Und wie streiten Sie?

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Über die Autorin

Die Konfliktpädagogin Eveline Degani lebt mit ihrem Mann und den gemeinsamen vier Kindern im St. Galler Rheintal in der Schweiz. Sie ist Mediatorin sowie Trainerin für Gewaltfreie Kommunikation. Seit 2009 leitet sie die Beratungsstelle konfliktbewältigung.ch Gemeinsam mit ihrem Mann Remo bietet sie Streitseminare, Kommunikationstrainings und Coachings an.

Urlaub und Für Familien, die sich in der Gewaltfreien Kommunikation Lernzeit zugleich weiterbilden möchten, organisiert sie zusammen mit einem Trainerteam ein siebentägiges Familienseminar. Infos sind zu finden auf www.familycamp.ch Kontakt Mehr über die Arbeit von Eveline Degani sowie die aktuellen Kursangebote erfahren Sie auf der Homepage der Beratungsstelle www.konfliktbewältigung.ch

konfliktbewältigung.ch Beratungsstelle Heimstrasse 9 CH – 9444 Diepoldsau +41 (0) 71 599 51 70 www.konfliktbewältigung.ch info@konfliktbewältigung.ch


Eveline Degani-Bischof

Und wie streiten Sie? Warum Streiten wichtig ist und wie es konstruktiv wird

Mit einem Vorwort von Frank Gaschler


© 2014 Eveline Degani-­‐Bischof Umschlaggestaltung, Illustration: Stephanie Karcher, Sylvan Oehen Lektorat, Korrektorat: Kristina Gnirke, Andrea Wierich, Johannes Ponader Layout: Johannes Ponader, Christiane Schinkel Verlag: tredition GmbH, Hamburg Printed in Germany ISBN: 978-­‐3-­‐8495-­‐7709-­‐4 Dieses Werk ist unter der Creative-­‐Commons-­‐Lizenz vom Typ Namensnennung -­‐ Nicht-­‐kommerziell -­‐ Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Unported lizenziert. Um eine Kopie dieser Lizenz einzusehen, besuchen Sie http://creativecommons.org/licenses/by-­‐nc-­‐sa/3.0 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-­‐nb.de abrufbar.


Dieses Buch widme ich meinem Mann Remo sowie meinen Kindern Elio, Malin, Nicoel und Simeon



Inhalt 1. Was ist das überhaupt – ein Konflikt? ..................... 13 2. Warum Streiten für Kinder wichtig ist ..................... 15 Was nützen Streit und Konfliktlösung? .............................. 21 3. Verschiedene Arten von Konfliktverhalten ............. 23 4. Verschiedene Streittypen ....................................... 29 Streittypentest .................................................................... 30 Auswertung ........................................................................ 33 5. Umgang mit Emotionen .......................................... 38 Warum Wut gut tut ............................................................ 39 Dampf ablassen, statt Gefühle zu unterdrücken ..................... 41 Wie lernen Kinder mit heftigen Gefühlen umzugehen? ..... 45 Weinen ist okay .................................................................. 51 Fluchen macht Spaß ........................................................... 53 Gefühle die wir haben ........................................................ 56 6. Wie man Bedürfnisse erkennen kann ..................... 58 Frustrationstoleranz entwickeln ......................................... 61 Unterschiedliche Bedürfnisse erkennen ............................. 64 Eifersucht als Wegweiser .................................................... 67 Zum Teilen verdonnert ....................................................... 68 7. Grenzen zeigen, um Bedürfnisse zu schützen .............. 72 8. Hilfreiche Gesprächsmethoden ............................... 78 Schmerzen wollen gehört werden ...................................... 82 Verneinungen vermeiden ................................................... 84 Vorwurfsfreie Formulierungen ........................................... 87 Umgang mit Erwartungen in der Partnerschaft ................... 94 Eveline Degani: Und wie streiten Sie? – konfliktbewältigung.ch

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9. Konfliktlösungsmodelle ........................................... 97 Vermittlung bei Kindern ...................................................... 99 Das Konfliktgespräch ......................................................... 101 4-­‐Schritt-­‐Modell ................................................................ 104 In der Streitarena .............................................................. 107 10. Ideen für den Alltag .............................................. 112 Rituale ............................................................................... 112 Signale und Codes ............................................................. 118 Umgang mit Gewalt .......................................................... 120 Organisation und Erholung ............................................... 123 Systemisches Konsensieren – die neue Familiendemokratie .. 126 11. Wie Streit erträglich wird ...................................... 129 Streitphasen ...................................................................... 130 Papas entscheiden anders ................................................ 139 Über die Versöhnung ........................................................ 141 12. Was macht Erziehung erfolgreich? ........................ 144 Selbstverantwortung erlernen .......................................... 145 Fragen und Antworten ...................................................... 147

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Vorwort

Meine Eltern haben nie gestritten. Sie haben diskutiert. Als Kind stand ich dann nachts im Treppenhaus und habe zitternd der Diskussion gelauscht. Die Diskussion wurde rein sachlich geführt – so wurde mir gesagt, dennoch hatte ich Angst. Ich spürte Emotionen, aber die gab’s doch gar nicht. Harmonie war wichtig. Harmonie hieß: keinen Streit haben. Abends, wenn es ins Bett ging, musste alles immer „gut“ sein. Wir haben uns alle wieder vertragen. Oft habe ich dann vergessen, worum wir gestritten haben. Oft habe ich vergessen, worum es mir eigentlich ging. War ja auch egal. Hauptsache, allen ging es gut. Später habe ich Menschen kennengelernt, denen Harmonie nicht so wichtig war. Lehrer, Chefs, Nachbarn. Auch sie haben auf der Sachebene diskutiert. Aber es war anscheinend nicht so wichtig, ob es allen gut ging. Mein Eindruck war, dass es vor allem ihnen gut gehen sollte. Damals habe ich gelernt gegenzusteuern. Ich wollte, dass es mir gut geht. Ich habe viel diskutiert. In meiner jetzigen Familie lerne ich, wie wichtig Harmonie ist. Aber ich definiere sie anders. Harmonie bedeutet nicht die Abwesenheit von Streit – so wie Frieden nicht die Abwesenheit von Krieg bedeutet, sondern die Bereitschaft sich mit unterschiedlichen Bedürfnissen, Strategien, Wünschen, Meinungen Eveline Degani: Und wie streiten Sie? – konfliktbewältigung.ch

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auseinanderzusetzen. Harmonie bedeutet die Vereinigung von Entgegengesetztem zu einem Ganzen. Dazu braucht es Gegensätze, die vertreten sein wollen. Es braucht den Austausch. Und, wenn die eigenen Interessen wichtig genommen werden, auch Energie, mit der sie vertreten werden. Energie in Form von Emotionen. Wir streiten nicht gegeneinander. Ich streite für mich. Du für dich. Wir für uns. Wenn wir wollen, dass Kinder lernen zu sprechen, brauchen sie Ansprache. Wenn sie Verständnis erlernen sollen, brauchen sie verständliche Äußerungen. Um Empathie oder Einfühlung zu erfahren, brauchen sie Gefühle zum Fühlen, und um konfliktfähig zu werden, brauchen sie Konflikte. Sie werden sie bekommen. Irgendwo, irgendwie. Mit diesem Buch können Sie als Eltern lernen, wie Sie mit Ihren Kindern in einer Weise streiten können, die Ihren Werten entspricht. Ihre Kinder werden davon profitieren. Und Sie auch. Spätestens, wenn es in der Pubertät Zeit ist zu ernten.

Frank Gaschler

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Einführung Viele von uns sind mit der Vorstellung aufgewachsen, dass Was heißt Streiten nicht gut ist. Weil Streitsituationen oftmals unange- „gutes Streiten“? nehme Gefühle hinterlassen, ist diese Schlussfolgerung nur logisch. Lärm, Tränen, Gefühlsausbrüche, heftige Diskussionen sind Faktoren, die ein konstruktives Streiten nicht unbedingt begünstigen. Oft stehen nach einem Streit Gewinner und Verlierer da. Jemand hat den Kürzeren gezogen, jemand muss der oder die Vernünftigere sein. Aus meiner Sicht gehört Streiten zum Leben dazu. Genauso wie es auch in Ordnung ist, wenn wir „negative” Gefühle haben. Auch sie sind ein Teil von uns. Folglich wollen wir unseren Kindern eine gute Streitkultur beibringen. Das ist aber nicht so einfach, wenn wir selbst nicht gelernt haben, was es bedeutet konstruktiv zu streiten. Um diese Frage beantworten zu können, braucht es eine Vorstellung davon, was für Sie persönlich „gutes Streiten“ bedeutet. Ich möchte in diesem Buch verschiedene Streitmöglichkeiten und Konfliktlösungsmodelle aufzeigen, denn es gibt verschiedene Arten zu streiten. Ein Streit kann laut oder leise sein, emotional oder ruhig. Welche Art für Sie stimmig ist, bestimmen Sie. Ich lade Sie ein, verschiedene Ideen auszuprobieren und so herauszufinden, welchen Weg Sie beschreiten möchten. Ich hoffe, dass Sie mit diesem Buch Klarheit für sich finden.

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1. Was ist das überhaupt – ein Konflikt? „Ich will auf der Ente sitzen, ich habe es zuerst gewollt!“, ruft der Junge auf dem Spielplatz, als ein Kind auf die Schaukelente zusteuert.

Einen Konflikt habe ich dann, wenn ich etwas will, das ich Was ist ein Konflikt? (gerade) nicht bekommen kann. „Nein! Ich habe sie zuerst gesehen. Du musst warten, jetzt bin ich dran!“, setzt sich der Freund zur Wehr. Einen Streit haben heißt, dass ich mich für mein Was ist Streit? vermeintliches Recht einsetze und sich das Gegenüber auf irgendeine Weise dagegen wehrt. Zum Streiten braucht es also mindestens zwei. Wenn sich das Gegenüber nicht auf mich einlässt, spreche ich von einem Konflikt, nicht von einem Streit. In der Umgangssprache spricht man von einem Streit, wenn ein Konflikt zwischen zwei Parteien nicht gelöst ist. Um einen Streit oder Konflikt lösen zu können, braucht es die Was ist eine Lösung? Bereitschaft der betroffenen Parteien. Wenn eine Seite nicht will, ist es nicht möglich, den Konflikt gemeinsam zu lösen. Dann bleibt es ein Konflikt oder umgangssprachlich ein ungelöster Streit. Mir bleibt die Möglichkeit, den Konflikt für mich selbstverantwortlich zu bearbeiten und wenn möglich nach einer für mich stimmigen und fairen Lösung zu schauen. Wenn ich möchte kann ich mir dafür Hilfe holen. Manchmal bleiben Konflikte ungelöst. Auch das gehört zum Leben. Eveline Degani: Und wie streiten Sie? – konfliktbewältigung.ch

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Was ist Versöhnung? Eine Lösung findet dann statt, wenn die beteiligten Parteien dem Resultat zugestimmt haben. Eine Versöhnung unterscheidet sich von der Lösung durch die Wiederherstellung der Beziehungsqualität nach dem Streit. Nur wenn das gelingt und die Beziehung nach der Konfliktlösung wiederhergestellt ist, spreche ich von Versöhnung. Die Versöhnung ist also dann wichtig, wenn die Beziehung zwischen den Beteiligten nach dem Streit wieder stimmig sein soll. Ein Streit ist erst mit der Lösung oder der Versöhnung beendet.

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2. Warum Streiten für Kinder wichtig ist Eine Horde Kinder spielt draußen. Plötzlich entsteht ein Gerangel. Ein typischer Streit Der 11-jährige Sandro packt den drei Jahre jüngeren Armin und unter Kindern drückt ihn gegen die Wand. Armin wehrt sich verzweifelt und versucht vergeblich Sandro wegzustoßen. Ein Mann, der draußen gerade Gartenarbeit verrichtet, wird auf das Gerangel aufmerksam. Er ruft: „He, was ist los?“ Sandro lässt Armin frei. Armin weint. Der Mann geht hin und fragt freundlich: „Was ist passiert?“ Die Buben beginnen gleichzeitig zu rufen: „Er stört uns immer!“ – „Sie lassen mich nie mitspielen.“ – „Er hat uns den Ball weggenommen und fortgeworfen. Er soll uns endlich in Ruhe lassen.“ – „Ich habe den Ball weggenommen, weil sie mich geärgert haben.“ Die Mutter des jüngeren Kindes eilt herbei: „Ich glaube dir, Armin! Komm doch nach Hause.“ Aber Armin will nicht nach Hause gehen. Schluchzend bleibt er stehen. Der Mann ergreift das Wort und wiederholt, was er von den Kindern gehört hat: „Armin, bist du traurig, weil du gerne mitspielen und dazugehören möchtest?“ Armin nickt. „Sandro, bist du verärgert, weil du mit deinem Freund in Ruhe gelassen werden möchtest?“ Sandro nickt ebenfalls. „Hm, was gibt es denn da für Möglichkeiten, dass alle wieder zufrieden sein können?“ Schweigen. Ein kleines Mädchen hat eine Idee: „Sie könnten sich die Hand geben und Frieden schließen.“ Der Mann leitet den Vorschlag an die Jungen weiter und fragt: „Wollt ihr das tun?“ Die Mutter sagt: „Es hat ja doch keinen Sinn, er ist halt einfach jünger. Ich habe schon oft beobachtet, dass sie ihn necken und davonrennen, aber bisher habe ich mich immer rausgehalten.“ Sie wendet sich den Großen zu: „Warum könnt ihr denn nicht alle zusammen spielen?“ – „Wir möchten halt alleine sein.“ – „Könnt ihr den Armin wenigstens in Ruhe lassen?“ – „Ja, wenn er uns in Ruhe lässt!“

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Der Mann wiederholt: „Wollt ihr euch gegenseitig in Ruhe lassen?“ Die großen Jungs nicken. „Also Armin, dann komm jetzt nach Hause.“ Die Mutter nimmt ihn beschützend an der Hand und geht mit ihm nach Hause. Kaum sind Mutter und Sohn um die Ecke, ärgert sich Sandro: „Immer glaubt sie dem Armin. Sie hat uns nicht einmal zugehört. Der Armin ist bei ihr immer ein Heiliger! Er soll bloß nicht zu uns kommen!“ Der Mann wendet sich nochmals Sandro zu: „Ist dir wichtig, dass beide Seiten neutral gehört werden?“ – „Ja, er ist ja auch kein Heiliger!“ – „Möchtest du gerne die Bereitschaft zur eigenen Fehlbarkeit spüren?“ – „Was heißt das?“ – „Dass man zugeben kann, dass das eigene Verhalten möglicherweise nicht immer ganz okay war. Und dass man bereit ist, zu überlegen, was man hätte anders machen können.“ – „Ja, es war vielleicht nicht fair, dass ich auf ihn losgegangen bin. Aber wenn er uns in Ruhe gelassen hätte, hätte ich das ja auch nicht gemacht.“ – „Du meinst, es sind beide Seiten verantwortlich für das, was passiert ist?“ – „Ja. Aber sie glaubt ja nur ihm.“ – „Möchtest du, dass deine Seite auch gehört wird?“ – „Ja.“ – „Hast du eine Vermutung, warum die Mutter so reagiert hat?“ – „Sie sorgt sich halt und möchte dass es Armin gut geht.“ Der Weg „Hm. Hast du denn eine Idee, wie du das machen kannst, dass du zur Versöhnung dich gehört fühlst?“ – „Nächstes Mal sage ich es ihr!“ – „Du möchtest sie bitten, beide Seiten anzuhören, wenn es wieder einmal so eine Situation gibt?“ – „Ja, genau.“ – „Möchtest du dafür Unterstützung?“ – „Ne, das passt schon … Danke!“ Übung: Welche Interventionen empfinden Sie als störend und warum?

Soweit unser Beispiel. Ich möchte Sie zu folgender Übung einladen: Machen Sie sich selbst ein Bild, welche Sätze Sie in obigem Beispiel hilfreich finden und welche man Ihrer Meinung nach eher vermeiden sollte. Falls Sie dies sichtbar machen möchten, können Sie die für Sie hilfreichen Sätze markieren, und die, die Sie nicht hilfreich finden, mit einem Bleistift durchstreichen. 16

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Haben Sie sich ein eigenes Bild gemacht? Gerne möchte ich Auflösung der Übung Ihnen nun zeigen, welche der ausgesprochenen Sätze meiner Erfahrung nach hilfreich sind und welche Sätze eher schwierig aufgenommen werden. Sehen wir uns das Beispiel Abschnitt für Abschnitt an: Armin weint. Der Mann geht hin und fragt freundlich: „Was ist passiert?“ Mit der offenen Frage öffnet der Mann einen Raum, um einen echten Dialog zu ermöglichen. Die Buben beginnen gleichzeitig zu rufen: „Er stört uns immer!“ – „Sie lassen mich nie mitspielen.“ – „Er hat uns den Ball weggenommen und fortgeworfen. Er soll uns endlich in Ruhe lassen.“ – „Ich habe den Ball weggenommen, weil sie mich geärgert haben.“ Die Mutter des jüngeren Kindes eilt herbei: „Ich glaube dir, Armin! Komm doch nach Hause.“ Hier wird die Lösungssuche von der Mutter unterbrochen. Vielleicht fällt es ihr schwer, an die Möglichkeit einer Lösung zu glauben – vielleicht kennt sie keine Alternativen oder reagiert so aus Gewohnheit. Nützlich ist es jedoch, wenn man daran glauben kann, dass stimmige Lösungen möglich sind. Mit der Aussage „Ich glaube dir“ will die Mutter dem Kind vermutlich den Rücken stärken. Dieser Satz stößt bei Sandro jedoch auf großen Widerstand. Die schnelle Parteinahme der Mutter ist ungünstig, weil damit die Gefahr besteht, den Konflikt auf ein „Wer hat Recht und wer hat Unrecht?“ zu reduzieren. In einer konstruktiven Streitkultur ist dieses SchwarzWeiß-Denken nicht hilfreich, es führt zu mehr Unruhe statt zu Verständnis und Frieden. Der Satz „Komm doch nach Hause“ stellt ein Fluchtverhalten dar. Manchmal ist es sinnvoll, einen Konflikt einfach zu verEveline Degani: Und wie streiten Sie? – konfliktbewältigung.ch

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lassen. In dieser Geschichte wäre diese Reaktion jedoch bedauernswert, weil die Voraussetzung für eine konstruktive Konfliktlösung durch die Intervention des Mannes gegeben ist. Aber Armin will nicht nach Hause gehen. Schluchzend bleibt er stehen. Der Mann ergreift das Wort und wiederholt, was er von den Kindern gehört hat: „Armin, bist du traurig, weil du gerne mitspielen und dazugehören möchtest?“ Armin nickt. „Sandro, bist du verärgert, weil du mit deinem Freund alleine spielen möchtest?“ Sandro nickt ebenfalls. „Hm, was gibt es denn da für Möglichkeiten, dass alle wieder zufrieden sein können?“ Gefühle formulieren

Der Erwachsene bietet den Kindern eine Deutung für ihre Gefühle an. Er hilft damit den Kindern, ihre Gefühle in Worte zu fassen. Mit einer erneuten offenen Frage öffnet der Erwachsene dann den Raum für eine gute Lösung. Schweigen. Ein kleines Mädchen hat eine Idee: „Sie könnten sich die Hand geben und Frieden schließen.“ Der Mann leitet den Vorschlag an die Jungs weiter und fragt: „Wollt ihr das tun?“ Anstatt eine fertige Lösung als beschlossen zu präsentieren, stellt der Erwachsene auch hier wieder eine Frage, die mehrere Möglichkeiten offen lässt. Die Mutter sagt: „Es hat ja doch keinen Sinn, er ist halt einfach jünger. Ich habe schon oft beobachtet, dass sie ihn necken und davonrennen, aber bisher habe ich mich immer rausgehalten.“ Sie wendet sich den Großen zu: „Warum könnt ihr denn nicht alle zusammen spielen?“ – „Wir möchten halt alleine sein.“ – „Könnt ihr den Armin wenigstens in Ruhe lassen?“ – „Ja, wenn er uns in Ruhe lässt!“ Die Mutter resigniert und verengt damit den Raum für eine für alle akzeptable Lösung. Ihre Fragen kommen bei den Kindern als Vorwurf an. Auch das Wort „wenigstens“ wirkt wie 18

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eine Schuldzuweisung. Es ist hilfreich, solche Wörter wegzulassen. Die Mutter könnte abwarten, was die Jungen zu dem Lösungsvorschlag sagen und, wenn nötig, ihr Anliegen wie folgt einbringen: „Als ich gestern beobachtet habe, wie ihr Armin geneckt habt und dann davongerannt seid, war ich sehr besorgt, weil ich mir für Armin wünsche, dass er auch mitspielen kann. Wärt ihr bereit ihn mitspielen zu lassen?“ Der Mann wiederholt: „Wollt ihr euch gegenseitig in Ruhe lassen?“ Die großen Jungs nicken. „Also Armin, dann komm jetzt nach Hause.“ Die Mutter nimmt ihn beschützend an der Hand und geht mit ihm nach Hause. Kaum sind Mutter und Sohn um die Ecke, ärgert sich Sandro: „Immer glaubt sie dem Armin. Sie hat uns nicht einmal zugehört. Der Armin ist immer der Heilige! Er soll bloß nicht zu uns kommen!“ Dass sich Sandro weiterhin ärgert, deutet darauf hin, dass der Lösung oder Prozess noch nicht abgeschlossen ist. Es wurde zwar eine Lö- Versöhnung? sung erreicht, aber noch keine Versöhnung. Der Mann wendet sich darum nochmals Sandro zu: „Ist dir wichtig, dass beide Seiten neutral gehört werden?“ – „Ja, er ist ja nicht heilig!“ – „Möchtest du gerne die Bereitschaft zur eigenen Fehlbarkeit spüren?“ – „Was heißt das?“ – „Dass man zugeben kann, dass das eigene Verhalten möglicherweise nicht immer ganz okay war. Und dass man bereit ist zu überlegen, was man hätte anders machen können.“ – „Ja, es war vielleicht nicht fair, dass ich auf ihn losging. Aber wenn er uns in Ruhe gelassen hätte, hätte ich das ja auch nicht gemacht.“ – „Du meinst es sind beide Seiten verantwortlich für das was passiert ist?“ – „Ja. Aber sie glaubt ja nur ihm.“ – „Möchtest du, dass deine Seite auch ernstgenommen wird?“ – „Ja.“ – „Hast du eine Vermutung, warum die Mutter so reagiert hat?“ – „Sie sorgt sich halt und möchte dass es Armin gut geht.“ – Eveline Degani: Und wie streiten Sie? – konfliktbewältigung.ch

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„Hm. Hast du denn eine Idee, wie du das machen kannst, dass du dich gehört fühlst?“ – „Nächstes Mal sage ich es ihr!“ – „Du möchtest sie bitten, beide Seiten anzuhören, wenn es wieder einmal so eine Situation gibt?“ – „Ja, genau.“ – „Möchtest du dafür Unterstützung?“ – „Ne, reicht schon. … Danke!“ Als die Kinder drei Tage später wieder gemeinsam auf der Straße spielen, ist Armin mittendrin. „Ist zwischen euch wieder alles gut?“, fragt der Mann die Gruppe. Armin strahlt ihn an: „Ja, der Sandro hat mich gefragt, ob ich mitspielen will.“ Konfliktbearbeitung Sich die Mühe für die Konfliktbearbeitung zu nehmen lohnt lohnt sich sich, auch wenn man denkt, dass nicht alle Interventionen gleich tadellos über die Bühne gehen. Die Kinder verstehen worum es geht, sie lernen daraus und zeigen ihre Bereitschaft einander das Leben zu bereichern, wenn sie sich in ihrem Anliegen gehört fühlen. Dabei können sie ihr Streitverhalten reflektieren und weiterentwickeln. Wenn ich an einen erfolgreichen Geschäftsmann denke oder an eine erfahrene Unternehmerin oder einfach an einen Menschen, der gut im Leben steht, so behaupte ich, dass diese Menschen unter anderem gerade durch diesen Glauben an eine mögliche Lösung in Konflikten so erfolgreich sind. Wer im Leben erfolgreich sein will, dem hilft es, wenn er sich gut ausdrücken kann, für seine Meinung einsteht, in schwierigen Situationen Lösungen finden kann und auch die nötige Sozialkompetenz besitzt, um andere zu verstehen. Diese Fähigkeiten können Kinder beim Streiten wunderbar entwickeln. Wie bei den meisten Trainings ist es von Vorteil, wenn ein kompetenter Trainer die Leitung übernimmt. In einem Streit übernimmt diese Rolle der Vermittler – jemand, der neutral zuhört und wertfrei Unterstützung bietet, ohne dabei zu richten.

