält die Einwohner von Haguz Bri-las nicht davon ab, uns wie Aussätzige außerhalb der schützenden Mauren leben zu lassen“, knurrte Orgon und zog seine Augenlider seinem Gesprächspartner gegenüber zu prüfenden Schlitzen zusammen. „Damit habt Ihr ganz recht. Doch frage ich mich, ob die Schmiede ihr freies Leben im Wald der Enge der Stadt nicht vorziehen? Wenn Ihr wollt, kann ich mit dem König sprechen und ihm einen hilfreichen Vorschlag unterlegen, damit Eure Familie in den kommenden Winter innerhalb der Stadtmauern leben kann.“ Orgon schüttelte abweisend den Kopf, seine Geschichte schien voller Geheimnisse zu sein und Céthis wollte die Ohren spitzen. Sie liebte Geschichten und Sagen von mutigen Menschen und deren Familien. „Macht, was ihr für richtig hält, Priester. Wenn der Frieden wiederkommt, werden wir zu denen gehören, welche die Reichtümer der Steuerkassen in Waffen verwandelt haben. Alles was uns dann noch zu tun bleibt, sind wertvoll geschmückte Waffen für Paraden verwöhnter Reiche herzustellen. Wer wird sich dann noch um eine gutausgewogene Klinge kümmern, die den Schwertarm des Kriegers nicht zu schnell ermüdet?“ Céthis blickte auf die Klinge, die sie auf ihre angewinkelten Beine abgelegt hatte. Im Gegensatz zum weichen Stoff ihres Kleides wirkte diese Waffe herrlich scharf und furchteinflößend. Sie umfasste den Griff erneut mit ihrer linken Hand und biss einen weiteren Happen von ihrem Stück Brot ab. Sie kaute ebenso langsam wie der Reiter neben ihr, lange genug bis das alte Brot beinahe süß schmeckte. Wie gerne hätte sie noch zugehört und mehr über den geheimnisvollen Reiter erfahren, der mitten im Unwetter Loris heimgebracht hatte, doch sie ward mit einem Mal von einer unwiderstehlichen Müdigkeit erfasst und konnte nicht anders als sich neben ihre Mutter zu legen. Brimon tat es ihr gleich, es war den beiden unmöglich, etwas Anderes zu unternehmen als auf die Ankunft des Königs zu warten. Sie hatten endlich etwas Nahrung zu sich genommen und zum ersten Mal in ihrem Leben vom ordinären Wein der Reisenden gekostet.

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Orgon unterhielt sich weiter mit dem Priester, doch die Stimmen der beiden Männer verschwanden in ein eintöniges Murmeln, welches die Kinder in den Schlaf begleitete. „Wie kann es sein, dass sie niemand der Prinzen annimmt? Sie sehen beinahe so verwahrlost aus als habe man sie ebenfalls vom Schlachtfeld hierhergeschleppt“, wunderte sich der Reiter. „Wie ich bereits andeutete, es wird so nicht bleiben. Sobald Toren seine königlichen Funktionen wieder einnehmen wird, werden Verräter büßen müssen“, waren die letzten erklärenden Worte des Priesters, welche Céthis noch im Halbschlaf vernahm.

1. Kapitel – Toren Die Erde des gähnenden Tals an den Ausläufern des Waldes war dunkel vom Blut der Gefallenen getränkt und aufgeweicht. Die Luft erfüllt vom Gestank der Toten und verbrannten Körpern. Toren hörte die Stimmen seiner Männer wie durch eine dicke Mauer hindurch. Das Rauschen seines Atems erfüllte seinen Kopf und er war sich in diesem Moment sicher, sein Gehör von einst verloren zu haben. Das blanke Entsetzen blitzte in den irre aufgerissenen Augen der Überlebenden auf. Das Weiß ihrer Augäpfel stach regelrecht unter ihren verbeulten Helmen und vor Dreck geschwärzten Gesichtern heraus. Toren war zu erschöpft, um etwas wie Erleichterung zu verspüren, während er die letzten Krieger der Unih abziehen sah. Ihre verdammten Hörner bliesen aus unbestimmter Ferne zum Rückzug. Doch Torens Reserven waren komplett aufgebraucht, die seines Körpers, seines Geistes und seiner Armee ebenfalls. Seine Fußsoldaten hätten niemand mehr nennenswerten Widerstand geleistet. Seine Reiterei war so gut wie aufgebraucht. Obdaro stand zu seiner Seite, standhaft und aufrecht, allerdings von einem innerlichen Beben erschüttert, welches selbst dieser zähe Mann nicht verbergen konnte. Obdaros schwarze Augen wanderten fassungslos über die finstere Landschaft. Der Sturm hatte sich gelegt und ein wohlwollender Wind strich über die Ebene und ließ die dichten Brandwolken davongleiten. Über ihren Köpfen zeigten sich Stücke von einem blauen Himmel, an den er in diesem Moment kaum zu glauben wagte. Er blickte zu seinem mächtigen Freund hinauf. Toren war fast drei Köpfe grösser als er und Obdaro hoffte inständig, dass der König aufrecht stehen bleiben würde. Es war nicht selten, dass Männer nach den Explosionen ihren Gleichgewichtssinn verloren. Sie hatten gezögert, seine fremden Waffen einzusetzen, denn die Gefahr, eigene Männer zu verletzten, blieb einfach unschätzbar. Doch wer hätte Loris Fall voraussehen können? Die schwerverletzte Königin hatte den Bridônen zum Sieg verholfen, doch zu welchem Preis? Jetzt sahen Toren und Obdaro die letzten aufrechtstehenden Krieger Gefallene erstechen. Einige hoben mit ihren letzten Kräften ihre blutigen Waffen in die Höhe und stießen ihre Siegesschreie aus. Eine alte Sitte der Bridônen, ihre tiefen, markerschütternden Stimmen weit über das Kampffeld schallen zu lassen, damit ihre Schreie ihre Besiegten in deren Albträume begleiten. Obdaro vermochte nicht zu sagen, von wie vielen Kriegen er in seinem Leben bereits Zeuge geworden war. Sein langes schwarzes Haar wehte in dreckigen Strähnen im sanften Wind. Er war der einzige Mann im Umfeld des Königs, der über jenes glatte Haar verfügte, denn er stammte aus einem fernen Land. Dort wo er als kleiner Junge an einen Kriegsherrn verkauft worden war und bei der ersten Gelegenheit Unterschlupf bei Mönchen gefunden hatte. Nachdem er den ersten Toten gesehen hatte und den abscheulichen Geruch von frischem Blut ausgesetzt worden war, hatte er sich geschworen, sein Leben lang alles zu tun, um in keinen Krieg verwickelt zu sein. Doch offensichtlich waren seine Pläne nicht aufgegangen. Allein die ruhigen Lehrjahre im Kloster, in dem er ein Versteck gefunden hatte, gaben ihm eine Idee vom Frieden. Doch um seinen Beitrag für das Leben der Mönche zu leisten, die ihn beherbergt und versorgt hatten, musste er Reisen unternehmen, um

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die umliegenden Länder zu studieren. Schreiben und lesen gehörte zu seinem jüngsten Wissen, denn sie hatten es ihm beigebracht. Doch die Kunst der geheimnisvollen Kämpfe aus seiner Heimat hatte ihm anschließend oft das Leben gerettet. Heute waren es seine Kenntnisse über das Handhaben vom schwarzen Pulver, welches verheerende Löcher in Mauern und Reihen von Kriegern schlug, wenn man es richtig anzuwenden wusste. Er hatte Toren lange vor seiner Krönung gekannt und mit ihm ein paar friedliche Jahre in Ravan verbracht. Loris hatte ihm sehr nahegestanden und jetzt fand er sich abermals Zeuge von einem abscheulichen Ende eines sinnlosen Krieges.

Toren drehte sich um und ging mit steifen Schritten dem Lager entgegen, welches im Schatten der Bäume lag. Seine Stiefel stapften hart durch den Schlamm, er suchte innerlichen Halt mit jedem Schritt, doch vermied es verbissen, sich von irgendeinem der umstehenden Männer stützen zu lassen. Er war der Sieger, der letzte Prinz, so wie sie ihn nannten, der endlich den Frieden über sein Land bringen würde und die Unih in die Knie gezwungen hatte. Mit einer herrisch knappen Bewegung seiner linken Hand wollte er seinem Knappen zu verstehen geben, ein Ross herbei zu bringen. Neben ihm sah er den treuen Obdaro Worte formulieren, doch der Klang seiner vertrauten Stimme erreichte ihn nicht. Sein Schwertarm hing wie leblos betäubt an seiner Schulter, Obaro hatte es bemerkt. Toren wusste, dass es von ihm als König erwartet wurde, im Lager zu bleiben, bis der Bestand der restlichen Armee bekannt war. Hatte er nicht genug gegeben und das Volk in einen blutigen Sturm gegen den Feind geritten? Seine geliebte Frau war nicht mehr da, er wusste nicht einmal, ob sie noch am Leben war. An Wunder mochte er nicht mehr glauben, doch er wollte sie sehen. Loris war eine hervorragende Schwertkämpferin gewesen. Ihre Strategien hatten sich im Ablauf des Krieges von großen Vorteil erwiesen, sie hatte ihre Aufgabe erfüllt und nun wollte er bei ihr sein und nicht auf die Abgeordneten warten. Obaro hatte begriffen, dass der König ihn nicht verstand und beeilte sich, ebenfalls zu einem Pferd zu kommen. Ein Mann aus der Leibgarde des Königs brüllte seinen Untergeordneten Befehle zu. Wenn Toren sich in Bewegung setzte, hatten diese Männer ihm zu folgen. Jedenfalls jene, die noch am Leben waren. Mit verkrampfter Miene zerrte der König sich in den Sattel des unruhigen Pferdes, welches der Knappe mühsam festzuhalten versuchte. Obaro fluchte unschön, es blieb ihm keine Zeit, um sich nach dem Zustand seines Reittiers umzuschauen. Irgendwelche Pferde standen dem König und seinem Gefolge immer zur Verfügung, doch die Aussicht auf einen anstrengenden Ritt durch den Wald mit erschöpften Pferden, abgenutzten Sätteln und schunden Beinen konnte nichts Gutes bedeuten. Der König schien der Verstand zu verlieren – Toren war am Ende seiner Kräfte, wie alle anderen Männer auch und stürzte sich in eine kopflose Flucht. Obaro hatte seine liebe Mühe, den Reitern zu folgen. Die Tiere spürten die Panik der Männer und gaben ihr Bestes, um von diesem verdammten Ort wegzujagen.

Toren stand wie betäubt in seinen Steigbügeln, über die Schultern seines Rosses nach vorn gebeugt, die Zügel frei gegeben und den hastigen Galoppsprüngen des Tieres folgend. Seine Atmung passte sich der des Tieres an, die Bäume schienen an ihm vorbei zu rauschen und die Frische des Walds empfing ihn und glitt feucht unter seinen Helm auf sein Gesicht. Tränen rannen wie klebrige Fremdkörper aus seinen Augen. Loris war nicht mehr bei ihm! Seine Pflicht hatte ihm alles genommen und er hatte seine Leute in dieses abscheuliche Gemetzel geführt. Oh wie er seine Brüder hasste! Doch wem half es, Tote zu verachten? Sie hatten alles verdorben und er musste dafür bezahlen! Nicht mit seinem eigenen Leben, sondern mit dem seiner geliebten Frau. Das war der Preis dafür, dass er vor Jahren seiner Familie den Rücken gekehrt hatte und sich dem Clan seiner

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Frau in Ravan angeschlossen hatte. Kein Prinz konnte dem Fluch seiner Familie entkommen und nun war es zu spät.

Er trieb sein Reittier an die Grenze des Möglichen, bis er und seine Leute gezwungen waren, eine Pause zu machen. Niemand sprach ein Wort. Seine Ohren verweigerten dem König weiterhin ihren Dienst. Obaro reichte ihm etwas vom dem scharfgewürzten Wein, den sie seit Wochen aus stinkigen Lederflaschen tranken. Die reinen Quellen lagen zu tief im Wald verborgen und das Wasser in den schmächtigen Bächen in der Nähe des Lagers war seit langen für die Männer nicht mehr zum Trinken rein genug. Es musste abgekocht werden, also stillte der alte Wein den ersten Durst, wobei er gleichzeitig die Schmerzen linderte und Grauen und Schrecken etwas vergessen ließ. Der treue Begleiter des Königs zog seinen Mantel enger um die Schultern und beobachtete die Männer, wie sie ein Feuer zubereiteten. Er hoffte, dass sie den Weg nach Haguz Bri-las so rasch wie möglich hinter sich bringen würden. In Momenten wie jenen konnte niemand sicher sein, heil durch Ravan zu gelangen, selbst wenn es sich um den König und seine Leibgarde handelte. Sie waren Eindringlinge, Menschen, die zu beschäftigt mit ihren Geschehnissen waren und nur durch den Wald reisten. Ebenso Toren wie Obdaro hatten andere Zeiten gekannt. Momente, in denen sie gelernt hatten, sich lautlos durch die dichte Natur zu bewegen und Spuren zu lesen. Die Geräusche, die jetzt nur fremd und fern an ihre Ohren gelangten, gehörten zu der Sprache des Waldes. Jetzt waren sie zu lange dem unsäglichen Lärm des Krieges ausgesetzt gewesen, sie waren schwer bewaffnet und mit beeindruckenden Rüstungen ausgestattet, doch fühlten sich bei Weitem nicht so stark wie einst, wo sie in Loris Clan lebten und von den Einwohnern lernten. Das süße Gefühl von Freiheit hatten sie seit Jahren verloren. Der Sommer war vorüber und die Nächte verlängerten sich. Die erste Herbstfrische warnte vor dem nahenden Winter und erinnerte daran, dass die Bridônen nicht auf diese magere Zeit vorbereitet waren. Der Krieg hatte zu lang gedauert und zu viele Männer waren gefallen. Wer würde sich nun um die leeren Vorratskammern kümmern können? Doch solche Fragen brauchten nicht mehr gestellt zu werden. Toren starrte erschöpft in die Flammen des kleinen Feuers und war mit seinen Gedanken weit von diesem Moment in seine Vergangenheit gewandert. Zu jener Zeit als er Loris kennengelernt hatte. Es war ebenfalls im Herbst gewesen. Die Tage waren noch warm und von kräftigen Sonnenstrahlen erfüllt. Der vergangene Sommer hatte sich noch nicht verabschiedet, obgleich die Bäume in roten und kupferfarbenen Kleidern standen und Mensch und Tier sich an der Ernte nahrhafter Pilze erfreuten. Toren war tief genug in den Wald eingedrungen, um sich ohne es zu wissen im Gebiet des Clans der Rodorrë aufzuhalten.

Die Reise vom Schlachtfeld nach Haguz Bri-las war nicht rascher als in drei Tagen zu bewältigen. Toren und sein Gefolge erreichten glücklicherweise die Mauern ihrer Stadt ohne nennenswerte Vorfälle. Ihre Ankunft war nicht angekündigt worden und sie ritten mit düsteren Gesichtern und gehetzten Pferden durch die Straßen dem Stadtkern und der Wohnstätte des Königs entgegen. Die wenigen Anwohner, die zu dieser frühen Stunde ihren Beschäftigungen nachgingen, drückten sich überrascht an die Wände der Häuser, um die Reiter bereitwillig vorbeizulassen. Mit ihren vor Dreck starrenden Mäntel erschienen König und seine Männer wie unglücksbringende Raben. Die Flanken ihrer Pferde bebten und winzige Bluttropfen hinterließen feine rote Linien im weißen Schaum ihrer Mäuler. Toren erblickte die wartenden Menschen vor der Kapelle. Zusammengekauert, mit über ihre Schultern gezogenen Mäntel hatten sich einige Leute in der Nähe der verschlossenen Tür versammelt und warteten dort. Sie duckten sich noch mehr, als sie die schwarzen Reiter erblickten, manche hatten ihren König gewiss nicht sofort wiedererkannt und waren nur instinktiv zurückgeschreckt, weil die Gefährlichkeit der Männer unmissverständlich war. Toren hielt sein Pferd an und ließ sich schwer aus dem Sattel auf den gepflasterten Boden nieder, jeder Schritt bereitete seinem gebeutelten Körper unglaubliche Schmerzen. Um ihn herum klapperten laut die Hufe der Pferde seines Gefolges, seine Männer verscheuchten den warteten Pöbel, damit der König

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Platz habe. Ohne zu Zögern stieß Toren die zweiflügelige hohe Tür auf und stürzte in den Saal. Die Anwesenden schreckten zusammen, der Priester ließ eine metallene Schüssel fallen, die scheppernd ihren flüssigen Inhalt über die Stufen des Altars vergoss. Zwei kleinere Gestalten huschten überrascht davon und ein großer Mann erhob sich aus seiner kauernden Haltung und verneigte tief sein Haupt. Doch die Blicke Torens waren von Loris gebannt, die bleich und lang lediglich mit einem feinen Leinenhemd bekleidet auf dem Altar lag. Ihm entfuhr ein tierischer Schrei, lang und zäh erschütterte seine verzweifelte Stimme die Wände der Kapelle. Allen Anwesenden blieb der Atem stocken. Wie ein verletztes Tier machte sich in Torens Brust eine unberechenbare Kraft breit und ließ ihn wie ein Unhold die hölzernen Sitzbänke der ersten Reihen hochwirbeln und gegeneinander zerbersten. Der Priester warf sich ihm mit hocherhobenen Armen entgegen als er den schweren Kerzenständer ergriff und über seinen Kopf schwang. Heißes Wachs schleuderte in die Gesichter der verängstigten Kinder und der Priester wurde erbarmungslos mit der Wucht des Kerzenständers an die Wand geworfen. Erst in diesem Moment erkannte Toren die schreckensgeweihten Augen seiner Kinder, die neben ihrer Mutter kauerten. Ihre Arme waren entblößt, denn sie hatten sich die Ärmel hochgekrempelt. Ihre helle junge Haut schimmerte erschütternd rein im Gegensatz zu dieser makabren Umgebung, doch ihre Hände waren vom Blut dunkelrot gefärbt. Torens Herzschläge pochten unglaublich laut in seinem benommenen Kopf. Seine geliebte Loris war tot. Seine Kinder erschienen ihm fremd und unwirklich. Er hatte die beiden seit dem Beginn des Krieges nicht mehr wiedergesehen, doch jede Empfindung für Zeit und Leben hatte sich im Laufe der Geschehnisse der vergangenen Monate verschoben. Im Sturm der Schlachten waren so viele Erinnerungen aus seinem Empfinden entrissen worden. Er hatte die beiden nicht einmal vor dem Anblick ihrer toten Mutter schützen können. Die Kinder waren in dieser verdammten Kapelle und hatten nichts anderes zu tun, als einem alten Priester beim Reinigen des Leichnams der Königin zu helfen. Toren kniete sich zu ihr und betrachtete ihr Gesicht, wächsern und hell, mit dunklen Ringen unter ihren geschlossenen Augenliedern.

Obdaro war so rasch wie möglich dem König gefolgt. In den schmalen Gassen hatte er sich im letzteren Teil der Reitergruppe einordnen müssen und hatte aus Entfernung den gepeinigten König in die Kapelle stürzen sehen. Bestürzt eilte er zum Priester, der zusammengekauert in der Ecke unter dem schweren Kerzenständer lag. Unwillkürlich hievte Obdaro das metallene Ding beiseite und fühlte am Hals des armen Mann, ob sein Puls noch schlug. Offensichtlich war er noch am Leben. Seine nächste Sorge galt der Sicherheit der Kinder. Wie kleine Gespenster hockten sie dort am Fuß des Altars und starrten ihren gefährlichen Vater ungläubig an. Ein Mann hatte sich aus seiner Verbeugung vorsichtig aufgerichtet und hielt sich abwartend im Hintergrund. Obdaro erkannte einen der Reiter wieder, dem er die verletzte Königin anvertraut hatte. Der Kerl verfügte über Mut, an der Seite der Gestorbenen verweilt zu haben. In diesem Moment, wo Toren den Verstand verloren zu haben schien, war sein Leben nicht mehr viel wert. Doch er war geblieben und hatte den Kindern beigestanden. Allein diese Tatsache mochte ihn überleben lassen. Obdaro stand auf und trat zu ihm. „Wie ist dein Name?“, verlangte er zu wissen. Der Mann starrte ihn einen kurzen Augenblick abschätzend an. Obdaro war es gewohnt, dass die Bridônen ihn wie ein exotisches Tier betrachteten. Diese großen, groben Recken konnten nicht sofort begreifen, wie ein Mann von seiner feingliedrigen Statur einen Platz in der unmittelbaren Nähe des Königs verdient hatte. „Ich nenne mich Orgon, Sohn von Laurmech“, antwortete der Befragte schließlich. Obdaro erinnerte sich, diesen Namen bereits gehört zu haben. Spätestens in dem Moment wo Orgon die schicksalshafte Reise durch Ravan mit der Königin anvertraut wurde. Mit welchen Verhältnissen mussten die Menschen sich nun abfinden? Toren hatte den Sieg gegen die Unih errungen, war erschöpft wie ein Dieb in seine Stadt zurückgekehrt, um dort beinahe vor Entkräftung zusammenzubrechen.

