Klönschnack März 2022

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FOTO: JOACHIM KASTEN

POLITIK Egon Bahr 2015 während des Interviews mit Joachim Kasten

Hause kam. „Da wurde uns klar, dass es Konzentrationslager gab“, berichtet er. „Aber das Wort Auschwitz hatten wir nicht gehört. Ein derartiges, in der Geschichte einmaliges Verbrechen von industrialisierter Menschenvernichtung konnte man sich nicht vorstellen.“ Alexander und Margarete Mitscherlich prägten die These von der „Unfähigkeit der Deutschen zu trauern“. Als Zeitzeuge bestätigt Egon Bahr diese Haltung. „Das ist in meiner Erinnerung auf den Schock des nun wirklich verlorenen Krieges zurückzuführen. Der saß so tief, dass man das Nachdenken über die Ursachen unterdrückte. Das Naheliegende interessierte. Wie bekomme ich etwas zu essen? Es war ein Der Schock täglicher Kampf um das saß so tief, Überleben.“ dass man das Suche nach Stabilität. GeNachdenken gen Ende des Interviews sprechen wir über die Ge- über die Urfährdung des Friedens sachen unternach der russischen Beset- drückte.“ zung der Krim-Halbinsel. Eine direkte Antwort auf die Frage nach der Verantwortung für die gefährliche Destabilisierung im Osten Europas will der 93-jährige Ex-Diplomat nicht formulieren. Als Reaktion erhalte ich eine Beschreibung des historischen Hintergrunds. Dazu gehörten für Bahr insbesondere Entscheidungen aus der Zeit der deutschen Wiedervereinigung. Festgelegt wurde, dass die Nato vorrückt bis zur polnischen Westgrenze. Das entsprach dem Wunsch Gorbatschows, dem russischen Bären nicht zu sehr „auf den Pelz“ zu rücken. „Keiner hat jedoch gewusst, dass es ein Jahr später die Sowjetunion und den Warschauer Pakt nicht mehr geben würde“, erläutert Egon Bahr. Die neuen unabhängigen osteuropäischen Staaten suchten dann so schnell wie möglich Sicherheit im Nato-Pakt. „Daraus entstand eine Lage, in der Russland sich eingekreist und zum Teil betrogen fühlte“, konstatiert Egon Bahr. Das sei zwar nicht beabsichtigt gewesen, führte aber dazu, dass die Ukraine zwischen dem Westen und Russland stand. „Und an dieser Konfliktlage arbeiten wir immer noch“, rundet Egon Bahr seine Analyse ab. Er hofft auf eine neue Stabilität durch Minsk II. „Dann kann und muss man über das Verhältnis zwischen Ost und West, zwischen Amerika, Europa und Russland längerfristig nachdenken und planen“, lautet seine Forderung.

Gedenken

100 Jahre Egon Bahr Am 18. März wäre die SPD-Ikone Egon Bahr 100 Jahre alt geworden. Als Minister der Regierungen von Willy Brandt und Helmut Schmidt machte er sich verdient und stieß einen Prozess an, der als „Neue Ostpolitik“ bleibende Spuren hinterließ.

V

on 1984 bis 1994 leitete Egon dann den dazugehörigen Rotarmisten“, beBahr das Institut für Friedens- richtet er. In dem darauf folgenden gewaltsamen forschung und Sicherheitspolitik in Blankenese. Politische Szenario gelingt es Egon Bahr seine Akzente setzte er in seiner Ham- schwangere Freundin zu schützen. Allerburger Zeit u. a. mit der Schrift „Zum euro- dings nur um den Preis, dass der Soldat päischen Frieden. Eine Antwort auf Gorba- ihm an den Hals ging. Warum er plötzlich dennoch losließ, hat er nie ertschow“. Mit 93 Jahren starb fahren. Egon Bahr am 19. August 2015 Kein Widerstand. „Warum fanin Berlin. den die Kämpfe des Zweiten Aus Anlass der 70. WiederWeltkriegs erst ein Ende, als das kehr der Kapitulation des NaziLand nahezu vor der totalen reichs am 8. Mai 1945 konnte Zerstörung stand?“, möchte ich ich einige Monate zuvor ein Gewissen. spräch mit ihm führen. „Die Menschen hatten ein laDankbarkeit. Es war spannend tent schlechtes Gewissen. Man einem Menschen zu begegnen, wusste, was die eigenen Leute der eine ganze Epoche mitgein der Sowjetunion angerichtet wirkt hatte, das politische hatten, und fürchtete die VerSchicksal Deutschlands und geltung“, erklärt er. Auch die Europas zu formen. Zu Beginn Phrase vom „Endsieg“ war für unseres Gesprächs bitte ich ihn, ihn absurd. „Wir waren ja nicht von seiner Gefühlslage am Kapidumm. Und solange die SS tulationstag zu erzählen. herrschte, hatte selbst die Seine erste Erinnerung an das Wehrmacht nicht viel zu saKriegsende verbindet Bahr nicht gen.“ mit dem Gefühl einer Befreiung Solange die Der verdrängte Holocaust. von den Nazis, sondern mit ei- SS herrschte, Vom verbrecherischen Charakner Bedrohung, der er und seine hatte selbst ter des Regimes erfuhr Egon zukünftige Frau ausgesetzt wa- die WehrBahr hautnah, als ein Onkel aus ren. macht nichts dem KZ Oranienburg mit kahl„Wir saßen in einem Luft- zu sagen …“ geschorenem Kopf und herausschutzkeller und das erste, was gebrochenen Goldzähnen nach ich sah, war ein Bajonett und

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Autor: Joachim Kasten


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