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In unserer Geschichte hat der Mann die Vermittlung übernommen. Der Mutter fiel es sehr schwer, sich neutral zu verhalten, weil ihr Mutterinstinkt, das Kind zu beschützen, so groß war. Das geschieht häufig. Ich empfehle den Eltern, diesen Instinkt bewusst wahrzunehmen, wertzuschätzen und im Hinterkopf zu behalten. Mit der Zeit wird es leichter, neutrale Worte zu benutzen, auch wenn der Schutzinstinkt bleibt.

Was nützen Streit und Konfliktlösung? In einem Streit lernen Kinder:  Für sich und ihre Bedürfnisse einstehen  Dass Menschen unterschiedliche Bedürfnisse haben  Gefühle ausdrücken  Sich ernst nehmen In unserem Beispiel entdeckt Armin, dass er mitspielen und Entdeckte dazugehören möchte (Bedürfnis nach Gemeinschaft und Zugehö- Bedürfnisse aus rigkeit). Sandro will in Ruhe spielen können und selber wäh- dem Beispiel len, mit wem er spielt (Bedürfnis nach Autonomie), und er möchte gerne von der Mutter neutral gehört werden (Bedürfnis nach Fairness). Die Mutter schließlich möchte ihrem Kind den Rücken stärken (Bedürfnis nach Schutz für das Kind). Die Kinder zeigen verschiedene Gefühle: Armin ist traurig, Gefühle ausdrücken Sandro ärgert sich. Die Mutter drückt Sorge und Resignation aus. Dass die Kinder ernst genommen werden, zeigt sich, indem Sich gegenseitig sich die Beteiligten Zeit nehmen für den Austausch: „Was ist ernst nehmen passiert, was braucht ihr?“. Dabei hilft die Haltung: „Ich bin okay, du bist okay, die Gefühle sind okay, niemand wird verurteilt.“

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Bei der Konfliktlösung lernen Kinder:  Konstruktiv und lösungsorientiert bleiben  Einander zuhören  Die Gefühle und Bedürfnisse des andern hören  Lösungen suchen  Schwierigkeiten überwinden  Mitgefühl entwickeln Im Beispiel In unserem Beispiel wurden die Beteiligten mit Hilfe des Mannes konstruktiv und lösungsorientiert geführt: Beide Seiten wurden gehört, Ideen wurden eingebracht, es wurde Frieden geschlossen, und einander anschließend in Ruhe gelassen. Dass es gelungen ist, Schwierigkeiten zu überwinden, wird oft erst im Nachhinein klar, wenn der Konflikt abgeschlossen ist. Durch das Wiederholen der Positionen und Aussagen hat der Mann die verschiedenen Perspektiven aufgezeigt. Mitgefühl passiert im Innen und ist daher nicht einfach zu messen. Ob sich etwas verändert hat, zeigt sich manchmal erst in der Nachgeschichte. In diesem Beispiel war das der Fall, als drei Tage später wieder alle Kinder miteinander fröhlich auf der Straße spielen konnten.

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3. Verschiedene Arten von Konfliktverhalten In unserer Entwicklung, unserem Wachsen und Lernen, eignen wir uns verschiedene Verhaltensweisen an, wie wir Konflikten begegnen: Flucht, Kampf, Kompromiss und Konsens. Aus meiner Sicht ist es wichtig zu wissen, dass jede dieser Verhaltensweisen sinnvoll sein kann. Wenn ich mir meiner Verhaltensweisen bewusst werde, gelingt es mir allmählich immer besser, mich im Konfliktfall für ein für mich passendes Verhalten zu entscheiden. Die erste Form des Konfliktverhaltens lässt sich beim Baby Flucht wunderbar beobachten, wenn es den Schutz der Mutter oder des Vaters sucht, sobald es Unbekanntem begegnet. Manche Babys „fremdeln“ eine Zeitlang. Größere Kleinkinder verstecken sich oft hinter Mamas oder Papas Beinen. Es ist ganz natürlich, dass sie dann dorthin wollen, wo sie sich wohl und sicher fühlen. Dieses Abwenden oder Verstecken ordne ich dem Fluchtverhalten zu. Flucht bedeutet: Nur weg von hier. Schnell an einen Ort wo ich sicher bin und wo es ruhig ist. Diese Strategie kann sinnvoll sein (Flucht vor dem Krieg, um Leben zu schützen), manchmal vertun wir uns mit der Flucht aber auch die Chance, Dinge zu klären. Im Beispiel im letzten Kapitel wird ein Fluchtverhalten bei der Mutter erkennbar, als sie sagt: „Komm, wir gehen nach Hause.“ Die Kampfbereitschaft beginnt unterschiedlich früh. Unser Kampf damals einjähriger Sohn hat zuerst gelernt, den Kopf zu schütteln und nein zu sagen, bevor er überhaupt ja sagen konnte. Mit dem „Nein” drückt er seine Selbstbestimmung aus. Er zeigt Widerstand und will selbst entscheiden. Mit dem „Nein“ wehrt er sich gegen Fremdbestimmung und setzt dabei ein Zeichen: „Stopp, das will ich nicht”. Diesen Widerstand ordne Eveline Degani: Und wie streiten Sie? – konfliktbewältigung.ch

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ich dem Kampfverhalten zu. Nach meiner Erfahrung ist das eine ganz natürliche und gesunde Entwicklung des Kindes. Auch während der Sandkastenzeit erkenne ich in vielen Situationen das Kampfverhalten, zum Beispiel wenn ein Kind sein Spielzeug verteidigt. Die Kleinen beginnen sich zu wehren, das eine oder andere Kind wird dabei auch handgreiflich. Ein Kampf muss aber nicht unbedingt mit Körpereinsatz ausgetragen werden. Viele Kämpfe werden mit Worten ausgefochten, wenn Interessen verteidigt werden. In der Geschichte im ersten Kapitel haben die Kinder körperlich gekämpft. Sandro hat Armin an die Wand gedrückt. Armin versuchte sich zu wehren. Zu Handgreiflichkeiten kommt es oft dann, wenn man mit Worten nicht weiterzukommen scheint. Mit Hilfe des Vermittlers konnten die beiden Jungen wieder zur Sprache finden und ihre Bedürfnisse formulieren. Körperkontakt ist an und für sich nichts Schlechtes, wichtig ist dabei, dass Regeln eingehalten werden. Kompromiss Beim Kompromiss, so wie ich ihn verstehe, können verschiedene Verhaltensweisen eine Rolle spielen, wie zum Beispiel Nachgeben, Zustimmen, Anpassen, Zugeständnisse machen, Kooperieren. Im Schweizerdeutschen gibt es einen Spruch, der das ganz wunderbar beschreibt: „De Gschiider git no, de Esel blibt stoh.“ Zu deutsch: „Der Klügere gibt nach, der Esel bleibt stehen.“ Kompromisse kommen zustande, wenn keine Einigung möglich scheint oder wenn es der einen Partei zu dumm wird, sodass sie nachgibt. Bei unseren Kindern kommt das manchmal auch vor, dann sagt schließlich jemand: „Also gut, dann nimmst du es eben…“

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Im Beispiel besteht der Kompromiss in der Lösung „Wir lassen uns gegenseitig in Ruhe“. Der sehnliche Wunsch von Armin, mitspielen zu dürfen, bleibt auf der Strecke. Ein Konsens gelingt dann, wenn alle Parteien bereit sind, ein- Konsens ander zuzuhören und miteinander eine stimmige Lösung zu finden. Ein gleichberechtigter Dialog ist die Voraussetzung. Ziel ist die Win-win-Situation. Dies gelingt meist dann, wenn bewusst und gezielt ein Konfliktlösungsmodell angewendet wird. Immer mit dem Ziel: Wir suchen eine Lösung, die für alle stimmt. Im einführenden Beispiel hat sich die Win-win-Situation erst drei Tage später eingestellt, nachdem sich die Situation beruhigt hat und die Gefühle und Bedürfnisse gehört worden sind. Jede dieser Konfliktstrategien ist sinnvoll und wichtig, es kommt immer auf den Kontext an. Wenn wir uns also aus verschiedenen Gründen (etwa, weil wir ruhige und folgsame Kinder haben möchten) in einen Streit einmischen und den Streit für die Kinder entscheiden, dann nehmen wir ihnen die Möglichkeit, ihr natürliches Konfliktverhalten zu entwickeln. Das heißt nicht, dass wir uns nicht einmischen dürfen, sondern es heißt, dass wir uns bewusst sein sollten, was wir den Kindern in dieser Situation beibringen möchten – also was es aus unserer Reaktion lernen kann. Dass dies nicht immer ganz einfach ist, macht das Beispiel von Fritz deutlich. Zwei Kleinkinder spielen im Sandkasten. Der eineinhalbjährige Fritz Konflikt im Sandkasten sieht eine Schaufel und nimmt sie. Der knapp zweijährige Paul bemerkt das. Er will die Schaufel ebenfalls, denn es ist seine. Darum geht er zu Fritz hin und nimmt ihm die Schaufel weg. Fritz beginnt zu weinen und zieht Paul eins über. Nun weint Paul auch.

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Die Mutter von Fritz hat gerade noch mitgekriegt, dass Fritz Paul geschlagen hat. Sie geht zu den beiden hin und reagiert. Die Mutter hat nun verschiedene Reaktionsmöglichkeiten. Folgende vier Reaktionen kann man besonders häufig beobachten: Typische Reaktionen  „Du darfst nicht schlagen, sonst gehen wir nach Hause.“ (a)  „Nicht schlagen, Fritz! Du kannst ja etwas anderes machen. Nimm du die andere Schaufel.“ (b)  „Stopp! Warum tust du das?“ (c)  „Hoppla, was ist los?“ (d) In meinen Vorträgen lade ich die Anwesenden ein aufzuschreiben, was Fritz ihrer Meinung nach in den vier Varianten gelernt hat. Etwa achtzig Prozent der Eltern empfinden die Variante a) als Drohung, die Variante b) als Alternative, bei der aber das Kind nicht ernst genommen wird, und die Variante c) sehen viele als Möglichkeit, das Kind zum Nachdenken anzuregen. Zirka fünfzehn Prozent der Befragten empfinden diese dritte Variante als Überforderung des Kindes, da sie davon ausgehen, dass ein zweijähriges Kind noch nicht in der Lage ist, sich selbst zu reflektieren. Die Variante d) wird meistens gut aufgenommen. Ich habe hier Hypothesen aufgestellt, wie die vier verschiedenen Reaktionen beim Kind ankommen können und welche Auswirkung das haben kann. Bei Variante a) lernt das Kind: „Schlagen ist nicht erlaubt. Wehren ist nicht erlaubt. Ich werde bestraft, wenn ich mich wehre.“ Hypothese Weil das Kind sich nicht wehren darf, bleibt ihm nur die MögVariante a) lichkeit der Flucht. Es kann gut sein, dass sich mit der Zeit Wut und Ärger aufstauen, die sich in aggressivem Verhalten

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äußern. Das aggressive Verhalten kann dabei nach innen (gegen sich selbst) oder nach außen (gegen sein Umfeld) gerichtet sein. Bei Variante b) lernt das Kind: „Wehren ist nicht erlaubt. Der andere ist wichtiger als ich. Meine Bedürfnisse sind nicht wichtig. Ich muss nachgeben.“ Es bleibt ihm die Möglichkeit des Rückzugs (Flucht). Auch Hypothese hier kann das Kind sein Konfliktverhalten nicht weiterentwi- Variante b) ckeln. Wenn es immer wieder die Erfahrung macht, dass seine eigenen Bedürfnisse nicht wichtig sind, wird das früher oder später in seiner Lebensfreude Spuren hinterlassen. Die Missachtung ihrer Bedürfnisse kann auch bei Kindern zu einer depressiven Entwicklung führen, wenn diese Erfahrung sich oft wiederholt. Bei Variante c) erscheint es mir wichtig, dass die Frage „Warum tust du das?“ aus einer Haltung des Verstehenwollens gestellt wird. Dann besteht die Möglichkeit, dass das Kind lernt: „Schlagen ist nicht in Ordnung. Trotzdem kann sagen, warum ich das tue. Wenn ich sage, warum ich Paul haue, versteht mich Mama. Wir suchen eine Lösung, die für alle stimmt. Wenn wir reden, muss ich nicht hauen.“ Wenn Fritz in seinem Verhalten verstanden wird, ist er bereit, Hypothese Variante c) sein Konfliktverhalten weiterzuentwickeln. Bei Variante d) lernt das Kind: „Jetzt ist etwas passiert. Wir schauen, wie es wieder in Ordnung kommt.“ Wenn niemand für sein Verhalten verurteilt wird, ist die reitschaft zur Suche nach einer allseits befriedigenden sungssuche größer. Es geht bei dieser Intervention nicht rum, Rechenschaft zu verlangen, sondern vielmehr um Suche nach einer Lösung, die für alle stimmt.

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Be- Hypothese Lö- Variante d) dadie

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Kinder lernen lassen Auch wenn ein zweijähriges Kind keine vollständige Antwort auf meine Frage geben kann, ist eine solche Frage durchaus sinnvoll. So lernt es, innezuhalten, nachzudenken und nach Lösungen zu suchen. Denn wie soll es lernen, wenn wir ihm diese Frage verwehren, nur weil wir denken, es sei noch zu klein dafür? Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Kinder viel mehr verstehen, als man vermutet. Oft haben sie mich mit ihrer Reaktion überrascht. Das ist aber nur möglich, wenn ich sie als lernfähige Menschen anspreche und nicht als kleine Kinder, die noch nichts vom Leben verstehen. Darum ist die Haltung, mit der ich Kindern begegne, von wesentlicher Bedeutung. Wenn sie überfordert sind, kann ich ihnen als Erwachsene helfen, indem ich ihnen zum Beispiel eine Auswahl an Antworten gebe oder meine Beobachtung oder Vermutung mitteile („Wolltet ihr beide das Spielzeug haben?“). Die meisten Kinder wissen, dass Schlagen nicht erlaubt ist. Wir brauchen es ihnen nicht immer und immer wieder zu sagen, da es nicht viel nützt, zu sagen, was sie nicht tun sollen. Genau in diesem Moment wissen sie nämlich nicht, wie sie sich anders verhalten können. Was sie also brauchen, ist dass wir ihnen andere, neue Wege zeigen, wie man sein Bedürfnis erfüllen kann, sprich: wie man sich gewaltlos verteidigt. Und jetzt mal ehrlich: Wissen Sie, wie das geht? Wie machen Sie das im Alltag? Bevor wir unsere kleine Geschichte um Fritz und Paul im Kapitel Konfliktlösungsmodelle fortsetzen, schauen wir uns einmal die unterschiedlichen Streittypen an.

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4. Verschiedene Streittypen Menschen verhalten sich in Konfliktsituationen unterschiedlich. Aufbauend auf den Streittypen (Tiger, Hase, Opossum, Löwe) nach Anita von Hertel1 unterscheide ich folgende Charakterisierungen:  Tiger: greift an, nimmt den Kampf auf, verteidigt, zeigt seine Stärke  Hase: geht dem Konflikt aus dem Weg, springt davon  Strauß: steckt den Kopf in den Sand und lässt den Sturm vorüber ziehen  Chamäleon: passt sich der Umgebung an, versteckt sich durch Tarnung, ohne sich selbst zu zeigen  Giraffe: behält dank ihrem langen Hals den Überblick. Sie möchte die Verbindung zum andern aufrechterhalten und versucht zu verstehen, um welche Bedürfnisse es gerade geht Während der Hase dem Konflikt geschickt und flink aus dem Weg geht, immer wieder eine Ausrede findet, warum er jetzt keine Zeit hat, steckt der Vogel Strauß bei drohender Gefahr den Kopf in den Sand. Er überhört die Aufforderung zum Reden, versteckt sich lieber „jaja“ murmelnd, hinter der aufgeschlagenen Zeitung, statt wirklich zuzuhören. Das Chamäleon passt sich der Umgebung an, ohne die eigenen Bedürfnisse zu vertreten. Der Tiger faucht, kämpft und macht Angst. Stellen Sie sich einen schlecht gelaunten Menschen vor, den man lieber nicht belästigt, aus Angst er könnte angreifen. Sein Vorteil ist, dass man ihn in Ruhe lässt. Die Giraffe, mit ihrem großen Herzen,

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von Hertel, Anita: „Grrr! Warum wir miteinander streiten und wie wir davon profitieren können.“ Frankfurt: Campus Verlag 2006. Eveline Degani: Und wie streiten Sie? – konfliktbewältigung.ch

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möchte verstehen, worum es wirklich geht. In ihrer empathischen Haltung behält sie den Überblick. Grundsätzlich tragen wir alle fünf Streittypen in uns. Je nach Situation sind wir zum Beispiel einmal ein wenig mehr Hase oder ein anderes Mal auch mal der Tiger.

Streittypentest Möchten Sie herausfinden, welchem Streittyp Sie entsprechen? Dann sind Sie herzlich eingeladen, sich anhand der folgenden Beispiele in verschiedene Situationen hineinzuversetzen und zu überlegen, welche dieser Reaktionen Sie am ehesten wählen würden. Da es in der Realität noch viel mehr Reaktionsmöglichkeiten gibt und die persönliche momentane Verfassung auch eine Rolle spielt, ist dieser Test in erster Linie zur Unterhaltung gedacht. Trotzdem kann Ihnen das Experiment vielleicht einen Hinweis geben, welche Verhaltensweisen Ihnen eher zusagen und zu welchem Streittyp Sie tendenziell neigen. Beispiel 1 Sie stehen am Morgen mit dem falschen Bein auf und haben schlechte Laune.  1. Sie fahren den Erstbesten, der Ihnen über den Weg läuft, an. Die Leute gehen Ihnen aus dem Weg.  2. Sie gehen arbeiten, ohne weiter darüber nachzudenken.  3. Sie ziehen sich in Ihre Arbeit zurück und verdrängen Ihre schlechte Laune.  4. Sie stehen auf, nehmen ihre schlechte Stimmung wahr und überlegen, was Sie jetzt brauchen.  5. Sie bleiben im Bett und melden sich krank.  6. Sie lassen auf dem Weg zur Arbeit Ihre schlechte Laune raus und fluchen herzhaft über die anderen Autofahrer. Im Büro ist Ihre Laune bereits besser. 30

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Sie haben einen anstrengenden Tag hinter sich. Ihre Kinder kommen Beispiel 2 abends vom Spielen nach Hause. In ihrem Übermut lassen sie die dreckigen Schuhe mitten im Gang stehen und die Jacken fallen auch gleich wieder vom Garderobenhaken auf den Boden. Als Sie die Unordnung sehen, werden Sie ärgerlich.  1. Sie schlucken Ihren Ärger runter und räumen selbst auf, da dies das Einfachste ist.  2. Sie ärgern sich, rufen ihre Kinder herbei und schimpfen sie aus.  3. Beim Abendessen thematisieren Sie das Hinterlassen der Garderobe mit der ganzen Familie.  4. Sie versuchen, das Positive zu sehen: Hauptsache die Kinder hatten einen schönen Tag.  5. Sie lassen alles liegen. Ihr 9-jähriger Sohn hat in der Schule eine aus ihrer Sicht völlig Beispiel 3 ungerechtfertigte Strafaufgabe bekommen.  1. Sie gehen zur Lehrerin und fragen erbost nach, warum er diese Strafaufgabe bekommen hat.  2. Sie wollen davon nichts hören. Der Junge soll das selber klären.  3. Sie beschwichtigen Ihren Sohn und versuchen ihn irgendwie abzulenken.  4. Sie besprechen die Situation mit Ihrem Sohn und klären gemeinsam das weitere Vorgehen.  5. Sie machen nichts, denn vermutlich hatte die Lehrperson schon ihre Gründe. Mittagszeit. Es ist halb eins. Das Telefon klingelt. Jemand möchte Beispiel 4 Ihnen ein neues Produkt zur Probe anbieten. Sie haben sich gerade ausgeruht. Der junge Mann am Telefon will nicht glauben, dass Sie kein Interesse haben und versucht weiter, Sie zu überzeugen.

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 1. Sie sagen zu, damit Sie endlich Ihre Ruhe haben.  2. Sie erzählen, dass Sie gerade keine Zeit haben.  3. Sie beschimpfen ihn, weil er Ihre Mittagsruhe gestört hat.  4. Sie fragen ihn, ob er hören möchte, wie Sie zu diesem Angebot stehen.  5. Sie verzichten dankend auf das Angebot. Beispiel 5 Ihre Frau ist offenbar schlecht gelaunt. Sie wirft Ihnen vor, dass Sie nicht mitdenken, nur weil Sie vergessen haben, den Müll rauszutragen.  1. Sie ziehen sich ins Büro zurück – da gibt es noch Arbeit zu erledigen. Sie finden die Vorwürfe ungerechtfertigt, haben aber keine Lust sich auf dieses Geplänkel einzulassen.  2. Sie bringen den Müll raus und entschuldigen sich, weil Sie es tatsächlich vergessen haben.  3. Sie beschwichtigen Ihre Frau: „Ich mache es gleich nachher!“, und verziehen sich in die Garage, wo Sie noch etwas erledigen müssen.  4. Sie werden wütend, weil Ihre Frau wegen Kleinigkeiten meckert. Sie finden das ziemlich kleinlich und sagen ihr das auch.  5. Sie lassen Ihre Frau ausreden und hören ihr zu. Zwar fühlen Sie sich angegriffen, schieben dieses Gefühl aber erst einmal zur Seite.  6. Sie gehen auf ihre Frau zu: „Bist du verärgert weil dir Zuverlässigkeit wichtig ist?“ Beispiel 6 Ärger im Geschäft. Sie fühlen sich von Ihrem Chef unfair behandelt.  1. Sie warten seit Längerem auf einen guten Moment, um mit Ihrem Chef zu sprechen. Irgendwie finden Sie aber immer einen guten Grund, warum es jetzt nicht der richtige Zeitpunkt ist.  2. Sie lassen sich nichts gefallen und sagen sofort, was Sie denken.  3. Sie keifen einfach den Nächsten an. 32

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 4. Sie sagen nichts und erledigen Ihre Arbeit. Insgeheim denken Sie daran zu kündigen.  5. Sie gehen zu Ihrem Chef und bitten ihn um ein Gespräch. Ihr Kind spielt draußen mit anderen Kindern. Es hat einige Spielsa- Beispiel 7 chen mitgenommen. Ein Spielkamerad kommt und möchte den Traktor haben. Ihr Kind merkt das und stürzt sich gleich selbst darauf. Eine Mutter, die gerade daneben steht, mischt sich laut ein: „Kinder, ihr müsst teilen und euch abwechseln.“ Sie ärgern sich, weil es weder ihr Kind noch ihr Traktor ist.  1. Sie gehen hin und erklären, dass das der Traktor Ihres Kindes ist und dass es ihn gerne selber fahren möchte.  2. Sie warten noch ein Weilchen und nehmen dann den Traktor und ihr Kind und gehen nach Hause.  3. Sie reagieren nicht.  4. Sie beschwichtigen ihr Kind: „Komm, mach du etwas anderes“, um den Frieden auf dem Spielplatz zu wahren.  5. Sie bitten die Mutter, die Kinder selber regeln zu lassen, wie sie das mit ihrem Spielzeug handhaben wollen.