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„Du hast deinem König und deinem Land einen unermesslichen Dienst erwiesen. Dank deiner Anwesenheit sind Loris Kinder unversehrt geblieben.“ Obdaro sprach bewusst leise, denn er konnte in der finsteren Kapelle nicht erkennen, ob sich andere Menschen im Hintergrund des Raumes aufhielten. Orgon verbeugte sich unterwürfig und verharrte einen kurzen Augenblick in dieser Stellung. Der König hatte ihm keine Beachtung geschenkt. Nachdem sein unbeschreibliches Brüllen von Leid und Qual verstummt war, schien eine abwartende Stille die Anwesenden zu erdrücken. Die kleine Chethis trat besorgt zum gestürzten Priester und befühlte dessen Stirn. Obdaro nickte seinem Gegenüber kurz zu und wandte sich zum König. „Eure Majestät! Jemand muss sich Euren Kindern annehmen! Wir können sie nicht weiter hier verweilen lassen.“ Toren verharrte unerreichbar über seine Frau gebeugt, seine groben Handschuhe verbargen seine Hände. Er berührte sie nicht und vollführte streichende Bewegungen über dem Antlitz der Verstorbenen, ohne sie anzufassen. Obdaro trat etwas näher, denn er war sich nicht sicher, ob Toren ihn gehört hatte und wiederholte seinen Vorschlag. Doch jede befürwortende Regung des Königs blieb aus. Sein Begleiter strich mit seiner rechten Hand abgekämpft über sein Gesicht. Nach all dem was er und die anderen Männer in den vergangenen Tagen durchgestanden hatten, fehlte noch, dass der König den Verstand verlor. „Meine Nichte ist eine zuverlässige Frau und sie ist nicht verheiratet. Sie könnte sich um die Kinder kümmern“, schlug Orgon mit leiser Stimme vor. Obdaro blickte ihn dankbar an. „Lasst nach ihr rufen und sie soll auch gleich für etwas Nahrung sorgen. Die Männer sind ausgehungert.“ Orgon verbeugte sich abermals und trat ein paar Schritte zurück bevor er sich davonmachte, um das Haus seines Bruders aufzusuchen. Obdaro wartete bis die schwere Tür wieder geschlossen war und wandte sich zu Cethis, die mühsam den Kopf des Priesters geradelegte. Ihre kleinen Finger waren dunkel vom abgewaschenen Blut und die Ränder ihrer Fingernägel erschienen noch finsterer. Der Priester hatte seinen Kopfschmuck beim Sturz verloren, doch auf seiner Stirn konnte man noch den breiten Abdruck des goldenen Reifs sehen. Cethis kämmte behutsam die Haare des Mannes beiseite und warf Obdaro einen strafenden Blick zu. „Er hat uns geholfen, Mutter zu reinigen“, murmelte sie. Ihre Stimme klang wie das drohende Knurren einer verängstigten Katze. „Mach dir keine Sorgen, liebe Cehtis! Er ist ein kräftiger Mann und wird sich von dem Schock erholen.“ Die Prinzessin setzte sich auf ihre Fersen, faltete ihre Hände auf ihrem schmutzigen Kleid und musterte den Berater ihres Vaters. So war das nun mal mit den erwachsenen Leuten – wenn sie selbst nicht weiterwussten, sagten sie den Kindern einfach, sie brauchen sich keine Sorgen zu machen und meinten damit sei in den Köpfen der Kleinen alles in Ordnung. Das Leben am Hofe war nie weder einfach noch amüsant gewesen, noch weniger als der Krieg gegen die Unih erklärt worden war. Sie kannte den Mann, der ihr gegenüber hockte, nicht gut und wusste nur, dass er sich immer in der Nähe ihres Vaters aufhielt. Wenn ein Mann einem Kind sagte, es solle sich keine Sorgen machen, konnte das in Wirklichkeit nur bedeuten, dass er keine Erklärungen für ihre Fragen hatte und es zwecklos war, etwas zu sagen. Also blickte sie stumm in die Richtung ihres Vaters an der Seite der Toten und zu ihrem Bruder, der das Geschehen mit weitaufgerissenen Augen beobachtete. Der mächtige König schien nur noch von seiner dunklen Rüstung gehalten zu sein. Wäre die nicht gewesen, wäre Toren wahrscheinlich in sich zusammengefallen. So empfand seine Tochter den Anblick den er bot. Bislang ahnte sie nichts vom Sieg ihres Volkes über die Unih. Sie wusste nur, dass sie diesen Namen hasste. Die Unih hatten Unglück über ihre Familie gebracht und ihre Mutter getötet. Ganz gleich ob sie eine Ahnung hatte, was für Menschen sich hinter diesem Namen

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verbargen, sie waren jene, die dafür verantwortlich waren, dass sie und ihr Bruder allein in dieser Welt waren. Der Krieg war schuld daran, dass selbst Königskinder Hunger leiden mussten. So lang sie sich erinnern konnte lebten sie zwischen diesen hohen kalten Mauern, umgeben von Menschen, die Cethis fremd erschienen. Die Prinzessin konnte sich nicht erklären, warum sie sich im Schloss nicht in Sicherheit fühlte. Eine diffuse Ahnung und einen ausgeprägten Überlebenssinn zwangen sie dazu, stets wachsam zu sein und so gut wie niemand zu vertrauen. Allein der merkwürdige Obdaro schien seine Wichtigkeit zu haben, weil er sich stets in der Nähe ihres Vaters aufhielt. So war es schon immer gewesen, so lange sie denken konnte. Sogar in einem abscheulichen Moment wie jenen, in dem Toren den Geist verloren zu haben schien, gab sich Obdaro Mühe, überlegt und ruhig zu erscheinen. Cethis wusste nicht, ob sie seine merkwürdigen Augen mochte. Sie schienen dunkel und reglos im Vergleich zu den Augen anderer Menschen, die die Prinzessin kannte. Seine Augenlider glitten glatt über seine Pupillen und waren ebenso flach wie sein rundes Gesicht. Seine Haare und sein Bart waren lang und seidig wie Schweif und Mähne von Pferden. Seine Haut hingegen erinnerte an dunkles Kupfer. Obdaro war auffallend klein im Vergleich zu ihrem Vater und Cethis konnte sich vorstellen, dass sie ihn in absehbarer Zeit an Körpergröße eingeholt habe. Aber er war überraschend flink und verfügte über eine unerwartete Kraft, was sie schon bei Übungskämpfen gegen große Krieger hatte beobachten können. Solange Cethis sich erinnern konnte, war sie immer von Kriegern umgeben gewesen und hatte ihre Übungen mitangesehen. Wenn sie die Augen schloss, vermochte sie ihre Mutter zu sehen, jünger, sorgloser, von strahlendem Sonnenlicht umgeben und konzentriert auf geschmeidige Bewegungen. Diese frühen Erinnerungen aus der Kindheit der Prinzessin stammten aus einer Zeit, in der sie noch nicht in Haguz Bri-las lebten. Die Stadt war wie ein Gefängnis für die Familie von Cethis und Brimon gewesen und sie fragte sich, ob sie dem je entkommen würden.

Zweites Kapitel – Heniah Mitten im Herbst zeigte sich der Wald unter seinem schönsten Licht. Die Farben der Blätter strahlten in leuchtenden warmen Rot und Gold. Wohlwollende Sonnenstrahlen wärmten den feuchten Boden auf und ließen Ravan nach dem vergangenen Unwetter friedlich aufatmen. Heniah liebte es, früh aufzustehen, wenn ihre Familie noch schlief, schlüpfte sie aus ihrem einfachen Bett und zog sich geräuschlos an. Sie hatte der glimmenden Glut im Herd etwas Holz nachgelegt, damit ein neues Feuer entfachen konnte und kurz in der Schmiede nachgeschaut. Es gehörte wohl nicht zu ihren Aufgaben, aber sie liebte diesen Ort und bedauerte es, dass ihr Vater sie nie hatte unterrichten wollen. Ihre Hände seien viel zu zart und ihre Arme zu dünn, hatte er entschieden. Ihr ebenmäßiges Gesicht und ihre zarte Statue waren gewiss von Vorteil, wenn eine junge Frau sich in hohen Familien verheiraten wollte, doch dazu würde es wohl nie kommen, weil ihr Vater nicht über ausreichend Geld verfügte, um eine entsprechende Heirat zu bezahlen. In den vergangenen Jahren hatte er gerade genug, um seine kleine Familie und sich selbst zu ernähren. Er war heilfroh, dass er keine weiteren Töchter hatte und seit zwei Jahren lebte ein entfernter Cousin mit ihnen unter einem Dach, um das Handwerk des Schmieds zu erlernen. Heniah mochte diesen einfältigen Burschen mit seinem von roten Pickeln übersäten Gesicht nicht besonders gut leiden, doch sie hatte keine andere Wahl als sich den Geboten ihres Vaters zu fügen. An diesem Morgen genoss sie ein gewisses Gefühl von Freiheit, welches sie empfand, wenn sie allein durch Ravan wanderte. Sie hatte einen breiten Korb mitgenommen, um Pilze zu sammeln. Die

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Jahreszeit war perfekt dafür, denn die angenehme Wärme ließ diese herbstlichen Köstlichkeiten geradezu aus dem feuchten Boden sprießen. Mit flinken Schritten ging die junge Frau zwischen den Bäumen entlang, der dichte Teppich von gefallenen Blättern raschelte leise unter ihren Füssen. Sie fürchtete sich nicht im Wald, an diesem Morgen herrschte ein tiefer Frieden, ein paar Vögel zwitscherten unweit, ein Grünspecht verkündete lauthals, dass er sich in seinem Revier befand und reife Eicheln purzelten vereinzelt zwischen den Ästen ihrer Bäume auf den weichen Boden. Die Natur genoss den vorherrschenden Frieden nach den bewegten Momenten der vergangenen Tage. Heniah war im vergangenen Sommer in ihr achtzehntes Lebensjahr gewachsen, schlank und ebenso groß wie ihr Vater gehörte sie nun zu den unverheirateten Frauen, denen man mit argwöhnischen Blicken nachschaute. Was konnte aus einer armen Person wie sie in der Stadt schon werden? Die Schmiede konnte sie nach dem Tod ihres Vaters unmöglich übernehmen, also würde sie wie so viele andere auch ihr Leben im Schlepptau von Händlern verdingen, die sie ernährten und einem mageren Anteil von ihrem Gewinn abgaben, wenn sie beim Verkauf half, die Waren vor Dieben bewachte und sich irgendwie im Leben eines Händlers nützlich machte. Sie kniete sich im Schatten einer großen Eiche nieder und schob behutsam ein paar gefallene Blätter beiseite. Ihre Ahnung bestätigte sich und zwei frische Pilze mit dunkelbraunen Hüten kamen zum Vorschein. Heniah zückte ihr kleines schwarzes Messer und schnitt die zarten hellen Stämme vorsichtig ab, um die Wurzeln nicht zu beschädigen. Sie trug die geernteten Pilze zu ihrer Nase und genoss den angenehmen Duft. Glücklicherweise erfreute sich ihr Vater einer soliden Gesundheit und hatte gewiss noch viele Jahre vor sich. Es würden allerhand Jahre verstreichen, bevor ihr verschlafener Cousin seine Ausbildung abgeschlossen habe und die Schmiede übernehmen könnte. Heniahs Mutter ging es ebenfalls gut, also hatte die junge Frau in absehbarer Zeit keine schwerwiegenden Veränderungen in ihrem Leben zu befürchten. Wäre ihr Vater zum Witwer geworden, hätte er eine andere Frau genommen, denn das Geld einer eventuellen Heirat hätte einen Teil seiner Schulden begleichen können. Eine neue junge Frau an seiner Seite hätte die Gegenwart Heniahs gewiss nicht lange geduldet und die Aussicht auf ein ungewisses Leben mit den Händlern konnte eine freiheitsliebende Person wie sie nicht erfreuen. Sie wusste, was es bedeutete, mit diesen Menschen zu leben, denn Freundinnen aus ihrer Kindheit hatten ihr von ihrer neuen Existenz erzählt. Die hübschesten unter ihnen waren oft gezwungen, auf den Reisen mit den Händlern zu schlafen. Deren legetimen Frauen blieben mit ihren Familien in Haguz Bri-las. Manche von diesen Frauen behielten die Mädchen während der Abwesenheit ihrer Männer bei sich. Meistens aus Eifersucht, wobei sie sich an den Mädchen rächten und sie wie Sklaven in ihren Häusern penible Arbeiten verrichten ließen. Einige dieser Weiber nutzten die langen Reisen ihrer Gatten aus, um sich gegenseitig einzuladen, von ihren Angestellten begleitet. Heniah hatte geschockt die Erzählungen einer Freundin zugehört. An einem Tag, an dem es ihr erlaubt war, ihrer Familie einen Besuch abzustatten, hatte Heniah sich zunächst riesig gefreut, das Mädchen aus dem Nachbarhaus wiederzusehen. Die Kleine war zwei Jahre jünger als sie und im Unglück ihrer Familie hatte sie kein gutes Los getroffen. Die neue Frau ihres Vaters war heilfroh gewesen, sie endlich an eine Händlerfamilie loszuwerden. Heniah sah die strömenden Tränen ihrer Freundin deutlich in ihrem inneren Auge. Die Hausarbeiten und das Versorgen der unausstehlichen Kinder sei ein Zuckerschlecken gewesen, im Vergleich zu dem, was sie in manchen Nächten erwartete. Ihre Herrin organisierte von Zeit zu Zeit mit ihren Freundinnen regelrechte Orgien, an denen sie ihr junges Gefolge erbarmungslos mitschleppten und allen nur erdenklichen Praktiken mit jungen Männern und den Frauen zwangen. Das weinende Mädchen hatte Heniah erklärt, dass sie es auf jeden Fall vermeiden wollte, schwanger zu werden, denn so würde sie ihren Posten verlieren und müsste ihr Leben und das ihres Kindes als Prostituierte verdienen, weil ihr Vater sie gewiss nicht wieder in sein Haus aufnehmen würde. Er habe mit ihren vier jüngeren Halbbrüdern genug Münder zu ernähren. Als Heniahs Freundin begriffen hatte, dass ihre Herrin sich zu Frauen hingezogen fühlte, hatte sie sich entschlossen, lieb mit ihr zu sein. Seitdem sei sie zwar nicht mehr gezwungen,

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mit anderen Männern zu schlafen, müsste aber jede Nacht, an dem der Hausherr auf Reise war, im Bett ihrer Gebieterin schlafen. Und jede Nacht würde sie es mit ihr treiben. Heniah hatte entsetzt die detaillierten Beschreibungen des Mädchens mitanhören müssen und wusste nun, wozu Frauen im Stande waren. Das Merkwürdigste an diesen Tatsachen war, wie Heniah ihr neues Wissen empfand. Still und friedlich ging sie ihren täglichen Beschäftigungen nach, sorgte sich umsichtig um ihren Vater und ihre Mutter, war so freundlich wie nötig zu dem dummen Lehrling, ihren Cousin und dachte den Rest der Zeit viel nach. Sie hatte ihre heulende Freundin tröstend in die Arme genommen als diese ihr Herz ausgeschüttet hatte. Die feuchten Tränen waren auf ihr Dekolleté gekullert und sie hatte die direkte Nähe der weichen Haut des Gesichts ihrer Freundin auf der ihren regelrecht genossen. Nachdem was sie gehört hatte, hatte sie sich die nackten Körper der beschriebenen Menschen vorgestellt und sich auf seltsame Weise erregt gefühlt. Selbst in diesem Moment, wo sie friedlich im Schatten der Eiche hockte und Pilze sammelte, berührten ihre Erinnerungen sie innerlich. Dieses Gefühl von verbotener Lust, welches sie bereits seit einigen Jahren kannte, wenn ihr Körper zwischen ihren Schenkeln feucht wurde.

Heniah beobachtete den Wald, der sie umgab und fragte sich, warum die Menschen innerhalb der Stadtmauern ihren absurden Regeln folgten, wobei das Leben in Natur so viel einfacher sein konnte. Tiere lebten einsam oder schlossen Freundschaften, wenn es sich so ergab. Einzig das Leben zählte und jedes Wesen erfreute sich, daran teilhaben zu dürfen. Sie hatte schon oft darüber nachgedacht, wie es wohl wäre, wenn sie die Kunst und das Wissen der Pflanzen erlernen würde, dann könnte sie allein als Kräuterfrau in Ravan leben. Sie hatte ein paar Geschichten von diesen geheimnisvollen Heilerinnen gehört, aber leider war ihr noch nie eine begegnet. Wie konnte sie also erhoffen, eines Tages von so einer Frau etwas zu lernen? Insgeheim hoffte sie, dass es eines Tages zu einer erlösenden Begegnung kommen würde, wenn sie sich nur oft genug im Wald aufhielt. Aus diesem Grund war ihr jeder Vorwand recht, sich von der Stadt zu entfernen und allein durch den Wald zu streifen. Im Moment war die Jahreszeit zum Pilze Suchen geeignet. Sie überlegte, was für eine Entschuldigung sie finden würde, um wieder mal zum Clan der Rodorrë zurück zu kehren. Manchmal nahm ihr Vater diese Reise auf sich, denn dieser Clan lebte in einem weit entfernten Gebiet tief in Ravan. Dort wo zwischen den Bäumen breite Sandbänke von längst verlorenen Ozeanen zeugten. Diese Gegend war in den Augen Heniahs das mystischste Gebiet Ravans überhaupt. Jeder Schmied, der vom König als Waffenschmied anerkannt werden wollte, musste mindestens ein Lehrjahr mit den Rodorrë verbringen. Mit etwas Glück war es ihm erlaubt, an den alten Schmieden zu arbeiten. Geheimnisvolle Öfen von der ursprünglichen Glut der Erde erhitzt, Heniah musste beim Gedanken an diese Orte lächeln. Sie liebte das freie Leben der Rodorrë und wünschte sich, eines Tages von einem solchen Clan akzeptiert zu werden. Die Frauen der Rodorrë erlernten das Handwerk, wofür sie geeignet waren. War die Arbeit an einer Schmiede zu hart für sie, konnten sie sich einer Glasbrennerei zuwenden. Oder sie fanden andere Möglichkeiten, sich nützlich im Zusammenleben ihres Clans zu machen. Doch Heniah wusste, wie misstrauisch die freien Anwohner den Bridônen gegenüber waren. Vorläufig war ihr noch nicht klar, wie sie sich vom schlechten Ruf der Anwohner von Haguz Bri-las zu lösen vermochte.

Gedankenverloren entschied sie sich, endlich wieder nach Hause zu gehen. Vorläufig gehörte sie noch in das Haus ihres Vaters und es bestanden ihr noch einige sorglose Tage bevor. Ihr Cousin würde lange brauchen, bevor er überhaupt in der Lage sei, einen Schmiedehammer zu schwingen. Heniahs Vater konnte ihm nichts Anderes anvertrauen, als das Feuer zu überwachen und den Blasebalg zu betätigen.

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Sie schritt mit geraden Rücken und stolz erhobenen Haupt am Stadttor des östlichen Teils der Stadt vorbei. Die Wachen machten obszöne Geräusche mit ihren Mündern und brachen in schallendes Gelächter aus, als sie außer Sichtweite war und zwischen den niedrigen Hütten der Schmieden verschwunden war. Das Haus ihres Vaters war eine sehr einfache Wohnstätte doch sie liebte diesen Ort. Ihr Cousin war mit den Kohlen beschäftigt und hatte sich umständlich nach vorn gebeugt, um welche in den Ofen nachzuschaufeln. „Wenn du nicht Acht gibst, wirst du dir eines Tages den Kopf verbrennen!“, rief Heniah lachend in den Raum als sie ihn erblickt hatte und sah sich nach ihrem Vater um. Der saß am langen Tisch im Raum der ebenfalls als Küche diente, was zu dieser Tageszeit sehr ungewöhnlich war. Sie lächelte dem großen Mann entgegen, hinter ihr polterten ein paar Kohlen von der Schippe, denn sie hatte den jungen Lehrling offensichtlich überrascht. Ihr Vater schüttelte zweifelnd den Kopf, sie drückte ihm einen Kuss zur Begrüßung auf die Wange und hörte ihn hinter seinem dichten Bart brummen, denn er zweifelte an den Fähigkeiten seines ungeschickten Neffen. Laut sprach er zu Heniah gewandt: „Du erinnerst dich bestimmt an deinen Onkel Orgon! Er ist heute zur frühen Stunde zu uns gekommen, denn er hat eine gute Nachricht mitgebracht.“ Heniah betrachtete den finsteren Mann am anderen Ende des langen Holztisches. Sie hatte den jüngeren Bruder ihres Vaters anders in Erinnerung. Er war abgemagert, seine Wangen eingefallen und sein Gesicht schien um einige Jahre gealtert zu sein. Er trug noch seinen Harnisch und schien von Kopf bis Fuß verdreckt zu sein. „Was mag das schon für eine Nachricht sein, wenn nicht zu wissen, dass Ihr noch am Leben seid, lieber Onkel!“, sprach Heniah höflich. „Soll ich etwas zu trinken besorgen? Ihr bleibt doch gewiss zum Essen!“ „Deine Mutter kümmert sich schon darum! Setzt dich!“, befahl ihr Vater und deutete mit der rechten Hand auf die Sitzbank an seiner Seite, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Mit einem Mal wurde der jungen Frau unwohl zu mute. Der grobe Krieger am Tischende schien an der Grenze der Erschöpfung zu sein und hatte sich wohl mit seinen letzten Kräften bis an den Tisch ihres Vaters geschleppt. Der befehlende Ton ihres Vaters ließ sie nichts Gutes ahnen, jedenfalls befürchtete sie, dass es sich um sie drehen würde. Sie warf ihrer Mutter einen hilfesuchenden Blick zu als diese mit einem Krug frischen Wasser wiederkam und hölzerne Becher auf den Tisch stellte. Irgendetwas Bedeutungsschweres lag in der Luft, anders konnte sich Heniah nicht erklären, warum ihre Mutter die Augenlider gesenkt hielt und ihren Blick vermied. „Kurz bevor wir den Sieg über die Unih errangen, wurde mir eine Aufgabe von höchster Wichtigkeit anvertraut: in Begleitung von einem Dutzend Reitern musste ich die verletzte Königin zurück nach Haguz Bri-las schleppen“, erklärte Orgon und sah Heniah dabei eindringlich in die Augen. „Es war wichtig, sie innerhalb der Mauern ihres Königssitzes zu wissen, bevor sie irgendwo anders zu Tode kam. Als Tochter des Waldes wurde ihre Stellung als Königin von einflussreichen Familien unseres Volkes kritisiert und unser König Toren fürchtete um die Sicherheit seiner Kinder.“ Heniah runzelte die Stirn und konnte bislang nicht verstehen, was für eine gute Nachricht ihr Onkel wohl überbringen mochte, außer dass der Krieg endlich vorüber war, was sie bereits wusste. „Die Königin lebt nicht mehr, nicht wahr?“, flüsterte sie. „Genauso ist es. Loris hat die Reise nicht überlebt und ist an ihren Verletzungen aus dem Schlachtfeld gestorben, wie eine Heldin des Krieges. In wenigen Tagen wird ihre Bestattung stattfinden.“ „Ich werde mich mit den anderen Bürgern an den Zeremonien beteiligen“, sagte Heniah gehorsam. „Das wirst du ganz bestimmt, denn ich werde dich noch heute mit an den Hof nehmen. Ich habe dich dem König als Zofe für seine Kinder vorgeschlagen und er ist damit einverstanden. Der Prinz und die Prinzessin brauchen eine vertrauenswerte Frau, die sich ihrer annimmt.“ Die Worte ihre Onkels trafen sie wie schwere Steine. Die Mutter goss Wasser in die Becher, was unverschämt laut

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zu plätschern schien. Sie, welche vor wenigen Augenblicken noch davon geträumt hatte, sorglose Jahre im Haus ihrer Eltern vor sich zu haben und vielleicht einen Weg finden würde, als freie Kräuterfrau im Wald zu leben, sollte diesem ungewaschen Kerl in die Stadt folgen! Ihr Vater griff sanft nach ihrer linken Hand die reglos auf der Tischplatte lag. „Ist das nicht wunderbar? Du wirst in die königlichen Wohnstädte eingelassen! Mal was Anderes als unsere enge Hütte“, bemühte er sich zu scherzen, doch Heniah entzog ihm seine Hand und warf ihm einen strafenden Blick zu. „Warum hat niemand daran gedacht, mich nach meiner Meinung zu fragen? Das Leben der Könige interessiert mich überhaupt nicht! Diese Leute haben nur Unglück über uns gebracht. Sie haben nicht einmal ihre Schulden bei dir bezahlt, Vater. Ebenso wie unzähligen anderen Waffenschmieden und wir müssen zusehen, wo wir unsere Nahrung herbekommen“, rief sie ungestüm aus und spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. „Heniah!“ Ihre Mutter versuchte sie zur Ruhe zu ermahnen, denn es gehörte sich nicht für ein Mädchen in ihrem Alter einem erwachsenen Mann zu widersprechen. Doch sie scherte sich nicht darum und fuhr fort. „Es ist doch wahr Mutter! Unsere Zukunft ist nicht in Haguz Bri-las, sondern in Ravan. Seht doch selbst was ich euch heute Morgen eingesammelt habe. Dank der Güte des Waldes werden wir uns alle satt essen können.“ „Der Wald ist gefährlich und es gehört sich nicht für eine junge Frau, allein durch die Natur zu streifen“, ermahnte sie ihr Vater mit strenger Stimme und warf seinem Bruder einen prüfenden Blick zu. Er wollte es umgehend vermeiden, seine Tochter als widerspenstige und ungehorsame Person gelten zu lassen, was die Entscheidung für ihre neue Stellung am königlichen Hof hätte rückgängig machen können. Doch Heniah ließ sich nicht beirren. „Aber das ist doch Unsinn! Ich kenne mich überhaupt nicht mit Pflege von kleinen Kindern aus. Im Gegenteil, ich bin sehr ungeschickt was verwöhnte Saubengel anbetrifft und überhaupt nicht geduldig. Jede andere Frau ist für diese Aufgabe besser geeignet als ich. Ich will nicht am Hof leben! Ich will hierbleiben und zu den Schmieden des Waldes zurück. Dort ist mein wirklicher Platz. Schlimm genug, dass kein Schmied der Familie Laurmech mehr mit dem Clan der Rodorrë zusammenarbeitet und unsere Töchter dazu verdammt sind, sich an Händlerfamilien zu verkaufen …“ Sie war gezwungen, nach Luft zu schnappen, um nicht haltlos in Tränen auszubrechen. Außerdem erfüllte der Gestank der von ihrem Onkel ausging den kleinen Raum und ließ Übelkeit in ihr aufsteigen. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und davongelaufen, zurück in den Wald, wo sie eben noch glücklich und sorglos die Pilze gesammelt hatte. Gewiss war sie dort anderen Gefahren ausgesetzt, doch konnte sie dort wenigstens in frischer Luft frei durchatmen. Ihre Mutter griff nach dem Korb mit den frischen Pilzen und murmelte leise: „Ich werde etwas zu Essen zubereiten.“ Heniahs Kinn zitterte und sie zwang sich, langsam und tief zu atmen, um ihre Fassung zu bewahren. „Heniah, du musst diesen Posten annehmen! Etwas Besseres kann dir nicht widerfahren! Die Zeiten sind hart und ich kann dir keine Hochzeit bezahlen. Die Möglichkeit, dass ein Mann dich so heiratet, ist in deinem Alter und bei deiner Körpergröße sehr unwahrscheinlich. Am Hof wirst du versorgt sein. Man kann nie wissen, was der Winter mit sich bringen wird und ich wäre beruhigt, dich in guten Händen zu wissen.“ Ihr Vater wählte seine Worte und sprach mit ruhiger Stimme, um sie zu besänftigen. Am Herd knisterte das Feuer und Heniah vernahm den Duft von verbrannten Kräutern, denen man nachsagte, sie reinigen die Luft. Ihrer Mutter musste der stechenden Geruch des verdreckten Kriegers ebenso in die Nase gestiegen sein wie ihr. Heniah warf ihrem Onkel einen finsteren Blick zu, welchen er abwartend erwiderte.

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„Die verstorbene Königin Loris war eine Tochter der Rodorrë. Toren lebte mit ihr vor seiner Krönung in Ravan. Meiner Kenntnis nach sind die Kinder sogar im Wald zu Welt gekommen. Wenn du dich den Rodorrë nähern willst, ist es bestimmt ein guter Wink des Schicksals, dich den Kindern von Loris anzunehmen.“ Orgon konnte sich vorstellen, wie schwer es für die junge Frau war, ihr Elternhaus zu verlassen. Manchmal war es besser, wenn die Kinder jünger aus dem Haus gingen denn sie waren noch folgsamer. Im Alter von seiner Nichte fühlte sie sich wahrscheinlich wie eine zweite Hausherrin neben ihrer Mutter und es bereitete ihr Freude, sich um ihre älter werdenden Eltern zu sorgen. Er hatte die Entscheidung in der Kapelle neben der verstorbenen Königin rasch getroffen, denn die Sorgen seines Bruders waren auch seine Sorgen. Er war stolz, sich auf diese Weise um Heniah kümmern zu können, nur durfte er es der jungen Frau gegenüber nicht zeigen. In ihren weit aufgerissenen Augen sah er, wie fremd er ihr erschien. Seine abgenutzte Rüstung hätte er gerne abgelegt, doch dazu brauchte er Hilfe, die er in diesem Moment von niemand erwarten konnte. Er blickte überrascht auf, als sein Bruder zu Heniah sprach: „Während deine Mutter für das Mahl sorgt magst du für frisches Wasser sorgen? Nach dem Essen wird dein Onkel sich waschen wollen. Sei so gut!“ Die junge Frau nickte wortlos und hatte der Anordnung ihres Vaters zu gehorchen. Die Umrisse von allem verschwammen hinter ihren aufgestiegenen Tränen.

So war der vergangene Tag der letzte ihres Lebens in ihrem Elternhaus gewesen. Noch vor Mittag war ihr Vater zu einem Nachbarn gegangen und hatte ihn gebeten, ihm Pferd und Wagen zu borgen. Heniah hatte ihre wenigen Sachen mit sorgfältiger Langsamkeit in ein kleines Bündel zusammengepackt. Ihre Mutter übergab ihr einen kleinen Stoffsack mit getrockneten Pflanzen und umarmte sie noch einmal in stummer Herzlichkeit. Der jungen Frau war es unmöglich, ein Wort zu sprechen. Ihr Onkel wartet bereits an der Seite des einfachen Holzwagens vor der Haustür. Ihr Vater hatte ihm saubere Kleidung gegeben und unterhielt sich mit leiser Stimme mit ihm. Die warmen Sonnenstrahlen des goldenen Herbsts überfluteten die Umgebung. Der Natur war es gleichgültig was die Menschen bewegte. Heniah dachte daran, wie fröhlich und unbeschwert sie in den vergangenen Morgenstunden geglaubt hatte, mit der Natur verbunden zu sein. Doch in Wirklichkeit gab es für sie von nichts und niemand Schutz und Unterstützung. Männer entschieden über ihr Schicksal und sie hatte zu gehorchen. Wie in einem Albtraum sah sie sich selbst mit langsamen Bewegungen auf den Wagen klettern und ihr Bündel mit ihren wenigen Habseligkeiten neben sich liegen. Im Grunde war sie nicht viel mehr wert, wie die paar Sachen, die da drin zusammengepackt waren. Orgon nickte seinem Bruder zu, umarmte ihn kurz und nahm auf dem einfachen Sitz als Kutscher Platz, löste die abgenutzten Lederzügel und schnalzte mit der Zunge. Das gelangweilte Pferd gehorchte und ging mit langsamen Schritten dem ihn angewiesenen Weg entlang. Heniah hielt ihren Kopf gesenkt. Sie war außer Stande, ihre Eltern anzublicken und im wackelig zockelnden Rhythmus des einfachen Gefährts ihr Elternhaus hinter sich verschwinden zu sehen. Sie fuhren am frühen Nachmittag zwischen den niedrigen Hütten der Schmiede hindurch. Hier kannte jeder jeden und die Anwesenden auf den Wegen blickten der stolzen Tochter aus der Familie der Laurmech neugierig nach. Sie wollte niemand ins Gesicht blicken, denn sie trugen alle ihre Mitschuld an der Ungerechtigkeit ihres Lebens. Warum befolgten sie auch die absurden Gebote ihrer Vorfahren? In diesem Moment hasste Heniah all die großen Männer aus ihrer Familie mit ihren breiten Armen und ihrem stolzen Gehabe, hinter dem sie ihre Ängste verbargen. Im Grunde waren sie sie allesamt verängstigte Hasen, die es sich nicht wagten, ihr eigenes Leben zu leben und es vorzogen, ihre Töchter an Fremde zu geben. Während sie sich dem Stadttor näherten beobachtete sie eingehend die Kerle, die dort Wache standen und sie vor wenigen Stunden noch provokant angepfiffen hatten. Jetzt schenkten sie ihr nicht die geringste Beachtung, denn sie war nur noch ein Bündel auf einer einfachen Holzkarre, bewacht von einem hochgewachsenen Krieger, dem im Gesicht geschrieben

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stand, dass er nicht zögerte, Menschen zu töten, wenn es darauf ankam. Sie nickten ihrem Onkel gerade mal zu während sie durch das Tor fuhren. Die Hufen des Gauls klapperten mit einem Mal lauter, denn die Wege innerhalb von Haguz Bri-las waren gepflastert. Sofort schlug ihr der fette Gestank von Menschen und Tieren entgegen, die hier dicht auf dicht miteinander lebten und sich den beengten Ort miteinander teilten. Heniah mochte die Enge der Gassen nicht und verabscheute Menschenmengen. Ihr kleiner Wagen fuhr mit lähmender Langsamkeit seinem Ziel entgegen. Sie näherten sich dem regen Treiben eines Marktes und die junge Frau ließ die lauten Stimmen der Marktschreier und der wilddurcheinander sprechenden Menschen wie kalten Regen über sich prasseln. All diese Geräusche verdeutlichten ihr, dass sie sich für immer von ihrem Leben und ihren geheimen Träumen verabschieden musste.

Der Nachmittag neigte sich dem Ende zu und die herbstlichen Stunden verkündeten bereits den nahen Abend als Heniahs Wagen endlich vor den mächtigen Mauern des Schlosses angelangte. Dergleichen war ihr noch nie vor Augen gekommen und sie konnte sich nur schwer vorstellen, wie lange es gebraucht haben mochte, bis ein Gebäude von solch einem Ausmaß errichtet worden war. Orgon hielt den Wagen vor den Wachen des königlichen Wohnsitzes an und kramte ein zusammen gefaltetes Pergament unter seinem Wams hervor, um es den bewaffneten Männern zu zeigen, damit sie ihm Einlass gewährten. Heniah ahnte dass sie von nun an in einer Welt leben würde, in der sich alles mit Waffen und Befehlen regelte. Eine Gegend, in der niemand eingelassen wurde, wenn er nicht eine Anordnung oder eine Aufgabe hatte. Hinter dem Tor gelangten sie auf einen breiten Platz, der teilweise mit Stroh abgedeckt war, denn dort waren Verletzte versammelt. Männer lagen dort mit blutgetränkten Verbänden, unweit stand ein großer Kessel, in dem Wasser gekocht wurde. Männer und Frauen arbeiteten, um den Verletzten Pflege zu verleihen. Manche von ihnen hatten sich ein schmutziges Tuch vor den Mund gebunden, um sich etwas von dem vorherrschenden Gestank zu schützen. Unweit wurden Pferde versorgt und irgendwo hörte sie das vertraute Klingen eines Hammers auf einem Amboss. Orgon durchquerte den Hof mit seinem Wagen und gelang an ein weiteres mächtiges Tor. Die hohen dunkeln Türen schienen schwer verschlossen. Ihr Onkel stieg vom Wagen und übergab die Zügel des Pferdes einem Stalljungen, der herbeigelaufen war. Zu Heniah gewandt half er ihr, mit ihrem Bündel vom Wagen zu klettern, bevor er mit dem schweren Eisenring drei Mal gegen die Holztüren klopfte. Das verhängnisvolle Pochen schien im gesamten Körper der jungen Frau zu vibrieren. Die rechte Tür wurde vorsichtig von innen aufgeschoben und ein hageres Männergesicht kam zum Vorschein. „Ich bin ein Abgesandter von Obdaro und führe die neue Zofe der Königskinder zu ihrem Posten!“, verkündete Orgon mit offizieller Stimme. Heniah erwiderte den forschenden Blick des misstrauischen Mannes, der schließlich mit einem einwilligenden Nicken die Tür öffnete und die beiden einließ. Panik ergriff die junge Frau, als sie die dunklen hohen Wände im Inneren der Burg erblickte. Sie hatte sich unter Haguz Bri-las nie einen angenehmen Ort vorgestellt, doch dass eine derartige Finsternis an diesem Ort vorherrschte, übertraf all ihre Erwartungen. Wortlos gingen sie langen Gängen entlang, durchquerten eine riesige Halle, die spärlich von fahlen Licht erhellt ward. Gegen eine Wand gelehnt konnte sie einen Thron aus schwarzen Stein erkennen. Dahinter hingen lange Teppiche, auf denen Wappen abgebildet waren. An einem Durchgang stand ein mit einer Lanze bewaffneter Mann, dessen Harnisch stumpf geblieben war. Heniah schluckte, als dieser sich zu Seite bewegte und die drei Leute ohne die Miene zu rühren vorbeigehen ließ. Sie mussten noch einen langen Gang folgen, eine beeindruckende steinerne Treppe erklimmen, bis sie endlich in einen weiteren Saal gelangten, der sie zu einem Raum führte, in dem ein kleiner Mann über Schreibzeug gebeugt an einem großen Tisch saß und im kläglichen Licht einer einzigen Kerze etwas aufschrieb. Der Mann, der sie bis hierhergeführt hatte, verbeugte sich tief, während der sitzende Mann seine Schreibfeder sorgfältig beiseitelegte.

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„Orgon! Gut, dass Ihr auf direkten Wege wieder zurückgekommen seid!“ Er betrachtete Heniah aus seinen schwarzen Augen und nichts schien ihm verborgen zu bleiben. So eine Augenform hatte die junge Frau noch nie zu Gesicht bekommen, mandelförmig lagen die Augäpfel unter seiner glatten Haut verborgen und sein Haar fiel glatt wie ein schwarzer Pferdeschweif auf seine Schultern. Der Mann erhob sich und sie konnte sehen, dass er nicht sehr groß gewachsen war und zu ihr und ihrem Bruder aufblicken musste. Allerdings ahnte sie an seinen Bewegungen, dass er sehr agil war, selbst wenn er seine Hände bescheiden hinter zu langen Ärmeln verborgen hielt. „Eure Nichte!“, unterbrach er die drückende Stille. Orgon nickte und schien ebenso verblüfft wie sie über diese respektvolle Anrede, welche der Mann an diesem Tag ihm gegenüber benutzte. „Mein Name ist Obdaro, ich bin ein Berater des Königs und werde Euch mit Eurer Nichte zu ihm führen! Folgt mir!“ Der kleine Mann machte eine einladende Handbewegung in die Richtung der Tür und trat an ihnen vorbei. Offensichtlich hatte Heniah es nicht nötig, sich vorzustellen. Das Wort eines Kriegers schien zu genügen, um für ihr aufrichtiges Verhalten zu sprechen. Diese Männer hatten entschieden, dass sie sich von heute an um die Kinder des Königs kümmern würde. Was sie anbetraf schien anderweitig nicht von Bedeutung zu sein. Sie folge den beiden Männern wortlos und stellte fest, dass ihr Onkel nicht einmal ihren Namen erwähnt hatte. Er hatte kein Wort gesagt und ging gehorsam hinter dem kleinen Mann her. Wahrscheinlich war er es nicht gewöhnt, sich innerhalb der königlichen Gemächer aufzuhalten und beeindruckt von dem finsteren Prunk der sie umgab. Die drei gingen einigen Gängen entlang, durchquerten Räume und erstiegen abermals steinerne Treppen. Heniah war sich sicher, sich in diesen Gebäuden zu verlaufen. Das würde diesen Männern nur recht geschehen, warum wollten sie auch ihr diese Verantwortung übergeben? Sie würde sich in diesem Gewirr von Gängen und Räumen verlieren und nie wiedergefunden werden.

Schließlich begegneten sie allerhand Menschen. Jene Räume, die sie bisher durchquert hatte, waren einsam und verlassen, doch mittlerweile trafen sie Männern und Frauen, mit wertvollen Gewändern bekleidet unterhielten sie sich mit gedämpften Stimmen, beobachteten einander oder warteten in kleinen Gruppen. Letztendlich trat das ein, was Heniah von dem Augenblick an befürchtet hatte, an dem ihr verkündet worden war, dass sie die Zofe der Königskinder sein sollte: sie schämte sich ihrer Kleider! Ihr langer Rock aus einfachen Stoff wirkte in Gegenwart dieser Menschen genauso abgetragen, wie er auch war. Ihr langes Haar fiel ihr in losen Strähnen über ihre Schultern, denn sie hatte sich nicht die Mühe gegeben, sich zu frisieren. Außerdem kannte sie die komplizierten Techniken der hochgesteckten Frisuren nicht. Ihre Freundinnen von einst aus ihrer Nachbarschaft hatten sich bemüht, die Frisuren der feinen Damen aus Haguz Bri-las nachzueifern. Dabei waren dabei stets lächerliche Nachahmungen herausgekommen. Die junge Frau atmete tief durch und folgte ihrem Onkel, welcher in Begleitung des geheimnisvollen Obdaros mühelos an all den Anwesenden vorbeigelassen wurde. Die bewaffneten Soldaten an der letzten hohen Tür ließen die drei ohne Zögern ein. Heniah begriff sofort, dass sie sich in einem wichtigen Saal aufhielten. Hier herrschte eine unterdrückte Unruhe, die unzähligen Anwesenden warfen den dreien vorwurfsvolle Blicke zu. Sie warteten alle darauf, vom König erhört zu werden und wussten, dass ihre Wartezeit tagelang dauern könnte. Jede unerwünschte Verzögerung wurde mit abgrundtiefen Hass begrüßt. Obdaro erschien unantastbar in seinem einfachen Gewand und mit seiner erhabenen Haltung. Niemand verbat ihm den Weg, im Gegenteil, die feinen Herrschaften machten ihm bereitwillig Platz. So gelangten sie an eine breite Plattform, stiegen ohne zu Zögern die wenigen Stufen hoch zu den dort anwesenden Männern, die um einen ausladenden Tisch versammelt standen. Dort saß er, auf einem mächtigen dunklen Thron über ein Pergament gebeugt. Eine Feder wurde ihm gereicht und er signierte etwas, Toren, der König der Bridônen.

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Toren bemerkte an der aufkommenden Stille um seinen Tisch herum, dass sich eine bedeutende Person genähert hatte. Er reichte die Feder dem Diener an seiner Seite und blickte auf. Obdaro stand ihm gegenüber von dem großen Ritter begleitet, neben dem eine schlanke hochgewachsene Frau mit einem mädchenhaften Gesicht stand. Ihre festentschlossenen Augen erwiderten unverfroren seinen Blick und sie hatte völlig vergessen, sich zu verbeugen, geschweige denn eine Reverenz anzudeuten. Wahrscheinlich wusste sie überhaupt nicht, wie dergleichen ausgeführt wurde. Ihr Onkel senkte kurz sein Haupt, wobei sie ihn fragend anblickte, allerdings stolz und aufrecht stehen blieb. Sie war furchtlos, wie ihr Onkel und befolgte ihren Anweisungen, selbst wenn diese nicht ihren Wünschen entsprachen. Diese junge Person würde ihren Mut brauchen, um sich am Hofe behaupten zu können. Und die Energie ihrer Jugend sollte ihr dienstlich sein, um über seine Kinder zu wachen. „Die Nichte des Reiters, wie ich verstehe!“ Torens Stimme erschallte wie das tiefe Dröhnen einer fremden Glocke, Heniah beobachtete ihn beeindruckt. Obdaro schloss kurz die Augen zur Bestätigung. Es war nicht nötig, unnötige Worte für dieses Thema zu verschwenden. „Bringt sie in ihre Gemächer und sorgt dafür, dass es ihr an nichts fehlt. Morgen zum Sonnenuntergang soll die Bestattung der Königin stattfinden. Seht zu, dass meine Kinder anwesend sind!“ Mit diesen Sätzen war alles gesagt, Toren gab seinen Leuten zu verstehen, dass er sich anderen Themen zuwenden wollte. Obdaro drehte sich augenblicklich um und gab ihr und Orgon zu verstehen, ihm zu folgen. So hatte sich Heniah ihre Begegnung mit dem Vater der Kinder nicht vorstellen können. Sie spürte den Druck der Blicke der Umstehenden regelrecht auf ihren Schultern und fragte sich, was für Sonderheiten sie wohl noch erwarten würde.

Die Gemächer der Kinder befanden sich im hinteren Teil der Burg und sie waren nicht so weit entfernt. Orgon verlangsamte seine Schritte und räusperte verlegen, woraufhin Obdaro in seinem zielstrebigen Gang innehielt und sich zu ihm umblickte. „Andere Verpflichtungen erwarten Euch!“, stellte der Vertraute des Königs fest und faltete geduldig seine Hände vor der Brust. „Wenn Ihr mich entschuldigt …“ „Gewiss! Geht Eures Weges und seid unbesorgt. Eure Nichte ist in guten Händen. Ihr wird kein Leid widerfahren.“ Heniahs Onkel verbeugte sich tief und war außer Stande, ihr in die Augen zu blicken als er sich rasch von ihr verabschiedete. „Geht in Frieden!“, waren Obdaros begleitende Worte, während Orgon schon mit großen Schritten seinen Rücktritt anging. Obdaro sah im Gesicht der jungen Frau die Fassungslosigkeit geschrieben und deutete ein aufmunterndes Lächeln an. Er drehte sich um und schob die Tür zu den Gemächern der Kinder auf. Doch dort war niemand zu finden. Eine große Truhe stand gähnend geöffnet an eine steinerne Mauer des Zimmers gelehnt. Stoffe, die wohl zu Kleidungsstücken gehörten, lagen unordentlich auf den Kanten der Truhe. Das ausladende Bett unter seinem majestätischen Himmel war ungemacht und das Wasser im Waschtrog schien nicht sehr frisch zu sein. Obdaro seufzte, trat zu jedem der hohen Fenster und blickte hinter den Vorhängen nach, doch konnte niemand finden. Mit entschlossenen Schritten verließ er das Zimmer, ging über den Flur zu einer weiteren Tür, hinter der ein ähnliches Zimmer im gleichen Zustand zum Vorschein kam. Doch vor den Kindern war keine Spur. Heniah beobachtete ihren Begleiter abwartend und schien zum ersten Mal eine gewisse Ratlosigkeit in seinem Gesicht zu lesen.

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„Wir Ihr selbst sehen könnt, ist Eure Hilfe hier sehr erwartet. Euer Zimmer liegt direkt nebenan, ich werde es euch zeigen, damit ihr Eure Sachen ablegen könnt. Anschließend werde ich Euch in die Küche führen, damit ihr den Weg kennt. Die Leute dort werden Euch mit allem Wichtigen und Nützlichen vertraut machen. Wie ist doch Euer Name, wertes Kind?“ „Heniah“, antwortete sie knapp mit rauer Stimme. Ihr Gegenüber nickte einverstanden. „Folgt mir! Ich werde Euch vorstellen!“ Wieder gingen sie lange Gänge entlang und verwinkelte Treppen hinunter. Heniahs Magen machte sich geräuschvoll bemerkbar, als ihr plötzlich die angenehmen Düfte der aktiven Küche entgegenschlugen. Über einem ausladenden Feuer hing ein großer Kessel, in dem eine wohlriechende Gemüsesuppe köchelte. Ein Dienstmädchen schob den Kessel mit einem eisernen Haken vom Feuer, damit die Leckerei nicht anbrannte. An einem Ofen stand ein kräftiger Mann mit hochgekrempelten Ärmeln und machte sich mit einer langen Holzschippe am frischen Brot zu schaffen. In der Mitte stand ein riesiger langer Tisch aus dickem Holz, an dem allerhand Leute zu tun hatten. Die Luft war erfüllt vom Geräusch hackender Messer und Gerüchen frisch geschnittener Kräuter. „Wo ist Siba?“, rief Obdaro herrisch in das laute Durcheinander. Doch die Menschen ließen von ihren Tätigkeiten nicht ab, blickten nur kurz auf und fuhren sofort mit dem, was sie taten, fort, sobald sich einer gefunden hatte, nach der Chefin zu rufen. Eine stämmige Frau mit ausladenden Hüften und riesigen Brüsten in einer hellen Bluse hinter einer breiter Lederschürze kam den beiden mit wankenden Schritten entgegen, nickte dem Vertrauten des Königs kurz zu und musterte die junge Kreatur an seiner Seite mit kritischen Blicken. „Ich stelle dir Heniah vor! Sie ist heute an unseren Hof gekommen und soll sich Torens Kindern annehmen“, erklärte Obdaro knapp. „Das wurde aber auch Zeit! Hat man dir in deiner Kinderstube nichts zu essen gegeben, Mädchen? So dünn wie du bist, brichst du einem noch zusammen!“, brummte die dicke Frau. „Ich zähle auch dich, dass du dich gut um sie kümmerst und ihr alles gibst, was sie braucht! Hast du eine Idee, wo der Prinz und die Prinzessin stecken? In ihren Zimmern sind sie nicht.“ „Wen wundert das? Die beiden sind schon so lange sich selbst ausgeliefert, sie sind zu regelrechten Wildlingen herangewachsen!“ Sibas Stimme strotzte vor Spott, sie griff nach einer großen Holzschale und schenkte von der üppigen Suppe ein. „Wo sind sie? Das ist alles was ich wissen will! Ich will sie mit Heniah bekannt machen!“ Doch Obdaro konnte sich an diesem Ort nur schwer behaupten. Hier war Siba die einzige Herrin und diese rief ihm derb entgegen: „Woher soll ich wissen, wo die Königskinder sind? Dein Hungerhaken hier soll erst einmal was zu essen kriegen. Danach sehen wir weiter!“ Obdaro nickte einverstanden, doch Heniah ahnte, dass er mit seiner Fassung rang und nur mühsam seine scheinbare Ruhe bewahrte. „Morgen bei Sonnenuntergang wird Loris Bestattung zelebriert. Seht zu, dass die Königskinder im vorzeigbaren Zustand anwesend sind!“, ermahnte er. „Ja, ja, wieder hunderte von Mäulern durchzufüttern, wenn man an all die verwöhnten Reichen denkt, die da antanzen werden, um sich beim König gut sehen zu lassen! Die Kinder werden schon da sein! Ich schicke meine Jungs auf Suche!“ Sibas runde Wangen hatten sich purpurrot gefärbt. Die resolute Frau blickte dem Abgeordneten des Königs herausfordernd in die Augen und kein Mensch hätte daran gezweifelt, dass sie nie einem Mann gegenüber die Augen unterwürfig niederschlug. Schon mal gar nicht in ihrem Reich, diese Küche und alles, was damit zusammenhing.