Auswertung Nun folgt meine Zuordnung der Streittypen. Falls Sie bei der Zuordnung der Streittypen zu einem anderen Ergebnis kommen als ich, bedeutet das nicht, dass Ihre Meinung falsch ist, sondern dass Sie die Situation anders betrachten. Denken Sie daran, dass alle Streittypen in uns stecken und wir je nach Situation mehr zum einen oder zum anderen neigen. Diese Zuordnung ist keine Bewertung, sondern eine Hilfestellung, um bewusst zu machen wie wir uns verhalten bzw. verhalten wollen.

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Beispiel 1: Morgenmuffel  1. Der unbewusste Tiger faucht andere an.  2. Das Chamäleon passt sich dem Alltag an.  3. Der Hase weicht mithilfe der Arbeit der schlechten Laune aus.  4. Die Giraffe nimmt ihre Stimmung wahr und geht darauf ein.  5. Der Strauß steckt den Kopf in den Sand und bleibt im Bett.  6. Der bewusste Tiger lässt die schlechte Laune raus, niemand trägt Schaden. Im Büro ist die schlechte Laune weg, weil sie bewusst herausgelassen wurde. Beispiel 2: Unordnung in der Garderobe  1. Das Chamäleon wählt den Weg des geringsten Widerstands und passt sich an.  2. Der Tiger ärgert sich und schimpft.  3. Die Giraffe sucht das Gespräch, weil sie eine verbindliche und langfristige Lösung erreichen möchte.  4. Der Hase verdrängt den eigenen Ärger und denkt: „Im Grunde gibt es ja gar kein Problem, Hauptsache die Kinder sind gesund.“  5. Der Vogel Strauß macht nichts. Beispiel 3: Strafaufgaben  1. Der Tiger verteidigt sein Junges.  2. Der Strauß will nichts damit zu tun haben: Die Aussage „Der Junge soll das selber klären!“ könnte eine Ausrede sein.  3. Ablenkung und Beschwichtigung sind für mich eine Art Flucht vor dem Konflikt, die dem Hasen zu.

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 4. Die Giraffe handelt überlegt: Gefühle und Bedürfnisse werden gehört, die nächsten Schritte werden gemeinsam geklärt.  5. Das Chamäleon passt sich an, die eigenen Bedürfnisse bleiben verborgen. Beispiel 4: Telefonbelästigung  1. Das Chamäleon passt sich an und sagt ja, ohne die eigenen Bedürfnisse zu überüberprüfen.  2. Der Hase hat keine Zeit. Das Problem ist damit nicht geklärt, denn verschoben ist nicht aufgehoben. Mit höchster Wahrscheinlichkeit wird der Vertreter zu einem späteren Zeitpunkt wieder anrufen.  3. Der Tiger faucht, denn seine Mittagsruhe wurde gestört. Wie das beim anderen ankommt, ist ihm egal.  4. Die Giraffe klärt die Zuhörbereitschaft des Gegenübers ab, bevor sie ihre Interessen und Bedürfnisse mitteilt.  5. Der mutige Strauß hat „Nein“ gesagt, mit oder ohne Kopf im Sand. Vielleicht entwickelt er sich gerade zum stolzen Pfau? Beispiel 5: Abfallstress  1. Der Hase stellt sich dem Konflikt nicht, sondern weicht ihm aus. Der Konflikt bleibt ungelöst. Er kann nur darauf hoffen, dass die Frau sich beruhigt, sonst geht es nämlich weiter, wenn er mit seiner Arbeit fertig ist.  2. Diese Reaktion ordne ich dem Tiger zu, der damit seine Stärke und Verantwortung zeigen möchte. Es könnte aber auch eine Reaktion der Giraffe sein, wenn sie mit den Gefühlen und Bedürfnissen verbunden ist und ihre Haltung empathisch ist. Eveline Degani: Und wie streiten Sie? – konfliktbewältigung.ch

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 3. Der Strauß versucht, dem Konflikt zu entkommen. „Ich mache es gleich“, ruft er, aber in Wirklichkeit will er einfach seine Ruhe.  4. Der Tiger faucht zurück und lässt sich auf den Streit ein.  5. Das Chamäleon übernimmt die Farbe der Umgebung. Es passt sich an, lässt die Frau ausreden und macht sich selbst unsichtbar, indem es seine eigenen Bedürfnisse verdrängt.  6. Die Giraffe geht empathisch auf die Frau zu und spricht Gefühl und Bedürfnis aus. Beispiel 6: Ärger im Geschäft  1. Der Hase verschiebt die Klärung auf später, wobei nicht klar ist, ob und wann dieses „später“ eintreten wird.  2. Der Tiger wehrt den Anfängen, er kontert, wenn auch möglicherweise nicht immer ganz diplomatisch.  3. Das Chamäleon lässt sich vom Chef anfauchen. Es kennt die Rangordnung und lässt seine Aggression beim Nächstniederen aus.  4. Der Strauß schweigt und steckt den Kopf in den Sand. Die Arbeitsmotivation stirbt in diesem Fall mit dem Schweigen. Innerlich hat er daher bereits gekündigt.  5. Die Giraffe geht die Sache professionell an. Sie stellt sich der Problematik. Die erfahrene Giraffe überlegt sich genau, was und wie sie ihre Anliegen formulieren will. Beispiel 7: Auf dem Spielplatz  1. Die Giraffe spricht freundlich und wertschätzend an, was ihr wichtig ist  2. Der Hase weicht dem Konflikt aus und flieht.  3. Der Strauß ignoriert den Konflikt, vielleicht weil ihm die Ruhe wichtig ist. 36

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 4. Das Chamäleon passt sich an und sucht andere Möglichkeiten, weil es keinen Streit will.  5. Je nach Tonfall und Haltung könnte das eine Tiger- oder eine Giraffenstrategie sein. In jedem Fall wird der Konflikt angesprochen, und die Bereitschaft, die Sache auszutragen und zu klären, ist signalisiert. Das Ergebnis dieses unverbindlichen Streittypentests spiegelt natürlich auch Ihre momentane Stimmung wider. Es ist hilfreich, wenn Sie vor allem überlegen: gehören Sie grundsätzlich eher zu den Menschen, die sich anpassen, die einem Konflikt ausweichen oder ihn ignorieren? Oder gehören Sie eher zu jenen, die Konflikte gerne ansprechen und einer Auseinandersetzung grundsätzlich Positives abgewinnen? Grundsätzlich können wir davon ausgehen, dass alle Typen in Unterschiedliche uns stecken und wir unbewusst diejenige Strategie wählen, Strategien mit der wir bisher gute Erfahrungen gemacht haben. Wenn ausprobieren wir uns dieser Streittypen bewusst sind, können wir auch gezielter wählen, welche Strategie wir für diese Situation benutzen wollen. Dieses Bewusstsein ist wertvoll, denn die eine Strategie ist nicht schlechter oder besser als die andere. Sie ist einfach anders. Spätestens wenn wir mit unserem üblichen Verhalten nicht mehr weiterkommen, ist es sinnvoll, eine neue Strategie zu wählen. Ich muntere die Menschen gerne auf, einmal spielerisch eine andere Strategie auszuprobieren und so ihr Reaktionspotenzial zu erweitern. Das braucht anfangs etwas Mut, macht aber unter Umständen ganz viel Spaß. So sind wir einerseits geprägt von unseren Erfahrungen und unserem Charakter, andererseits aber auch davon, wie wir gelernt haben, mit unseren Gefühlen umzugehen. Es ist ein großer Unterschied, ob wir gelernt haben, dass alle Gefühle zum Leben gehören, oder ob wir gelernt haben, dass „negativ“ empfundene Gefühle wie Wut, Ärger oder Eifersucht abgelegt werden müssen. Eveline Degani: Und wie streiten Sie? – konfliktbewältigung.ch

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5. Umgang mit Emotionen Gefühle sind Konflikte sind oft mit heftigen Emotionen verbunden. Man ist Wegweiser besorgt, verärgert, verängstigt, hilflos, wütend, eifersüchtig, rachsüchtig, verzweifelt, enttäuscht, traurig, verletzt, entsetzt, usw. Es sind oft die unangenehmen Gefühle die uns Schwierigkeiten bereiten. Zwar können sich auch Freude, Glück und Liebe sehr intensiv anfühlen, dennoch habe ich noch nie Klagen über diese Gefühle vernommen. Vermutlich weil es sich einfach gut anfühlt, diese Gefühle zu haben. Darum wende ich mich in diesem Kapitel jenen Gefühlen zu, die Menschen in Konfliktsituationen die meisten Schwierigkeiten bereiten. Das bekannteste „negative“ Gefühl ist die Wut, von der ich gleich schreibe. Eine für mich sehr wichtige Erkenntnis ist, dass alle Gefühle okay sind. Ich teile die Meinung der Psychologin Anouk Claes, dass es weder „gute“ noch „schlechte“ Gefühle gibt.2 Denn die Gefühle zeigen uns einfach, wie es uns geht und sind daher wertneutral. Das unangenehme Gefühl sagt uns: hier ist ein Bedürfnis unerfüllt. Die Intensität des Gefühls deutet darauf hin, wie sehr wir von einer Sache betroffen sind und wie wichtig uns das Bedürfnis ist, das dahinter steht. Im Umgang mit Emotionen hilft es oft, sich des Gefühls bewusst zu werden und es auszusprechen. In einem zweiten Schritt werden die dahinter stehenden Bedürfnisse gesucht: „Warum hast du (habe ich) dieses Gefühl, worum geht es dir (mir) genau?“ Das Wahrnehmen und Verbalisieren der Gefühle und Bedürfnisse sind wesentliche Teile der Konfliktarbeit. „Bist du traurig, weil du gerne mitspielen und dazugehören möchtest?“ und „Bist du verärgert, weil du gerne in Ruhe mit deinem Freund spie-

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Anouk Claes: „Gefühle, Geist und Ego. Wie Trauer, Glück, Wut und Eifersucht zur inneren Kraftquelle werden.“ Allinti Verlag 2008, S. 2

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len möchtest?“ sind die Vermutungen, die der Mann im ersten Beispiel ausgesprochen hat. Dabei hatte er ein Bewusstsein für folgende Erkenntnisse: Gefühle sind immer in Ordnung. Es gibt keine falschen Es gibt keine Gefühle. Gefühle sind neutral und okay, so wie sie sind. schlechten Gefühle Gefühle helfen uns herauszufinden, wie es uns geht, was uns wichtig ist, welche Bedürfnisse erfüllt werden wollen.

Warum Wut gut tut Die Wut ist eine der stärksten Emotionen. Sehr viel Energie ist damit verbunden. Die Wut ist jene Kraft, die uns hilft zu überleben. Denken Sie an die Urzeit. Wut hilft zu kämpfen. Sie gibt Bärenkräfte. Und Kämpfen bedeutete Überleben. Viele Menschen erzählen mir, dass die Wut Energie kostet und sie deswegen oft sehr erschöpft sind. Das kommt daher, dass sie mit aller Kraft versuchen, die Wut loszuwerden, da sie gelernt haben, dass Wut schädlich sei. Es werden Situationen genannt, wo Wut Menschen zu einer Handlung verleitet, die sie im Nachhinein bereuen. Es gibt jedoch einen entscheidenden Unterschied zwischen der Wahrnehmung eines Gefühls und seiner Umsetzung. Dass die Wut als positive Energie genutzt werden kann, ist in erster Linie eine Einstellungssache und gelingt mit ein wenig Übung. Zuerst einmal geht es darum, das Gefühl im Körper wahrzu- Wut als positive nehmen und sich mit der Wut zu versöhnen. So kann ich zu Energie nutzen mir selbst sagen: „Ja, ich bin wütend. Es ist okay, wütend zu sein. Ich darf wütend sein. Auch wenn es mir nicht leicht fällt, meine Wut anzunehmen, weil ich es gerne friedlich und leicht hätte, so ist die Wut doch ein Teil von mir, der jetzt gerade gehört werden will.“ Um einen positiven Zugang zur Wut zu trainieren, empfehle ich folgende Übung: Suchen Sie sich eine Situation, in der Sie sich mehr Energie oder Motivation wünschen. Gerade bei Eveline Degani: Und wie streiten Sie? – konfliktbewältigung.ch

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Dingen, die man nicht gerne tut, die aber trotzdem getan werden müssen, kann es hilfreich sein, es mit der Energie der Wut zu versuchen. Diese Erfahrung bestätigt auch diese Seminarteilnehmerin: „Ich habe bei mir selbst beobachtet, dass ich mir oft einen Grund suche, um wütend zu sein, wenn ich Dinge tun muss, die mich im Moment anstrengen. Zum Beispiel kann ich wunderbar effizient aufräumen und saubermachen, wenn ich es mit der Energie der Wut tun kann. Früher habe ich mich immer schlecht gefühlt, wenn ich wütend war. Jetzt fühlt es sich viel besser an. Weil ich gelernt habe, das Potenzial dieser Energie bewusst zu nutzen, anstatt es zu verurteilen. So kann ich den Ärger, der sich manchmal im Alltag aufbaut, gezielt rauslassen und habe sogar noch etwas davon.“ Ein anderer Teilnehmer erzählt: „Ich war so wütend, da habe ich es einfach gesagt. Und es war mir völlig egal, was die anderen von mir denken. Es musste einfach raus. Und ich muss gestehen, es hat richtig gut getan!“ Übung: Wie ist ihr Machen Sie eine Übung und stellen Sie sich selbst ein paar Zugang zu ihrer Fragen. So können Sie einen ersten Zugang dazu bekommen, Wut? wie Sie persönlich mit der Emotion Wut umgehen.  Was gelingt Ihnen besonders gut, wenn Sie wütend sind?  Was gelingt Ihnen nicht, wenn Sie wütend sind?  Was hilft Ihnen, die Wut zu akzeptieren? Wer sich mit diesem Thema intensiv auseinandersetzen möchte und weitere Übungen dazu sucht, dem empfehle ich das Buch „Gefühle, Geist und Ego“ von Anouk Claes .3

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Anouk Claes: „Gefühle, Geist und Ego. Wie Trauer, Glück, Wut und Eifersucht zur inneren Kraftquelle werden.“ Allinti Verlag 2008

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Dampf ablassen, statt Gefühle zu unterdrücken Erkenntnis einer Seminarteilnehmerin: „Vor allem in anstrengenden Zeiten schimpfen mein Mann und ich uns gelegentlich zünftig an. Von außen hören sich solche Streitereien gar nicht nett an. Wir benutzen diese dann gegenseitig als zeitweilige Blitzableiter. Gestern war auch wieder so ein Tag. Abends habe ich mich mit meinem Mann nochmals über den Tag unterhalten. „Mir gefiel, wie du heute gekontert hast. Es hat mir gut getan, dass ich meine schlechte Laune nicht verbergen musste und du mich mit deinen Antworten in Schach gehalten hast.“ Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Es geht nicht darum, nicht zu streiten, vielmehr ist das „Wie“ zu klären und dann in den ruhigen Minuten das Rundherum zu definieren. Wenn ich meinem Mann sagen kann: „Danke, dass du meine Laune heute ausgehalten hast, es hat mir echt gut getan, herumnörgeln zu dürfen!“ So kann er in wiederkehrenden Situationen besser mit meiner Laune umgehen, weil er weiß, dass ich das schätze.“ Natürlich waren wir auch neugierig auf die Sichtweise ihres Streiten als Mannes. Wie ist es für ihn, wenn sie ihn als Blitzableiter ge- Blitzableiter braucht? Der Ehemann berichtet: „Es war anfangs schwierig zu erkennen, dass meine Frau einen Blitzableiter möchte und die Aussagen und Schimpfereien nicht persönlich gemeint sind. Es ist aber auch sehr erleichternd für mich, wenn ich weiß, dass jetzt geflucht und geschimpft werden kann, ohne dass nachher ein emotionaler Scherbenhaufen zurückbleibt. Für mich ist es sehr hilfreich, wenn meine Frau mit einer kurzen, aber eindeutigen Geste oder Mimik ein Zeichen gibt, dass es jetzt ein „Blitzableiter-Streit“ ist. Dies kann ein Grinsen oder ein verschmitztes Lächeln sein… Nach einem solchen Streit gibt es keine Gewinner und keine Verlierer, was das Ganze sehr reizvoll macht. Früher ging ich sofort auf Abwehr, was noch mehr Konflikte auslöste, weil mir meine Frau das gleich vorwarf. Als Mann musste ich lernen, mich einfach auf ein solches Streiten einzuEveline Degani: Und wie streiten Sie? – konfliktbewältigung.ch

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lassen, damit es funktioniert. Ich kann es nur jedem Paar empfehlen, dies auszuprobieren, da es auch Schwung in den Alltag bringt.“ Genau dieser Austausch ist wichtig und bringt der Beziehung mehr als die vermeintliche Selbstkontrolle, also das Unterdrücken der Gefühle. Unter Selbstkontrolle verstehen viele Menschen, dass man die Gefühle kontrolliert. Aber Gefühle kann man nicht kontrollieren, sie sind ganz natürlich und von unserem Verstand her nicht beeinflussbar. Kontrollieren können wir unser Denken, unsere Einstellungen und unser Verhalten: „Gefühle können wir nicht beeinflussen. Denken können wir alles, fühlen nicht. In diesem Sinne sind Gefühle Wegweiser.“4 Gefühle kennen Für ein gesundes Wohlbefinden ist es wichtig, seine Gefühle und annehmen zu kennen und sie anzunehmen. Wenn ich das Gefühl zulasse, heißt das, ich nehme mich in meiner momentanen Befindlichkeit wahr, anstatt meine Gefühle zu verdrängen. Ich fühle Ärger, Wut, Hass, Trauer oder Enttäuschung. Aber natürlich auch Freude, Glück, Liebe, Eifersucht, Bewunderung, Sehnsucht und Neid. Oft sind die Gefühle auch gemischt. Das bewusste Wahrnehmen der Gefühle ist wichtig. Das bedeutet nicht, dass wir uns von den Gefühlen leiten lassen sollen. Denn wenn wir auch unsere Gefühle nicht kontrollieren können, so können wir doch unser Verhalten steuern. Ich kann lernen, die Gefühle bewusst wahrzunehmen, indem ich mich immer wieder frage: Wie geht es mir jetzt? Was fühle ich dabei? In der Beratung taucht oft die Frage nach der Selbstkontrolle auf. Vielen Menschen erscheint es unprofessionell, wenn jemand seine Gefühle zeigt. Aus meiner Sicht bedeutet Selbstkontrolle, dass ich meine Gefühle und meine Gedanken kenne und ich mich ganz bewusst so verhalte, wie ich es will. Wenn 4

Anouk Claes: „Gefühle, Geist und Ego. Wie Trauer, Glück, Wut und Eifersucht zur inneren Kraftquelle werden.“ Allinti Verlag 2008, S. 32

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ich schimpfen will, dann schimpfe ich. Wenn ich weinen will, dann weine ich. Wenn ich mich ruhig und still verhalten will, dann verhalte ich mich ruhig und still. Eine Mutter erzählte mir, sie wisse, wie wichtig es sei, Gefühle zu zeigen. Aber trotzdem könne sie das nicht, weil sie die Kinder nicht verunsichern möchte. Sie möchte ihnen auch nicht das Gefühl geben, dass etwas nicht mit ihnen stimme, wenn sie beispielsweise vor ihnen weinen würde. Lieber gehe sie dann in ein anderes Zimmer und weine heimlich. Es wird immer Situationen geben, wo wir uns um unsere Kinder sorgen. Wir machen uns Gedanken und wünschen ihnen ein sorgenfreies, gesundes und glückliches Leben. Wenn es aber Situationen gibt, wo wir uns ernsthafte Gedanken machen und uns diese Sorge das Leben schwer macht, so müssen wir uns bewusst sein, dass wir das vor den Kindern nur oberflächlich verstecken können. Kinder nehmen intuitiv wahr, dass etwas nicht in Ordnung ist. Viele Kinder beziehen das auf sich und es verunsichert sie. Dann ist es besser, wenn wir unsere Gefühle zeigen und sie auf verständliche Art erklären. Ich selbst erlebe in solchen Gesprächen große Überraschungen. Meistens erkenne ich dann, dass es die Kinder gar nicht so schlimm finden, wie ich denke. Manchmal kommen wir auch gemeinsam auf neue Lösungsideen, wie etwas angegangen werden kann. Es ist an der Zeit, dass wir uns mit den „negativen“ Gefühlen „Ich fühle, versöhnen. Vielleicht ist jetzt der richtige Zeitpunkt, unsere also bin ich“ Einstellung zu überprüfen und neu zu programmieren. Vielleicht sollten wir uns immer wieder sagen: Es ist in Ordnung, wütend, traurig oder eifersüchtig zu sein. Es ist in Ordnung, wenn wir solche Empfindungen haben, denn sie zeigen uns, wie es uns geht. Wenn wir unserem Kind beibringen, dass es nicht wütend oder traurig oder eifersüchtig sein darf, und ihm keine MögEveline Degani: Und wie streiten Sie? – konfliktbewältigung.ch

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lichkeit geben, sein Gefühl auszudrücken, so nehmen wir ihm eine wichtige und kraftvolle Möglichkeit, sich im Leben zu behaupten. Übung:  Wie darf mein Kind seine Wut ausdrücken? Wie viel Raum  Wie darf mein Kind seine Trauer ausdrücken? ist für Gefühle?  Wie darf mein Kind seine Eifersucht ausdrücken?  Wie darf mein Kind seine Freude ausdrücken?  Wie darf mein Kind seine Liebe ausdrücken?  Wie darf ich meine Wut, Trauer, Eifersucht, Freude und Liebe ausdrücken? Ein Streit als „Mami, warum schimpfst du immer mit Papa?“, will Andi wissen. Blitzableiter Andi findet, dass Papa ungerecht behandelt wird, denn Papa ist sein Ein und Alles. Von Papa lässt er sich zu Bett bringen, den Rücken kraulen, die Hausaufgaben kontrollieren. Mami verlangt zu viel und schimpft auch noch dauernd. So beklagt er sich bei ihr. Sie erklärt ihm: „Papa ist mein Blitzableiter. Wenn du von der Schule nach Hause kommst, bist du ja manchmal auch erschöpft und ausgelaugt. Dann kann ich dir nichts mehr recht machen und du schimpfst nur noch mit mir. Genauso wie ich dann dein Blitzableiter bin, so ist Papa meiner“, erklärt die Mutter. Andi schmunzelt. „Ach so“, grinst er beruhigt. Solche Blitzableiterstreite geschehen manchmal automatisch, wenn sich über den Tag viel Frust oder Unzufriedenheit angesammelt hat. Nicht nur für die Kinder ist es schwierig, die Situation einzuordnen, wenn jemand aufbraust, die schlechte Laune raus lässt oder rummotzt. Sobald dieses Thema, wie oben, angesprochen und eine solche Situationen eingeordnet werden kann („Aha, das ist ein Blitzableiter-Streit, hier wird gerade Spannung abgebaut.“), wird es für die Beteiligten einfacher und die Entlastung wird spürbar. Hilfreich ist es auch, in einer ruhigen Minute über die Bereitschaft zur Blitzableiterfunktion zu sprechen. Wenn jemand damit Mühe hat, ist es wichtig, darüber zu reden und andere Strategien zu suchen. 44