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Heniah blickte auf die dampfende Suppe vor sich und ließ sich so unauffällig wie möglich auf die Bank an den Tisch gleiten. Obdaroh faltete die Hände vor seiner Brust und drehte sich auf dem Absatz herum. Er hatte hier nichts mehr verloren und andere Verpflichtungen erwarteten ihn. Siba legte ihre Hand beruhigend auf den Schopf der jungen Frau und brummte missmutig: „Mach dir keine Sorgen, mein Spatz, wir werden die Bälger schon finden.“

Drittes Kapitel – Cethis Folgsam hatte Heniah ihre Mahlzeit aufgegessen und sie fühlte sich gestärkt. Sie ahnte, dass es zwecklos war, einer Frau wie der Köchin Siba zu widersprechen, zudem war der jungen Frau bei jedem Löffel der köstlichen Gemüsesuppe klargeworden, wie hungrig sie eigentlich war. Von zu Hause aus war sie einfach Mahlzeiten gewöhnt, welche hin und wieder ausfielen, weil es anders nichts möglich war. Während sie aß, beobachtete sie die Geschäftigkeit in dieser riesigen Küche. Die anwesenden Männer und Frauen gehorchten Siba anstandslos und beäugten heimlich die neue Person am Tisch, der man die Königskinder anvertrauen wollte. Ohne Sibas Hilfe wäre die Neue hoffnungslos verloren gewesen. Kaum hatte sie ihre Schale leer gegessen, kamen zwei der Küchenjungen völlig außer Atem angerannt und berichteten, was sie herausgefunden hatten. Offensichtlich waren sie dem Prinzen und der Prinzessin fündig geworden. „Cethis und Brimon haben bei den Pferden Zuflucht gefunden!“, erklärte Siba und wischt sich die Hände an ihrer fleckigen Schürze ab. „Am besten wird sein, du lässt dir den Weg zeigen. Anders kann ich mir nicht vorstellen, dass du sie finden würdest.“ Heniah nickte einverstanden und erhob sich von ihrem Platz. „Und bring mir die beiden sofort hier her! Wer weiß, wann die etwas Vernünftiges gegessen haben! Baden kannst du sie später immer noch!“ Einer der Laufburschen wurde von Siba abgeordnet, um Heniah zum Pferdestall zu begleiten. Der Junge gehorchte selbstverständlich. Sie folgte dem dünnen Burschen in einfacher Kleidung aus ergrautem Stoff und dunklen Hosen durch Gänge und vollgestellten Räumen, in denen Menschen beschäftigt waren. Sie hoffte nur, dass sie eines Tages in der Lage sein würde, sich in diesem Kreuz und Quer von Wegen und Winkeln zurechtfinden zu können. Als sie endlich das Innere des Schlosses verließen, stellte sie fest, dass der Tag sich bereits seinem Ende zuneigte und die Sonne bald untergehen würde. Die frische Luft tat ihr gut und beruhigte sie etwas, während sie sich Mühe gab, mit dem Laufburschen Schritt zu halten. Zielstrebig und trittsicher eilte er über die grob gepflasterten Wege und schlängelte sich zwischen Karren und umstehenden Zeug hindurch. Offensichtlich kannte er Abkürzungen und vermied den offiziellen Hof mit den unzähligen Verletzten und Leidenden. Dass sie sich endlich ihrem Ziel näherten, ahnte Heniah deshalb, weil sie den untrüglichen Duft von Pferden und frisch beschlagenen Hufen wiedererkannte. In der Tat brauchten sie nur noch um einen Hauswinkel herum und gelangten an einen weiten Platz, auf dem die Hufe eines großen dunklen Pferds klapperten. Ein Mann führte das Tier in ein spärlich erleuchtetes Gebäude, welches offensichtlich ein Stall war. Unweit stand ein weiteres Ross angebunden und wurde von zwei

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Männern begutachtet. Heniah nickte ihnen stumm zu, als sie an ihnen vorbeigingen, um in den Stall zu treten. Im Inneren reihten sich die Boxen im grauen Licht aneinander und die Luft war vom Duft frischen Heu und Malmen hungriger Mäuler erfüllt. Ihr Begleiter ging zögernd weiter und blickte sich suchend um. Dieser Ort war offensichtlich fremd für ihn und Heniah ahnte, dass es hier unwahrscheinlich viele Verstecke für zwei kleine Kinder gab. „Was sucht ihr hier?“, erschallte die drohende tiefe Stimme eines der Männer hinter ihnen und Heniah blieb augenblicklich stehen und blickte in seine Richtung. „Zwei Kinder!“, erwiderte der Bursche unverfroren, schniefte geräuschvoll und wischte die Nase. Der Mann trat näher, seine schweren Stiefel polterten wie Hufen über den Steinboden. „Das ist ein Pferdestall! Kinder haben hier nichts zu suchen. Die machen die Pferde nervös.“ Heniah raffte ihren Mut zusammen und richtete sich so hoch wie möglich dem fremden Mann gegenüber auf. Glücklicherweise überragte sie ihn um einen halben Kopf, was ihr etwas Zuversicht gab. „Ich bin die Zofe der Königskinder und mir wurde gesagt, dass sie hier zu finden seien. Die Bestattung der Königin soll morgen stattfinden und ihr könnt euch denken, dass es euch nicht guttun wird, wenn erfahren wird, dass Ihr uns bei der Suche der beiden nicht geholfen habt. Wie war doch gleich Ihr Name werter Mann?“ Der Laufbursche grinste breit während Heniah mit offensichtlicher Ruhe den Stallmeister ansprach. Der grobe Kerl legte die Stirn fragend in Falten und wich unwillkürlich etwas vor der großen jungen Frau zurück. „Man nennt mich Lodeg! In der Tat treiben sich seit einiger Zeit hin und wieder die Zwillinge hier herum. Ich wollte es erst nicht wahrhaben, dass es sich um den Prinzen und die Prinzessin handelt. Lasst mich fragen, ob einer der Männer die beiden irgendwo gesehen hat.“ Er räusperte verlegen, nickte den beiden zu und machte auf dem Absatz kehrt. Heniah warf ihrem Begleiter einen bedeutungsschweren Blick zu. Der Junge grinste weiter und schien sehr zufrieden damit zu sein, wie sich die Situation mit einem Mal geändert hatte. Selbst Heniah war überrascht, wie einfach es war, sich Respekt zu verschaffen, sobald man erwähnte, dass man im direkten Dienst des Königs stand. Sie hatte nicht weiter überlegt, doch sie wusste nur, dass der Abend sich bald in eine finstere Nacht verwandeln würde und sie die Kinder lieber innerhalb der Schlossmauern wüsste. Es schien ihr undenkbar, ohne die beiden zurückzukehren. Kurz darauf rief Lodeg ihr von der Stalltür aus zu und deutete ihr an, wo einer seiner Leute die Kinder angeblich zuletzt gesichtet hatte. Heniah und ihr Begleiter beeilten sich und liefen hinter die von den Männern gezeigte Scheune. Dort befand sich ein Reitplatz, ein paar Pferde standen dort noch angebunden und warteten darauf, in ihren Stall geführt zu werden. „Kinder!“, rief Heniah mit ihrer hellen Stimme in die zunehmende Dunkelheit und ihr wurde in diesem Moment klar, dass niemand ihr die Namen der beiden vorgestellt hatte. Sie wusste nur, dass es ein Junge und ein Mädchen waren, die zu Prinzen geboren waren. Mehr hatte ihr niemand sagen wollen oder können. Alle Menschen an diesem Ort schienen von den Ereignissen überwältigt zu sein, selbst wenn sie so taten als würde sie nichts berühren, verbargen ihre stolzen Gesten und verschlossenen Gesichter nur schlecht ihre Ängste. Kein Wunder, dass in so einem Chaos Kinder der Aufsicht der Erwachsenen entschlüpfen konnten. „Die Prinzessin nennt sich Cethis und der Prinz Brimon“, brummte der Junge neben ihr und kniff die Augenlider zusammen, um in der Finsternis etwas erkennen zu können. Heniah nickte und suchte die Umgebung ab. Mit entschlossenen Schritten trat sie in die Scheune und rief abermals: „Kinder! Euer Vater sucht euch! Ihr müsst nach Hause kommen.“

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Plötzlich flog etwas Schweres aus der oberen Abteilung der Scheune. Heniah sprang vor Schreck zurück, eine Heugabel polterte unweit neben ihr auf den Boden, federte einmal in die Luft, bevor das Ding liegen blieb. Die junge Frau sah auf und erblickte ein Mädchen in einem langen Kleid, welches selbst in dieser Dunkelheit schmutzig aussah. „Cethis …!“, hauchte sie, doch das Mädchen blieb ungerührt stehen. „Wenn mein Vater mich holen will, dann soll er selbst kommen!“, grollte die Kleine mit ihrer überraschend festen Stimme. Heniah schluckte und gab sich Mühe, so sanft und überzeugend wie möglich zu sprechen: „Mein Name ist Heniah und dein Vater hat mich beauftragt, dich und deinen Bruder zu holen. Wo ist er? Geht es ihm gut?“ Cethis rührte sich nicht und beobachtete die fremde Frau. Sie ahnte, dass man die als ihre Zofe ausgewählt hatte. Die einzige Frage, von der das Mädchen seit Tagen wie besessen war, lautete, warum kümmerte sich ihr Vater nicht um sie? Beide Eltern hatten sie im Schloss verlassen und waren in einen unsinnigen Krieg gegangen. Loris war gestorben und sobald ihr Vater zurückgekommen war, hatte er sie abermals von ihrer Mutter entfernt. Sollte er doch allein zusehen, wie er sein blödes Leben als König führte. Sie würde sich mit ihrem Bruder allein durchschlagen. Schon mal gerade jetzt, wo Toren entschieden hatte, irgendeine beliebige Frau zu schicken, die ihre Mutter ersetzen sollte. „Warte! Wir werden eine Leiter holen und dir da runter helfen!“, rief Heniah mit ihrer freundlichen Stimme. Wie konnte ein Mensch zu einem anderen nett sein, wenn er den nicht einmal kannte? Cethis presste ihre Lippen spöttisch zusammen, die Erwachsenen entsetzten sie mit ihren unverständlichen Verhalten. Alles was sie taten und wollten, gehorchte absurden Regeln. Kaum hatte diese Heniah einen Schritt getan, um eine verflixte Leiter zu holen, dreht sich Cethis rasch um, bedeutete ihren Bruder, der in seinem Versteck hocken geblieben war, ihr zu folgen. Die Kinder wussten genau, durch welche Winkel sie den Blicken der Erwachsenen entschlüpfen konnten. Sie hörte die junge Frau entsetzt hinter ihr rufen, doch die beiden waren im Begriff zu flüchten. Genau aus diesem Grund hatten sie sich in den Stallungen aufgehalten, denn sie wollten beobachten, was hier vor sich ging. Cethis und Brimon kannten den Ablauf der Geschäftigkeit und wussten, wo noch ein gesatteltes Pferd stand. Eigentlich hatten sie abwarten wollen, bis es ruhiger geworden war, und eventuell zwei Tiere mit Sattel und Zaumzeug ausgerüstet waren. Doch nun war es zu spät und sie mussten handeln. Sie waren zwischen den Heuballen gehuscht, an der hölzernen Wand zwischen den Balken und Brettern entlang, durch eine niedrige Öffnung hinaus in die frische Abendluft gelangt. Dort befand sich ein Reitplatz, an dem noch ein Pferd stand, welches nicht von seinem Sattel befreit war. Cethis rannte so schnell der lange Rock ihres Kleides es zuließ, dicht gefolgt von ihrem Bruder. Sie schlüpften unter den Balken, an dem die aufgeschreckten Pferde gebunden waren, hindurch und machten sich mit flinken Händen an dem Strick zu schaffen, der das gesattelte Tier an seinem Platz ließ. „Du kannst überhaupt nicht reiten!“, rief ihr Bruder. „Halt den Mund! Du auch nicht! So schwierig kann das nicht sein! Folge mir!“, zischte ihre Schwester und griff mit aller Kraft in die Zügel und die Mähne des unruhigen Pferdes. Brimon sah entsetzt, wie das Tier sich im Kreis drehte und seine Schwester sich mühsam in den Sattel hievte. Hinter ihm hörte er die Leute rufen, die nach ihnen suchten. Cethis streckte ihm die Hand entgegen, beugte sich zu ihm hinunter und zerrte ihm zu sich hoch auf den hohen Rücken des dunklen Pferdes. Der Sattel fühlte sich kalt und hart durch den Stoff seiner Hosen an, und das Tier war alles andere als ruhig und gehorsam. Er klammerte sich mit aller Kraft in seinen Beinen am Pferdeleib fest und suchte nach Halt mit den Händen, seine Schwester schnalzte mit der Zunge und hämmerte mit den Fersen in die Seiten des Pferdes, welches sich unwillig in einen hektischen Trab warf, sogar in einen leichten Galopp verfiel sobald es den Reitplatz verlassen hatte. Cethis griff fest entschlossen in die Zügel und zerrte den Pferdekopf in die Richtung der Gassen. Die Anwesenden

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mussten rasch beiseite springen, wenn sie nicht von diesen ungestümen Reitern überrannt werden wollten.

Heniah eilte dem Pferd nach. Sie kannte sich nicht gut mit diesen Tieren aus, doch sie sah, dass die Kinder in großer Gefahr waren und ihrem Ross nicht Herr waren. Doch einem rennenden Pferd hinterher zu laufen, war schier unmöglich und sie war bald völlig außer Puste. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals und Schweiß rann kalt an ihrer Haut unter dem dicken Stoff ihres Kleides. Sie hielt den Küchenjungen in seinem Lauf an und schnappte nach Luft. „Geh zum Schloss zurück und ruf nach Hilfe!“, keuchte sie. „Wir müssen vermeiden, dass die Kinder die Nacht außerhalb verbringen. Ich werde ihnen folgen!“ Der Junge nickte einverstanden und machte auf dem Absatz kehrt, während Heniah sich raschen Schrittes in die Richtung der leiser werdenden Hufschläge machte. Sie folgte den Gassen und sah an manchen verärgerten Gesichtern, dass sie auf der richtigen Spur war. Sobald sie die Hufschläge nicht mehr vernehmen konnte, fragte sie die Umstehenden, denn solch eine Reiterei bekam man nicht jeden Tag zu Gesicht. Laternen wurden angezündet, zwischen den engen Gassen macht sich die bevorstehende Nacht noch eher bemerkbar als auf dem großen Reitplatz. Ohne zu Zögern folgte die junge Frau ihren Weg, fragte Leute, die ihr bereitwillig die Richtung zeigten, in die das Pferd entschwunden war. Insgeheim befürchtete sie, dass die Prinzessin vorhatte, die Stadt zu verlassen und im Wald zu verschwinden, was unkluger nicht sein konnte. Doch wer konnte schon wissen, was in Köpfen von kleinen Kindern vor sich ging, die ihre Mutter verloren hatten und sich von ihrem Vater verlassen fühlten? Sie hoffte, dass das Pferd spätestens am Stadttor angehalten würde und beeilte sich, dorthin zu gelangen. Sie konnte froh sein, dass sie eine ausdauernde Läuferin war, raffte ihre Röcke zusammen und beeilte sich, denn die Stadtmauern waren bereits in Sicht. Auf den Zinnen begannen vereinzelte Fackeln zu brennen. Als sie das Stadttor erkannte, durch das sie vor wenigen Stunden mit ihrem Onkel gefahren war, runzelte sie überrascht die Stirn. Sie konnte kein Pferd und noch weniger die Kinder sehen. Rasch trat sie zu den Wachen und blickte sich suchend um. „Habt ihr kein Pferd gesehen?“ fragte sie, ohne eine Begrüßung zu formulieren. „Von zwei kleinen Kindern geritten, ein viel zu großes Pferd“, fügte sie luftschnappend hinzu und versuchte die Augen unter dem Schatten des Helms einer der Wachen zu erkennen. „Pferdediebe?! Gesindel soll im Wald verenden!“, brummte er angesprochene Mann ohne vom schweren Schaft des Speers abzulassen, an den er sich abstützte. Seine Atemluft stank nach schweren Wein. „Wie könnt ihr nur, ihr Halunken?“, fuhr es Heniah aus. Sie musste sich nach vorn beugen und auf ihre Knie abstützen, um nach Luft zu ringen. „Ruhig Blut, Mädchen! Nach Einbruch der Dunkelheit dürfen nur noch eingewiesene Leute eingelassen werden. Alles was raus will, darf raus.“ Heniah schüttelte verständnislos den Kopf. Von solchen einfältigen Dummköpfen konnte sie keine Hilfe erwarten. Sie richtete sich auf und ging mit entschlossenen Schritten dem Tor entgegen. Mit einem Mal kam sie sich selbst unglaublich klein vor. Die mächtigen Mauern über ihr bestärkten diesen Eindruck. Hier war sie allein auf dem Weg einer ungewissen Suche nach zwei bedeutenden Kindern, um die sich viel zu lange niemand gekümmert hatte. Draußen, dicht an die Mauern geschmiegt hatten einfache Menschen ihre Behausungen gebaut. Sie gehörte zu einer der Familien, die dort wohnten und es war ihr unmöglich, dorthin zurück zu kehren. Ihre Gedanken galten den Kindern. Die Prinzessin hatte sie zwar mit einer Mistgabel töten wollen, doch war sie mit ihrem Bruder allen nur erdenklichen Gefahren im Wald ausgesetzt. Es blieb Heniah keine andere Wahl als den beiden zu folgen.

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Auch wenn sie diesen Bereich des Waldes gut kannte, stellte sich die Umgebung in kompletter Finsternis völlig fremd dar. Selbst wenn sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnten, wurde ihr sofort klar, dass sie jede Orientierung rasch verlieren würde. Im Wald war es bemerkenswert still, hoch über ihrem Kopf rauschte der Wind in den Kronen der Bäume. Hier und jetzt fühlte sich Heniah aus jeder Richtung von Wesen beobachtet, welche im Dunkeln besser sahen als sie. Wahrscheinlich war das der erste Grund, warum Menschen sich in der Nacht aus dem Wald zurückzogen. Sie wagte sich nicht, nach den Kindern zu rufen. Vorläufig zog sie es vor, so leise wie möglich in der fremden Wildnis voranzukommen und auf jedes Geräusch Acht zu geben. Das Pferd musste einem Weg gefolgt sein. Ein großes Tier, was gewöhnt war, von Menschenhand gelenkt zu werden, würde sich nicht im Dickicht verlaufen. Heniah beschloss also auf dem Pfad zu bleiben. Unter ihren Füssen spürte sie die feste Erde, von Wagenrädern, Stiefeln und beschlagenen Hufen gezeichnet leiteten sie die parallelen Spuren in den Wald. Ihr Herz schlug noch immer laut und schnell vom Lauf und der Aufregung. Sie gab sich Mühe, so tief und ruhig wie möglich durchzuatmen und nicht zu viel nachzudenken. Im Grunde fühlte sie sich ebenso verlassen und verraten wie die Königskinder. Wahrscheinlich war sie aus diesem Grund einfach auf dem richtigen Weg und am richtigen Ort. Wer wünschte sich nicht, den Rest der Welt hinter sich zu lassen und einfach im Wald zu verschwinden, wenn einem kein Mensch zuhören wollte? Diese Feststellung ließ die junge Frau beinahe lächeln, doch sie schrak entsetzt zusammen, als zu ihrer linken Seite Äste zwischen den Büschen und Bäumen knackten. Sie verharrte in ihrer Bewegung und starrte verängstigt in die Richtung, aus der diese Geräusche gekommen waren, aber es war ihr unmöglich, irgendetwas zu erkennen. Schließlich blieb es eine Weile ruhig und sie nahm sich zusammen, um ihren Weg fortzusetzten. Wahrscheinlich war es nur ein Tier, das nach Nahrung suchte, versuchte sie sich zu beruhigen. Doch was für ein Tier? Ein Reh? Ein Hirsch? Ein Wildschwein? Sie wusste, dass Wildschweine außer sich vor Wut geraten konnten, wenn sie sich von Menschen in ihrem Revier bedroht fühlten. Oder etwas Anderes? Was auch immer es sein könnte … Heniah drehte sich um und beschleunigte unwillkürlich ihren Schritt, selbst wenn es sinnlos war, denn sie vermochte nicht mehr erkennen. Allein umgeben von finsteren Schatten und rauschenden Bäumen griff eine ursprüngliche Angst nach ihr und umklammerte sie, wie die feuchte kalte Nachtluft. Sie spürte wie kalt ihre Fingerspitzen wurden und sie hörte ihre eigene Atmung unwirklich laut. Einen Schritt vor den anderen ins Ungewisse. Warum hatte man sie nie nachts in den Wald gelassen? Es gab Menschen, die es verstanden, durch Ravan zu reisen. Es wurde ihnen beigebracht, also warum hatte man es ihr nicht gelehrt, wo man sie als Zofe für einen Prinzen und eine Prinzessin ausgesucht hatte? Jetzt war es zu spät, sie musste ihr bisschen Mut selbst zusammensammeln und allein einen Weg finden, den sie nicht kannte. Diese Gedanken machten sie zornig und ihre Wut verschafften ihr Kraft, weiterzugehen. Sollten sie doch kommen, alle Monster dieser Dunkelheit. Sie erwartete nichts Anderes! Sollten sie sich doch zeigen, mit ihren abscheulichen Klauen und Fratzen, das wäre mal etwas Abwechslungsreiches, wollte das nicht ihr Vater? Sie sollte etwas Neues in ihrem Leben erleben. Allerding hätte sie niemand dazu in den Dienst am Hof des Königs schicken brauchen. Sich allein im Wald zu verirren und von Wölfen gefressen zu werden, hätte sie von ihrem Elternhaus auch gekonnt. Gehorsam und artig war sie stets nach Sonnenuntergang im Haus gewesen. Plötzlich hielt sie in ihren Schritten ein und blieb regungslos stehen. Der Boden unter ihren Füssen bebte, vor ihr schnaufte und raste etwas Großes. Ihr Herz stockte und sie kauerte sich unwillkürlich zusammen. Das Biest kam auf sie zu. Wenige Atemzüge später erkannte sie das Trommeln von Pferdehufen. Welcher Reiter mochte um diese Zeit in ungestümen Galopp durch den Wald reiten? Niemand wusste, dass sie hier war. Mittlerweile hatten sich ihre Augen an die Finsternis gewöhnt und sie erkannte bald das stürmende Pferd, doch es war reiterlos. Es musste sich um das von den Prinzen gestohlene Pferd handeln. Heniah atmete erleichtert auf und stellte sich aufrecht mitten in den Weg und breitete die Arme aus, wie sie es einmal gesehen hatte, als ein Mann ein panisches Pferd beruhigen wollte.

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„Hoooh ! Hooooh !“, rief sie dem Tier entgegen, ihre Stimme wurde von einem Wiehern begrüßt und im nächsten Augenblick war das Pferd auf ihrer Höhe angelangt. Instinktiv griff sie nach dem Zügel und hielt fest. Ihr entfuhr ein überraschter Schrei als das Pferd sie einfach mitriss, doch sie hielt tapfer Stand, ließ nicht los und sprang an die Seite des nervös tänzelnden Tiers. Sie wusste, dass sie nicht vor ihm stehen durfte, weil es ihm noch mehr Angst machen würde und dass es einfach unglaublich viel stärker war als sie, doch sie ließ nicht los. „Ruhig! Beruhige dich! Alles gut!“, hörte sie sich selbst spreche und löste eine Hand vom Zügel, um ihn auf den Hals des Pferdes zu legen. Es schnaubte und warf den Kopf unwillig hoch und runter, doch es blieb stehen. Sein Atem raste und sie fühlte sein aufgeregtes Herz unter dem feuchten Fell pochen. „Alles gut …“ Heniah war unglaublich erleichtert, das Pferd in ihrer Nähe zu haben, selbst wenn es ihr Sorgen bereitete, im Falle es wieder panisch werden würde. Sie hatte Glück gehabt, es in dieser Dunkelheit zum Stehen zu bringen, ohne dabei auf die Füße getreten zu bekommen. Sie kannte sich nicht gut mit Pferden aus und konnte noch weniger reiten, doch vorläufig war sie nicht mehr allein und allen Anschein nach war sie auf dem richtigen Weg. Sie versammelte beide Zügel unter dem Kinn des Tieres und ging an seiner Seite in die Richtung, aus der es gekommen war. „Wir müssen die beiden wiederfinden, hörst du? Wenn wir sie gefunden haben, bringen wir sie nach Hause. Pferde haben große Augen, wahrscheinlich siehst du viel besser als ich in dieser Düsterkeit. Alles wird gut, jetzt wird dir nichts mehr geschehen.“ Es beruhigte sie, ihre eigene leise Stimme zu hören, sie sprach sich und dem Tier Mut zu und so gingen sie Seite an Seite tiefer in den Wald. Heniah verbat sich daran zu denken, was dem Tier möglicherweise solch einen Schrecken bereitet hatte. Sie zog es vor zu glauben, dass die Prinzessin als unerfahrene Reiterin einfach die Kontrolle über das Ross verloren hatte und mit ihrem Bruder gestürzt war. Dabei hatte sich das Pferd erschrocken und war kopflos in die Richtung des rettenden Stalls geflüchtet. Sie versuchte sich zu beruhigen, in dem sie sich sagte, dass Kinder von Natur aus gut fallen konnten und ein Sturz nicht unbedingt schlimm ausgehen musste. Doch insgeheim wusste sie, wie viele Reiter sich im Galopp in der Natur den Hals brachen und nie wiedergesehen wurden. Oder dass das Pferd seine Reiter abgeworfen hatte, weil ihnen etwas Entsetzliches begegnet war. Heniah presste ihre Zähne fest aufeinander und riss sich zusammen. Es brachte sie nicht weiter, wenn sie jetzt panisch wurde. Sie musste die Kinder finden. „Cethis!“, rief sie vorsichtig in die Finsternis und ging mit vorsichtigen Schritten weiter. „Cethis, wo bist du? Ich bin es, Heniah! Zeigt euch Kinder, damit ich euch in Sicherheit bringen kann. Alles wird gut werden. Euer Vater macht sich Sorgen um euch!“ Mit einem Mal blieb das Pferd stehen und warf den Kopf mit gespitzten Ohren in die Höhe. Etwas hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Heniah griff fester um die Zügel und kniff die Augenlider zusammen, um etwas auf dem Weg erkennen zu können. War da nicht etwas vor ihnen eine Gestalt zu erkennen? „Cethis? Bist du es?“, fragte sie, ihr Herz schlug plötzlich wieder schneller und das Pferd zu ihrer Seite grollte nervös in seiner mächtigen Kehle. Die Gestalt bewegte sich und kam näher, sie konnte die Schritte hören. „Du machst dem Pferd Angst, genauso wie mein Bruder, deswegen sind wir gestürzt …“, erklang die ärgerliche Stimme der kleinen Prinzessin. Noch nie zuvor in ihrem Leben hatte Heniah eine derartige Erleichterung empfunden, als sie die Stimme eines Menschen hörte. „Da bist du ja! Mein Kind!“, entfuhr ihr und sie ging ihr entgegen. Cethis blieb stocksteif stehen. „Ich bin nicht dein Kind!“, rief sie zornig.

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„Natürlich nicht! Das sagt man so!“ Heniah war von euphorischer Freude erfüllt und ließ sich nicht ablenken. Sie trat zu Cethis, streifte die Zügel über den Kopf des Pferdes, damit sie diese nicht loslassen brauchte und kniete sich so wie sie war vor die Prinzessin auf den Weg. „Erwachsene sagen viel zu oft dummes Zeug einfach so“, knurrte das Mädchen, doch es ließ sich von der jungen Frau berühren. „Das stimmt, damit hast du Recht! Ich weiß das nur zu gut. Aber ich bin wirklich froh, dich gefunden zu haben!“ „Warum?“ Heniah spürte die zarten Schultern des Kindes durch den Stoff des Kleides und überlegte kurz. „Vielleicht weil ich seit diesen Morgen genauso verwirrt bin wie du. Meine Eltern haben mich aus dem Haus geschickt, damit ich mich um dich kümmern soll. Dabei wäre ich viel lieber bei ihnen geblieben. Ich verstehe nicht, warum sie das getan haben. Sollte nicht jede Mutter und jeder Vater für seine Kinder da sein?“ Sie sah, wie das Mädchen stumm mit dem Kopf nickte. „Offensichtlich ist es in der Welt der Erwachsenen nicht immer so einfach und klar wie wir es in unseren Herzen fühlen.“ „Warum soll ich also zurück ins Schloss? Dort versteht mich niemand und die Erwachsenen können mir gestohlen bleiben!“, rief Cethis zornig aus. „Ich weiß, aber vorläufig kennen wir uns nicht im Wald aus und ich bin mir sicher, dass wir hier schnell in Gefahr sein werden. Wo ist dein Bruder?“ „Der hat sich am Fuß wehgetan!“ „Kann er laufen?“ „Nein, er kann nicht auftreten.“ „Siehst du! Wir müssen ihn pflegen und das können wir hier nicht. Es wird bestimmt noch viel kälter und wir haben nichts dabei, um uns zu schützen. Magst du mich zu ihm führen?“ Cehtis nickt abermals und machte auf ihrem Absatz kehrt, um zu ihrem Bruder zurück zu gehen. Heniah erhob sich und atmete tief durch. Die Kinder waren am Leben und sie hatte sie gefunden, das war alles, was vorläufig zählte. Mit dem Pferd würden sie den Weg Haguz Bri-las schon finden und sie hätten sich viel Angst und Schrecken für wenig eingejagt. „Brimon! Ich bin wieder zurückgekommen. Heniah hat das Pferd eingefangen. Du kannst nach Hause reiten.“ Cethis Stimme erschallte merkwürdig laut in der Stille des abwartenden Waldes. „Wer ist Heniah?“, verlangte Brimon zu wissen. „Die Frau, die sich um uns kümmern soll.“ Cethis trat vom Weg ab in das Gebüsch und schob die Zweige beiseite. „Hat sie Hilfe mitgebracht?“ „Nein, sie ist allein gekommen.“ Cethis beugte sich zu ihrem Bruder hinunter und legte seinen Arm um ihre Schultern, um ihn auf die Beine zu helfen. Heniah hörte, wie er versuchte, seine Schmerzenslaute zu unterdrücken. „Brimon, alles wird gut werden!“, rief sie ihm leise entgegen. Sie wünschte sich, die Kinder würden wenige Geräusche machen, denn sie fühlte sich von allen Seiten beobachtet und belauert. Alles was jetzt zählte, war so rasch wie möglich von diesem Ort zu verschwinden. Mühsam zerrte Cethis ihren Bruder aus dem Unterholz und Heniah streckte ihre Hand aus, um ihr zu helfen. In diesem Moment schreckte das Pferd zusammen und riss ungestüm am Zaumzeug. Heniah schimpfte überrascht und

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musste das Tier mit beiden Händen festhalten. Sie redete ihm leise beruhigende Worte zu, doch sie spürte, wie es vor Angst und Schrecken bebte. „Was ist mit dem Pferd?“, fragte Cethis. „Nichts weiter! Es wird sich wieder beruhigen. Rasch, rasch, ich helfe dir auf den Sattel.“ „Ich will nie wieder reiten!“, protestierte der Junge. „Rede keinen Blödsinn! Du kannst nicht laufen und wir müssen so schnell wie möglich von hier weg. Komm schon!“ „Vater wird kommen und einen Wagen schicken!“, rief er. „Von wegen! Der weiß bestimmt nicht mal, dass Heniah ganz allein nach uns gesucht hat. Jetzt sitz schon auf und halte dich am Sattel fest!“, befahl seine Schwester. Heniah war erstaunt über den bestimmenden Ton in der Stimme des Mädchens, aber die Kleine begriff schnell, wie die Dinge nun einmal waren. Mit vereinten Kräften halfen sie dem Jungen in den Sattel, wobei er sich tapfer verkniff, vor Schmerzen zu jammern. „Ich kann dich nicht tragen, du bist zu groß! Halt dich nur gut fest.“ Heniah wollte der Prinzessin die Hand geben, überlegte es sich aber rasch anders, als das Pferd abermals aufschreckte und flüchten wollte. Dem Prinzen entfuhr ein überraschter Schrei, doch Heniah hielt das Tier tapfer an den Zügeln mit beiden Händen fest. Sie stemmte ihre Füße so fest wie möglich in den weichen, feuchten Waldboden. „Folge mir!“, stieß sie zwischen zusammengepressten Zähnen hervor und versuchte, neben dem Pferd herzugehen. Das Tier war so entsetzlich unruhig und stark. Ihre Hände verkrampften sich um das kalte Leder der Zügel und ihre Arme bebten vor der ungewohnten Anstrengung. „Wovor hat es Angst?“, fragte Cehtis. „Ich weiß nicht. Halte dich von den Hufen fern!“ Ihr Atem ging schnell, das Pferd haderte zwischen Folgsamkeit und Fluchtinstinkt, doch plötzlich krachten und zerbarsten unzählige von Ästen in unmittelbarer Nähe. Das Unterholz wurde von rennenden Wesen durchbrochen. Heniah legte ihre Hand flach auf die Nase des bebenden Pferdes und starrte in die Richtung, aus der die unheimlichen Geräusche kamen. Bald konnte sie die springenden Silhouetten von flüchtenden Hirschen erkennen. Was auch immer sie in Aufruhr gebracht hatte, es musste kolossal sein, dass diese furchtsamen Tiere in so unmittelbarer Nähe an Menschen vorbeihetzten. Sie griff nach Cethis Arm und begann zu laufen. Das Pferd schnaubte ungeduldig und trabte an, doch in einem langen Rock neben einem panischen Reittier herzulaufen, war schier unmöglich, doch sie folgten dem Fluchtinstinkt des Wildes, wobei sie sich noch weiter von Haguz Bri-las entfernten. Völlig außer Atem stolperte Heniah über den Saum ihres Rockes und ließ die Prinzessin los. Das Pferd wieherte erschrocken auf und wehrte sich gegen die Zügel. „Ich will runter!“, brüllte Brimon mit überschnappender Stimme. Blind vor Angst und Schrecken packte sie nach dem Jungen, der sich geradezu zu dem Sattel auf sie fallen ließ. Ein fester Hufschlag traf sie in die Seite auf die Rippen und stieß ihr die Puste aus den Lungen. Das Pferd galoppierte in wilden Sprüngen davon und Heniah blieb die Luft aus. Sie hörte die Prinzessin nach ihr rufen, beide Kinder waren bei ihr. Zu dritt rafften sie sich zusammen und schlüpften auf der gegenüberliegenden Seite des Weges in die Büsche. Die Hirsche folgten ihrer rasenden Flucht, hunderte von feinen Hufen trommelten über den Waldboden. Mit einem Mal kam ein rasender Wind auf und schüttelte an den Bäumen und Ästen. Ein entsetzliches Brüllen erfüllte die Atmosphäre. Heniah hatte Hirsche schon oft in der Herbstzeit röhren hören, dieses Geräusch kam dieser Naturerscheinung sehr nahe, nur war es unglaublich mächtiger. Neben ihr schrien die Kinder vor Schrecken auf und klammerten sich an sie. Die junge Frau versuchte etwas im Gewirr und Toben zu erkennen. Waren das größere Hirsche, die die Tiere jagten? Blaues Schimmern blitzte zwischen den wirren Ästen auf, ein

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furchterregendes Grollen folgte den großen Wesen. Plötzlich erkannte sie eine riesige Gestalt auf dem Weg, welche sich entsetzlich schnell ihrem Versteck näherte. Es stank nach wilden Tier, wie glutrote Kohlen leuchteten zwei Punkte auf, welche die Augen das Unwesen sein mochten. Es nahm die Witterung auf und stemmte die Hufe in den Boden, um in die Richtung der verängstigten Menschen zu schnuppern. Heniah schnappte nach Luft und glaubte, den unglaublichen Gestank des Biestes zu schmecken. Ein drohender Schrei erschallte in dessen Rücken, das Wesen fuhr herum und verteidigte sich gegen seinen Angreifer. Heniah umfasste fest den Prinzen, der sich an sie klammert und versuchte, tiefer in den Wald zu flüchten. Die gesamte Umgebung schien in Aufruhr zu sein, der Wind toste und die Schreie der panischen Tiere vermischten sich mit denen anderer Wesen, die niemand kannte. Sie wusste nur eins, dass sie dort nicht bleiben konnte und sie sich mit jedem Schritt tiefer im Wald verirren würde. „Cethis!“, brüllte sie aus Leibeskräften, ihr Brustkorb schien vor Schmerzen zerbersten zu wollen, doch sie achtete nicht darauf. Die Prinzessin rannte ihr entgegen. Sie waren dem Dickicht entkommen und konnten schneller zwischen den Bäumen rennen, doch ihre Rocksäume blieben an gefallenen Ästen hängen und Dornen zerkratzten ihre Beine. Rechts und links sahen sie erneut Wild flüchten. Unweit war ein erbarmungsloser Kampf entfacht, von dem Heniah auf keinen Fall Zeugin werden wollte, denn dergleichen Gebrüll hatte sie noch nie in ihrem Leben gehört. In unzähligen Geschichten wurde Ravan mit Albträumen gleichgesetzt, die junge Frau erfuhr in dieser Nacht mit eigenem Leib und Sinnen, was das bedeutete.

4.Kapitel – Ravan – Cethis fluchte und schimpfte über ihr langes Kleid. Mit aller Kraft zerrt sie am Stoff, der sich zwischen irgendwelchen Zweigen und Ästen verheddert hatte. Der gesamte Wald schien in Aufruhr zu sein und sie konnte die vorbeihuschenden Gestalten nicht erkennen. Riesige kalte Schemen, schwarze Formen von Tieren, einzig den übergroßen Eber mit seinen glühenden Augen hatte sie als solchen eben noch auf dem Weg erkannt. Sie brüllte aus Leibeskräften den Namen der jungen Frau, die wohl versucht hatte sie zu retten, doch im tosenden Wind ging ihre Stimme hoffnungslos unter. Sie spürte zwischen ihren Händen, wie der Stoff ihres Kleides nachgab und zerriss und stürzte rücklings zu Boden, als sie endlich frei war. Doch aus der Erde schienen winzige Hände mit langen dürren Fingen nach ihr greifen zu wollen. „Lasst mich los!“, kreischte sie und zappelte wild und panisch. Es gelang ihr, sich auf die Beine zu rappeln und davon zu stolpern. Natürlich wusste sie nicht, in welche Richtung sie sich retten konnte, doch sie musste weg von hier, koste es was es wolle. Sie musste ihren Bruder wiederfinden. Hoffentlich war er mit dieser Heniah zusammen. Sie rief seinen Namen, doch bekam keine Antwort und rannte einfach in halsloser Angst durch den Wald. Links und rechts zu ihren Seiten und hinter ihr schienen übernatürliche Wesen sie auszulachen. Sie weinte und schluchzte und rang nach Luft. Ihre Lungen brannten und stachen an ihren Seiten. Sie war es nicht gewohnt, so lange zu rennen. Warum war dieses dumme Pferd nur ausgerissen? Die großen Leute ritten auf diesen Tieren und ihnen geschah dabei nichts. Warum hatte ihr niemand gelernt, wie das ging, damit sie sich in diesem Wald behaupten konnte? Nie hatte ihr jemand so etwas Wichtiges gezeigt und jetzt vermochte sie nicht einmal ihren Bruder wiederzufinden. Und warum hatte ihr niemand gesagt, was in Ravan vonstattenging? All diese Ungeheuer lebten wohl hier und stürzten über einsame Wanderer her, doch kein Mensch erzählte davon. Es hieß nur, dass man sich des Nachts nicht in

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Ravan aufhalten sollte … Das Mädchen stolperte über eine dicke Wurzel und fiel der Länge nach hin, doch dieses Stück Holz umfing ihren Fußknöchel fester und zog sie zurück. Waren das zwei gelbe Augen, die in der Dunkelheit dicht am Boden leuchteten und sie anstarrten? Sie suchte verzweifelt mit ihren Händen Halt und erwischte einen dünnen Stamm. Mit aller Kraft hielt sie sich daran fest und zog sich daran in die entgegengesetzte Richtung. Sie umklammerte den kleinen Baumstamm und zerrte an ihrem Bein, doch der Wurzelarm griff fester zu und riss sie fort. Cethis schrie überrascht auf, schlidderte unsanft über den Waldboden dem in der Dunkelheit verborgenen Monstergesicht entgegen. „Lass mich los!“, brüllte sie aus Leibeskräften und trat mit ihrem freien Bein mit aller Kraft und so rasch wie möglich in die Richtung der glimmenden Augen. Das Wesen schien genervt zu knurren, doch es wusste sich zu wehren und setzen einfach weiterer seiner Wurzelarme ein. Ehe Cethis sich versah, war ihr freies Bein gefangen, ebenso ihre Arme und ein Wurzelstrang schlang sich beängstigend fest um ihren Hals. Ihr blieb augenblicklich die Luft aus. Tränen flossen in Strömen aus ihren Augen und sie wehrte sich, wie sie nur konnte. Etwas Schweres donnerte direkt neben ihrem Kopf auf den Boden. Es waren die Hufen eines gigantischen Hirsches, sie konnte sein mächtiges Geweih rotgolden in der Finsternis blitzen sehen. Eine riesige Klinge durchschnitt die Luft, schlug mit unglaublicher Gewalt auf die Erde und trennte den dicksten Strang vom Körper der Prinzessin. Die weiteren Stränge ließen augenblicklich locker und ein schriller Schrei heulte erbost auf, wobei ihre Ohren sirrten. Sie hustete und rang nach Luft, halbblind vor Angst warf sie sich herum und krabbelte auf alles vieren von ihrem unsichtbaren Feind davon. Doch eine mächtige Hand hob sie vom Boden wie eine Stoffpuppe auf und lud sie quer auf den Rücken des riesigen Hirsches. Cethis drehte ihren Kopf zu dem Reiter hinauf, der sie gerade vor einem sicheren Tod gerettet hatte. Was sie trotz der Sprünge des Hirsches im teuflischen Schimmern erblickte, ließ ihr Herz stocken. Über ihr erhob sich eine mächtige nackte Männerbrust, umrahmt von dichten Fell und ein böses Gesicht mit einer breiten Schafsnase ward gekrönt von dicken gewundenen Hörnern. Sie strampelte und zappelte, um sich von dem Rücken des Hirsches zu lösen. Lieber in diesem rasenden Ritt zu Boden stürzen, als dieser Kreatur ausgesetzt zu sein. Der Überlebensinstinkt des Mädchens flüsterte ihr ein, dass sie von ihm nicht gerettet wurde, um zu leben, doch seine riesige Pranke hielt sie fest auf den Rücken seines Reittiers gepresst. Kein Ton entschlüpfte aus Cethis Kehle mehr, sie erduldete diesen schrecklich langen Ritt durch das tobende Chaos im Wald. In ihrem Leben hatte sie noch nicht viele Hirsche gesehen, doch sie wusste, dass sie nicht von dieser Größe waren und ihre Geweihe normalerweise nicht leuchteten. Wer sein Reiter war, blieb ihr ein Rätsel. Ihr war übel vor Angst, doch sie behielt ihre Sinne und verfolgte alles, was sie im Stande war, zu sehen. Bis zum Letzten würde sie tapfer sein und nicht in Ohnmacht fallen. Sollten diese Ungeheuer doch sehen, dass sie es mit einem mutigen Menschenmädchen zu tun hatten. Der Hirsch verlangsamte seine Galoppsprünge und trabte eine Anhöhe hinauf. In diesem Moment wurde Cethis klar, dass ihr Reiter nicht der einzige war, sondern ähnliche Kreaturen ihn mit ihren Reittieren begleiteten und offensichtlich dasselbe Ziel verfolgten. Die Prinzessin hatte jedes Gefühl für Zeit verloren, allerdings fühlte sie aufgrund ihrer unbequemen Lage kaum noch ihre Beine. Die geheimnisvollen Reiter auf ihren fantastischen Hirschen hatten den höchsten Punkt des Berges erreicht und versammelten sich, bevor sie langsam den Abstieg angingen.