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Wie lernen Kinder mit heftigen Gefühlen umzugehen? Leo, ein Erstklässler, kommt mittags aus der Schule und wirft seine Schultasche und die Jacke auf den Boden, die Schuhe schüttelt er von den Füßen und lässt sie liegen, wie sie fallen. Sofort interveniert seine Mutter: „Geht es dir noch gut? Jetzt kommst du sofort her und stellst deine Sachen ordentlich hin!” Noch während sie schimpft, überkommt sie ein Geistesblitz: „Mit diesem Verhalten drückt er doch was aus, ist das vielleicht gerade ein Ventil für ihn?“ Es ist wichtig, für seine Gefühle Ventile zu haben. Gerade das Zuhause soll ein Ort sein, an dem die Kinder sein können, wie sie sind. So habe ich mich auf die Suche gemacht nach Möglichkeiten, wie wir den Kindern helfen können, diese heftigen Gefühle zu hören und auszudrücken. Die folgenden drei Wege haben sich bewährt: Verbalisierung, Gefühle kreativ ausdrücken, und Gefühle aushalten. Ich benutze die Sprache als Möglichkeit die Gefühle und Die Verbalisierung Bedürfnisse auszudrücken, die ich gerade beim Kind vermute. Ich wiederhole empathisch, was das Kind sagt oder vermutlich ausdrücken will. Oft beruhigt sich ein Kind, wenn es in seinem Gefühl gehört wird. Auch wenn es seine Gefühle nicht äußern kann, ist es möglich, dass man die Körpersprache aufnimmt und versucht, in Sprache umzusetzen. Es geht darum, herauszufinden, was das Kind empfindet. Ich nenne das „die Körpersprache loopen“. Die Technik des Loopens ist im Kapitel Sieben beim Thema Gesprächsmethoden noch ausführlicher beschrieben. Nachdem die Mutter realisiert hat, dass der Sohn gerade einem für ihn wichtigen Bedürfnis folgt, versucht sie zu verstehen, was in ihm vorgeht: „Bist du erschöpft vom anstrengenden Tag?“ – Ein aggressives „Ja!!“ kommt zurück. Sie macht weiter: „Hast du dich stark Eveline Degani: Und wie streiten Sie? – konfliktbewältigung.ch

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konzentriert, und bist jetzt erschöpft vom ruhig sein und Zuhören? Jetzt bist du einfach müde und möchtest deine Ruhe?“ Das zweite Ja ist bereits ein bisschen ruhiger, aber noch immer wütend oder frustriert. Sie versucht es weiter: „Bist du auch ein bisschen wütend, weil du dich nicht immer anstrengen möchtest, alles richtig zu machen, weil du auch mal selber entscheiden willst, was zu tun ist?“ Jetzt hat Leo zur Sprache gefunden. Er klagt: „Ja, es ist so eng in der Schule, immer muss ich machen, was die Lehrerin sagt.“ – „Und zuhause habe ich dich auch noch angeschnauzt. Dabei möchtest du einfach frei sein und selber bestimmen dürfen?“ – „Ja!“ – „Willst du das heute Nachmittag tun? Du hast ja heute frei“, schlägt sie ihm vor. Schlagartig wird ihr bewusst, dass sie wohl zu schnell mit einer Lösung gekommen ist. Denn eigentlich möchte sie Leo die Möglichkeit geben, selber nach einer Idee zu suchen. „Was würde dir helfen?“, ergänzt sie. „Ich möchte mich am Nachmittag mit Freunden treffen“, sagt er. „Okay“, die Mutter streicht Leo übers Haar: „das kannst du tun. Jetzt stelle ich dir die Schuhe noch schön hin und hänge dir die Jacke auf, weil du es so streng hattest. Dann kannst du gleich an den Tisch.“ Leo ist sichtlich entlastet und geht ruhig zum Tisch. Nach dem Essen hilft er der Mutter sogar freiwillig beim Abräumen. Und auch bei der Mutter stellt sich ein gutes Gefühl ein. Sie ist froh, dass sie noch einlenken konnte. Das Verständnis hat beiden gut getan und wieder zum Miteinander und Füreinander geführt. Wenn die Kinder bereits selbst sagen können, was sie fühlen, kann ich dies in meinen eigenen Worten wiederholen. Bei kleinen Kindern ist das natürlich schwierig. Bei ihnen müssen wir die Körpersprache lesen und so versuchen, herauszufinden, was das Kind empfindet. Liegen wir falsch, teilen es uns die Kinder mit. Liegen wir richtig, verbessert sich die Situation meist schnell. Gefühle kreativ Die zweite Variante ist die Suche nach einer kreativen Ausausdrücken drucksmöglichkeit. Manchmal reicht es nicht, wenn die Gefühle durch Worte ausgedrückt werden. Dann kann es hilfreich sein, sie auf eine andere Art auszudrücken, vielleicht auf kreative Weise wie durch Malen, Kneten, Musik machen oder auch durch Körperkontakt. 46

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Suchen Sie gemeinsam mit Ihren Kindern Möglichkeiten, wie sie die Gefühle rauslassen wollen. Sie kommen bestimmt auf ganz andere und eigene Ideen. Wenn sie dann miteinander eine Auswahl treffen (vielleicht wollen Sie diese auf einem Plakat sichtbar machen), empfehle ich Ihnen, gleich die entsprechenden Orte festzulegen, damit das Geschrei, Geboxe oder Getanze für die anderen nicht störend wirkt. In der Anfangsphase macht es Sinn, wenn diese Methoden zum Spannungsabbau gemeinsam ausprobiert werden.  Schreien: im Zimmer, ins Kissen, im Bad, im Keller  Boxen: irgendwo in der Wohnung eine Boxecke einrichten  Musik laut aufdrehen und übermütig tanzen  Im Badezimmer die Wände mit Fingerfarben bemalen  In einer Schüssel mit Erde und Wasser herumsauen  Wie wär's mit einer Schlammschlacht?  Alternativen: Kissen-, Wasserpistolen-, oder Schneeballschlacht, je nach Witterung und Jahreszeit  Musik machen: Schlagzeug spielen, Trommeln (z. B. auf Plastikeimer), in die Klaviertasten hauen  Für kleine Kinder: lustvoll lärmige Geräusche machen wie zum Beispiel in einer Schachtel mit Bohnen wühlen.  Affentanz: wir machen Affengeräusche, klopfen uns auf die Brust und laufen um den Stubentisch. Mit der ganzen Familie macht das richtig Spaß!  Mit Lehm auf eine Malwand werfen  Altes Geschirr vom Flohmarkt, das vorsorglich eingekauft wurde, kaputt machen (für größere Kinder)  Zeitungspapier zerknüllen und eine Zeitungsballschlacht machen (immer nur einzelne Papiere, damit die Knäuel leicht bleiben)  Sport  Dreimal um das Haus rennen  Mandalas malen (eine Box mit Mandalakopien steht immer bereit) Eveline Degani: Und wie streiten Sie? – konfliktbewältigung.ch

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Einige Ideen, um Gefühle herauszulassen


Wenn Sie den Umgang mit der Wut mit Ihren Kindern thematisieren wollen, können folgende Fragen hilfreich sein: Schlüsselfragen zum  Wie fühlt es sich an, wenn ich wütend bin? Was spüre ich wo im Umgang mit Wut Körper? (Viele Kinder empfinden die Wutgefühle als angenehm und warm. Das unangenehme Gefühl der Hilflosigkeit kommt erst später, wenn die Kinder nicht mehr wissen, wie sie mit diesem Gefühl umgehen sollen.)  Was hilft mir, mit diesem Gefühl besser umgehen zu können?  Was will ich beim nächsten Mal ausprobieren, wenn ich wütend bin?  Wo kann ich das tun?  Was wünsche ich mir von Mama, Papa und Geschwistern, wenn ich wütend bin? (Was würde dir helfen? Willst du vielleicht malen oder mit mir kämpfen?)  Wie kann ich (als Kind) selbst dem Anderen helfen, mit heftigen Gefühlen umzugehen (zum Beispiel jemanden in Ruhe lassen)? Mit Vorsicht Emotionen durch den Körper auszudrücken kann sehr lustkämpfen voll sein. Viele Kinder gehen gerne auf das Angebot des Kämpfens ein. Der Körperkontakt, den Körper spüren zu können und das Kräftemessen sind ein hervorragendes Mittel, Energie, Anspannung, Frust und Aggressionen abzubauen. Dabei müssen jedoch die Kampfregeln klar definiert und gemeinsam aufgestellt werden. Eine Regel könnte lauten: Wenn jemand „Stopp!“ sagt oder dreimal auf den Boden klopft, muss sofort aufgehört werden. Es ist wichtig, dass vorher gefragt wird: „Willst du kämpfen?“, damit das Kind nicht überrumpelt und dadurch noch hilfloser oder wütender wird. Entscheidend ist darum auch die Klärung: „Willst du einfach rangeln (ohne gewinnen oder abwechselnd gewinnen), willst du mir zeigen, wie stark du bist (gewinnen lassen) oder soll ich dich auf den Boden legen (das Kind kann sich gehen lassen und sich ausweinen)?“ Das Kämpfen kommt vor allem bei Jungen gut an. Viele Kinder lieben es, bei verschiedensten 48

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Gelegenheiten zu kämpfen, sei es wenn sie von der Schule nach Hause kommen oder auch abends vor dem Schlafengehen. Eine Familie möchte wissen, warum ihr Sohn immer gleich weint, wenn sie beim Kämpfen sind. Die Mutter berichtet: „Auch wenn wir mit Vorsicht kämpfen, sind ganz schnell die Tränen da. Dann schluchzt er herzerweichend und manchmal sagt er, wir hätten ihm wehgetan. Das kann ich aber fast nicht glauben, irgendwie scheint er eher frustriert zu sein und einen Grund zu suchen, dass er weinen kann.“ Wenn die Tränen so dicht an der Oberfläche stehen, könnte Tränen beim das auch auf Hilflosigkeit hindeuten. Ein Kampf mit einem Kämpfen Erwachsenen kann dann das Gefühl der Hilflosigkeit noch verstärken, da das Kind sich wieder als Verlierer erlebt. Das heißt also, dass es besonders viel Gespür braucht, zu erkennen, was hinter dem Weinen steckt. Wie ist es denn nachher? „Nachher braucht er etwas Ruhe, meistens bin ich in seiner Nähe, da er mir leid tut und ich ja nur will, dass es ihm gut geht. Das sage ich ihm auch. Oft ist er hinterher erschöpft und anschmiegsam.“ Weint das Kind jetzt, weil es sich ernsthaft verletzt hat, oder bringen diese Tränen genau den reinigenden Prozess in Gange, der eben zum Spannungsabbau hilfreich ist? So oder so ist es dann wichtig, die Tränen ernst zu nehmen, Trost zu spenden, das heißt: da zu sein. Diese Familie hat vereinbart, den Sohn vorher zu fragen, ob es ihm beim Kämpfen ums Gewinnen geht, ums Kräftemessen, oder ob er in erster Linie Spannung abbauen will. In der Nachbesprechung berichtet die Mutter: „Seither sind die Tränen weniger geworden und wenn sie doch noch kommen, dann sind sie für uns alle einfacher einzuordnen.“

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Ehrlich bleiben, Weil die Kinder sich an uns und unserem Verhalten orientiestatt sich ren, ist es sehr wichtig, die eigenen Gefühle ernst zu nehmen zusammenzureißen und sie zu zeigen, auch wenn die Kinder manchmal Auslöser sind. Wie das vorwurfsfrei gelingen kann, zeigt folgendes Beispiel: Nina ist Mutter von zwei Kindern. Sie ist berufstätig und erledigt die Hausarbeit als notwendiges Übel. Weil sie die Hausarbeit nicht so gerne mag, ist sie froh, wenn sie es geschafft hat, alles ordentlich und sauber zu hinterlassen. Erschöpft und müde sitzt sie mit den Kindern auf dem Sofa und will sich ausruhen. Neben ihr steht auf dem Beistelltisch ein Glas Wasser. Da wird es – natürlich unbeabsichtigt – von einem Kind umgeworfen. Die Mutter spürt die Stresshormone einschießen. „Es ist nur Wasser“, beruhigt sie sich innerlich. Trotzdem kribbelt es in ihr. „Ach, wie mich das nervt! Am liebsten würde ich jetzt schreien!“, klagt sie. „Dann schrei doch!“, ermuntert sie ihr vierjähriges Kind hemmungslos. „Okay“, sagt sie. So schreit und kreischt sie sich den Stress vom Hals. Die Kinder stimmen belustigt mit ein. Nachher sind alle sehr erleichtert: „Das hat gut getan, vielen Dank für diese Idee“, sagt die Mutter zu den Kindern. Dann holen sie gemeinsam einen Lappen und putzen das Wasser auf. Gefühle aushalten Die dritte Variante, wie wir dem Kind sagen können „Dein Gefühl ist okay!“, braucht oft besonders viel Gelassenheit. Meine damals knapp zweijährige Tochter hat mich gelehrt, dass man ein Gefühl manchmal auch ganz einfach aushalten muss. Wenn sie einen Wutanfall hatte, warf sie sich auf den Boden und schrie. Wenn ich sie beruhigend ansprechen wollte, fing sie noch lauter an. Wenn ich sie auch nur angeschaut habe, wurde sie noch wütender. So lehrte sie mich, Gefühle auszuhalten, sie in Ruhe zu lassen, indem ich sie bewusst ignorierte. Mit der Zeit – ich hörte es am Weinen – konnte ich ihr dann schnell das Kuscheltuch zuwerfen und den Schnuller geben, mit dem sie sich selbst beruhigen konnte. Erst dann durfte man sich ihr wieder zuwenden. 50

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Wenn sich das Kind zurückzieht und nicht mit den Eltern Aushalten heißt sprechen will, ist das auch in Ordnung. Wichtig ist es dann, auch, den anderen dies zu respektieren, wie ich es auch bei einem Freund oder zu respektieren einer Freundin respektieren würde. Wenn ich mein Kind zum Beruhigen auf sein Zimmer schicke und ihm nachher nachgehe, weil ich mit ihm reden will, macht das keinen Sinn. Hilfreich könnte es aber sein, wenn die Abmachung gilt: Zum Beruhigen kann man sich aufs Zimmer verziehen. Gesprächsbereit ist man dann, wenn man wieder rauskommt. Falls jemand aber gar nicht mehr bereit ist, aus dem Zimmer zu kommen, ist es durchaus sinnvoll, auf das Kind zuzugehen. Dabei sollte ich mir vorher über das Ziel und die Absicht des Gesprächs klar werden: Respekt

 Was will ich mit dem Gespräch erreichen?  Geht es mir nur darum, dass mein Kind mich (oder meine Regeln) versteht?  Bin ich bereit, eine andere Sicht zu hören?  Lasse ich mein Kind ohne Zwischenbemerkungen oder Unterbrechungen ausreden?

Weinen ist okay In unseren Familienferien wird bei einer Diskussionsrunde über das Weinen gesprochen. „Eigentlich sollten Kinder nicht weinen“, meint eine Mutter. „Denn ein gesundes Kind braucht nicht zu weinen“, erklärt sie weiter. Ich widerspreche und erinnere mich an meine Kindheit. Das Weinen hat mich sehr entspannt. Durch das Weinen konnte ich alle Spannung loslassen, Traurigkeit ablegen oder Schmerz zum Ausdruck bringen. Ich erinnere mich, dass ich mir manchmal absichtlich traurige Geschichten ausgedacht habe, um weinen zu können.

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Später am Nachmittag ergibt sich eine buntgemischte Gruppe, die Basketball spielt. Groß und klein, alles spielt mit. Es juckt mich sehr, mitzumachen. Kaum habe ich den Ball in der Hand, kommt mein kleiner Andi angerannt: „Mami si. I will bi dio si. Mami nöd spile“ (Ich will bei Mama sein, Mama soll nicht spielen), weint er herzerweichend. „Andi, ich will jetzt spielen. Ich habe jetzt keine Zeit“, lasse ich ihn abblitzen. Er weint weiter und rennt mir nach. „Ich glaube, er braucht dich.“ Luzia hat Mitleid mit ihm. „Ja, ich höre es, aber ich will jetzt spielen.“ Ich finde, dass ich das verdient habe. Den ganzen Tag bin ich für die Kinder da. Jetzt möchte ich für eine halbe Stunde gemeinsam mit den andern Spaß haben und mich austoben. „Andi, willst du mitspielen? Du kannst entweder mitspielen oder zusehen“, lade ich ihn ein. Aber Andi weint weiter. Er will von Mama getragen werden. Luzias Mitleid wird immer größer. Sie geht vom Spielfeld. Papi kümmert sich um den Kleinen. Andi beruhigt sich wieder. Das Spiel ist noch immer in Gange. Als Luzia wieder kommt, beginnt Andi plötzlich wieder mit dem Gejammer. Interessanterweise ist Luzia jene Mutter, die vor zwei Tagen deutlich gemacht hat, dass Kinder nicht weinen sollen. Es gibt Babys, die durch das Weinen Spannung abbauen, die ihre Eindrücke mitteilen oder ihre Bedürfnisse ausdrücken. Wer Weinen als negativ empfindet, könnte dies einmal genau anschauen: Was ist meine  Warum stört es mich, wenn Kinder weinen? Haltung  Was löst das bei mir aus? zum Weinen?  Wie reagiert mein Körper? Welche Gefühle und Gedanken kommen bei mir auf?  Wie ist es für mich, wenn ich merke, dass ich auf das Weinen reagiere?  Erkenne ich Unterschiede beim Weinen von Kindern?  Welche Nuancen kann ich im Weinen entdecken? Wenn Sie den Eindruck haben, dass ihr Kind aus Schmerz weint, muss das natürlich abgeklärt werden. Wenden Sie sich 52

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in diesem Fall an den Kinderarzt oder die Mütter- und Väterberatung. Eine Mutter entdeckt: „Mich stört meine Hilflosigkeit, weil ich mein Kind nicht beruhigen kann, und weil ich ihm gerne helfen möchte.“ Welche Art von Hilfe braucht das Kind eigentlich? Eine Freundin berichtet, ihrem Baby habe es geholfen, dass sie es ernstgenommen und ihm zugehört hat: „Ich höre, dass du ganz stark weinst. Ich bin da und höre dir zu. Auch wenn ich nicht alles verstehe, was du mir mit diesem Schreien sagen willst. Ich bin da und du hast meine volle Aufmerksamkeit. Weine nur, mein Kind, weine alles raus.“

Fluchen macht Spaß Wenn Sie Ihrem Kind seine Wut erlauben wollen, heißt das nicht, dass das Kind uneingeschränkt tun kann, was es will. Sie setzen die Grenzen da, wo Sie Ihre Werte schützen möchten und suchen mit Ihrem Kind eine Ausdrucksmöglichkeit die für Ihre Familie stimmig ist. So ist es auch beim Fluchen. Viele Menschen nutzen das Fluchen als Ventil. Die Grenzen beim Fluchen sind von Familie zu Familie individuell. Ich verstehe, dass du wütend bist, aber ich möchte nicht, dass du Eine mögliche Andere so beschimpfst. Von mir aus kannst du auf dem Zimmer Grenze beim fluchen, aber nicht hier in der Stube, hier ist fluchfreie Zone. Denn Fluchen ein „Ich finde das gemein von dir, ich fühle mich völlig ungerecht behandelt!“ klingt ganz anders als: „Du blöde Arschlochkuh!“. Eine einfache Regel könnte dabei heißen: Es ist verboten, eine Person zu beschimpfen, aber es ist erlaubt, zu sagen, wie man sich fühlt und dass man etwas ungerecht, gemein und fies findet.

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Oder vielleicht möchten Sie die Regel erweitern: Es ist erlaubt, einander im Streit zu beschimpfen, aber nur mit vorher definierten Wörtern, die für alle in Ordnung sind. „Papa! Peter hat zu mir Arschloch gesagt!“, ruft die jüngere Schwester. Sie ist irritiert und beleidigt, denn dieses Wort ist in der Familie tabu. Weil sie keine bessere Reaktion weiß, beklagt sie sich beim Vater. Der lässt sich nicht aus der Fassung bringen: „Das magst du nicht? Ich auch nicht! Doch sag mal, hat er damit Recht? Bist du das?“ – „Nein!“, empört sich Marta. Der Vater beruhigt: „Siehst du, dann ist ja gut, dass du das weißt.“ Fluchen als gezielte In vielen Fällen geht es um Provokation, damit meine ich das Provokation Testen, was passiert, wenn… Als Erwachsene(r) ist man schnell versucht, Partei zu ergreifen. Das führt dann aber auch oft zu Unstimmigkeiten, weil sich meistens eines der Kinder ungerecht behandelt fühlt. Der Vater hat sich in diesem Fall entschieden, sich auf das jüngere Kind zu konzentrieren. Vielleicht geht er nicht gerne auf Klagen ein, oder vielleicht will er einfach das Selbstwertgefühl des Kindes stärken. Auf eine weiterführende Intervention verzichtet er für den Moment, weil das seiner Meinung nach nicht im Vordergrund steht. Mit dieser Reaktion lernt das Kind Beleidigungen zu ignorieren: Es ist nicht wichtig, was andere sagen, es ist nur wichtig, was ich selbst denke. Die Ursache ist aber noch nicht behoben. Hier stellt sich die Frage: Warum provoziert Peter? Welches Bedürfnis möchte er erfüllen? Geht es dem Kind vielleicht um …  … Langeweile – eine Aufforderung zum Spielen?  … Streitsuche – eine Aufforderung zum Rangeln, zu Nähe und Kontakt?  … Ärger ablassen – Ventil suchen, Dampf rauslassen? Beschimpfungen sagen hauptsächlich etwas über den Schimpfenden aus: wie es ihm geht, wie er die Situation empfindet 54

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(Ärger, Erschrecken oder Stress) und wenig über den Beschimpften – nur, dass sich dieser nicht so verhalten hat, wie es der Schimpfende erwartete. Ich war heimlich Zeuge einer Diskussion unter Siebenjährigen und Ein Unterschied habe über deren Verständnis nicht schlecht gestaunt: „Wenn jemand wirklich fies ist, dann ist er doch genau in diesem Moment ein Arschloch, oder nicht?“ – „Ja, aber vielleicht hat er nur etwas Fieses gemacht und ist gar nicht wirklich ein Arschloch.“ – „Dann darf ich aber sagen: Ich finde, dass du dich wie ein Arschloch benimmst, oder?“ Viele Eltern sind etwas überrumpelt, wenn ich frage, wie sie Fluchen macht Spaß ihren Frust abbauen. Manche gestehen dann verschämt, dass es hilft, zu fluchen. Andererseits wollen sie ja gerade nicht, dass das die eigenen Kinder tun. In solchen Fällen empfehle ich, mit den Kindern gemeinsam familientaugliche Fluchwörter zu finden, die auch in Gesellschaft benutzt werden dürfen. Ein gutes Fluchwort kann man sich so richtig auf der Zunge zergehen lassen und dadurch mit ganzer Kraft etwas ausdrücken. Eine Kursteilnehmerin erzählte, dass sie die Fluchwörter zuhause in die WC-Schüssel schreien. Wenn dann nachher noch die Spüle gedrückt wird, ist der Ärger gleich auch weggespült. Jemand anderes hat zuhause ein Fluchzimmer eingerichtet. Da darf gebrüllt, gekämpft und geflucht werden. Eine Zeit lang war dieses Zimmer der Lieblingsaufenthaltsort der Kinder. Später wurde es nur noch sporadisch aufgesucht. Viele Kinder genießen es in manchen Phasen ihrer Entwicklung, wüste Analwörter zu sagen. Das ist für Eltern manchmal ziemlich herausfordernd. Dann kann es die Situation entschärfen, wenn Sie mit ihren Kindern den Fluchwörterwettbewerb einführen. Sammeln sie wie beim Brainstorming alle Fluchwörter auf einem Blatt Papier, die die Kinder kennen. Alles darf gesagt werden, keine Kommentare oder Bewertungen Eveline Degani: Und wie streiten Sie? – konfliktbewältigung.ch

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während des Prozesses, die Bewertung erfolgt erst am Schluss, damit die Kreativität freien Lauf hat. Dann dürfen noch weitere Fluchwörter erfunden werden, auch solche, die unsinnig oder lustig klingen. So können die Kinder an andere, auch lustige Wörter herangeführt werden. Am Schluss können sie gemeinsam die Wörter aussuchen, die sich gut sagen lassen, aber nicht beleidigend klingen. Denn wichtig ist es, den Beleidigungsfaktor abzuschwächen und trotzdem den Dampf rechtzeitig rauslassen zu können. Unsere  „Das isch en cheibe Schniggschnuggfläberi!“ (Nonsens) Fluchfavoriten  „Heiliges Kanonenrohr!“  „Wer hät denn dir is Hirni gfurzt?“ (Darüber müssen unsere Kinder immer lachen, und schnell ist alles wieder in Ordnung)  „Isch hüt wiedermol Vollmond oder het di d Motzchueh verwütscht?“ Wenn ich herausfinden möchte, was hinter dem aggressiven Verhalten des Kindes steckt, sind folgende Fragen zentral:  Worum geht es dem Kind? Was will es genau? Warum will es das? Welches Bedürfnis will es gerade erfüllen?  Wie darf sich mein Kind wehren?  Wie darf mein Kind Frust und Ärger abbauen?  Wie gehe ich selbst mit Frust und Ärger um?