Onriel sah die herrschaftliche Reiterei des Waldes in sein Gebiet einreiten. Ihm und den Seinen gegenüber hatten die Geister des Waldes sich nie die Mühe gemacht, ihre wahren Gesichter zu verbergen. Die ständigen Auseinandersetzungen zwischen den einen und den anderen konnten selbst für Menschen unnachvollziehbar sein. Doch die Natur dieses Landes war nun einmal ebenso kriegerisch wie ihre Einwohner. Es musste eine bemerkenswerte Schlacht gewesen sein und offensichtlich hatten die Duneyr heute den Sieg davongetragen. Gegen wen konnte Onriel zu diesem Zeitpunkt nicht wissen, er mochte es nur in seinem Alter nicht, um seinen Schlaf gebracht zu

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werden. Er strich sich über seinen dichten Bart und wartete das beeindruckende Schauspiel ab. Allerdings vereinten sich die Duneyr mit den Silenen, um strategisch vorzugehen. Onriel sah wie einer von ihnen seinen Duneyr in seine Nähe ritt. Der riesige Hirsch vibrierte vor Wut und Onriel begriff bald den Grund seiner Unruhe, denn sein Reiter hatte einen Menschen auf seinen Rücken geladen. Die Duneyr ertrugen die unmittelbare Nähe zu Menschen nur mit größter Abneigung. Doch der große Mann wagte es, näher zu treten. Wenn diese Wesen ihn schon um seinen Schlaf gebracht hatten, sollten sie ihm das mindeste von Respekt entgegenbringen. „Was hast du da geladen?“, rief er dem massiven Satyr entgegen, doch er erwartete keine Antwort. Diese Wesen zum Sprechen zu bringen, war nahezu unmöglich. Also blickte der Mann selbst nach dem geladenen Bündel. Kurz bevor er den kleinen Menschen berühren konnte, warf das Kind zornig den Kopf in die Höhe und blickte ihn direkt aus bösentschlossenen Augen an. „Na so was! Das ist ja eine Überraschung!“, entfuhr Onriel. „Was hast du mit dem Mädchen vor? Es kommt nicht in Frage, dass sie für ein Menschenopfer zählt!“ Dem Reiter entfuhr ein animalisches Knurren aus seiner mächtigen Kehle, denn offensichtlich gehörte genau das zu seinem Vorhaben. „Lasst mich sofort runter!“, krächzte das Mädchen heiser und wand sich mühsam unter der riesigen Hand ihres Peinigers. „Du kannst von Glück reden, dass du noch am Leben bist, Kleine. Du bist nicht wirklich in der Lage, hier etwas zu verlangen“, ermahnte Onriel. Der Satyr presste Cethis Gesicht in das Fell des Duneyrs und blickte mit einem befehlenden Knurren in die Richtung der offenen Schmieden. An diesem Ort war die Erde an manchen Stellen geöffnet und ließ zwischen steinigen Narben direkt in das innerer ihrer uralten Glut blicken. „Denk nicht einmal daran! Ich bin der Herr der Schmiede in Ravan und bestimme allein über die Opfer, die der Erde gegeben werden. Ihr Geister habt nichts Besseres zu tun, als euch um eure Plätze zu streiten. Doch hier wohnen die meinen! Die Rodorrë leben hier!“ Onriel wusste, dass er in diesem Moment sich nicht die geringste Schwäche erlauben durfte, wenn er in Zukunft seinen Platz behaupten wollte. Von allen Seiten kamen die Dunerys und scharrten ungeduldig im sandigen Boden. Die Luft war von Dampf ihres erregten Atems erfüllt. Glücklicherweise konnte Onriel auf seine Männer zählen. Die Treusten hatten mit ihm gewacht und die anderen zum gegebenen Zeitpunkt aufgeweckt. Jetzt konnten sie bewaffnet zum Vorschein treten. „Seht die Klingen aus dem Erz von Ravan am ewigen Feuer unserer Mutter geschmiedet! Selbst wenn ihr von Überzahl seid, wird dieser Kampf euch viele Leben kosten. Wozu? Damit ihr endlich begreift, dass für uns alle Platz in Ravan ist?“ Um seinen Worten Bekräftigung zu verleihen, zückte Onriel sein Schwert und ließ die lange Klinge vor sich auf dem Boden ruhen. Cethis hatte mit aller Kraft mühsam den Kopf aus dem Fell gedreht und in die Richtung des Mannes geblickt. Sie sah, wie eine junge Frau an seine Seite trat. Sie trug einen Helm mit gewunden Hörnern gekrönt und stemmte ebenso wie dieser Bärtige ein riesiges Schwert in den Boden. Die Hörner ihres Helmes sahen denen der entsetzlichen Reiter bemerkenswert ähnlich. Wollte sie ihnen damit wohl zeigen, dass sie durchaus in der Lage war, einen von ihnen zu töten? Die Prinzessin rang mühsam nach Luft und wehrte sich gegen die brachiale Kraft des Satyrs. Die fremden Menschen zwischen den tanzenden Fackeln, die mit diesen Ungeheuern sprachen, faszinierten sie. Cethis spuckte Haare vom Hirschfell aus und befahl abermals mit ihrer heiseren Stimme, runtergelassen zu werden. „Bringt sie zum Schweigen Vater! Oder sie wird uns Unglück bringen!“, sprach die junge Frau an der Seite des Bärtigen, doch Cethis scherte sich darum nicht. „Ich bin Cethis, Tochter von Loris, Königin von Haguz Bri-las und ihr werdet alle sterben, wenn ihr mich nicht sofort loslasst!“ Ihre Stimme klang einfach nur lächerlich, genauso wie die eines gequälten Mädchens zu klingen hatte, doch Onriel hatte wohl jedes Wort verstanden. Er nahm sein

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Schwert auf und kam noch einen Schritt näher, um der Kleinen in die Augen zu blicken. Anschließend blickte er zu dem Satyr auf und legte nachdenklich seine Stirn in Falten. „Ich denke nicht, dass dies eine gute Nacht ist, um die Tochter einer Wölfin als Menschenopfer zu wählen. Ich rate dir, sie runter zu lassen. Wo sind die anderen?“ Der Hirsch schüttelte sich unter dem Satyr und begann, ungeduldig auf der Stelle zu tänzeln. Sein Reiter ließ ihn ein paar Mal wie zu einer Parade um sich selbst drehen. „Lass gut sein! Ich habe genug von eurer Prahlerei! Eine Prinzessin reist nie allein und wie ich euch kenne, habt ihr es euch nicht verkneifen können, die anderen Menschen mitzuschleppen“, rief Onriel mit seiner tiefen drohenden Stimme. Die Silenen in seiner nächsten Nähe blickten ihn strafen und herausfordernd aus ihren beschwörenden Augen an. Doch die Duneyrs hatten bereits entschlossen – heute sollten für sie keine Menschen geopfert werden. Die Geister der Hirsche waren von Natur aus wesentlich friedfertiger als ihre Verbündeten. Mit gemessenen Schritten traten zwei Duneyr vor und deren Reiter waren gezwungen, ihre Opfer auf den Boden zu lassen. Cethis erkannte im Schimmern der Fackeln Brimon, der auf einem Bein hüpfte, um sein verletztes Gelenk nicht zu belasten und sich an Heniah festhielt. Der Widersacher der Prinzessin war offensichtlich überhaupt nicht mit der Idee einverstanden, von ihr abzulassen und sehr zornig darüber, gehorchen zu müssen. Mit einer unwirschen Geste stieß er sie vom hohen Rücken seines Reittiers. Cethis entfuhr ein überraschter Aufschrei als sie kopfüber zu Boden plumpste, sie rappelte sich halbblind vor Angst und Wut auf und stolperte davon. Heniah sprang zu ihr und fing sie auf. Entsetzt blickten die drei zu den Reitern auf. Kreaturen, die direkt aus Albträumen entsprungen waren, doch hier waren sie entsetzlich wahrhaftig und hatten ihre Boshaftigkeit gegenüber den Menschen unverblümt zur Schau getragen. Die Hufen der Duneyr trommelten über den sandigen Boden, feine Sandkörner peitschten in die Gesichter der Menschen, Heniah beugte sich über ihre beiden neuen Schützlinge. Sollten sie doch endlich verschwinden, diese absurden Geschöpfe! Die Nacht gehörte ihnen. Onriel und seine Leute warteten schweigend ab, bis diese wilde Horde endlich über die Hügel ihres Landes in Ravan verschwand. Abgesehen von ihre unberechenbare Boshaftigkeit, boten die Silenen auf ihren Reittieren ein atemberaubendes Schauspiel. Cethis blickte über Heniahs Schulter der riesigen Horde nach. Waren das die wahrhaftigen Herren über Ravan? Wie konnten die Menschen im Wald überleben? Es musste Mittel und Wege geben, sich von diesen Bestien nicht nur fernzuhalten, sondern von ihnen respektiert zu werden. In ihrem Rücken erklang die Stimme von Onriel: „Wer hätte gedacht, dass ich in dieser Nacht die Kinder von Loris kennenlerne! Lasst mich eure Gesichter sehen!“ Die beiden lösten sich etwas aus den Armen von Heniah und drehten sich zu ihm. Onriels grobe Hand umfasste Heniahs Kinn und musterte forschend ihr Antlitz. „Du hast die Augen deiner Mutter! Möge die Wölfin in Frieden ruhen.“ Heniah runzelte überrascht die Stirn, sie fragte sich, wie diese Leute in dem abgelegenen Gebiet des Waldes davon wissen konnten, dass die Königin gefallen war? Die junge Frau erhob sich langsam und umfasste die Hände der Kinder. „Wir müssen auf dem schnellsten Wege wieder nach Haguz Bri-las zurückkehren. Die Bestattung von Loris findet morgen statt und es ist normal, dass die Prinzen anwesend sind.“ Onriel schüttelte abschätzig den Kopf. „Mein gutes Kind, was auch immer für euch in Haguz Bri-las normal sein mag, kommt in Ravan nicht zum Tragen. Und schon mal gar nicht im Land der Rodorrë …“ „Aber Loris stammt aus eurem Clan? Wo ist ihre Familie? Ich will sie sehen?“, unterbrach Heniah ihren Gegenüber, biss sich aber heimlich auf die Zunge, als sie seinen wutentbrannten Blick erwidern musste. Offensichtlich hatte sie hier nichts zu sagen, wahrscheinlich war sie nicht mehr als eine Gefangene, der es nicht erlaubt war, unaufgefordert zu sprechen. Onriel bemühte sich, seinen Zorn zu bändigen und trat ein paar Schritte näher.

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„Und wie gedenkt ihr den Wald in dieser Nacht zu durchqueren? Selbst wenn es Loris Kinder sind und du sie beschützen sollst, sind es nicht mehr als Anwohner von Haguz Bri-las. Meine Reiter sind mir zu wertvoll. Und selbst wenn ich euch Pferde und meine Männer zur Verfügung stellen würde, damit ihr heil in eure verdammten Mauren zurückkehren könnt, wäre die Reise zu lang. Kein Pferd vermag es mit einem Dunyr aufnehmen. Es mag dir aufgefallen sein, dass die Reittiere der Silenen keine gewöhnlichen Hirsche sind, nicht wahr?“ Heniah sah sich gezwungen, gehorsam zu nicken und sich so zu verhalten, als würde sie kein Wort mehr sprechen. „Gut, wenn du so schnell lernst, wirst du auch rasch begreifen, dass dein Leben und das deiner Schützlinge hier einzig von meinem Wohlwollen abhängt.“ Cethis warf ihrem Bruder einen vielsagenden Blick zu. Das Herz des Mädchens trommelte noch immer vor Aufregung, aber sie spürte ihre Schmerzen nicht mehr. Tief in ihr wuchs eine riesige Wut, deren sie sich bedienen wollte, sobald es eine Möglichkeit dazu gäbe. Sie mussten von diesem Ort verschwinden. Die Menschen waren ihr nicht gut geneigt und sie machte sich Sorgen um ihren Bruder mit seinem verletzen Fußgelenk. Ihr war klar, dass er nicht mit ihr davonlaufen konnte, und dass er es mit der Angst zu tun bekam, sobald er sich abermals auf den Rücken eines Reittiers begeben sollte. Vorläufig beschloss sie, sich ruhig zu verhalten und keinen der Anwesenden aus dem Auge zu lassen. Onriel befahl zwei seiner Männer seine Gefangenen in eine der Hütten zu begleiten. Schweigend waren die drei gezwungen, zu gehorchen. Heniah wurde von einer panischen Angst ergriffen, wie sie dergleichen noch nie zuvor in ihrem Leben gespürt hatte. Sie gab sich Mühe, tief durchzuatmen, um sich nichts anmerken zu lassen, doch merkte, dass es beinahe zwecklos war, sich gegen das aufkommende Grausen in ihrem Bauch zu wehren. Es war das beklemmende Wissen, in wenigen Momenten diesen fremden Männern völlig ausgeliefert sein zu müssen. Jeder ihrer Herzschläge schien sich zu verstärken und drückte ihr maßlose Übelkeit in den Magen. Sie musste sich zusammennehmen, um den Kindern nicht ihre Angst mitzuteilen, sie wollte wenigstens versuchen, die beiden zu beschützen, doch sie ahnte, dass sie in erster Linie um ihr eigenes Wohl fürchten musste. Die junge Frau verabscheute die funkelnden Blicke der Männer, wie die beiden einander kurz verstehend anblickten und ihre Gefangenen zu einer abgelegenen Hütte führten, welche offensichtlich unbewohnt war. Mit jedem Schritt wurde ihr unbehaglicher zu Mute. Die Stimmen der Horde in ihrem Rücken entfernten sich und der Schein der zwei Fackeln erhellte nur spärlich die Umgebung. Unwillkürlich verlangsamte Heniah ihren Gang und wollte sich zu dem versammelten Clan wenden, wurde allerding unwirsch von ihrem Bewacher vorwärts geschubst. Der andere löste ihre Hände von Kindern und umklammerte beängstigend fest ihre Handgelenke. Ohne zu Zögern oder seinen zielstrebigen Marsch zu verlangsamen, begann er einen rauen Strick um ihre Gelenke zu winden, so dass sie gezwungen war, ihre Arme im Rücken zu halten. Ehe sie sich versahen, waren sie an der finsteren Hütte angekommen, die Tür wurde aufgestoßen, der zweite Krieger schob die Kinder derb vor sich her und nahm seinen Kumpanen die Fackel ab, um sie in einen Halter am Holzpfahl in der Mitte der Hütte zu stecken. Cethis Augen waren weit aufgerissen, sie atmete schnell, denn sie hatte begriffen, welche Boshaftigkeit in diesen Männern wohnte. Sie blickte ihren Bruder erneut an und deutete kaum merkbar ein Kopfnicken an. Allerhand Gerümpel und Kram war in diesem Raum vergessen worden. Es roch nach alten Staub und feuchten Stoff. Das Mädchen zuckte zusammen als der andere Mann mit aller Selbstverständlichkeit Heniah zu Boden stieß. Die junge Frau schrie erbost auf, doch ihr Widersacher war bereits über ihr und schob ihr sofort ein dreckiges Stück Tuch in den Mund, um ihre Schreie zu ersticken. Das lüsterne Lachen der beiden Männer erfüllte Cethis mit rasender Wut, welche sie in solcher Intensivität noch nie zuvor verspürt hatte, und sie wusste, dass sie dieser unerwarteten Kraft Platz schaffen musste und zwar ohne zu Zögern. Die riesigen Hände des Mannes hatten bereits den Rock Heniahs hochgeschoben, ihre strampelnden Beine entblößt, sie versetzte ihm kräftige Fußtritte, hatte ihm offensichtlich

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wehgetan, was ihn nur noch mehr erregte. Mit einem wohlgezielten Schlag seines Handrückens in ihr Gesicht ließ er die junge Frau benommen zurück auf den Boden fallen, damit er mit dem fortfahren konnte, was er angefangen hatte. Sein Kamerad gab merkwürdige Geräusche von sich, offensichtlich gefiel ihm das abscheuliche Spektakel und er ahmte dem Kerl nach, in dem er ungeduldig anfing, seinen Gürtel zu lösen. Mit einem raschen Blick erfasste Cethis die Situation, beide Männer waren in diesem Moment erregt. Der über Heniah umfasste sein glänzendes Glied mit einer Hand und wühlte unter ihren Röcken herum, Heniah wehrte sich schwach, sie hatte nicht völlig ihr Bewusstsein verloren. Cethis erblickte den Schaft eines langen Dolches am Gürtel des anderen Mannes, sprang mit der Geschwindigkeit einer kleinen Raubkatze vor und griff nach dem Handgriff der Waffe. Glücklicherweise brauchte sie dieselbe nur aus ihrem Schaft zu ziehen und stieß ohne zu Zögern mit aller Kraft in die ungeschützte Seite des Mannes. Obgleich alles in rasender Geschwindigkeit ablief, nahm Cethis jedes Detail mit erschreckender Deutlichkeit wahr. Sie spürte in ihren Händen den kurzen Widerstand der Klinge, bevor sie geschmeidig durch die Haut ihres Gegners glitt, direkt unter die Rippen. Die Waffe ward wie aufgesogen vom Inneren des Mannes, was das Mädchen instinktiv dazu veranlasste, dieselbe sofort wieder rauszuziehen, um ihrer mächtig zu bleiben. Der Kerl schrie überrascht auf, seine Stimme klang fern und fremd, die warme Flüssigkeit, die mit der Klinge aus seinem Körper über Cethis Hände rann, erschien viel wirklicher. Der Kerl krümmte sich zusammen, als wollte er sich verzweifelt vor der verhängnisvollen Verletzung schützen. Cethis sah wie Bridon unerwartet aufsprang, nach einem Fetzen Stoff auf dem Boden griff und denselben mit überraschender Raschheit in den offenen Rachen des Mannes schob. Noch eher der sich versah, von seiner frischen Wunde kaum ablassen konnte, war sein Hals dank seines niedrigen Oberkörpers Cethis Klinge nah genug, dass sie mit beiden Händen abermals zustechen konnte. Der andere Unhold rappelte sich fluchend über Heniah auf, doch seine runtergelassenen Hosenbeine behinderten ihn. Cethis nutze diese winzige Gelegenheit, um mit aller nur erdenklichen Wucht mit dem Dolch voran gegen den Mann zu rennen und ihn direkt unter dem Bauch über seinen nackten Lenden zu treffen. Brimon sprang seiner Schwester zu Hilfe, griff mit beiden Händen in die Haare des Mannes und zerrte mit verbissener Kraft an seinem Kopf. Der Mann vermochte kaum aufzuschreien, da schob Cethis die Klinge des Dolches tief in seine Kehle, wo sie sich mit einem fürchterlichen Knacken zwischen zwei Knochen verklemmte. Das Mädchen war gezwungen, loszulassen und beiseite zu springen, um nicht vom Gewicht des stürzenden Mannes mitgerissen zu werden. Das Blut ihrer Feinde floss in Strömen, sein bitterer Gestank erfüllte die Sinne der Kinder. Mit weitaufgerissenen Augen starrten sie einander kurz an und beobachteten, wie die schwerverletzten Körper der röchelnden Kerle in letzten Zuckungen verendeten. Heniah hatte sich aufgerappelt und bemühte sich zu begreifen, was vor sich ging. Cethis blickte in ihre Richtung, ihr Atem raste und ihr Herz trommelte. „Du gehörst uns! Nicht diesen Männern!“, knurrte die Prinzessin mit heiserer Stimme. Die junge Frau richtete sich auf und kam schwankend auf die Beine. Brimon wurde einem weiteren Messer am Gürtel von Heniahs Widersacher fündig und zog es aus seinem Schaft. Ohne zu Zögern machte er sich daran zu schaffen, die Fesseln seiner Begleiterin zu durchschneiden. „Die Klingen sind sehr scharf“, stellte er tonlos fest. Cethis drehte sich zum Kerl um, den sie als zweites getötet hatte und in dessen Kehle ihre erste Waffe steckte. Ohne zu überlegen umfasste sie entschlossen mit beiden Händen den Griff der Waffe und zog mit aller Kraft daran. Aus ihren Handgelenken heraus drehte und wandte sie die Waffe nahezu unmerklich, bis sie spürte, wie das blutige Gefängnis der klaffenden Wunde nachließ. Cethis beobachtete ihre blutverschmierten Hände, dunkelrot und beunruhigend. Heniah war außer Stande, auch nur ein Wort zu sagen. Wortlos rafften die drei sich auf und öffneten behutsam die Tür. Ein Blick in die Finsternis ließ sie hoffen, dass niemand gehört hatte, was sich hier zugetragen hatte. Die fackelnden Lichter der Gemeinschaft waren weit entfernt und in ihrem Lager schien Ruhe eingekehrt zu sein. Cethis und Heniah unterstützten Brimon während

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ihrer Flucht zurück in den düsteren Wald. Es blieb ihnen wohl keine andere Wahl. Entweder mussten sie es mit anderen Waldgeistern aufnehmen oder sich den mordlüsternen Menschen stellen. Brimon gab keinen Ton von sich und schleppte sich tapfer Schritt für Schritt vorwärts. Er hatte seiner Schwester beigestanden, ihre ersten Feinde zu töten und er war stolz darüber. Hinter dem regelmäßigen Atmen der Kinder verbargen sich die wilden Erinnerungen all der abscheulichen Details vom fließenden Blut und dem überraschten Gurgeln der Erlegten. Cethis hielt noch immer ihren blutigen Dolch in der rechten Hand umklammert. Die lange Klinge wirkten beinahe wie ein richtiges Schwert im Verhältnis zum Körper seiner Schwester. Er hatte sein Messer behutsam hinter den Gürtel an seiner Seite geschoben. Jeder musste sich vor diesen Klingen in Acht nehmen, denn ihr Metall war von einer einzigartigen Beschaffenheit, was niemand verborgen bleiben konnte.

Schritt für Schritt entfernten die drei sich von der Siedlung, in der stillen Hoffnung diesem verfluchten Ort entkommen zu können. Sie tauchten tiefer in Ravan und hatten nicht die geringste Vorstellung, in welche Richtung sie sich zu wenden hatten. Keiner sprach ein Wort, die Geräusche ihrer Schritte und ihrer Atmung vermischten sich mit den Lauten des nächtlichen Waldes. Angst und Schrecken des Erlebten verliehen ihnen die nötige Kraft, weiterzugehen. Sie mussten diese Nacht überleben und die Dunkelheit überstehen, alles andere war vorläufig zweitrangig. Bis sich irgendwann ein diffuser Schimmer zwischen den Bäumen und Büschen ausbreitete. Heniah legte den Kopf zurück, um ein Stück des Himmels zwischen den Baumkronen erspähen zu können. Die Morgendämmerung würde sich bald einstellen. Vielleicht würde es ein sonniger Tag werden und die Feuchtigkeit der Nacht zwischen den ruhenden Bäumen sollte von der Sonne vertrieben werden. Sie führte jeden Schritt wie in einem wachen Traum aus und ahnte, dass sie sich nicht mehr aufraffen könnte, wenn sie sich erst einmal hinsetze. Brimon an ihrer Seite humpelte tapfer weiter und gab keinen Ton von sich. Cethis hielt sich tapfer. Immer wieder erklangen die Worte des Mädchens in Heniahs Kopf: sie gehöre nicht diesen Männern, sie gehöre den Kindern! War es diese Tatsache, dass sie glimpflich davongekommen war? Handelte es sich wirklich um Kinder einer Wölfin, wie man Loris in aller Munde bezeichnete? Woher sonst bezogen diese Kinder ihre Kraft und ihren Willen? Während ihres unablässigen Gedankenstroms spitzten sich stets ihre Ohren, in der Angst, das Trommeln galoppierender Pferdehufe zu vernehmen. Die junge Frau zweifelte daran, ihren Feinden wirklich entkommen zu können, doch es blieb ihr keine andere Wahl, als so viel Distanz wie möglich zwischen sich und ihren Widersachern zu bringen. Der Himmel über den Waldkronen erhellte sich zunehmend und die ersten Sonnenstrahlen brachen vom fernen Horizont aus durch die abwartenden Äste. Brimon war der erste, der seine Schritte verlangsamte, stehenblieb und sicg endlich dort wo er war auf den von braunen Blättern übersäten Boden setzte. Cethis ging nur wenige Schritte weiter, bevor auch sie erschöpft stehenblieb und sich zu ihrem Bruder und Heniah umdrehte. Ihr Atem ging schnell und tief, kalter Schweiß haftete an ihrem Körper und die Haut über ihren schmutzigen Händen spannte und rieb sich um den Griff der Waffe wund. Ihre Muskeln zitterten und bebten. Es war ihr unmöglich, die Klinge loszulassen, denn sie ahnte, dass sie nicht über die Kraft verfügte, sie wiederaufzunehmen. Ihr rechter Arm hing kraftlos an der Seite ihres Körpers und die Spitze des langen Dolches berührte fast den Boden. Die drei waren an die Grenze ihrer Kräfte gelangt, Hunger und Durst quälten sie bereits seit Stunden und nun waren sie am Ende im dichten Nirgendwo von Ravan angekommen. Heniah rang nach Luft und blickte sich um. Erhaben und abwartend breitete die Natur sich um sie herum aus und gab ihr mit jedem Atemzug zu verstehen, dass die Menschen verlernt hatten, in der Wildnis zu überleben. Weit und breit war kein Weg zu sehen und um sie herum nichts anderes als ein herbstlicher Wald, der sich auf einen neuen Tag vorbereitete. Zwischen diesen Bäumen wuchsen keine Pilze, der Boden eignete sich dazu nicht und sie sah keine Gewächse mit nahrhaften Beeren. Ihre Kleider waren zerrissen und durchnässt, bald würden sie erbärmlich frieren, wenn sie nicht weitergingen und einfach unbeweglich ausharrten. Die Kinder sprachen kein Wort. Die drei brauchten einander nur

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anzublicken, um sich zu verstehen. Von dieser blutigen Nacht an waren sie enger vereint wie Familienangehörige. Cethis versuchte, sich an ihre Mutter zu erinnern. Sie hatten ihre ersten Lebensjahre in diesem Umfeld verbracht und mit den Menschen zusammengelebt, die ihnen heute Leid zufügen wollten. Der Duft des Waldes war ihr bekannt, hier hatte sie ihre ersten Schritte getan und die ersten Jahreszeiten ihres Lebens erlebt. Wie war es heute zu erklären, dass niemand sie und ihren Bruder willkommen hieß? Die Feindseligkeit war alles was die Menschen wirklich beschäftigte. Innerhalb der Mauern von Haguz Bri-las waren sie Fremde, die man am liebsten beseitigen wollte, und in Ravan wurden sie wie Verräter behandelt. Cethis verstand sehr gut die bösartigen Blicke der Menschen, die sich nur um sie gekümmert hatten, weil ihnen der Befehl gegeben worden war. Jetzt blickte sie zu Heniah, diese junge Frau, die sie gestern noch nicht gekannt hatte. Sie verfügte über keine mächtige Familie, doch sie hatte sich mutig allein auf den Weg gemacht, um sie zu holen. Vielleicht war sie der einzige Mensch, der um ihr Wohlergehen besorgt war. Schließlich entschied sich das Mädchen, sich dort wo sie war hinzusetzen. Sie zog ihre Beine dicht an ihren Oberkörper und legte behutsam ihre Waffe neben sich. Ihre Hand löste sich langsam vom Griff, ihre Finger waren betäubt von der Kälte und der ungewohnten Haltung. Cethis blickte zu den Baumkronen auf und sah, wie ein großer Rabe mit gemächlichen Flügelschlägen auf einem Ast zu Sitzen kam. Heniah folgte dem Blick des Mädchens und erschauerte beim Anblick des finsteren Vogels. „Ein solches Tier bringt Unglück …“, hauchte sie mit rauer Stimme, doch die Prinzessin schüttelte langsam den Kopf. „Nein, er beobachtet uns. Er ist hier zu Hause!“ Plötzlich drehte der Vogel seinen Kopf in eine andere Richtung, als habe etwas seine Aufmerksamkeit erregt. Er schüttelte kurz seine Federn auf, reckte seinen Hals nach vorn und stieß ein paar warnende Schreie aus. Noch bevor er seine Flügel ausbreitete, um davon zu fliegen, vernahmen Heniah und die beiden Kinder entferntes Bellen von Hunden. Ihnen wurde sofort klar, dass die Menschen vom Clan der Rodorrë nach ihnen suchten und ihre Fährte mit ihren Spurhunden aufgenommen hatten. Heniah schreckte auf und schob sich und Brimon näher zu Cethis. Zusammengekauert warteten sie ab. Die bellenden Hundestimmen näherten sich und heulten siegessicher auf, als sie bemerkten, dass sie sich den Gejagten näherten. Bald vermochten die drei die dumpfen Hufschläge der Pferde der Rodorrë über den Waldboden zu vernehmen. Ihre Feinde kamen näher und waren bald im Licht der aufgehenden Sonne zwischen den Baumstämmen zu erkennen. Fußvolk rannte mit großen Hunden an langen Leinen der unsichtbaren Fährte nach und rief den Reitern siegessicher zu. Die drei wurden von schwerbewaffneten Krieger um zirkelt, bis sich einer von ihnen mit zwei Reitern zur Begleitung aus der Abteilung trennte und sein Pferd unmittelbar vor ihnen mit harter Hand zu Stehen brachte. Sein Reittier wieherte zornig auf. Cethis zog ihre Augenlider zu zornigen Schlitzen zusammen. Sie erkannte Onriel wieder, die Reiterin an seiner Seite war seine Tochter. Männern wie seinesgleichen schien jede Feinfühligkeit und Respekt gegenüber dem Reittier, welches ihm treu diente, verlorengegangen zu sein. Jetzt war er gekommen, um sie zu holen. Sie war eine Mörderin. Er nahm seinen Helm vom Kopf und blickte Cethis starr in die Augen. „So hast du es also geschafft, mich um meine wohlverdiente Nachtruhe zu bringen. Meine Männer wissen, wie erbarmungslos ich sein kann, wenn ich gereizt bin. Ich brauch dir nur in die Augen zu blicken, um zu begreifen, dass du zwei meiner Leute auf dem Gewissen hast!“ Seine tiefe Stimme grollte drohend durch die Morgenluft. Cethis erhob sich langsam auf ihre wackeligen Beine und presste die Kiefern mutig zusammen, denn sie hoffte dass ihre Knie nicht nachgeben würden. Ein leichter Wind strich zwischen den Bäumen hindurch und spielte mit ihrem dreckigen Haar.

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„Ich habe ihr geholfen!“, erklang Brimons Stimme. Heniah hielt ihn an beiden Schultern fest und wollte ihm zum Schweigen bringe. „Das trifft sich gut, kleiner Prinz. Damit könnt ihr beide für die verlorenen Leben meiner Männer bezahlen.“ „Es ist ihnen nur recht geschehen! Diese Unholde haben sich von zwei kleinen Kindern überwältigen lassen!“, rief Heniah dazwischen und erntete einen vernichtenden Blick von Onriel. „Mach dir keine Sorgen. Wie werden uns nicht zwei Mal überraschen lassen. Und wir werden uns deiner schon annehmen!“ Mit einer herrischen Handbewegung gab er seinen Leuten zu verstehen, die drei festzunehmen und gehörig zu fesseln. Die Hunde bellten und winselten vor Aufregung, als die Männer sich ihrer vermeidlichen Beute annehmen. Cethis spürte die groben Hände der stinkenden Kerle um ihre Arme und blähte ihren Brustkorb auf, als ihr die Stricke fest um den Körper gebunden wurden. Dabei ließ sie Onriel nicht aus den Augen. Sie war zu erschöpft, um Angst zu empfinden. Jeder Atemzug, der sie noch am Leben hielt, war jetzt wichtig, alles andere sollte zweitrangig bleiben. Onriel trieb hart seine Fersen in die Seiten seines Pferdes und ritt seiner Reiterei voran. Verbittert beobachtete Cethis wie ein Mann ihre erste Waffe aufnahm und achtlos an seinem Waffengürtel verstaute.

5. Kapitel – Adrig Die erschöpfte Reiterei folgte dem schmalen Bergweg. Hoch über ihren Köpfen prangen die mächtigen Zinnen von Ovon und die Abendsonne ließ deren ewiges Eis in gütigem Glutrot ruhen. Die bewahrende Kälte der Gletscher breitete sich das ganze Jahr über in den Tälern aus und die Anwohner dieses Landes hatten es gelernt, die dem Süden ausgerichteten Bergseiten zu nutzen. Adrig kannte diese Wege von Kindesbeinen an, hier war er aufgewachsen und er wusste, dass die Feste Valroux nicht mehr weit war. Es gehörte zur Erziehung der jungen Männer der Unih dazu, in frühen Jahren hinauf zu den Gletschern zu steigen, um das Land kennenzulernen. Von den Zinnen aus konnte jeder die Mächtigkeit von Ovon erkennen und bei schönem Wetter die Ebene von Obion am Horizont sehen. Der junge Ritter musste innerlich lächeln während ihm seine Erinnerungen an seine Kindheit erwärmten, in dieser unbeschwerten Zeit, in der er die Namen alter Gottheiten gelernt hatte. Die drei mächtigsten Gletscher zum Beispiel: Grimmynsar, der größte und seine Brüder Rilbanfil und Durlundin. Er hatte sie alle drei mit seinen Gefährten besucht, bevor sie gemeinsam den mühsamen Aufstieg auf die Dächer des Gebirges begonnen hatten. Diese Zeit gehörte einem anderen Leben an. Jetzt fühlte er sich wie ein alter Veteran, der aus einem Krieg zurückkam und sich noch nicht darüber freuen konnte, zu den Überlebenden zu gehören.

Sein Pferd folgte dicht seinem Vordermann und die gesamte Armee schlängelte sich in einer endlos erscheinenden Schlange gen Valroux. Zu seiner linken Seite brach steil der Berg ab, hin und wieder bröckelten ein paar Steine vom Weg ab und polterten in die gähnende Tiefe. Der junge Mann blickte über seine Schulter und konnte die Reihe berittener Krieger weit hinter sich beobachten. Valroux war noch nie eingenommen worden, weil es einfach unmöglich war, eine nennenswerte Armee in breiter Masse anreiten zu lassen. Jedes Pferd und jeder Soldat zu Fuß musste dem Vordermann Platz lassen, um selbst voranzukommen. Adrig verspürte am gesamten Körper Schmerzen, die Haut unter

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seinen abgenutzten Kleidern erduldete bereits zu lange den schweren Harnisch. Er zwang sich, an etwas Anderes zu denken und richtete sich im Sattel auf. Das Pferd unter ihm ging treuen Schrittes seinem zu Hause entgegen und beklagte sich nie. Also sollte er sich ein Beispiel an diesem Tier nehmen und Vertrauen fassen. Der Krieg war zu Ende und er durfte heimreiten. Die Niederlage gegen Toren konnte keine Freude mit sich bringen, doch Adrig spürte, dass das nicht der einzige Grund war, warum er so betrübt war. Eigentlich hatte er allen Grund, heimlich freudig zu sein, denn in kurzer Zeit würde er seine Geliebte und Verlobte Nemda wieder in die Arme schließen können. Der Krieg gegen Toren hatte ihn gezwungen, die Hochzeit aufzuschieben. Er machte sich Sorgen um seine junge Frau. Eine gewisse Vorahnung von etwas unglaublich Traurigen belastete sein Herz. Nemda war eine der schönsten Frauen, die ihm je unter die Augen getreten war. Sie hatte sich solange wie möglich geweigert, als Hofdame zu dienen. Die Erziehung ihres Elternhauses und ihre Schönheit hatten ihr diese Türen geöffnet. Doch Nemda hatte es stets vorgezogen, bei ihren Eltern zu leben, denn ihre kranke Mutter brauchte ihre Hilfe. Sie war die einzige Tochter im bescheidenen Haus ihrer Familie und sehr darauf bedacht, den Stolz ihres Vaters zu ehren. Nemdas Vater war ein begabter Schreiner, dessen hochwertige Holzarbeiten von den reichen Familien in Valroux geschätzt wurden. Dank seiner Verdienste hatte er Nemda Unterricht zum Lesen und Schreiben bezahlen können. Adrig erinnerte sich an die langen Geschichten, welche sie ihm aus dicken Büchern vorgelesen hatte. Bevor er sie kennengelernt hatte, war ihm die Schönheit des Lesens nie bewusstgeworden. Er war der älteste von fünf Brüdern, welche im selbstverständlichen Luxus hochwertiger Ausbildung für zukünftige Ritter aufgewachsen war. Adrigs Begabung zur Handhabung der Schwerter und Dolche hatte bald seine Anerkennung am Hofe mit sich gebracht. Kaum hatte er seinen Dienst als Knappen für einen hochangesehenen Ritter absolviert, war er selbst in die königliche Garde eingewiesen wollen. Seine Beharrlichkeit und Ausdauer hatten aus ihm einen großen Mann werden lassen, dessen ausgeprägten Schultern und flinken Arme die Herzen aller Hofdamen höherschlagen ließen. Doch Adrig lebte als Vorbild für seine jüngeren Brüder. Seine Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit machte sich bezahlt, indem er mit achtzehn Jahren vom König Mana Kael zum Ritter geschlagen wurde. An diesem Tag war ihm klargeworden, dass sein Leben ihm nicht mehr gehörte. Er liebte den weisen König, der es verstand, den Frieden zwischen den reichen Familien an seinem Hof zu erhalten, damit die einflussreichen Männer wie Brüder ihren Anteil zum Königreich beitrugen. Mana Kael unterhielt sich gerne mit den Untertanen in seiner Nähe und stellte ihnen Fragen, auf die er eine ehrliche Antwort erwartete. Heute gehörte Adrig zu den Überlebenden und er würde seine Geliebte wiedersehen, doch seinem König hatte er in diesem Krieg nicht ausreichend beistehen können. Gedankenverloren ließ er seine linke Hand auf dem Hals seines treuen Schimmels ruhen und spürte die beruhigende Wärme des Tieres durch das strapazierte Leder seines Handschuhs. An einem sonnigen Tag war er ihr begegnet – Nemda, in einem einfachen hellblauen Kleid und ihrem blonden langen Haar, welches sich wie flüssiges Gold bis zu ihren zarten Hüften ergoss. Sie wartete mit anderen Schönheiten darauf, bei der obersten Hofdame vorsprechen zu dürfen. Alle anderen jungen Frauen hatten sich herausgeputzt und ihre Haare zu wahrhaftigen Kunstwerken hochgesteckt und mit kostbaren Schmuck versehen, um ihren Sinn für raffinierten Geschmack für Schönheit zu beweisen. Der Zufall hatte es gewollt, dass Adrig an diesem Tag mit anderen Männern diesen Saal zu durchqueren hatte, um in den Königssaal zu gelangen. Kaum hatte er Nemdas schmalen Rücken erblickt, musste er seinen zielstrebigen Schritt verlangsamen, um sie zu bewundern. Die junge Frau hatte wohl seine eindringlichen Blicke gespürt und sich zu ihm umgedreht. Als ihre Augen die seinen trafen, glaubte er sein Herz müsse stehen bleiben. Er war gezwungen gewesen, nach Luft zu ringen, den Nemdas liebliches Gesicht war das Schönste, was ihm je begegnet war. Ihr Blick war rein und frei von jeder Falschheit. Er liebte sie vom ersten Augenblick an und als sie seinen eindringlichen Blick mit einer zarten, fragenden Kopfbewegung erwiderte, war ihm klar, dass er lieber für sie sterben würde, um jedes Leid von ihr abzuwenden. Seine Kameraden hatten damals nach ihm gerufen, weil er einfach stehen geblieben war. Den anderen Rittern war

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sofort klargeworden, dass es um das Herz ihres aufrichtigen Kameraden geschehen war. Das vielsagende Lachen der anderen Männer hatte ihn gekränkt, denn seine Gefühle für diese junge Frau, die seinen Schutz brauchte, waren rein. Adrig hatte von Anfang an gewusst, dass er Nemda heiraten würde und ihm war es gleichgültig, dass ihr Vater seinem Stande als Ritter aus einer wohlhabenden Familie keine gebührende Hochzeit bezahlen konnte. Adrigs Vater war enttäuscht gewesen, denn er hatte sich für seinen ersten Sohn eine wertvollere Heirat gewünscht, und nicht nur eine angehende Hofdame. Doch die Tugend und Schönheit Nemdas beschwichtigte auch das Familienoberhaupt aus Adrigs Familie. Seine Brüder waren eifersüchtig auf seine schöne Verlobte, welche auch seine eigene Tugend unterstrich. Nemda hätte nie einem anderen Mann wie Adrig auch nur einen Blick gewürdigt, dazu war ihr Herz viel zu tugendsam. Der junge Ritter erinnerte sich an einem Abend, während einem kostbaren Gelage am Hof des Königs ward Nemda eingeladen worden, um ein Lied zu singen. Er erinnerte sich, wie beim Klang ihrer wunderbaren Stimme seine Sinne sich regelrecht wie flüssiger Honig verlaufen hatten. Sein Blut war zur glühender Lava geworden. Die Nacht, welche diesem Abend folgte, war ein verhängnisvoller Moment gewesen, denn er hatte mit Nemda sein Gelübde gebrochen, die körperliche Liebe mit ihr bis nach der Hochzeit aufzuheben. Er hatte sie verführt und geliebt und jeden Atemzug dieser Nacht hatten ihm in den düsteren Momenten des überstandenen Krieges Mut und Zuversicht gegeben. Er hatte nie daran gezweifelt, diese bestialischen Kämpfe zu überleben, denn er war es seiner geliebten Frau schuldig. Sie brauchte seinen Schutz und seine Unterstützung. Jeden Feind, den er mit seiner Klinge erlegt hatte, hatte er für Nemda getötet und allein für sie überlebt. Mit einem herzzerreißenden Seufzen rückte er sich im Sattel zurecht, das harte Leder war ihm seid langen so unbequem geworden, dass jeder Pferdeschritt eine Tortur für seinen Hintern war. Noch eine Windung des schmalen Weges und die hohen Stadtmauern von Valroux kamen zum Vorschein. Jedes Mal wenn Adrig diesen ergreifenden Anblick schätzen konnte, überlief ein Schauer seine Haut. Die hellen Mauern der Stadt schienen mit dem rauen Steinen der uralten Berge ringsumher verwachsen zu sein. Von den hohen Zinnen wurden erhabene Hörner geblasen als die Armee von Mana Kael gesichtet wurde. Alle Männer hoben ihre Köpfe und blickten zu ihrer geliebten Stadt hinauf. Die hellen Mauern waren ins goldene Licht der untergehenden Sonne getaucht und schienen in stiller Erhabenheit der Schönheit der fernen Gletscher gerecht werden zu wollen. Trotz der Niederlage gegen Toren waren die Fahnen der Familien gehisst worden, um die Heimkehrenden willkommen zu heißen. Das rhythmische Klappern der unzähligen Pferdehufen auf dem steinigen Weg vermischte sich mit den von den Bergwänden wiederhallenden Hornklängen, deren Echos sich melodisch in die alten Melodien mengten. Unwillkürlich füllten sich Adrigs dunkle Augen mit Tränen. Er kniff seine Augenlider zusammen und atmete tief durch, sein Gesicht war hinter seinem Helm verborgen, doch er durfte sich nicht von seinen erschöpften Gefühlen überwältigen lassen. Valroux erschien so schön und hell im Vergleich zu den finsteren Horden Torens! Die Armee der Unih hatte wohl zunächst ihre Überhand bewiesen, doch die Krieger aus dem dunklen Wald Ravan waren zäh und unberechenbar geblieben, bis sich die Ordnung in den Reihen der Männer von Mana Kael aufgelöst hatte. Es waren Wochen ins Land gestrichen und die zunehmende Zahl der Verletzten und Toten hatte den Rittern die Zuversicht geraubt. Heute konnten sie von Glück reden, dass Toren sie heimreiten ließ. Der alte Wolf führte wohl noch allerhand im Schilde, um mit seinem besiegten Gegner einen teuren Friedensabschluss zu verhandeln. Doch vorläufig durften die Überlebenden in Valroux einkehren, um ihren Wunden zu heilen. Die hohen Toren waren ihnen geöffnet.

Mana Kael war zwei Tage vor dem Rest seiner Armee in Valroux eingeritten, umgeben von seinen Ärzten und seiner Leibwache. Ripek wich ihm nicht von der Seite. Er war genauso alt wie der König

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der Unih und stand ihm seit Jahrzehnten bei. Niemand kannte die Familien und deren Machenschaften so gut wie der verschwiegene Ripek. Hochgewachsen und von zäher Verfassung wirkte er stark neben Mana Kael, dessen Gesundheit sich in den vergangenen Monaten zunehmend verschlechtert hatte. Der König wirkte alt und abgekämpft, er hatte seinen Stock neben die Balustrade gelehnt und stützte sich schwer auf dem polierten Stein ab. Die Luft war erfüllt vom Klang der sagenhaften Hörner und die ersten Ritter trafen mit ihren Knappen im Waffenhof des Königs an. Mana Kaels wellende Haarmähne hatte sich in den letzten Jahren sichtbar gelichtet. Ripek erinnerte sich, dass die Gesundheit seines Herrschers seit dem Tod seiner Frau abgenommen hatte. Eine langsame Krankheit, dessen Ursprung niemand zu kennen schien. Ilsa, die Königin war in einer Neumondnacht an einem hohen Fieber gestorben. Dieses Unglück lag nun sieben Jahre zurück. Mana Kaels Gemahlin hatte ihm nur einen Sohn geschenkt und der König hatte sich stets geweigert, eine Tochter aus den Reihen der Familien des Hofrates zu heiraten, denn eine solche Hochzeit hätte die königliche Linie unterbrochen und dem wohlhabenden Volk noch mehr Macht versprochen, als es ohnehin schon hatte. „Eure Majestät, die ersten Ritter sind heil zurückgekommen,“, sprach Ripek tonlos. „Meine Augen haben ihre Dienste noch nicht aufgegeben. Wer gehört zu ihnen?“, grollte Mana Kael und versuchte im Schein der Fackeln die Wappen auf den Schilden zu erkennen. „Ich erkenne Adrig aus der Familie von Belen. Sein Knappe ist zu seiner Seite“, gab Ripek Antwort, denn er wusste, wie wichtig dem König dieser junge Ritter war. „Adrig …“ Mana Kaels Stimme war nur ein Räuspern. Gebeugt vor Kummer rang er nach Luft und ließ mit einem bedeutungsschweren Husten seinen Hals freirascheln. „Schickt nach ihm! Ich muss mich mit ihm unterhalten.“ „Majestät, die Männer sind erschöpft. Ebenso wie Euch etwas Ruhe guttun würde, können die Geschäfte und Pflichten warten. Toren wird sich schon nicht morgen vor euren Pforten sehenlassen, um Euch seine Friedensbedingungen zu unterbreiten“, bemühte Ripek sich, den Monarchen zur Vernunft zu bringen. „Schickt nach Ritter Adrig! Sein Knappe kann sich anderen Tätigkeiten widmen! Ich habe nur Adrig meine Befehle zu erteilen!“ Mana Kael brüllte plötzlich mit unvermuteter Kraft, musste sich gleich darauf allerdings an der Balustrade festhalten, um sein Gleichgewicht zu behalten. Ripek verbeugte sich rasch und steif und entfernte sich eiligen Schrittes. Mana Kael wartete ab, der Saal war mit wenigen Fackeln erhellt und die Finsternis hatte sich zwischen den Bergen ausgebreitet. Als sein treuer Berater wieder zu ihm kam, hatte sich die aufgeregte Atmung des Königs wieder beruhigt. „Die Männer holen ihn, Majestät. Seid unbesorgt!“ Die beiden Männer blickten einander verstehend an, denn sie wussten, dass solche Worte in Zeiten wie diesen sinnlos waren. „Mein guter Ripek! Ihr wisst wie wichtig meine Entscheidung ist.“ Der Angesprochene nickte nur bestätigend und senkte betroffen den Blick zu Boden. „Schlimm genug, dass wir den Krieg gegen Toren verloren haben. Wenn ihr Euer Vorhaben in die Tat umsetzt, geht in dieser Nacht eine Welt für uns unter“, murmelte Ripek. „Im Gegenteil! Die Dynastie wird weiterleben!“ Mana Kael ergriff seinen Stock und stützte sich schwer darauf ab, um mit wankenden Schritten zu seinem Berater zu treten. Er griff fest in den Stoff seines Ärmels und suchte daran Halt. „Und jetzt mögt Ihr mich bitte zum Sessel begleiten, der mit als Thron dienen soll, damit ich nicht allzu erbärmlich vor dem tapferen Kriegshelden erscheine.“

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„Eure Majestät! Wie könnte ein treu ergebender Ritter in seinem Herrscher etwas Anderes sehen, als die Kraft und Liebe zu Eurem Volk?“ Ripek reichte ihm seinen rechten Arm, damit er sich darauf abstützen konnte. „Hoffen wir, dass der gute Adrig daran glauben mag.“

Adrigs Beine protestierten, als er vom Rücken seines Pferdes auf dem gepflasterten Steinboden im königlichen Waffenhof zu Stehen kam. Jeder Bewegung bestrafte ihn mit unglaublichen Schmerzen. Er wagte es kaum, sich den Moment vorzustellen, an dem er endlich seine Rüstung ablegen könnte. Hadel, sein Knappe, war bereits von seinem Pferd abgesessen und kam dem jungen Ritter entgegen, um sein Reittier entgegen zu nehmen. „Ich werde die Pferde den Stalljungen übergeben und Euch beim Abnehmen des Harnischs helfen!“ Adrig war dem guten Hadel für sein ermutigendes Lächeln dankbar. Sie waren endlich angekommen und sein geschundener Körper sehnte sich nach wohlverdienter Ruhe. „Das wird nicht nötig sein, Knappe! Ritter Adrig wird vom König erwartet“, erschallte harsch eine befehlende Stimme eines schwerbewaffneten Mannes. Die beiden jungen Männer erkannten sofort eine Abteilung der königlichen Garde in ihren makellosen Rüstungen, ihre spöttischen Gesichter hinter kunstvollen Helmen verborgen. „Unsere Majestät Mana Kael erwartet Euch, Ritter Adrig. Bitte folgt uns ohne zu Zögern!“, fügte ein anderer Mann der Garde mit einem beschwichtigen Ton hinzu. Adrig hatte diese Leute im allgemeinen Treiben im Waffenhof nicht kommen hören und war völlig überrascht. Mit einer langsamen Geste übergab er die Zügel seines Pferdes an Hadel und nickte einverstanden zu. Sein Knappe verbeugte sich kurz und blickte seinem Herrn fragend in die Augen. Der Junge war von Sorge erfüllt, denn er liebte Adrig und fürchtete mit einem Mal, ihn nie wieder sehen zu können, was ihm das Herz zerriss. Nach alldem was sie Seite an Seite durchgestanden hatten, ward dem guten Kerl nicht einmal die geringste Verschnaufpause gegönnt. Konnte nicht ein anderer Ritter sich um die Befehle des Königs kümmern. Adrig legte ihm gutmeinend die Hand auf die Schulter und gab ihm einem leichten Kopfnicken zu verstehen, die Pferde abzuführen. „Ich stehe im Dienste des Königs. Führt mich zu ihm!“, ließ Adrig mit lauter Stimme vernehmen und wand sich der Garde zu, welche ihm den nötigen Platz ließ, um ihn in ihrer Mitte direkt in die Gemächer von Mana Kael zu begleiten. Im Moment wo sich die Reihen der königlichen Garde um ihn schlossen, wurde ihm so bewusst wie noch nie zuvor, dass die Zuneigung eines Monarchen das größte Gefängnis für einen Mann bedeutete. Er begriff sofort, dass es sich um etwas wirklich Wichtiges handeln musste, als er mit der Garde die herrschaftlichen Flure zu den königlichen Gemächern hin folgte. Seine Unterhaltung mit Mana Kael sollte nicht an einem öffentlichen Ort stattfinden, sondern weitgehend geheim gehalten werden. Hohe Türen wurden ihnen geöffnet und sorgfältig hinter ihnen geschlossen. Die rhythmischen Schritte der Garde vereinte sich mit seinen Schritten und er zwang sich ruhig zu atmen. Er hatte nichts zu befürchten. Der König war ihm gut gesinnt, warum fühlte er sich also wie ein Opfer, welches vor seinen Richter gebracht wurde? Adrig wunderte sich über die spärliche Beleuchtung im Saal des Königs. Mana Kael hielt sich verkrampft aufrecht auf einem hohen Sessel und erwartete ihn. Adrig konnte im Fackeln des Kaminfeuers nicht erkennen, ob sich die Gesundheit des Königs noch weiter verschlechtert hatte, im Vergleich zum letzten Mal als er ihm im Lager nahe von der Ebene von Obion begegnet war. „Adrig! Mein guter Kerl! Den Göttern sei Dank! Sie haben Dich am Leben gelassen!“, rief der Monarch mit seiner markanten Stimme ihm entgegen. Ein Mann, der es gewöhnt war, Befehle zu erteilen und Männern die Stirn zu bieten. Wenn nicht diese geheimnisvolle Krankheit an ihm nagen würde, hätte Mana Kael gewiss noch viele Jahre vor sich. Adrig kam im gemessenen Abstand vor ihm zu Stehen und verbeugte sich so tief wie es ihm in dem Harnisch möglich war.