Gefühle die wir haben Zum Abschluss dieses Kapitels finden Sie auf der gegenüberliegenden Seite eine Auswahl einiger Ausdrücke für Gefühlszustände. Manchmal sind die Gefühle vermischt und können so mehreren Grundgefühlen zugeordnet werden.

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Begeistert, beruhigt, enthusiastisch, entspannt, erfreut, freudenreich, Glück freudestrahlend, freudig, froh, frohgemut, fröhlich, glücklich, glück- Freude strahlend, gutgelaunt, heiter, lebensfroh, lebenslustig, lustig, munter, selig, überrascht, vergnügt, zufrieden Besessen, betört, entbrannt, entflammt, entzückt, begeistert, hinge- Liebe rissen, innig berührt, leidenschaftlich ergriffen, liebestoll, stolz, verliebt, vernarrt, verknallt, zugetan, zutiefst verbunden Bedauernd, bedrückt, bekümmert, beleidigt, betroffen, betrübt, de- Trauer primiert, depressiv, down, düster, enttäuscht, erbärmlich, freudlos, gebrochen, gedrückt, gekränkt, jämmerlich, kläglich, kümmerlich, melancholisch, miserabel, traurig, trostlos, verletzt Ärgerlich, aufgebracht, brummig, distanziert, empört, enttäuscht, Wut erbittert, frustriert, gallig, griesgrämig, grimmig, irritiert, mürrisch, ungenießbar, verärgert, verstimmt, zornig Argwöhnisch, berührt, bewundernd, eifersüchtig, fasziniert, giftig, Eifersucht Bewunderung missgünstig, misstrauisch, neiderfüllt, neidisch, überrascht Ängstlich, argwöhnisch, aufgelöst, bang, befangen, beklommen, Angst beschämt, besorgt, bestürzt, betreten, betroffen, bewegt, entgeistert, entsetzt, ergriffen, erschreckt, fassungslos, furchtsam, gehemmt, gerührt, konsterniert, überrumpelt, verstört, verunsichert, verwirrt, zittrig Es ist wunderbar, wenn Kinder zu Hause ihre Gefühle zeigen Hinter jedem Gefühl dürfen. Das ist zwar manchmal für andere herausfordernd, steht ein Bedürfnis aber wo können die Kinder sonst so sein, wie sie sind – mit all ihren Gefühlen und ihrem Charakter – wenn nicht zu Hause? Gerade zu Hause können wir ihnen einen sicheren Rahmen bieten, so dass sie unverstellt sein dürfen und sich entfalten können. Als Eltern können wir ihnen Hilfestellung leisten, indem wir mit ihnen gemeinsam herausfinden, welches Bedürfnis hinter ihrer Reaktion steht.

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6. Wie man Bedürfnisse erkennen kann Unser Verhalten ist abhängig von unseren Bedürfnissen. Alles, was wir tun, dient dem Zweck Bedürfnisse zu erfüllen. Manchmal gelingt uns das, manchmal nicht. Wenn wir uns aber unserer Bedürfnisse bewusst sind, können wir eher verschiedene Wege finden, um sie zu erfüllen. Dabei können diese Fragestellungen helfen: Bedürfnisse  Welches Bedürfnis steht hinter dem Gefühl? bewusstmachen  Warum macht mich etwas traurig oder wütend?  Was ist mir in diesem Zusammenhang wichtig?  Worum geht es mir eigentlich genau? So gelangen wir zu unseren innersten Herzensanliegen, die uns neue Wege und Erkenntnisse ermöglichen. Auch Kinder versuchen, mit ihrem Verhalten ihre Bedürfnisse zu erfüllen. Natürlich bekommen sie nicht immer alles sofort so, wie sie es haben wollen. Die meisten Kinder tun dann „das Schönste und Beste“, das ihnen zu Verfügung steht, um ihr Bedürfnis vermeintlich zu erfüllen. Das kann zum Beispiel sein, sich auf den Boden zu werfen und zu toben.5 Die eigenen Bedürfnisse zu kennen und zu äußern ist ein wichtiger Schritt in der Konfliktprävention. Wer zudem auch weiß, dass der andere nicht dafür zuständig ist, meine Bedürfnisse zu erfüllen, sondern dass nur ich selbst die Verantwortung dafür trage, der hat auch die zweite wichtige Erkenntnis gewonnen. Der dritte Schritt wäre dann, nach Möglichkeiten zu suchen, wie ich mir mein Bedürfnis erfüllen kann. Denn es gibt immer mehrere Optionen, um zu einer Lösung zu gelangen. 5

Gaschler, Frank und Gundi: „Ich will verstehen, was du wirklich brauchst“. München: Kösel 2007, S. 19

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Erziehenden kann es helfen, wenn sie versuchen die Bedürfnisse in kindgerechter Sprache zu formulieren. Wenn sich ein Kind verstanden fühlt und sein Bedürfnis zur Sprache gebracht wird, steigt damit oft auch seine Kooperationsbereitschaft. Die Kooperationsbereitschaft soll aber meiner Meinung nach nicht primär das Ziel sein. In erster Linie geht es darum, das Kind bedingungslos zu lieben und ernst zu nehmen. Wenn ich mein Kind auf diese Art ernst nehme, bereichert das unsere Beziehung und somit auch das Zusammenleben. Das bedeutet nicht, dass ich mein Bedürfnis zurückstecken soll oder dass ich nur noch das tue, was mein Kind will. Es bedeutet vielmehr, dass ich bereit bin, das Kind als gleich würdiges Wesen zu sehen. Das Kind wird trotzdem seine Konflikte und Wutanfälle haben und nicht immer einverstanden sein. Doch diese Form der Begegnung schützt die Würde und hilft, gelassen zu bleiben, weil es nicht darum geht, das Kind ruhig zu stellen, sondern es zu verstehen. Hier ein Beispiel eines Wutanfalls beim Einkaufen im Supermarkt: Die zweieinhalbjährige Tochter will beim Einkaufen helfen und Ein Wutanfall bringt der Mutter verschiedene Waren. Da die Mutter diese Dinge nicht braucht, will sie die Kleine in den Einkaufswagen setzen. Sie hebt das Mädchen hoch, das sich mit lautstarkem Schreien und Treten wehrt. Also setzt die Mutter die Kleine wieder ab: „Du willst nicht in den Einkaufswagen, weil du einkaufen helfen möchtest?“ Die Kleine beruhigt sich. „Möchtest du gerne mitreden können, was wir für unser Mittagessen einkaufen?“ Das Mädchen nickt. „Hast du eine Idee wie wir das machen können, dass du mitreden kannst, und ich sicher bin, dass wir gesund und preiswert einkaufen?“ Fragend blickt das Mädchen zur Mutter hoch. „Schau mal. Ich habe hier eine Einkaufsliste. Das alles müssen wir einkaufen. Wenn du willst, lese ich dir das vor und du kannst es mir holen. Wäre das okay für dich?“ – „Ich will einen Sirup.“ – „Du willst einen Sirup. Sollen wir das so machen, dass du eine Sache selbst aussuchen darfst?“ Eveline Degani: Und wie streiten Sie? – konfliktbewältigung.ch

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Das Mädchen nickt. „Okay, dann kannst du einen Sirup aussuchen“, willigt die Mutter ein. Freudig strahlt das Mädchen. Nun können die beiden ihre Einkaufstour in Ruhe fortsetzen. Wenn man dieses Beispiel so liest, könnte man denken, dass die Kleine schließlich doch ihren Willen gekriegt hat und dass sie besser einfach lernen würde, beim Einkaufen die Erwachsenen bestimmen zu lassen, was eingekauft werden soll. Wenn Ihnen dieser Gedanke auch gekommen ist, möchte ich Sie fragen, welche Einstellung Sie grundsätzlich zu Kindern haben. Sind Kinder ihrer Meinung nach dazu da, zu gehorchen und artig zu sein? Oder wollen Sie das Kind als eigene Persönlichkeit ernst nehmen, auch wenn das manchmal anstrengend ist? Natürlich gibt es Situationen, in denen ich kompromisslos verlange, dass die Kinder jetzt gehorchen (etwa, dass sie an einer stark befahrenen Straße auf dem Gehsteig bleiben). Werden solche Situationen den Kindern gut erklärt, sind die meisten Kinder zur Kooperation bereit. Welche Faktoren haben nun dazu geführt, dass die Situation beim Einkauf geregelt werden konnte? Wie kann man mit  Die Mutter nimmt sich Zeit. einem Wutanfall  Die Bedürfnisse beider Seiten werden von der Mutter gesinnvoll umgehen? nannt. (Falls die Mutter das Bedürfnis des Kindes nicht richtig erraten hätte, würde es das Kind auf seine Art mitteilen.)  Die Bereitschaft, Zugeständnisse zu machen, ist hilfreich: Obwohl die Mutter keinen Sirup braucht, gesteht sie dem Kind eine Sache zu, die es selbst auswählen darf. Im Gegenzug hält sich das Kind an die Einkaufsliste, auch wenn es noch viele andere interessante Dinge sieht, die es gerne kaufen würde.

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Frustrationstoleranz entwickeln „Ein erfülltes Bedürfnis ist ein abgelegtes Bedürfnis“, heißt es bei Tragetuch-Experten, die sich mit den Bedürfnissen der Säuglinge beschäftigen. „Wenn Bedürfnisse über längere Zeit nicht erfüllt werden, baut sich ein Spannungszustand auf“, schreibt Dr. med. Irmtraud Kauschat in ihrem Buch „Jenseits von Krankheit.“6 Natürlich wird es nicht immer möglich sein, Kindern alle Wünsche zu erfüllen. Ich finde die Unterscheidung zwischen Wunsch, Lust und Bedürfnis wichtig. Bedürfnisse sind universal und offen für verschiedene Erfüllungsformen. Die Lust und die Wünsche sind spezifisch und oft mit nur einer Lösung verbunden. Die Lust auf ein Eis ist also kein Bedürfnis. Das Bedürfnis, das mit der Idee „Ich brauche ein Eis“ verbunden ist, könnte zum Beispiel sein: Erholung, Entspannung, Freude, Genuss, Hunger usw. – je nach Situation. Bei Säuglingen ist es wichtig, möglichst alle Bedürfnisse zu erfüllen. Das gibt dem Kind Sicherheit, Geborgenheit und Vertrauen. Je älter das Kind wird, desto mehr darf man ihm auch zutrauen. Für das Kind ist wichtig, dass es lernt, mit verschiedenen Situationen umzugehen, also auch mit solchen, durch die es herausgefordert wird. Für viele Kinder im Kindergartenalter ist es zum Beispiel äußerst schwierig, ein Spiel zu verlieren. Beim Spielen bieten sich viele Übungsfelder an, gerade auch zur Entwicklung der Frustrationstoleranz. Manchmal braucht es dazu kleine Schritte, die dem Kind helfen, mit dieser Schwierigkeit umzugehen. Denn zu verlieren ist für ein vierjähriges Kind oft eine wirklich große Herausforderung. Eine Familie hat dieses Problem so gelöst, dass sie jeweils gemeinsam im Voraus abgemacht haben, wer gewinnen darf.

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Dr. med. Irmtraud Kauschat,: „Jenseits von Krankheit“. Synergia 2009, S. 48 Eveline Degani: Und wie streiten Sie? – konfliktbewältigung.ch

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Frustrationstoleranz entwickeln oder Bedürfnisse erfüllen?


Muss man immer Muss man immer alle Bedürfnisse der Kinder erfüllen? Diese alle Bedürfnisse der Frage kann ich also getrost mit Nein beantworten. Zum einen Kinder erfüllen? ist das rein organisatorisch nicht immer möglich, zum anderen sind die Bedürfnisse der zusammentreffenden Menschen oft unterschiedlich. Wenn wir uns aber mit den Bedürfnissen beschäftigen (wenn Zeit, Geduld und Motivation dafür vorhanden sind), ist es für das Zusammenleben bereichernd, wenn man gemeinsam nach Lösungen sucht und dann eine auswählt, zu der alle „Ja“ sagen können. Gleichzeitig finde ich wichtig, dass das Kind nach und nach lernt, Frustrationstoleranz zu entwickeln. Natürlich ist es für ein Kind ärgerlich, wenn es nicht das bekommt was es gerade will. Aber auch das gehört zum Leben. Wenn die Erwachsenen dem Kind die Rückmeldung geben, dass sie sein Bedürfnis gehört haben und es verstehen, kann das dem Kind helfen, besser mit Frust umzugehen. Dass „Verstehen“ nicht bedeutet, mit dem Verhalten einverstanden zu sein, zeigt folgende Geschichte: Der achtjährige Manuel ist verärgert und mault lauthals herum, weil die Mutter den Fernseher abgestellt hat. Ruhig bemerkt die Mutter: „Du möchtest jetzt fernsehen und bist wütend, weil ich Nein gesagt habe?“ Manuel motzt weiter und findet alles ungerecht. Die Mutter setzt sich zu ihm: „Du möchtest dich beim Fernsehen entspannen und willst selbst über deine Freizeit bestimmen?“ – „Ja genau!“ Manuel richtet sich auf. Die Mutter erwidert: „Du hast deine Fernsehzeit gestern schon aufgebraucht. Ich kann verstehen, dass dich das frustriert. Gleichzeitig ist mir wichtig, dass die Regeln eingehalten werden, auch wenn du jetzt wütend bist. Was würde dich denn sonst noch entspannen?“ Manuel gibt keine Antwort. Denn er ist jetzt einfach frustriert. Die Mutter geht in die Küche. Manuel folgt ihr: „Mir ist langweilig“, nörgelt er weiter. – „Dir ist langweilig?“ – „Ja!“ – „Willst du, dass ich dir helfe, Ideen zu suchen, was du machen könntest?“ – „Ja!“ – „Was brauchst du denn jetzt gerade? Vielleicht etwas, das dir so viel Spaß macht, dass du dich voller Lust darin vertiefen kannst?“, fragt die Mutter. „Ich 62

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würde gerne Detektiv spielen, aber alleine macht es keinen Spaß.“ – „Dann muss es etwas sein, das du alleine spielen kannst?“ – „Ich könnte ja eine Schatzsuche vorbereiten und David fragen, ob er mit mir spielen will, wenn er nach der Schule nach Hause kommt.“ – „Ja, okay. Dann hast du ja schon eine Idee. Weißt du auch schon, was du machen kannst, wenn David keine Zeit hat? “ – „Nein.“ – „Willst du dir schon was dazu überlegen?“ – „Nein, ich fange jetzt an.“ – „Okay, dann wünsche ich dir viel Spaß!“ In einem anderen Fall wurde immer sehr auf eine bedürfnisorientierte Erziehung geachtet. Ein Problem gab es, als das Kind in die Schule kam. Sobald ein Kind in die Schule geht, wird es mit einem System konfrontiert, in dem es lernen muss, sich in einer größeren Gemeinschaft zu bewegen. Das bedeutet oft auch, sich unterzuordnen, damit das Unterrichten funktioniert. Auch diese Familie musste feststellen, dass das Funktionieren in der Klasse für ihr Kind nicht so einfach war. Der Sprung vom Kindergarten, wo es noch viel freie Spielzeit gab, zum Schulunterricht fiel dem Kind nicht leicht. Diesem Kind half es, zu Hause jemanden zu haben, der richtig zuhörte und seine Bedürfnisse achtete. „Es ist alles so eng, weißt du. Und dann müssen wir in den Kreis Ein Erstklässler und singen.“ – „Singen macht doch Spaß. Singst du denn nicht berichtet seiner gerne?“ – „Nein.“ – „Dann sing einfach nicht mit.“ – „Dann sagt Mutter die Lehrerin: Jetzt singen wir es noch einmal und du singst auch mit.“ Die Mutter merkt, dass sie bereits wieder ihre Meinung kundgetan hat, statt einfach zuzuhören. Schnell lässt sie ihre Gedanken beiseite und fragt stattdessen: „Hm, das hört sich wirklich nicht ganz einfach an. Und wie machst du das dann, dass du trotzdem gerne in die Schule gehst?“ – „Ich sing halt einfach mit.“ Eine andere Mutter berichtet vom auffälligen Verhalten ihres Sohnes. Sein aggressives Benehmen macht ihr Mühe. Sie möchte besser verstehen, wie sie ihrem Kind helfen kann. In Eveline Degani: Und wie streiten Sie? – konfliktbewältigung.ch

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der Beratung stellt sie fest, dass ihr Kind in vielen Bereichen unter ständigem Druck steht. Auch zu Hause stellen die Eltern viele Anforderungen an sein Benehmen. Plötzlich fragt sie Kinder brauchen sich, ob so viele Vorgaben zu Hause überhaupt nötig sind. Sie Freiräume entschließt sich, dem Jungen mehr Freiraum zu geben. Umgehend verbessert sich die Situation.

Unterschiedliche Bedürfnisse erkennen Kleinkinder können oft nicht genau sagen, welche Gefühle sie haben. Sie lernen es, indem wir unsere eigenen Gefühle immer wieder äußern und darüber reden. So lernen sie, Gefühle zuzuordnen. Dasselbe gilt auch für unsere Bedürfnisse. Wenn wir selbst unsere Bedürfnisse wahrnehmen, sie ernst nehmen und auch äußern, haben die Kinder die Möglichkeit, das von uns zu lernen. Darum ist es wichtig, dass wir für unser eigenes Wohlergehen sorgen. Damit geben wir den Kindern die Chance, dasselbe zu tun. Aber erst einmal brauchen die Kinder unsere Hilfe, um ihre Bedürfnisse zu erkennen. Jedes Verhalten strebt danach, Bedürfnisse zu erfüllen. Wenn ich die Bedürfnisse kenne, kann ich besser verstehen, was mein Kind wirklich braucht. Kinder brauchen unsere Hilfe, um herauszufinden, was ihnen wichtig ist. Wenn wir uns damit auseinandersetzen wollen, ist es hilfreich, wenn wir uns gegenseitig beispielsweise in der Partnerschaft und in jeder sich bietenden Situation immer wieder fragen: „Was ist dir dabei wichtig?“, und: „Worum geht es dir genau?“. Wenn wir die Bedürfnisse kennen und uns immer wieder damit auseinandersetzen, indem wir diese Fragen oft stellen, gelingt es uns selbst und mit der Zeit auch den Kindern, viel besser zu verbalisieren, was jetzt hilfreich sein könnte. Wer seine Bedürfnisse formuliert, wird besser verstanden. 64

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Im Folgenden habe ich einige wesentlichen Bedürfnisse auf- Bedürfnispyramide bauend auf der Bedürfnispyramide nach Maslow aufgelistet. nach Maslow Eine ausführlichere Liste zu den Bedürfnissen finden Sie z. B. in „Gewaltfreie Kommunikation, eine Sprache des Lebens“ von Marshall B. Rosenberg.7 Essen, Trinken, Schlafen, Sexualität, Bewegung, Erholung, Atmung

Körperbedürfnisse

Schutz, Geborgenheit, finanzielle Sicherheit, Stabilität, Struktur, Sicherheitsbedürfnisse Orientierung, Ordnung, Zuverlässigkeit, Gesundheit, Achtsamkeit, Rücksicht, Klarheit, Nähe, Vertrauen, Respekt, Integrität Zugehörigkeit, Mitmachen, Freundschaft erleben, Kräfte messen, Soziale Bedürfnisse Orientierung, Fairness, Spaß, Spielen, Gemeinschaft, Leichtigkeit, Verständnis, Harmonie, Frieden, Kooperation, Akzeptanz, Zuneigung, Kommunikation, Gleichwertigkeit, Ruhe, Loyalität, Status Gehör finden, Anerkennung, Selbstwirksamkeit erfahren, Individua- Individualbedürfnisse lität, Selbstbestimmung, Selbstverantwortung, Stärke, Aufmerksamkeit, Respekt, Lernen Spiritualität, Ästhetik, Erfolg, Ausleben der Einzigartigkeit, Spon- Selbstverwirklichung taneität, Kreativität, Natürlichkeit, Sinnerfüllung, Natur, Bewegung, Sport Auf der folgenden Seite finden Sie einige Beispiele, wie diese Bedürfnisse in kindergerechter Sprache klingen könnten. Weitere Beispiele finden Sie im Buch von Frank und Gundi Gaschler: „Ich will verstehen, was du wirklich brauchst“.8

7

Marshall Rosenberg: „Gewaltfreie Kommunikation“. Junfermann 2012

8

Frank und Gundi Gaschler: „Ich will verstehen, was du wirklich brauchst“. Kösel 2007, S. 62-63 Eveline Degani: Und wie streiten Sie? – konfliktbewältigung.ch

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Kindgerechte  Möchtest du gerne dazugehören? (Teil einer Gemeinschaft sein) Formulierungen  Ist dir wichtig, richtig gehört zu werden? (Gehör finden) für Bedürfnisse  Legst du Wert darauf, dass du dich jetzt aufs Spielen konzentrieren kannst? (Spielen, Ruhe)  Möchtest du sicher sein, dass ich dich gern habe, auch wenn du mal was angestellt hast? (Sicherheit, Geborgenheit)  Ist dir wichtig, dass ich dich verstehe? (Verständnis)  Möchtest du getröstet werden? (Geborgenheit)  Ist dir wichtig, dass deine Meinung auch was zählt? (Mitsprechen können, wertvoll sein)  Legst du Wert darauf, selbst zu entscheiden, was für dich gut ist? (Selbstbestimmung)  Ist es dir gerade sehr wichtig, dass du die Dinge selbst tun kannst? (Autonomie entdecken)  Hättest du gerne Unterstützung? (Hilfe bekommen)  Möchtest du die Gewissheit, dass ich für dich da bin, wenn du mich brauchst? (Zuverlässigkeit)  Möchtest du gerne zeigen, was dir wichtig ist? (gesehen werden)  Magst du es, wenn alles so friedlich ist? (Friede, Harmonie)  Ist dir wichtig, stark zu sein? (Sicherheit, stark sein)  Legst du Wert darauf, dass dir gefällt, was du anziehst? (Ästhetik)  Möchtest du gerne die Verantwortung dafür selbst tragen? (Selbstverantwortung)  Legst du Wert darauf, dass dein Beitrag wichtig ist und dass er gesehen wird? (wertvoll sein)  Möchtest du gerne, dass wir liebevoll miteinander umgehen? (Respektvoller Umgang)

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Eifersucht als Wegweiser Kinder reagieren auf verschiedene Weise auf die Geburt eines Geschwisterchens. Für viele Kinder ist das eine Katastrophe. Auch wenn sie sich über das Geschwisterchen freuen, bedeutet es, Mami und Papi teilen zu müssen. In vielen Sachen müssen sie zurückstecken. Manchen Kindern fällt das sehr schwer. Sie suchen sich einen Weg, ihrem Bedürfnis Gehör zu verschaffen. Das eine Kind beginnt zu schlagen, ein anderes nässt vermehrt ein, wieder andere werden krank oder sie können nachts nicht (mehr) schlafen. Andere wollen lieber zu den Großeltern oder zu Freunden, usw. Wenn Sie denken, das Kind macht das aus innerem Antrieb, gebe ich Ihnen Recht. „Aus innerem Antrieb“ bedeutet für mich nämlich: „Das ist jetzt gerade die einzige Möglichkeit, die mir zu Verfügung steht“. Diese Handlung geschieht nicht bewusst oder weil das Kind jemandem schaden will, sondern weil es mit der Situation nicht klarkommt. Eltern sind aufgefordert, auf den unausgesprochenen Hilferuf einzugehen. Denn das Kind teilt mit: „Hilf mir, damit umzugehen“. Solche Situationen können für Eltern sehr herausfordernd sein. Schelten Sie Ihr Kind bitte nicht, denn für seine Gefühle und Bedürfnisse kann es nichts. Für das Kind ist es sehr schwierig, mit seinen verschiedenen Gefühlen klarzukommen. Möglicherweise ist es ängstlich, wütend, traurig und einsam, weil es denkt, dass eine wichtige Beziehung bedroht ist. Es kann helfen, diese Gefühle zu benennen. Für das Kind ist es eine Erleichterung, zu erfahren, dass es in Ordnung ist, solche Gefühle zu haben. Zusätzlich hilft es, wenn das Kind ganz viel Aufmerksamkeit und Zuwendung erfährt. Nutzen Sie jede Gelegenheit, dem Kind zu zeigen, wie lieb Sie es Liebe zeigen haben. Durch Gesten, durch Worte, durch Aufmerksamkeit und durch Zeit. Das Kind muss sich neu orientieren und sich in der Eveline Degani: Und wie streiten Sie? – konfliktbewältigung.ch

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neuen Familienkonstellation zurechtfinden. Außerdem braucht das Kind Zeit, zu erkennen, dass Ihre Liebe uneingeschränkt ist. Sollte sich die Situation über längere Zeit nicht bessern, empfehle ich Ihnen, sich Unterstützung zu suchen. Eifersucht heißt: Im Allgemeinen werden Eifersucht und Neid negativ bewerIch möchte tet. Die Eifersucht ist aber nicht negativ, sondern einfach ein das auch! Gefühl, das ganz neutral wahrgenommen werden darf. Wenn wir das Gefühl ernst nehmen, können wir die Situation verbessern. Weil Eifersucht als negativ gewertet wird, haben viele Menschen dieses Gefühl verdrängt. Im Unbewussten ist das Gefühl aber trotzdem vorhanden, weil wir Gefühle auch durch mentales Training nicht steuern können. Steuerbar ist hingegen unsere Vorstellung, wie wir damit umgehen wollen.

Zum Teilen verdonnert Zum Geburtstag hat Sofie ihrem Mann seine Lieblingspralinen geschenkt. Er hat sich sehr über das Geschenk gefreut, weil er diese Pralinen liebt. Als Freunde zu Besuch sind, stellt Sofie seine Schachtel Pralinen selbstredend auf den Tisch. „Bitte bedient euch“, lädt sie die Freunde ein. „Schatz, kannst du uns für den Kaffee den Zucker reichen?“ Sofie dreht sich um, aber ihr Mann hat den Raum bereits verlassen. Verstehen Sie, wie sich der Mann fühlt? Was würden Sie an seiner Stelle tun? Diese Geschichte ist zwar frei erfunden. Sie klingt vielleicht auch etwas überspitzt. Wird sie aber in die Kinderwelt übersetzt, so erscheint sie plötzlich realistisch. Denn immer wenn Besuch kommt, müssen die Kleinen ihre Sachen teilen. Vielleicht zeigt die Mami dem Besuch die neuen Lieblingssachen, die das Kind erst einmal für sich alleine haben will. Und weil sich diese Situationen mit jedem Besuch häufen, wird es für

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das Kind immer schwieriger. Die Gefühle des Kindes sind nämlich nicht weit entfernt von denen des Erwachsenen. Kleine Kinder stürzen sich meistens auf alle tollen Spielsachen. Die meisten Kinder vergessen zu fragen. So auch im nächsten Beispiel: Mama Lilo und Tim (eineinhalb Jahre) bekommen Besuch von Erika Eigentum und dem zweijährigen Tino. Tino, ein begeisterter Traktorfan, ent- respektieren deckt sofort den großen Traktor, der in der Einfahrt steht. Voller Enthusiasmus stürzt er sich auf dieses tolle Gefährt, woran aber das andere, etwas jüngere Kind, keine Freude hat. In seiner Not schreit es um Hilfe: „Nein!“, ruft es laut und weint. Erika eilt herbei, während Lilo ihrem Kind zu sagen versucht, es solle den Traktor dem Gast überlassen. Aber Erika nimmt Tino vom Traktor herunter, woraufhin Tim hastig den Traktor besteigt. Erika beugt sich liebevoll zu ihrem Sohn: „Tino, hast du gefragt, ob du den Traktor benutzen darfst?“, fragt sie. Sie möchte damit ein Zeichen setzen, damit Tino lernt, die Spielsachen anderer Kinder zu respektieren. Trotzdem sind beide Frauen erstaunt, als Tino sich zum anderen Kind neigt und fragt: „Darf ich Traktor fahren, hä? Darf ich?“ Tim ist so überrascht, dass er für kurze Zeit Anstalten macht den Traktor dem Gast zu überlassen. Da kommt es ihm ganz plötzlich wieder in den Sinn, dass er den Traktor lieber selbst fahren will. So setzt er sich aufrecht hin und schüttelt den Kopf. „Er möchte nicht, Tino. Gut, dass du gefragt hast. Ist es okay, wenn du mit etwas anderem spielst?“, fängt Erika die Reaktion auf. „Ja gut“, sagt Tino und steuert auf den Sandkasten zu. Hier hat es geholfen, dass die Mutter interveniert hat. Die Bedürfnisse ernst Kinder haben gehört, dass man fragen soll, wenn man etwas nehmen hilft nehmen will, das einem nicht gehört. Denn: Teilen zu müssen, ist für viele Kinder ein Stressfaktor, weil sie sich übergangen fühlen. Das Kind soll selbst entscheiden dürfen, ob und wann es sein Spielzeug teilen möchte. Erst wenn wir es in diesem Bedürfnis ernst nehmen, kann es sich öffnen.

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Ein anderes Beispiel erzählt, wie ein vierjähriges Kind die Bestätigung der uneingeschränkten Liebe der Mutter sucht. Die Mutter wird von der Heftigkeit der Ausdrucksweise überrumpelt. „Ich spiele nie mehr mit dir, bis du tot bist“, sagt die vierjährige Anja zur dreijährigen Cousine. Mutter Reni schaut Anja entsetzt an. „Warum denn, Anja, deine Cousine hat dich doch so lieb. Sie will deine Freundin sein. Was hast du denn?“ – „Nein, sie ist doof, ich will nicht mehr mit ihr spielen.“ – „Aber Anja, sei lieb!“ Reni ist ratlos. Schwägerin Claudia steht unruhig daneben, sie hat einen Arzttermin und wollte die Kleine gerne da lassen. Jetzt beugt sie sich zur kleinen Anja: „Du möchtest nicht mehr mit Lili spielen? Hat sie dich geärgert?“, fragt sie. Aber Anja will nicht mehr reden. „Lass Lili trotzdem hier“, sagt Reni. „Ich schaue schon, dass es geht.“ Schlechten Gewissens geht Claudia zum Arzt, während Reni zu Hause die Kinder hütet. Anja will aber noch immer nicht mit Lili spielen. Darum beschäftigt sich Mutter Reni die ganze Zeit mit Lili, was Anja noch wütender macht. Beleidigt verkriecht sie sich in ihr Zimmer, wo sie den ganzen Nachmittag verbringt. Anja denkt offenbar, dass sie zu kurz kommt. Dass sich ihre Mutter nun den ganzen Nachmittag mit Anjas kleiner Cousine Lili abgibt, bestätigt Anja in ihrer Vorstellung, dass Lili ihr alles wegnimmt. Erst als Anja spürt, dass sie bei ihrer Mutter und in ihrem Zuhause an erster Stelle steht, kann sie diese Vorstellung ablegen. Wie kann man Hier sind einige Ideen, die helfen könnten, falls ihr Kind eifersinnvoll auf süchtig reagiert: Eifersucht reagieren? Nehmen Sie eine neutrale Haltung ein. Stellen Sie sich vor, Sie wären eine neutrale Person wie zum Beispiel die Leiterin oder der Leiter dieser Runde (wie zum 70

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Beispiel in der Spielgruppe, Schule, im Verein usw.). In dieser Rolle würden Sie sich bemühen, alle Kinder gleich zu behandeln und auch keine Bewertungen wie „Sei lieb!“ benutzen. Diese Vorstellung kann helfen, in einer Situation möglichst objektiv zu bleiben. Betrachten Sie die Situation einmal aus der Sichtweise des Kindes. Manchmal hilft es, wenn man ganz bewusst einen Perspektivenwechsel macht. Lassen Sie die Kinder vor Ankunft des Besuchs die wichtigsten Lieblingsspielsachen wegräumen. Konflikte vermeiden kann man auch, wenn die Kinder vor Ankunft des Besuchs die wichtigsten Lieblingsspielsachen wegräumen dürfen. Bringen Sie selbst Spielzeug mit Wer jemanden mit einem kleinen Kind besucht, kann selbst Spielsachen mitbringen. So wird ein Ausgleich geschaffen und es werden Tauschgelegenheiten ermöglicht. Je nach Alter des Kindes ist das eine hilfreiche Entlastung. Im vorangegangenen Beispiel könnte die Mutter den kleinen Kinder wollen Tim fragen: „Womit darf Tino spielen? Zeigst du Tino, womit er respektiert werden spielen kann?“ Damit signalisiert sie gleich mehrere Aspekte:  Ich respektiere dein Eigentum.  Ich frage um Erlaubnis, wenn mir etwas nicht gehört.  Es gibt mehrere Spielmöglichkeiten. Meistens klappt das gut. Oft geht es Kindern einfach nur darum, respektiert und gehört zu werden. Wenn dieses Bedürfnis erfüllt worden ist, ist das Spielen mit (fast) allen Sachen erlaubt. Eveline Degani: Und wie streiten Sie? – konfliktbewältigung.ch

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7. Grenzen zeigen, um Bedürfnisse zu schützen Die Bedürfnisse seiner Kinder zu kennen und zu achten heißt nicht, nur nach ihrem Willen zu handeln. Es ist wichtig, dass Erwachsene ihre eigenen Bedürfnisse kennen und diese gleich gewichtet werden. Wir als Erwachsene zeigen unsere Grenzen, indem wir mitteilen, worauf wir Wert legen. Wir als Erwachsene vermitteln den Kindern jene Werte, die uns wichtig sind. Wenn Grenzen überschritten werden, suchen wir gemeinsam nach Ideen, wie wir damit umgehen wollen. Dabei geht es um das Jetzt: „Was braucht es in diesem Moment?“ Und es geht um Prävention: „Was können wir tun, damit das nicht mehr passiert?“ Wiedergutmachung  Was geschieht jetzt?  Was braucht es zur Wiedergutmachung?  Was braucht es, damit die Beziehung wieder in Ordnung ist? Zur Prävention  Was machen wir, wenn wieder so eine Situation entsteht?  Wie könnte das vermieden werden? Es gibt natürlich immer wieder Situationen, in denen Erwachsene sich nicht so verhalten, dass es aus Kindersicht als gerecht empfunden wird, sodass die Beziehung in irgendeiner Weise beschädigt ist. Dann können die oben gestellten Fragen hilfreich sein. Hier ein Beispiel: Ausflug in den Familie Müller will in den Freizeitpark fahren. Obwohl Herr Müller Freizeitpark keine Menschenmassen mag, tut er der Familie diesen Gefallen. Endlich ist alles gepackt und ins Auto verladen worden. Die Familie macht sich auf den Weg. Als sie aussteigen, bittet der Vater seinen Sohn Elias, die Tasche herauszugeben. Elias will nicht. Er ist immer noch beleidigt, weil seine Schwester auf seinem Lieblingsplatz sitzen durfte. Die Mutter will die Tasche holen und stößt sich dabei den Kopf an der Kofferraumklappe. Sie flucht und schimpft ihren Sohn an: „Jetzt machen wir extra einen Ausflug und du hilfst nicht ein72

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mal mit. Gib jetzt sofort die Tasche her, sonst kannst du hierbleiben!“ – „Gut, dann bleibe ich hier.“ Elias lässt sich nicht gerne herumkommandieren. Der Ausflug ist ihm jetzt sowieso egal, viel lieber wäre er zu Hause geblieben. Jetzt wissen Müllers nicht mehr, was sie tun sollen. Die kleine Schwester quengelt: „Wann gehen wir jetzt los?“ Sollen sie Elias wirklich einfach hier lassen? Und wenn etwas passiert? Dieses Risiko wollen sie nicht eingehen. Sie machen ein Time–out. Also setzen sich alle nochmal ins Auto. Der Vater ist verärgert: „Warum musstest du ihn auch anschnauzen?“, wirft er der Mutter vor. „Er könnte ja wirklich helfen, außerdem habe ich mir den Kopf gestoßen. Du hast ja auch geflucht“, entgegnet sie. „Warum müssen wir überhaupt solche Ausflüge machen? Das gibt nur Stress!“, ärgert sich der Vater. „Zu Hause hätten wir auch Stress, so kommen wir wenigstens aus dem Haus“, rechtfertigt die Mutter den Ausflug. Elias ist still und beleidigt. Die Schwester quengelt weiter: „Wann gehen wir jetzt?“ Die Mutter antwortet: „Jetzt müssen wir zuerst nachdenken, was wir machen sollen. Vielleicht gehen wir auch nicht.“ Die Tochter meckert, Vater und Sohn schweigen, die Mutter denkt nach. „Eigentlich würde ich schon sehr gerne in den Freizeitpark, ich würde gerne mit euch einen schönen Nachmittag verbringen, jetzt scheint es, als ob uns das überhaupt nicht gelingen würde.“ Zu Elias gewandt: „Du willst jetzt gar nicht mehr hin, oder?“ – „Nein, du hast ja gesagt, ich soll hier bleiben.“ – „Ja das stimmt, das habe ich gesagt. Das war nicht fair von mir, gell. Ich glaube, ich habe geschimpft, weil ich mich gestoßen habe. Was kann ich denn jetzt tun, damit du nicht mehr auf mich wütend bist? Kann ich mich bei dir fürs Anschnauzen entschuldigen?“, fragt sie ihn. Elias braucht nicht zu überlegen, denn sein Frust ist groß: „Nein!“ – „Das reicht nicht? Braucht es mehr? Ist das so schlimm für dich gewesen?“ – „Ja!“, meint Elias. „Soll ich dir drei Vorschläge machen und du wählst aus, was dir gut tun würde, damit wir es wieder gut miteinander haben?“ – „Okay“, stimmt Elias zu. Die Mutter überlegt kurz. Spontan fällt ihr ein: „Ich könnte dir morgen einen Gefallen tun, zum Beispiel dein Lieblingsmittagessen kochen. Oder du darfst Eveline Degani: Und wie streiten Sie? – konfliktbewältigung.ch

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auf der Rückfahrt vorn sitzen. Oder du darfst eine Woche lang bei mir im Bett schlafen“. Elias entscheidet sich für den dritten Vorschlag. „Ist jetzt alles wieder gut zwischen uns?“, fragt Frau Müller nach. Elias nickt. Er ist jetzt wieder voll dabei und reicht seinem Vater die Tasche heraus. Nun kann der Familienausflug beginnen. Am Abend bespricht die Mutter die Situation noch einmal mit ihrem Mann und reflektiert. Warum hat Elias so Nicht alle Kinder benehmen sich so, wie wir uns das wünstur reagiert? schen, nur um uns zu gefallen. Kinder mit einem gesunden Selbstbewusstsein reagieren aus ihren Bedürfnissen heraus. Zuerst war Elias frustriert, weil er nicht sitzen konnte, wo er es sich wünschte. Das fand er ungerecht. Hätte man seinem Bedürfnis Gehör geschenkt (das heißt nicht, dass man damit einverstanden sein muss), so hätte er seinen Frust eher ablegen können. Nachher wurde er noch beschimpft, das half ihm erst recht nicht weiter. Vielleicht hätte er seinen Frust selbst ablegen können, wenn er dafür mehr Raum und Zeit bekommen hätte. Da die Eltern ihn aus Sicherheitsgründen nicht alleine im Auto lassen wollten, gab es diese Möglichkeit nicht. Man könnte jetzt auch sagen, dass er ein verwöhnter kleiner Tyrann ist, der mit seinem Benehmen den Familienausflug sabotiert. Das wäre dann aber nur die eine Perspektive. Aus der Sicht des Jungen sieht es natürlich anders aus. Offenbar war sein Bedürfnis, gehört und fair behandelt zu werden, stärker als die Lust auf das Vergnügen im Freizeitpark. War es in Ordnung, dass wir uns gestritten haben? Hätten wir uns nicht besser einfach zusammengerissen? – Kinder dürfen unterschiedliche Meinungen und Diskussionen ruhig mitbekommen. Sie haben ja auch mitgekriegt, dass Erwachsene Fehler zugeben und ihre Kinder um Entschuldigung bitten. Ist die Wiedergutmachung nicht etwas übertrieben? – Auf Außenstehende könnte das tatsächlich so wirken. Dass Elias die dritte Variante gewählt hat, zeigt aber, dass er gerade jetzt diese 74

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Nähe wünscht und braucht. Es kann auch sein, dass außerhalb der Familie (zum Beispiel in der Schule) viel läuft und er etwas verletzbarer ist. Die Wiedergutmachung ist immer individuell und soll in erster Linie für die Betroffenen stimmig sein. Manche Situationen ziehen sich endlos hin, wenn man sich auf Diskussionen einlässt. „Warum nicht?“, wollen die Kinder wissen, wenn sie ein „Nein“ hören. Manchmal fehlt den Eltern die Lust oder die Zeit, um alles zu erklären. „Die Badezeit ist um!“, sagt die Mutter und kommt ins Badezimmer. „Ach bitte Mutti, dürfen wir noch etwas länger baden? Wir wollen noch nicht raus!“, rufen die Kinder im Chor. „Die Zeit ist um, ihr Baderatten“, wiederholt die Mutter, während sie das erste Kind aus der Badewanne hebt. Anstatt zu diskutieren, handelt sie: „Alle raus, kleine Maus“. Liebevoll, aber bestimmt holt sie das zweite Kind aus der Wanne. Die Kinder protestieren weiter. „Es scheint, als ob ihr euch reichlich vergnügt habt in der Badewanne. Freut mich, dass ihr Spaß hattet“, sagt sie, während sie schnell das Badewasser ablässt. „Also, wenn das jetzt mit dem ins Bett gehen gut klappt, kann ich euch noch eine Geschichte vorlesen. Wollt ihr das?“ Anstatt auf die Quengeleien einzugehen, macht die Mutter ein Angebot und lenkt damit den Blick weiter. „Liest du uns aus dem neuen Bibliotheksbuch vor?“, will das eine Kind wissen. Und als die Mutter nickt, machen sich die Kinder eifrig bettfertig. Nicht immer geht es so einfach und leicht wie in diesem Beispiel. Bei der Erziehung ist oft viel Geduld und Einfallsreichtum gefragt. Grundsätzlich hilft es, wenn man sich gedanklich immer wieder in Gelassenheit übt und sich selbst auch mal eine Pause gönnt. „Andi, komm her!“, ruft der Vater dem dreijährigen Jungen zu. Seine Stimme klingt bereits etwas gereizt. Andi zeigt überhaupt keine Anzeichen, herzukommen. „Komm jetzt, Schlafanzug anziehen!“ Verärgert ruft der Vater weiter. Andi verkriecht sich in die Eveline Degani: Und wie streiten Sie? – konfliktbewältigung.ch

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Grenzen zeigen heißt manchmal auch: Handeln statt Diskutieren


andere Ecke des Zimmers und findet es eigentlich ganz lustig. Der Vater beginnt zu zählen: „Eins, … Zwei, … “, – vor der „Drei“ hält er inne, weil er nicht weiß, was bei „Drei“ passieren soll. „Ich finde es nicht mehr lustig, komm jetzt her!“, versucht er es zum dritten Mal. Hier könnte man noch lange weitermachen: überreden, ablenken, drohen, schimpfen, rufen. Vermutlich führt keines davon zum gewünschten Ziel. Intervention:

„Hallo Andi, bist du noch gar nicht müde?“ Die Mutter geht auf Andi zu und hebt ihn hoch. „Du hast ja den ganzen Nachmittag gespielt, jetzt ist es schon wieder Zeit fürs Bett. Was hat dir heute am besten gefallen?“ „Weißt du, was wir morgen machen? Morgen werden wir …“ Während die Mutter Andi auszieht und ihm den Schlafanzug überstreift, berichtet sie ihm vom morgigen Tag. Plötzlich wird er ruhig und lässt sich willig bereit fürs Bett machen. Was ist das Bedürfnis des Kindes? Warum hat diese Intervention geholfen?