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„Auf, auf, Männer! Entledigt ihn von seiner Rüstung, damit er sich setzen kann. Serviert ihm ein Mahl, wie es sich für einen solchen Ritter gehört und serviert ihm von meinem Wein!“, ordnete Mana Kael an, woraufhin die Angehörigen seiner Leibgarde sich sofort an den Schnallen und Riemen von Adrigs Harnisch zu schaffen machten. Sie waren es gewöhnt, ohne zu Zögern jeden Befehl ihres Gebieters augenblicklich auszuführen. Der junge Mann hob seine Arme an beiden Seiten zu seinem Körper an, um ihnen diese Aufgabe zu erleichtern. „Ihr seid zu gütig, Eure Majestät! Was bringt mir dir Ehre, von Euch direkt nach meiner Ankunft in Eure Gemächer gerufen zu werden?“, wagte Adrig zu fragen. „Die Jugend ist zu ungeduldig, das wird uns beim Älterwerden klar und deutlich. Stärke dich erst einmal, bevor ich dir sage, was ich dir zu sagen habe. Ich kann mir denken, wie ungeduldig du bist, in das Haus deines Vaters einzukehren. Doch zunächst musst du dem Wohnsitz des Vaters deines Volkes Besuch abstatten. Setzt dich und iss, bevor du mir noch der Länge nach umfällst.“ Diener waren auf leisen Sohlen in den Saal getreten und breiteten Speisen auf dem langen Tisch aus. Scheiben von einem kalten Braten, Brot und Käse, dazu Wein, der melodisch plätscherte, als er in einen Kelch gegossen wurde. Ein anderer Diener gab etwas Wasser dazu und noch ein anderer stellte einen Leuchter mit brennenden Kerzen auf den Tisch. Adrig durfte es sich nicht erlauben zu zögern und gehorchte, sobald ihm das letzte Element seiner Rüstung abgenommen worden war. Außerdem lief ihm beim Geruch der ausgewählten Nahrung augenblicklich das Wasser im Mund zusammen. Mana Kael beugte sich nach vorn und stützte sich auf seinem Stab ab, um den jungen Ritter eingehend zu beobachten. „Ja, vielleicht wäre es nicht zu einer Niederlage gegen Toren gekommen, wenn ich mich in einer besseren Gesundheit erfreuen dürfte, doch das Schicksal hat es nun einmal anders für mich entschlossen. Ich bin der erste Sklave im Dienste meines Volkes, kannst du das verstehen mein Junge?“ Adrig deutete ein höfliches Kopfnicken an und schnitt sich ein Stück von dem zarten Fleisch ab. Als er es in den Mund schob und behutsam kaute, wurde ihm bewusst, mit welch erbärmlicher Ernährung er und seine Waffenbrüder sich in den vergangenen Wochen hatten abfinden müssen. „Ein Krieg ist teuer, dass darfst du nie vergessen. Und das Fleisch, welches dich hier und jetzt zu deinen Kräften zurückfinden lässt, kostet das zehnfache seines normalen Preises.“ Adrig blickte auf und hielt dem forschenden Blick der dunklen Augen des Herrschers einen Moment lang stand. „Trotz allem musste Toren seinen Sieg mit einem hohen Tribut bezahlen, seine Frau ist gefallen. Was für eine absurde Idee, seine Königin mit ins Schlachtfeld rennen zu lassen, sie hat für ihren Hochmut mit ihrem Leben bezahlt und das ist ganz recht so. In wenigen Tagen wird er hier sein, der dunkle Herrscher der Bridônen, Gebieter über Ravan und Haguz Bri-las. Er wird mir seine Bedingungen unterbreiten und ich werde mich mit dem letzten Prinzen einigen müssen. Die Götter stehen mir bei! All das Unheil was seine Vorgänger den habgierigen Familienoberhäuptern aus meinem Hofrat zugesetzt haben, wird wohl noch für Generationen ungerächt bleiben. Im besten Falle wird er zu mir kommen und eine Heirat zwischen meinem einzigen Sohn und seiner Tochter vereinbaren, um sich selbst die Thronnähe in Valroux zu sichern. Was meinst du, Adrig? Wäre das eine gerechte Angelegenheit?“ Der müde König sah in Adrigs Gesicht das Zweifeln. „Du bist zu erschöpft, um dir meine Reden anzuhören. Und ich zwinge dich auch noch, mir Antworten zu geben. Verzeihe mir! Ich bin ungerecht. Männer wie deinesgleichen sollten gebührend gefeiert werden, anstatt sich die endlosen Reden eines einsamen Königs anzuhören. Also kommen wir zur Sache! Ich bin dir eine Erklärung schuldig, warum ich dich habe zu mir rufen lassen, wo du doch lieber zurück zu deiner Familie gehen würdest. Deine Eltern verdienen es, dich lebend zu sehen, ganz zu schweigen von deiner Verlobten.“

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Adrig schrak sichtbar zusammen, als Mana Kael die Existenz von Nemda erwähnte. „Sei bitte nicht verwundert, wenn ich als dein Gebieter bestens über jedes Detail informiert bin. Ripek, veranlasst bitte, dass Ritter Adrig ein Bad zubereitet wird und lasst die Garde abziehen. Sollen sie vor den Türen warten, ich habe mit Adrig zu reden!“ Der Mann zur Seite des Sessels von Mana Kael verbeugte sich und gab den übrigen Männern mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie den Platz zu räumen hatten. Er selbst folgte ihnen und schloss mit theatralischer Geste beide Türflügel hinter sich zu. „Sobald du dein Mahl beendet hast, wirst du ein Bad nehmen, damit du wieder zu Kräften kommst. Ich werde dir meinen Sohn vorstellen, denn ich vertraue dir eine Mission von höchster Bedeutung an. Das Überleben meiner Dynastie hängt von meiner Entscheidung ab, aus diesem Grunde habe ich dich allein in meine Gemächer kommen lassen, denn kein anderer Mann außer mein Berater Ripek weiß von dem, was ich dir mitzuteilen habe. Meine Gemahlin Ilisa ist vor sieben Jahren an einem gewaltigen Fieber gestorben, ich selbst bin mir beinahe sicher, dass Verräter mich langsam aber sicher vergiften. Leider ist es bislang niemand gelungen, das Geheimnis der Untäter zu lüften. Doch wie kann ich die Sicherheit meines einzigen Sohnes garantieren, wenn ich selbst nicht mehr lange zu leben habe? Ein Kinderkönig wäre dem Hofrat nur zu recht, doch dazu darf es nicht kommen. Nach meinem Tod wird der Thron von Valroux sicherlich einige Jahre unbesetzt bleiben, denn mein Sohn Oméril wird im Exil zu einem Mann heranwachsen. Unbekannt und unter dem Schutz meines wertvollsten Ritters aus meiner Armee.“ Adrig blieb der Bissen im Halse stecken, er legte das Messer ab und blickte entsetzt den König an, er fürchtete sich vor dem, was dieser hinzufügen würde. „Ja, mein guter Adrig, ich vertraue dir meinen Sohn an. Du wirst über ihn wachen, wie über deinen eigenen Bruder. Er wird dir gehorchen und du wirst ihm in die wertvollsten Schulen der anliegenden Länder begleiten. Ich habe meine Vorbereitungen lange vor dem Ausbruch des Krieges getroffen. Beide werdet ihr unter fremden Namen reisen, nur wenige Vertraute aus alten Verbindungen werden wissen wer ihr seid und euch willkommen heißen. Ich weiß, ich verlange viel von dir! Das Exil wird lange dauern, bis Omérils achtundzwanzigstes Lebensjahr vollendet ist. Vorher kann kein Mann aus ihm geworden sein. Ich treffe diese Entscheidung im Dienst meines Volkes. Ich kann nicht sagen, wie lange ich meiner Krankheit zu trotzen vermag, doch ich werde mein Bestes geben.“ Adrig erhob sich langsam von seinem Stuhl und baute sich vor seinem König auf. „Eure Majestät, ich kann diese Verantwortung nicht annehmen …“ „Unsinn! Es steht dir nicht zu, mir zu widersprechen!“, donnerte Mana Kael mit unvermuteter Macht ihm entgegen. „Glaubst du im Ernst, das Leben eines ungeborenen Kindes im Bauch einer Jungfer, die nicht einmal ihren Dienst als Hofdame vollständig antreten konnte, ist mehr wert, als das Überleben der königlichen Familie?“ Adrig öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch die Worte des Königs hatten ihm die Sprache verschlagen. „Ja, ja, der Bauch der guten Nemda beginnt sich zu runden. Unmöglich eine schwangere unverheiratete Frau am Hof zu behalten. Sei unbesorgt, ich werde mich um deine Familie und um sie kümmern. Was Besseres kann ihr nicht passieren. Ripek wird dich holen und dich zu deinem Bad begleiten. Anschließend wird er dir Oméril vorstellen. Ihr reist noch in dieser Nacht ab. Je eher, je besser. Und ich gestatte es dir, dich von deiner Familie zu verabschieden.“ Adrig hatte das Gefühl, der Boden unter seinen Füssen würde von einem auf dem anderen Moment zusammenbrechen und die ganze Welt im dunklen Nichts verschlingen. Das hatten also seine düsteren Vorahnungen zu bedeuten gehabt. Die Liebe und Achtung seines Königs waren ihm zum

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Verhängnis geworden. Es konnte keine ehrenvollere Aufgabe für einen Mann geben, als die Verantwortung für einen erstgeborenen Prinzen zu übernehmen. „Mein Leben gehört Eurer Majestät! Ich tue, was Euch beliebt!“, hörte er sich tonlos sprechen und suchte mit seinem Blick Halt auf der fernen lichtlosen Wand hinter dem Sessel des Königs. Mana Kael nickte gefällig, stützte sich schwer auf seinem Stab auf und trat dem großen Ritter gegenüber. „So ist es! Ich weiß, dass du mich nicht enttäuschen wirst. Oméril ist unter deinem Schutz in der weiten Welt mehr in Sicherheit als am Hofe von Valroux. Doch ihr werdet heimkehren und ein neues goldenes Zeitalter für die Unih einläuten. Meine Leibgarde wird bis zu eurer Rückkehr bleiben und über die Sicherheit des Thrones wachen. Die Zeiten sind zu jung, um ein Volk über ein Volk regieren zu lassen. Wir brauchen starke Könige und treue Ritter um die Menschen einige Jahre in Frieden leben zu lassen. Es wird immer Kriege geben, solange Menschen daran verdienen. Ich vertraue dir mehr als meinen Sohn an. Von dieser Nacht an liegt das Bestehen eines Volkes in deinen Händen, Adrig, vergiss das nie!“ In diesem Augenblick wurden die Türen erneut geöffnet und Ripek trat in Begleitung von zwei Zofen ein. „Ritter Adrig, Euer Bad ist bereit, Euch zu empfangen!“, sprach er so sanft wie möglich und wartete bis der junge Mann sich langsam umdrehte, um den beiden Zofen zu folgen. Mana Kael schlürfte erschöpft zu seinem Sessel zurück. „Was für eine Nacht, Ripek, was für eine Nacht. Was werden wir noch durchstehen müssen? Wo befindet sich Oméril?“ „Er ist in seinem Gemach und wartet darauf, geholt zu werden“, antwortete Kaels Vertrauter und half ihm dabei, sich wieder so bequem wie möglich zu setzen. „Mein guter Ripek, es ist über meine Kräfte, Oméril noch einmal zu sehen. Begleitet ihn mit Adrig zu seiner Familie und seht zu, dass ihnen die besten Pferde zur Verfügung stehen.“ „Das ist selbstverständlich, Eure Majestät.“ „Und sorg dafür, dass es Adrigs Familie an nichts fehlen mag. Das bin ich dem Jungen schuldig. Ich vertraue ihm meinen Sohn an, es ist so, als werde er damit sein Bruder.“ „Beruhigt Euch! Ihr müsst mit Euren Kräften haushalten!“ Ripek brachte ein weißes Wolfsfell und legte es dem entkräfteten König behutsam über die Schultern.

Adrig ließ sich wie fremdbestimmt in den Bereich der königlichen Gemächer geleiten, wo sich das Bad befand. Er hatte keine Augen für die uralte Schönheit, mit der dieser Ort vor Jahrhunderten errichtet worden war. Feine glattpolierte Steine schimmerten perlmuttfarben im Licht der tanzenden Fackeln und das duftende Wasser dampfte anmutend. Die Zofen entkleideten ihn schweigend und geleiteten ihn zum Becken. Die Wärme des Bades umfing seine Glieder und leckte den Schmutz von seiner Haut. Mit sanften Fingern lösten die Zofen sein langes Haar und gossen behutsam aus goldenen Vasen Wasser mit kostbaren Ölen darüber, um jeden Knoten zu lösen. Adrig betrachtete seine Hände, der Schmutz saß fest und es würde seine Zeit dauern, bis er wieder seine Haut rein sehen und fühlen könnte. Diese Hände hatten Nemdas Körper gehalten und gestreichelt, doch dies hätte nie geschehen dürfen. Nun begriff er, warum ein Ritter normalerweise die Zusage seines Königs brauchte, um eine Frau zu heiraten. Mit erschöpfter Verzweiflung legte er beide Hände flach auf sein Gesicht, bis verzweifelte Schluchzer ihn erschütterten. „Seid unbesorgt, alles wird gut! Wenigen ist es erlaubt ins Bad der Könige eingelassen zu werden!“, wisperte eine der Zofen dicht an seinem Ohr. „Und Eure Dame darf nicht sehen, dass Ihr geweint habt, wenn Ihr von ihr Abschied nehmt.“ Adrig zwang sich, ruhiger zu atmen und ließ seinen Blick in der Leere ruhen. Die jungen Frauen hatten Recht, Nemda und Belen, sein Vater mussten stolz auf

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ihn sein. Der Prinz sollte Vertrauen in ihn schöpfen, wie konnte er sich bitteren Tränen hingeben, wo Mana Kael ihn so hochschätzte?

Als Adrig sich mit neuer wertvoller Kleidung ausgestattet sah, empfand er beinahe ein Gefühl von Zuversicht. Die Zofen begleitete ihn in ein Zimmer, in dem Ripek in Begleitung von einem hochgewachsenen Jungen wartete. Es musste sich um Oméril handeln, der für sein Alter langgliedrig und kräftig war. Der Prinz musterte den Ritter aus neugierigen dunklen Augen, während der Berater des Königs die beiden einander bekannt machte. „Ich werde Euch bis zu Belens Haus begleiten, damit ihr Euch von Eurer Familie verabschieden könnt. Anschließend werde ich euch aus Valroux hinausbegleiten und bis zum Sonnenaufgang mit euch durch Ovon reiten. Von diesem Augenblick an werdet ihr unter falschen Namen reisen. Gadfyl für Euch Ritter Adrig, und Euer Bruder Gonian. Ihr werdet Eure wahrhaftigen Namen mit eurer Rückkehr wieder zurückgewinnen. Und nun lasst uns gehen, Belen erwartet uns bereits!“ Das Haus von Adrigs Vater erschien ihm in dieser schicksalsschweren Nacht niedrig und klein. Wahrscheinlich hatten sich seine Augen an die Weite der Ebene Obion und die unantastbare Erhabenheit der Zinnen von Ovon gewöhnt. Mit schweren Herzen saß er von seinem neuen Pferd ab und trat in den erleuchteten Saal des Hauses. Belen empfing seinen Sohn mit Würde und nahm ihn zeremonievollendet in die Arme. „Mein Sohn! Die Götter stehen dir bei!“ Über Belens Schulter hinweg erblickte Adrig seine Mutter, bleich und erschüttert neben seiner Verlobten, Nemda von ergreifender Schönheit in ihrem schlichten Kleid mit von Tränen geröteten Augen. Adrig löste sich aus den Armen seines Vaters und trat auf die beiden hinzu. Er presste seiner Mutter einen tröstenden Kuss auf die Stirn, bevor er sich endlich zu Nemda wandte und sie fest in seiner Arme schloss. Sie schmiegte sich an seine Brust und schluchzte leise. „Sei unbesorgt, meine Liebe, unser guter König wird sich deiner annehmen! Es wird dir an nichts fehlen!“, hörte sich Adrig sprechen. Er atmete den lieblichen Duft ihrer goldenen Haare tief ein. „Ich werde auf dich warten, Adrig!“, hauchte sie. Er löste sich etwas von ihr, um in ihr Gesicht zu blicken. Im Hintergrund standen seine vier Brüder und warteten geduldig das ergreifende Schauspiel ab. „Sei unbesorgt, Bruderherz, wir werden schon auf sie Acht geben“, sprach einer von ihnen. Adrig konnte in dem Moment nicht sagen, wer es war, doch er hörte die kaum versteckte Schadenfreude in diesen Worten und ihm wurde mit einem Mal klar, dass es möglicherweise seine eigene Familie war, die ihn verraten hatte. Der König hatte seinen Vater sicherlich mit einer hohen Goldsumme gegen den Verlust seines erstgeborenen Sohnes entschädigt. Jenen den dieser Gewinn am ehesten zugutekam, waren seine Brüder. Was wollte die unschuldige Nemda in diesem Spiel von Macht und Geldgier schon bewerkstelligen, jetzt wo ihm der Schutz des Prinzen anvertraut war und er unter einem fremden Namen reisen musste? Ripek und Oméril warteten in der Nähe des Eingangs, bis der Prinz sich entschied, ein paar Schritt vorzutreten und seine Hand beruhigend auf die Schulter Nemdas zu legen. „Seid unbesorgt meine Dame! Ich werde Euch Euren Ritter wieder zurück nach Valroux bringen! In der Zwischenzeit wird Euch mein Vater beschützen.“ Nemda neigte anmutig ihr Haupt und machte eine formvollendete Kniebeuge. „Adrig, Eure Majestät, es ist Zeit!“, ordnete Ripek an. Adrig beobachtete kurz die Gesichter seiner Brüder, welche ihm mit einem Mal fremder denn je erschienen. Er nickte und wusste tief in seinem Inneren, dass er seine Geliebte nie wieder lebend sehen würde. Doch er durfte seine Befürchtungen ihr gegenüber nicht zeigen! Er war einem anderen Schicksal versprochen und die junge Frau würde

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für seine Fehler bezahlen müssen. Er schenkte ihr noch einen einzigen langen Kuss, an den sie sich beide erinnern konnten, ganz gleich wie lang oder kurz die Zeit ihres Lebens bestimmt sein mochte. Daraufhin ließ er sie los und drehte sich um. Wortlos verließen die drei das Haus, saßen auf ihren Pferden auf und ritten im geschwinden Trab davon. Nemdas Schluchzen ging im Geklapper der Pferdehufen unter. Ripek verbot sich, auch nur ein weiteres Wort über seine Versprechen gegenüber Adrigs Familie zu äußern, denn er ahnte, dass der junge Mann ihm nicht glaubte. Als sie Valroux durch eines der niedrigen Tore verlassen hatten, konnte der Berater des Königs es sich nicht verkneifen, etwas Beruhigendes bezüglich der Zukunft seiner Verlobten zu sagen. Adrig warf ihm einen strafenden Blick zu, den er selbst in der Dunkelheit erkennen konnte. „Das ist nicht der Moment, alter Mann! Sorge dafür, dass Mana Kael so lange wie möglich am Leben bleibt, das ist alles, was du noch tun kannst. Oméril steht von nun an unter meinem Schutz und der Junge ist mutig genug, mir zu folgen. Jetzt erzähle uns lieber von den Namen, die du für uns geklaut hast. Wem gehörten sie? Jeder Name braucht seine Geschichte. Was Nemda betrifft, ich werde sie nie vergessen und ich werde mich jedem annehmen, der ihr Leid zugefügt hat, wenn ich nach Valroux heimkehre.“ Ripek nickte anerkennend und musste einsehen, dass ihm die frische Luft der Berge in seinen müden Lungen guttat. Insgeheim beneidete er den Prinzen und seinen Ritter. Sie ritten frei und unerkannt fernen Ländern und Abenteuern entgegen. Er hingegen war gezwungen, zum Hof zurückzukehren und dem politischen Machtspiel um den kränkelnden König beizustehen. Tagein, tagaus Spitzel auszufragen und zu bestechen, um zu erfahren, wer gegen wen agierte. Jetzt wo der Krieg vorüber war, standen ihm unruhige Zeiten bevor und jeder an einem hochangesehen Platz musste jeden Tag um sein Leben fürchten.

Fortsetzung folgt …

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