Was vermutlich Das Kind will Aufmerksamkeit, spielen, in Kontakt mit Mami passiert ist oder Papi sein. Was es nicht will: abgefertigt und weggeschickt werden (ins Bett). Meine Hypothese in diesem Fall ist: Wenn es nochmals vollständige Aufmerksamkeit bekommt, lässt sich das Zu-Bett-gehen leichter gestalten. Allerdings braucht dieses Prozedere seine Zeit, darum lesen ihm die Eltern eine Geschichte vor. Weil er immer noch ganz fit ist, darf er im Bett noch ein Buch anschauen oder eine Kassette hören. Dass es am Abend vermehrt Konflikte gibt, ist normal. Denn abends sind auch die Eltern müde und haben oft keinen Elan mehr, sich ganz auf das Kind einzulassen. Hilfreich ist es, wenn man sich vor diesem Ablauf noch eine Erholung gönnt, damit die Nerven fit sind. In einer Partnerschaft ist es sinnvoll, dass man sich abspricht und der Elternteil mit der gerade besseren Geduld diesen Part übernimmt. 76

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Beim Mittagessen. Der Kleine (3 Jahre) rutscht unruhig auf dem Stuhl hin und her. Der Vater will, dass er richtig isst und ermahnt ihn. Aber der Kleine will gefüttert werden. So nimmt der Vater den Löffel und schiebt ihn dem Kleinen, der fast schon auf dem Stuhl liegt, in den Mund. „Sitz anständig!“, schimpft er, was der Kleine ignoriert. Der Vater ärgert sich. „Unsere Kinder haben einfach keine Manieren!“, sagt er zur Mutter. Anstatt zu schimpfen, könnte der Vater handeln. Er könnte Handeln statt mit dem Füttern warten, bis der Kleine wieder richtig auf dem schimpfen Stuhl sitzt. Durch eine liebevolle Frage fällt es dem Kleinen viel leichter, sich richtig hinzusetzen. Zum Beispiel: „Ich füttere dich gerne, sobald du dich richtig hinsetzt. Soll ich dir helfen?“ Wenn der Erfolg ausbleibt: „Ich glaube, du bist viel zu müde, um noch zu essen. Könnte das sein? Dann bringe ich dich jetzt besser ins Bett.“ Konsequente Interventionen entlasten die Situation, denn Schimpfen, Drohen und Anschuldigungen sind nicht mehr nötig. Eine konsequente Haltung zu bewahren, braucht etwas Übung und Disziplin, weil es manchmal einfacher ist, zu schimpfen als zu handeln. Wer aber konsequent dranbleibt, erntet bald Erfolg.

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8. Hilfreiche Gesprächsmethoden Man kann nicht nicht Damit eine Beziehung funktionieren kann, muss man sich gut kommunizieren verstehen. „Man kann nicht nicht kommunizieren“, lautet der vermutlich bekannteste Satz aus der Kommunikationstheorie von Paul Watzlawick. Wir senden durch nonverbale Kommunikation, wie zum Beispiel durch die Körpersprache, Signale aus, die von anderen Menschen interpretiert werden können. Da sind Missverständnisse durchaus möglich. Darum ist es wichtig, ganz bewusst eine klare Sprache zu benutzen. Im Folgenden habe ich hilfreiche Techniken aus verschiedenen Methoden aufgeführt. Zuhören statt Bei der Technik „Zuhören statt Urteilen“ besteht der erste Urteilen Schritt darin, einmal ohne Interpretationen, ohne gedankliche Analysen oder Urteile einfach nur zuzuhören. Den meisten von uns fällt das gar nicht so leicht. Wir beobachten oder hören etwas und schon haben wir uns eine Meinung gebildet. Wir meinen die Situation objektiv zu betrachten, aber können wir das wirklich, wenn wir sie nur von einer Seite her kennen? Jede Situation bietet verschiedene Sichtweisen. Das kommt auch in dieser Geschichte zum Ausdruck: „Andi hat viel zu viele Chips genommen. Er kann sie nicht einmal alle halten!“, ruft Andis Spielkamerad. Andis Mutter findet das von ihrem Sohn nicht sehr höflich, hält sich aber zurück mit einer Zurechtweisung. Zu Hause sagt sie ihm dann: „Ich möchte, dass du dich anständig benimmst. Du weißt doch, dass es nicht höflich ist, so viele Chips zu nehmen“, ermahnt sie ihn. Andi wehrt sich: „Die anderen haben die ganze Zeit Chips gegessen und ich hatte noch gar keine. Als ich gekommen bin, haben sie gesagt, jetzt dürfe man nur noch eine Handvoll nehmen, weil sie die Chips einteilen wollten. Aber ich war noch sehr hungrig, weil ich noch keine gehabt hatte. Darum habe ich halt viele genommen.“

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Schnell haben wir unser Urteil gefällt. Jemand ist unanständig, jemand benimmt sich schlecht, ist gemein oder unartig. Doch jedes Verhalten hat seinen Grund, den wir auf den ersten Blick meistens nicht erkennen. Dann lohnt es sich, genau hinzuschauen, nachzufragen und wirklich verstehen zu wollen. Anstatt bereits nach einer Lösung zu suchen, hilft es, wenn wir einfach nur zuhören, was uns dieser Mensch erzählt und was ihm wichtig ist. Gerade wenn uns Kinder etwas erzählen, ist es wichtig, dass wir ihnen ernsthaft zuhören und bei ihrer Erzählung bleiben. Um diesem neutralen Zuhören noch mehr Gewicht zu geben, gibt es in der Mediation (Konfliktvermittlung) die Technik des Loopens. Thomas Gordon9 nennt diese Art des Zuhörens „aktives Zuhören“. Mit dem konzentrierten mitfühlenden Zuhören können oft schon kleine Konflikte gelöst werden, einfach weil man sich Zeit nimmt und Aufmerksamkeit schenkt. Die involvierte Person kann sich aussprechen und ihre Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche werden gehört. Beim Loopen wiederholt der Zuhörende mit eigenen Worten Kannst du mich bitte was der Sprechende gesagt hat. So kann der Sprechende hö- mal loopen? ren, ob er richtig verstanden worden ist und sich gegebenenfalls gleich korrigierend erklären. Wichtig ist dabei, dass man keine neuen Fragen einbaut, um nicht abzulenken, sondern konzentriert beim Erzählten bleibt und nur das Gehörte in eigenen Worten zusammenfasst. Das wirkt deeskalierend, man fühlt sich verstanden, Gefühle finden Beachtung und kommen so eher zur Ruhe. Man kommt zum Wesentlichen. Lina will nicht in den Kindergarten. Die Mutter steht etwas unter Druck. „Lina, was ist los? Komm, ich helfe dir beim Anziehen und begleite dich ein Stück“. Sie versucht, Lina zu motivieren. Doch Lina will nicht. Demonstrativ bleibt Lina im Bett und streikt. Die

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Thomas Gordon: „Die neue Familienkonferenz. Kinder erziehen ohne zu strafen“. Heyne 2004, Seite 252ff. Eveline Degani: Und wie streiten Sie? – konfliktbewältigung.ch

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Mutter erinnert sich ans Loopen und setzt sich trotz des Zeitdrucks zu Lina aufs Bett: „Du möchtest lieber nicht in den Kindergarten.“ – „Ja, ich will zu Hause bleiben.“ – „Du möchtest lieber nicht in den Kindergarten, weil du zu Hause bleiben willst.“ – „Ja, heute ist ein blöder Tag.“ – „Ein blöder Tag?“ – „Ja, heute feiert Nena Geburtstag, darum ist heute ein blöder Tag!“ – „Nena feiert Geburtstag und das findest du doof.“ – „Ja, ich will auch Geburtstag haben. Alle haben schon ein Geschenk bekommen und ich muss noch so lange warten.“ – „Du willst auch ein Geschenk haben.“ – „Und Nena hat gesagt, dass sie nicht mich auswählt, sondern Chiara.“ Die Mutter weiß zwar nicht genau, was das bedeutet, sie wiederholt aber trotzdem, was sie gehört hat: „Du möchtest gerne von Nena ausgewählt werden.“ – „Chiara ist jetzt ihre beste Freundin, weil Chiara Nena ins Kino eingeladen hat.“ – „Ach so, und jetzt ist Chiara mit Nena befreundet.“ – „Ja, ich will lieber zuhause bleiben.“ – „Hm. Dann ist dir wohl wirklich nicht danach zumute, in den Kindergarten zu gehen.“ – „Nein.“ Nachdem die Mutter alles wiederholt hat, versucht sie es mit einer lösungsorientierten Frage: „Was müsste denn passieren, damit du wieder gerne in den Kindergarten gehst?“ Lina überlegt. „Ich möchte auch mit Nena spielen.“ – „Hast du eine Idee, wie du mit Nena spielen kannst?“ – „Ich könnte sie auch ins Kino einladen?“ – „Und was hast du noch für Ideen?“ – „Ich könnte sie fragen, ob sie sich mit mir verabreden will.“ – „Ja, das könntest du tun. Gibt es auch die Möglichkeit, dass du mit Nena im Kindergarten spielen kannst?“ – „Nein, weil Nena heute Geburtstag hat!“ – „Ach so, dann bleibt keine Zeit zum Spielen? Dann willst du sie fragen, ob sie sich mit dir verabreden möchte?“ – „Ja.“ – „Wenn Nena heute Geburtstag hat, hat sie vielleicht keine Zeit zum Verabreden. Was meinst du, könntest du dann machen, damit du trotzdem gerne in den Kindergarten gehst?“ – „Soll ich mich dann mit jemand anderem verabreden? Ich könnte Leon fragen, ob er mit mir spielt.“ – „Okay, dann fragst du jemand anderen. Ist das dann gut so für dich? Kannst du jetzt in den Kindergarten gehen?“ – „Aber, hilfst du mir noch beim Anziehen?“ – „Ja, das mache ich.“

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Die Technik des Loopens ist auch gut geeignet für Paare. In unseren Workshops hören wir oft den Vorwurf von Frauen, dass sie mit ihrem Mann nicht richtig reden könnten. „Männer hören nicht zu“, behaupten sie. Dieser Aussage stimmen die Männer meistens nicht zu. Im Austausch stellen wir dann fest, dass die meisten Männer sehr wohl zuhören – aber nicht so, wie es ihre Partnerinnen brauchen. Männer, die diese Looping-Technik anwenden, erleben oft kleine und große Wunder. Denn plötzlich fühlt sich ihre Partnerin gehört und verstanden. Die Dankbarkeit der Partnerin und die neu gewonnene Nähe durch die verbesserte Kommunikation zahlen sich natürlich auch für den Mann aus. Die Beziehung wird stärker. Anfangs braucht es aber etwas Überwindung, denn diese Übung macht den Wiederholung des Gesagten empfinden viele als komisch. Mit Meister der Zeit und etwas Übung wird es immer weniger als Technik empfunden, eine Natürlichkeit entsteht und eine Haltung des „Verstehenwollens“ kann sich darin manifestieren. Es kann gut sein, dass die Frau dann den Mann bittet: „Kannst du mich bitte loopen?“ Oder der Mann fragt: „Willst du eine Lösung hören, oder möchtest du geloopt werden?“ Liebe Männer: Wenn ihr diese Technik bei euren Frauen anwendet, werden sie es euch danken! Die meisten Frauen wollen verstanden werden. Mit dieser Technik wird ein wichtiges Bedürfnis erfüllt. Voraussetzung ist, dass das Loopen mit Empathie (wirklich verstehen wollen) gemacht wird. Diese Form des Zuhörens hilft auch Jugendlichen, die sich von ihren Eltern nicht verstanden fühlen. Wenn Eltern für ihre Kinder Entscheidungen treffen (zum vermeintlichen Wohl des Kindes), aber dabei nicht wirklich hören, was die Kinder dazu sagen, werden sich die Kinder früher oder später verschließen. Wenn das Kind anderer Meinung ist und diese Meinung kein Gehör findet, wird es sich irgendwann zurückziehen und die Beziehung verschlechtert sich. Das kann bis zum BeziehungsEveline Degani: Und wie streiten Sie? – konfliktbewältigung.ch

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abbruch führen. Erst wenn sich das Kind von seinen Eltern gehört und verstanden fühlt (gerade wenn es sich entgegen den Erwartungen der Eltern verhält), wird es sich wieder öffnen. Wichtig ist dabei auch die Erkenntnis, dass ich zwar mein Kind verstehen kann, ich aber nicht gleicher Meinung sein muss. Dies darf ich dem Kind auch so mitteilen. Gerade in solchen Situationen kann die Technik des Loopens helfen, das Bedürfnis nach Verständnis abzudecken, indem ich richtig zuhöre und das Kind mit seiner Meinung ernst nehme, auch wenn ich nicht dieselbe Ansicht vertrete. Jemanden ernstzunehmen heißt, ihm richtig zuzuhören – ohne Wertung, ohne Bemerkung, ohne Urteil. Richtig zuhören kann man, indem man das Gesagte in eigenen Worten wiederholt und wirklich verstehen will.

Schmerzen wollen gehört werden Auf dem Spielplatz stolpert ein kleiner Junge über die Pflastersteine. Er fällt hin und schlägt sich das Knie auf. Die Mutter sieht es: „Das ist nicht so schlimm, das wischen wir ab, und dann ist es wieder gut.“ Der Junge weint weiter. „Hör schon auf, es ist ja nicht so schlimm. Es blutet ja nicht einmal“. Erfolglos versucht die Mutter, ihr Kind zu beruhigen. Aber der Junge weint weiter. Da erscheinen einige Tropfen Blut auf der Schürfwunde. Jetzt schreit der Kleine erst richtig los. Die Mutter weiß nicht mehr, was sie tun soll. Eine andere Mutter kommt hinzu: „Tut es so weh?“, fragt sie mitfühlend. „Möchtest du gerne ein Pflaster haben? Ich habe ganz tolle Pflaster hier, schau mal, welches möchtest du denn gerne?“ Der Junge schluchzt und schnieft. Die Mutter putzt ihm die Nase. Dann wählt der Junge ein Pflaster aus. Zwei Minuten später ist er wieder auf dem Spielplatz. Schmerzen Manche Eltern wollen vermeiden, dass ihre Kinder weinen. ernstnehmen Dabei hilft genau das Weinen den Kleinen, ihren Schmerz auszudrücken. Wenn dieser Schmerz beachtet und gehört 82

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wird, ist er meistens nicht mehr so schlimm. Darum ist es wichtig, dass auch kleine Unfälle mit der nötigen Beachtung behandelt werden. Für das Kind ist es nicht hilfreich, wenn es hört, dass seine Schmerzen oder sein Schock nicht schlimm seien. Denn für das Kind ist es in genau diesem Moment das Schlimmste. Und Schürfwunden sind übrigens sehr schmerzhaft. Das Kind beruhigt sich schneller, wenn es sich in seinem Gefühl ernst genommen und angehört fühlt. Gerade bei Schmerzen ist es wichtig, das Kind ernst zu nehmen. So kann man also auch Schmerzen loopen: Auf dem Spielplatz wird ein kleiner Junge von einem anderen Jun- Schmerzen loopen gen geschubst. Der fällt hin und schlägt sein Knie auf. Die Mutter nimmt ihn liebevoll hoch und sagt: „Au, hast du dir weh getan? Das tut weh. Ach, ach“. Vielleicht ist er aber auch noch verärgert, weil er umgefallen ist oder ihn jemand gestoßen hat. Darum fasst sie auch das in Worte: „Bist du hingefallen und hast dir weh getan? Musst du weinen, weil du dich erschrocken hast?“ Das Kind weint weiter. „Vielleicht bist du auch traurig und verärgert, weil du geschubst worden bist?“ Das Kind schluchzt nur noch. „Ach, das ist ärgerlich. Soll ich dich trösten?“ Schniefend nickt der Kleine. Die Mutter nimmt ihn in die Arme und singt ihm leise ein Lied ins Ohr. Nach der zweiten Strophe ist das Kind wieder fidel.

Heile, heile Segen, drei Tage Regen, drei Tage Schnee, es tut dem Kindlein nicht mehr weh. Heile, heile Segen, drei Tage Regen, drei Tage Sonnenschein es wird bald wieder besser sein.

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Verneinungen vermeiden Übung: Sie sind eingeladen zu folgender kurzen Übung: „Denken Sie Verneinungen bitte 10 Sekunden lang nicht an einen blauen Papagei.“ vermeiden

Was ist passiert? Wie viele Sekunden haben Sie gebraucht, um das Bild des blauen Papageis aus Ihrem Kopf zu kriegen? Wie haben Sie das gemacht? Positive Aufforderungen mit Verneinungen sind weit schwieriger umFormulierungen zusetzen als positive Botschaften, da die gewählte Formulierung immer wieder an das erinnert, was vermieden werden sollte. Darum sind Formulierungen nützlich, die ausdrücken was wir wollen statt was wir nicht wollen. Auch für Kinder sind positive Formulierungen hilfreich, damit sie eine klare Vorstellung davon bekommen, was wir gerade von ihnen erwarten. Deshalb sollten Kinder nicht hören, was sie nicht tun dürfen, sondern was sie tun dürfen und worauf sie achten sollen. Lässt sich eine Verneinung nicht umgehen, helfen positive Formulierungen davor und danach. Um Verneinungen weglassen zu können, sollten Erziehende daher überlegen, was sie vom Kind genau wollen, was ihr Ziel ist. Positiv formulieren bedeutet, das Ziel ohne Verneinung zu benennen. Wenn ich will, dass mein Kind mich richtig versteht, muss ich dafür zuerst einmal meine Wünsche konkret und klar formulieren. Beim Spielen auf einer Burgruine während einer Wanderung beinhaltet ein „Passt bitte auf!“ zu wenig Information – auch, wenn so eine negative Aussage oder ein Verbot vermie84

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den wird. Die Kinder sollen schließlich erkennen, was genau gemeint ist. Also könnte ich erklären: „Manchmal sieht man nicht, was hinter dem Busch ist und dann kann es sein, dass man einen Fehltritt macht, den Fels runterfällt und sich verletzt. Darum möchte ich, dass ihr so viel Abstand (hier einen Abstand zeigen) zum Busch und zum Rand haltet, damit alles sicher ist. Macht ihr das?“ Familie Müller ist mit dem Fahrrad unterwegs. „Nicht so nah ran!“, Richtig erklären ruft die Mutter ihrer Tochter zu, die dem Bruder fast ins Fahrrad fährt. „Beim nächsten Parkplatz anhalten!“ Der Mutter wird es zu gefährlich. So erklärt sie den beiden: „Es ist gut, wenn ihr schön hintereinander fahrt. Aber es braucht einen gewissen Abstand, damit der Hintere genügend Zeit zum Bremsen hat, wenn der Vordere anhält. Bitte achtet darauf, dass ihr immer eine Fahrradlänge Abstand zum Vordermann habt. Okay?“ Beim nächsten Ausflug hat die Kleine diese Anweisung wieder vergessen. So erinnert die Mutter die Kinder nochmals. Diesmal ruft sie nur: „Abstand!“, und das Mädchen weiß wieder, worauf sie achten muss. Die Mutter bittet ihren Sohn, auf seine Sicherheit zu achten: „Ich Sichtbarkeit möchte, dass du abends, wenn du nach Hause fährst, eine Sicherheitsweste anziehst, damit man dich gut sieht. Im Dunkeln kann man vom Auto aus die normal gekleideten Personen fast nicht sehen, vor allem nicht die mit dunkler Jacke. Darum ist es mir wichtig, dass du etwas Leuchtendes trägst, damit dich die Autofahrer gut erkennen können.“ Familie Hutter möchte Würste braten. Die Jungen machen mit dem Selbst erfahren Vater zusammen ein Feuer. Der Kleinste, er ist kaum zwei Jahre alt, will auch dabei sein. Er geht immer wieder aufs Feuer zu. Die Mutter wird ganz unruhig: „So geht das nicht. Das überfordert mich gerade. Kannst du dich bitte um die Sicherheit kümmern?“, bittet sie den Vater. Der nimmt den Kleinen zu sich und erklärt ihm: „Ich möchte, dass du genügend Abstand zum Feuer hältst, weil das Feuer sehr heiß ist.“ Der Vater geht vorsichtig mit dem Kleinen zum Feuer. „Spürst du die Wärme? Wenn du zu nah ans Feuer kommst und Eveline Degani: Und wie streiten Sie? – konfliktbewältigung.ch

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stolperst, habe ich Angst, dass du dich verbrennst, das wäre sehr schmerzhaft. Darum möchte ich, dass du so viel (der Vater zeichnet eine Linie ein) Abstand zum Feuer hast. Kannst du darauf achten, dass du vor der Linie bleibst?“ Der Kleine findet das nicht so toll, denn schließlich will er ja auch Holz reinwerfen. Also ergänzt der Vater: „Also, wenn du näher ran willst, kommst du zu mir, dann gehen wir miteinander zum Feuer und ich passe auf dich auf. Okay?“ Jetzt ist der Kleine einverstanden, seine Augen strahlen. Familie Hutter verbringt einen stressfreien Nachmittag. Formulieren Sie Wichtiges positiv – das Kind hört die Verneinung oft nicht. Positive Formulierungen

Statt negativ zu formulieren …

… positiv und konkret Absicht formulieren

Heiße Kochplatte: Hier darfst du nicht hingreifen, sonst verbrennst du dich!

Vorsicht, hier ist es heiß. Der Fokus ist auf den Halte bitte so viel (zeiAbstand gerichtet anstatt gen) Abstand, damit du auf die heiße Platte. sicher bist.

Nicht auf die Straße rennen!

Bitte warte am Straßenrand und schaue nach links und rechts, ob die Straße frei ist. Wenn du siehst, dass sie frei ist, kannst du die Straße überqueren.

Hier erhält das Kind eine klare Anweisung, was es tun muss, wenn es die Straße überqueren will.

Bitte kleckere dich nicht voll.

Bitte iss so, dass dein T-Shirt sauber bleibt.

Der Fokus ist auf das achtsame Essen gerichtet. Kleinen Kindern müsste man zudem noch zeigen, wie das am besten geht. (Löffel gerade, Serviette, usw.)

Du sollst die Tasche nicht öffnen!

Ich will, dass die Tasche zu bleibt!

Hier wird das „zu“ gehört.

Komm nicht zu spät.

Sei bitte pünktlich. Hast du eine Idee, was du tun kannst, damit dir das gelingt?

Die Zusatzfrage ist bereits mit einer Lösungsidee verkoppelt, was das lösungsorientierte Denken begünstigt: Zeitreserve einplanen, Wecker stellen, usw.

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Vorwurfsfreie Formulierungen Die Gewaltfreie Kommunikation beruht auf der Erkenntnis, Ich bin selbst dass wir alle nach unseren Bedürfnissen handeln. Werden für mein Gefühl Bedürfnisse erfüllt, löst das ein angenehmes Gefühl aus. Wer- verantwortlich den Bedürfnisse nicht erfüllt, löst das ein unangenehmes Gefühl aus. Es ist hilfreich, unsere Bedürfnisse zu kennen, damit wir sie erfüllen können. Es gibt immer verschiedene Möglichkeiten, Bedürfnisse zu erfüllen. Wir sind für unsere Bedürfnisse und Gefühle selbst verantwortlich. Wenn ich die Verantwortung für meine Gefühle und Bedürfnisse übernehme, bin ich selbst meines Glückes Schmied. „Ich will wissen, wie es dir geht, und ich will dir sagen, wie es mir geht, damit wir dann einen Weg finden, mit dem es uns beiden gut geht.“10 In der Gewaltfreien Kommunikation werden die Anliegen in Die vier Schritte der vier Schritten formuliert. Diese Schritte beschreiben die Situa- Gewaltfreien tion, die Gefühle, die Bedürfnisse und gelangen schließlich zu Kommunikation einer möglichst konkret formulierten Bitte. Mit diesen Schritten wird eine vorwurfsfreie Formulierung ermöglicht. Beobachtung

Gefühle

Bedürfnisse

Bitte

Neutral formulieren

Emotionen/ Empfindungen beschreiben

Ursachen der Gefühle benennen

Konkret und klar bitten, ohne Forderung

„Wenn ich … sehe/höre …

… bin ich/ fühle ich …

… weil ich … brauche/weil mir … wichtig ist.

„Bist du bereit zu …?“

Die Bitte am Ende ist positiv formuliert und der Wunsch ist jetzt erfüllbar, der Fragende aber offen für ein „Nein“. Wir geben dem anderen die Möglichkeit, unser Leben zu berei-

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Frank und Gundi Gaschler: „Ich will verstehen, was du wirklich brauchst“. Kösel 2007, S. 21 Eveline Degani: Und wie streiten Sie? – konfliktbewältigung.ch

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chern. Und uns selbst geben wir die Chance, ein „Nein“ zu akzeptieren. Denn nur wenn wir bereit sind, auch ein Nein zu akzeptieren, kann der andere ohne Erwartungsdruck handeln. Natürlich kann ein „Nein“ trotzdem eine Enttäuschung auslösen. Dann ist es wichtig, dieses Gefühl ernst zu nehmen und zu schauen, was ich selbst tun kann, damit mein Bedürfnis (eventuell woanders) Gehör findet. Ich möchte diese vier Schritte anhand zweier Beispiele erläutern: Beispiel 1: Die Frau sagt zum Ehemann: „Jetzt bist du schon wieder zu spät Bedürfnis nach nach Hause gekommen. Ich finde es total doof, dass du dich nie an Zuverlässigkeit die abgemachte Zeit hältst. Die Kinder sind enttäuscht und fragen nach dir und ich muss wieder alles ausbaden! Zudem finde ich, dass du dir diese Zeit nehmen solltest. Es sind ja auch deine Kinder.“ Beobachtung

Gefühle

Bedürfnisse

Bitte

„Du bist später als vereinbart nach Hause gekommen.

Ich bin genervt.

Ich lege Wert auf Zuverlässigkeit.

Kannst du mir sagen, welche Zeiten für dich realistisch sind, die du dann verbindlich einhalten kannst?”

Erläuterung Wenn das Bedürfnis nach Pünktlichkeit und damit Zuverlässigkeit häufig nicht erfüllt werden kann, gibt es andere Möglichkeiten, wie der Mann der Familie zeigen kann, dass sie ihm wichtig sind. Hilfreich ist es, von der vorwurfsvollen Haltung weg zu kommen. Wenn beim Mann der Vorwurf „Du bist ein Versager“ anklingt, blockiert das die Lösungssuche. Denn eigentlich möchte er nützlich sein und gerne seinen Teil beitragen. Möglicherweise setzt ihm der Erwartungsdruck zu, den er zu spüren meint und vielleicht ist er deswegen unfähig, seine Zuverlässigkeit zu beweisen. Wir wissen es nicht. Jedenfalls sind gerade dann die vier Schritte ideal. Denn so können die Gefühle und Bedürfnisse vorwurfsfrei formuliert werden.

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Hier einige Punkte, die für die Lösungssuche hilfreich sein können:  Reicht es, wenn der Mann Bescheid gibt, dass er sich verspätet?  Wie oft soll der Mann frühzeitig zu Hause sein? Wie sind die Zeiten definiert?  Welche Zeiten sind für den Mann überhaupt realistisch?  Was hindert den Mann daran, die Zeiten einhalten zu können, braucht er zeitlich mehr Spielraum?  Was braucht der Mann, damit er die Zeiten zuverlässig einhalten kann? (etwa Termin rot markieren und gewichten wie ein Vorstellungsgespräch)  Was könnte der Mann tun, wenn es wieder einmal nicht klappt? Mit welchen Alternativen kann er der Familie Wertschätzung vermitteln? (Kinder ins Bett bringen, Küche in Ordnung bringen, Zeit schenken, Geschichte vorlesen, bei den Hausaufgaben helfen, am Sonntag das Frühstück ans Bett bringen, oder anderes. Am besten gemeinsam nach Ideen suchen und eine Abmachung treffen.) Wichtig ist, dass die Bitte konkret und klar formuliert ist. Die Was heißt konkret? Frage „Kannst du bitte mehr zu Hause sein?“ ist nicht konkret genug. Besser ist zum Beispiel: „Kannst du bitte zweimal in der Woche um 18 Uhr zu Hause sein?“ Eine Bitte wird konkret, sobald Messbarkeit gewährleistet ist, das heißt, die Fragen wie, was, wo, wieviel, wie häufig, wie lange usw. konkret beantwortet werden. Zusammen können die Beteiligten herausfinden, wie die Bitte formuliert sein muss, damit sie konkret und erfüllbar ist.  Kannst du mir bitte sagen, welche Zeiten für dich realistisch Konkret bedeutet sind, die du dann zuverlässig einhalten kannst? auch: jetzt erfüllbar  Kannst du mir bitte sagen, was du brauchst, damit du die abgemachten Zeiten zuverlässig einhalten kannst?  Hast du eine Idee, was wir tun können, wenn es dir nicht gelingt pünktlich zu sein? Eveline Degani: Und wie streiten Sie? – konfliktbewältigung.ch

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Ein typisches Beispiel ist die Müllentsorgung. Während die Frau Hinweise gibt („Man müsste noch den Abfall entsorgen“), wartet sie vergeblich darauf, dass der Mann reagiert. Dieser bräuchte aber eine konkrete Frage, damit er sich angesprochen fühlt. Beispielsweise: „Trägst du bitte den Abfall raus, bevor du zur Arbeit gehst?“ Tipp: Die meisten Menschen schätzen klare Formulierungen und sind dankbar, wenn sie nicht zwischen den Zeilen lesen müssen. Gebt eurem Gegenüber die Möglichkeit, auf konkret formulierte Sätze reagieren zu können. Auch wenn die Bitte nicht erfüllt wird und ein „Nein“ kommt, habt ihr so eine bessere Orientierung, als wenn ihr darauf wartet, dass eine Bitte erfüllt wird, die gar nicht wahrgenommen wurde. Beispiel 2: Bedürfnis Die Mutter ruft: „Wer hat die Spielsachen wieder rausgenommen? nach Ordnung Jetzt habe ich gerade alles aufgeräumt! Kommt sofort her und räumt eure Sachen wieder weg!“ Beobachtung

Gefühle

Bedürfnisse

Bitte

„Ich sehe, dass Spielzeug am Boden liegt.

Ich bin frustriert, …

… weil ich die Ordnung genießen möchte.

Räumst du bitte das Spielzeug weg?“

Eine Bitte ist offen In der Idee der Gewaltfreien Kommunikation geht es darum, für ein „Nein“ keine Forderungen zu stellen, sondern Bitten zu formulieren. Marshall Rosenberg, der Begründer der Gewaltfreien Kommunikation, machte die Erfahrung, dass seine Kinder die Bitten erfüllt haben, wenn sie nicht als Forderung bei ihnen angekommen sind. So hat er gelernt, die Bitten wirklich als solche zu formulieren. Er hat mit den Kindern abgemacht, dass sie ihn bei zweifelhaften Bitten fragen: „Ist das eine Bitte oder eine Forderung?“ Kinder sind nämlich Experten im Erkennen dieses Unterschieds. Und dann wurde die Frage, die meistens tatsächlich eine Forderung war, zur Bitte umgewandelt. Das

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bedeutet, die Haltung zu ändern. Wer eine Bitte im Sinne der gewaltfreien Kommunikation äußert, akzeptiert als Antwort auch ein „Nein“. Wenn ich eine Formulierung wähle, bei der ich meinem Gegenüber ein „Nein“ zugestehe, nehme ich das Gegenüber als gleich würdige Person an. Was ist, wenn aber tatsächlich ein „Nein“ kommt?  Ich kann die Bitte selbst erfüllen und das Thema „Umgang mit Ordnung“ am Familientisch besprechen.  Ich kann mir überlegen, warum ein „Nein“ gekommen ist. Gründe für ein „Nein“ sind vielschichtig: Vielleicht hat mich mein Kind nicht verstanden. Vielleicht kann es das, was ich will, nicht ausführen, weil dann ein eigenes wichtiges Bedürfnis zu kurz käme. Oder vielleicht kommt dieses „Nein“, weil meine Bitte eine Forderung war. Ich habe unten verschiedene Formulierungen aufgeschrieben. Übung: Ich lade Sie ein, sich beim Durchlesen zu überlegen, welcher Gewaltfreie Aufforderung Sie, wenn Sie jetzt ein Kind wären, gerne nach- Kommunikation kommen würden. Welche Form verwenden Sie selbst im Alltag? Was spricht Sie an, was nicht?  „Ich möchte die Ordnung erhalten. Ich habe gesehen, dass du deine Sachen liegen gelassen hast. Kannst du mir sagen, bis wann du deine Sachen wegräumst?“  „Kinder!!! Aufräumen!!!“  „Kannst du bitte deine Sachen jetzt gleich wegräumen?“  „Ich will, dass du deine Sachen wegräumst.“  „Ich will, dass du jetzt aufräumst. In zehn Minuten werfe ich alles, was rumliegt, in einen Sack, den ich dann wegstelle.“  „Ich will, dass du jetzt aufräumst. Wenn du das nicht sofort tust, ist Fernsehen heute Abend gestrichen.“

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Die letzten Beispiele deuten darauf hin, dass diese Situation schon mehrmals vorgekommen ist und vermutlich unbefriedigend war. Ist das der Fall, so ist es Zeit, die Ordnung gemeinsam zu thematisieren: Zum Beispiel: „Ich möchte eine Regelung zum Thema Ordnung finden, an die sich alle halten, ohne dass ich ständig ermahnen muss, weil mir Leichtigkeit wichtig ist. Bist du bereit, dies gemeinsam zu besprechen? Welche Ideen könnten helfen?“ Kritische Stimmen fragen nun: „Ist das nicht kompliziert, wenn ich jede kleine Handlung zuerst gemeinsam besprechen will? So komme ich ja nie ans Ziel“. Diese Frage führt zu einer grundsätzlichen Diskussion: Welche Haltung Wie will ich meine Kinder erziehen? Will ich, dass sie mir auf habe ich zur Wort gehorchen, sie artig sind und das tun, was ich ihnen Erziehung? sage? Das ist für mich in manchen Situationen vielleicht angenehmer, denn so erziehe ich sie zu Befehlsempfängern. Hinter dieser Haltung steckt die Aussage: „Du tust das, was ich dir sage, weil ich weiß, was das Beste für dich ist. Ich lasse dich nicht hinfallen, damit du dich nicht verletzt. Ich bin für dein Leben verantwortlich, bis du erwachsen bist.“ Oder will ich die Kinder als Menschen mit eigenen Bedürfnissen achten und als gleichwertig betrachten? Das bedeutet, dass sie auch ihre eigene Meinung haben dürfen und diese wichtig ist. Das bedeutet für mich, dass ich mich mit unterschiedlichen Bedürfnissen auseinandersetzen muss, damit wir eine Lösung finden, die für alle stimmig ist. Dadurch wird die Selbst- und Sozialkompetenz gefördert. Diese Haltung wird durch folgende Worte ausgedrückt: „Ich unterstütze dich dabei, deinen eigenen Weg zu gehen. Du darfst deine eigenen Erfahrungen machen. Auch wenn ich denke, dass etwas anderes besser wäre, überlasse ich dir die Wahl, weil es dein Leben ist und du Fehler machen darfst. Ich vertraue auf dich und deine Fähigkeiten. Wenn du umfällst, helfe ich dir wieder auf. Wenn du Hilfe brauchst, unterstütze 92

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ich dich. Ich setze mein Veto ein, wenn ich der Meinung bin, dass es zu gefährlich wird.“ Jesper Juul, dänischer Familientherapeut, empfiehlt den El- Jesper Juul tern, ganz klar zu sagen, was sie wollen und was nicht11. Dann sollen sie sich abwenden12 (damit wird die Führung signalisiert und Machtkämpfe werden verhindert) und dem Kind Zeit13 geben. Die Voraussetzung ist, dass das, was die Eltern sagen, kongruent ist mit dem, was sie wirklich wollen14, damit die Botschaft klar ankommt. Denn: „Kinder wollen gern mit ihren Eltern zusammenarbeiten und ihnen das geben, wonach sie verlangen. Das verschafft ihnen ein Gefühl von Glück und Zufriedenheit.“15 Das habe ich ausprobiert mit unserem zweijährigen Sohn, der abends seine Zähne nicht putzen wollte, nachdem wir bereits einige unbefriedigende Situationen erlebt haben und alle Erklärungen, empathischen Gespräche und Bitten uns nicht zum gewünschten Ziel gebracht haben. Es ist Abend, unser Kleinster ist bereits müde. Zu müde, um Zähne zu putzen. Er legt sich auf den Badezimmerboden und streikt. „Ich will, dass du jetzt die Zähne putzt!“, sage ich freundlich, aber bestimmt und verlasse das Zimmer. Ich höre nichts mehr. Als ich später wieder ins Badezimmer schaue, schläft unser Sohn. Ich trage ihn

11

„Die eigenen Grenzen setzen durch eine persönliche Sprache“ - Jesper Juul: „Dein kompetentes Kind“, Rowohlt 2009, S. 227

12

„Wenn sie [die Tochter] auf ihrem Wunsch besteht, muss er [der Vater] den Blickkontakt abbrechen, weggehen und etwas anderes tun.“ – Jesper Juul: „Grenzen, Nähe, Respekt“. Rowohlt 2000, S. 22

13

„Geben wir ihm Zeit, sich umzustellen, oder verkünden wir von einem auf den anderen Moment, dass …?“ – Jesper Juul: „Die kompetente Familie“, Kösel 2007, S. 35

14

„Wir müssen ‚Ja!‘ sagen, wenn wir Ja meinen und ‚Nein!‘, wenn wir Nein meinen.“ – Jesper Juul: „Die kompetente Familie“. Kösel 2007, S. 97:

15

Jesper Juul: „Die kompetente Familie“. Kösel 2007, S. 29 Eveline Degani: Und wie streiten Sie? – konfliktbewältigung.ch

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ins Bett. Die Zähne sind wohl nicht geputzt worden. Am nächsten Tag will er wieder nicht. „Nein!“, ruft er. „Ich höre, dass du das nicht willst. Ich will trotzdem, dass du die Zähne putzt. Mir ist es wichtig, dass deine Zähne sauber sind! Ich lege dir die Zahnbürste hier hin.“ Wiederum verlasse ich das Badezimmer. Unser Kleinster streikt weiterhin. Als ich außer Sicht bin, schleicht er sich in Bett. Ich werde unruhig: „Es geht ja doch nicht“, meldet sich in mir eine kritische Stimme. Dann spreche ich mir selbst Mut zu: „Geduld bringt Rosen. Irgendwann wird es klappen!“ Ich möchte das jetzt gerne ausprobieren. Gewaltfrei. Ohne Bestrafung und ohne Belohnung. Dritter Tag. Ich sage freundlich und klar: „Schau, hier ist deine Zahnbürste. Ich will, dass du die Zähne putzt! Ich kann das für dich machen oder du machst es selbst. Ich will, dass deine Zähne sauber sind!“ Ich warte kurz, ob ich gleich wieder raus gehen soll. „Ich mach es selber“, sagt er. „Geh du raus.“ Dann schiebt er mich zur Tür raus und macht sie zu. Ich bin ganz gespannt. Was passiert jetzt? Später kommt er raus. „Ich habe die Zähne geputzt!“ – „Wirklich? Das freut mich! Möchtest du mir die Zähne zeigen?“ Er sperrt seinen Mund weit auf. „Wow!“ Ich bin ganz gerührt. So sauber sehen die Zähne zwar nicht aus, aber es riecht nach Zahnpasta und es scheint, als ob wir die erste Hürde geschafft haben. Jetzt bin ich zuversichtlich. „Schritt für Schritt wird es klappen!“, denke ich mir. Und ja, es hat geklappt. Seither läuft das Zähneputzen als eine alltägliche, gewöhnliche und konfliktfreie Angelegenheit ab.

Umgang mit Erwartungen in der Partnerschaft Die Erkenntnis, dass wir selbst für unsere Gefühle verantwortlich sind, wirft auch ein ganz anderes Licht auf die Erwartungen in der Partnerschaft. Eine Partnerschaft ohne Erwartungen ist keine echte Beziehung

Wenn mir jemand etwas bedeutet, dann habe ich auch eine Erwartung oder zumindest eine Sehnsucht. Keine Erwartungen hingegen habe ich, wenn mir die Beziehung nichts bedeutet, zum Beispiel bei fremden Personen. Ich gehe sogar so 94

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weit, dass ich sage: Eine Partnerschaft ohne Erwartungen ist keine echte Beziehung. Denn wer liebt, hofft auch. Wer in einer Beziehung lebt, erwartet so Einiges. Das sind kleine und große Dinge, die sich vielleicht so eingespielt haben und als stumme Vereinbarung gelten. Trotzdem oder gerade darum halte ich es für sehr wichtig, genau zu überprüfen, was die Erwartungen sind, die ich in einer Partnerschaft habe. Erwartungen sollten immer wieder offen dargelegt werden, damit die Verantwortung geklärt werden kann. Wenn wir vom Gegenüber erwarten, dass er oder sie uns glücklich macht, macht uns diese Haltung vom anderen abhängig. Eine solche Erwartung führt früher oder später zur Enttäuschung. Die Erwartung, sich gegenseitig zu unterstützen und für- Erwartungen genau einander da zu sein, ist in einer Partnerschaft ganz natürlich. formulieren Trotzdem kann es sein, dass sich der Partner oder die Partnerin nicht so verhält, wie man es sich wünscht. Dann ist es hilfreich, möglichst genau zu formulieren, was man möchte:  „Ich möchte dieses Problem gerne mit dir besprechen und gemeinsam Lösungsmöglichkeiten finden. Würdest du das mit mir zusammen anschauen? Wann hättest du dafür Zeit?“  „Ich brauche gerade ganz viel Nähe und Trost. Könntest du mich in die Arme nehmen? Das würde mir so gut tun!“  „Ich hatte heute einen anstrengenden Tag. Kann ich dir davon erzählen? Es würde mir gut tun, jemanden zu haben, der/die mir zuhört und mich versteht.“ Ein Paar erzählt, dass sie jeden Sonntag eine Auseinanderset- Ein Beispiel zung haben, weil sie es nicht schaffen, eine für beide Seiten zufriedenstellende Lösung zu finden, wie sie den Sonntag gestalten wollen. Üblicherweise läuft es so ab: Sie: „Was sollen wir heute machen?“ – Er: „Worauf hast du denn Lust?“ – „Wir könnten eine Wanderung machen?“ – „Ja, gut, maEveline Degani: Und wie streiten Sie? – konfliktbewältigung.ch

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chen wir eine Wanderung!“ – „Naja, das war nur ein Vorschlag, was würdest denn du wollen?“ – „Also eine Wanderung klingt für mich okay.“ – „Ja aber was willst du? Ich hätte gerne, dass du auch einen Vorschlag machst, ich möchte nicht immer für beide entscheiden.“ – „Also gut, wie wäre es mit Baden gehen?“ – „Nö, darauf habe ich eigentlich keine Lust.“ – „Siehst du, ich hab ja gesagt, Wandern ist okay.“ – „Ja, aber ich würde gerne darüber diskutieren.“ Der Mann schüttelt frustriert den Kopf: „Was bist du kompliziert, ich kann dir ja gar nichts recht machen!“ – „Also nur weil ich gerne miteinander absprechen will, bin ich doch nicht kompliziert!“, ruft die Frau entrüstet und schon sind die beiden auf bestem Weg zur Eskalation. Bedürfnisse Die Frau möchte Kontakt zum Mann. Sie möchte die Verbinder Frau dung zu ihm spüren. Ihre Strategie ist, eine gemeinsame Entscheidung über die Sonntagsgestaltung zu finden. Bedürfnisse Der Mann möchte gerne Ruhe und Frieden. Es ist ihm nicht so des Mannes wichtig, was am Sonntag gemacht wird, wichtiger ist ihm, dass sie es in Harmonie machen können. Seine Strategie ist es, auf das Angebot der Frau einzugehen und ihre Wünsche zu erfüllen. Erkenntnis „Wenn ich gewusst hätte, dass sein Angebot nicht dazu da ist, mich der Frau ruhigzustellen, sondern um mir einen Gefallen zu tun, wäre ich nicht so verärgert gewesen und hätte seine Zustimmung einfacher annehmen können.“ Erkenntnis des „Wenn ich gewusst hätte, dass es ihr darum geht, mit mir in KonMannes takt zu sein, hätte ich mich nicht so hilflos gefühlt und wäre gerne bereit gewesen zu reden.“

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9. Konfliktlösungsmodelle In diesem Kapitel möchte ich Ihnen ein paar Konfliktlösungsmodelle vorstellen, mit denen ich gute Erfahrungen gemacht habe. Es handelt sich um Hilfsmittel und Werkzeuge, die ein konstruktives Vorgehen im Konfliktfall fördern. Die dadurch gegebene Struktur hilft, bei der Sache zu bleiben. Allerdings sind die Methoden nur das Gefäß, das den Rahmen vorgibt. Die Verantwortung für den Inhalt sowie für die innere Haltung in der Auseinandersetzung tragen die Konfliktbeteiligten selbst. Inhaltlich lohnt es sich, die eigenen Gefühle und Bedürfnisse zu benennen. Die innere Haltung ist dann konstruktiv, wenn ich bereit bin zu hören, was mein Gegenüber wirklich meint. Wer ganz bewusst die Streitkultur verändern möchte, ist eingeladen, gemeinsam mit den anderen Beteiligten des Konflikts das eine oder andere Modell bewusst auszuprobieren. Meine Erfahrung ist, dass sich die Einführung solcher Strukturen lohnen kann, weil gerade im Konfliktfall oft die Nerven blank liegen. Das Ziel ist es, aus diesen Modellen heraus einen eigenen Streitstil zu entwickeln. Wer dafür Unterstützung in Anspruch nehmen möchte, ist bei den Streitseminaren, die ich mit meinem Mann zusammen durchführe, herzlich willkommen. Im Kapitel Konfliktverhalten haben wir den Beginn eines Kon- Fortsetzung: flikts im Sandkasten untersucht. Die Mutter von Fritz hatte Konflikt im Sandkasten gerade noch mitgekriegt, dass Fritz Paul geschlagen hat. Nun geht sie zu den beiden hin und fragt: Mutter: „Was ist passiert?“ – Fritz antwortet weinerlich: „Meine Schaufel!“ – Die Mutter fragt weiter: „Möchtest du die Schaufel haben?“ Fritz nickt.

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Mutter: „Ist das denn deine Schaufel, hast du Paul gefragt, ob du sie haben darfst?“ – Fritz weint weiter. – Mutter zu Paul: „Ist das deine Schaufel?“ – Paul nickt, er zeigt auf Fritz: „Aua gemacht. Fritz böse.“ – Mutter: „Hat Fritz dir wehgetan und du möchtest die Schaufel selbst haben?“ Paul nickt. Fritz hört auf zu weinen. Die Mutter verkneift sich eine beurteilende Bemerkung und fasst stattdessen zusammen: „Paul möchte seine Schaufel selbst haben. Fritz möchte die Schaufel auch gerne benutzen. Beide möchten die Schaufel haben. Was könntet ihr nun machen, dass beide zufrieden sind, und dass ihr es wieder gut habt?“ (Pause) Mutter: „Was möchtet ihr denn mit der Schaufel machen?“ – Die beiden sagen nichts. – Mutter: „Wolltet ihr eine Burg bauen?“ – Fritz nickt. Paul sagt nichts. – Mutter freudig motivierend: „Wollt ihr die Burg zusammen bauen? Oder will einer die Burg bauen und der andere den Wassergraben buddeln? Oder will einer die Burg bauen und der andere mit mir auf die Rutsche kommen?“ Da reicht Paul Fritz die Schaufel und steuert auf die Rutsche zu. Fritz wirft die Schaufel in den Sand und springt ihm hinterher. Neutralität üben Diese Geschichte zeigt, wie Situationen ohne Schimpfen oder Drohungen auf gute Weise gelöst werden können. Die Mutter hat sich bewusst ein „Das darfst du nicht!“ oder „Sonst gehen wir nach Hause“ verkniffen. Sie hat auch keine „Warum“-Frage gestellt. Stattdessen ist sie in die Rolle einer Moderatorin geschlüpft und hat ganz neutral vermittelt. Dabei hat sie beide Seiten gleich behandelt. Neutral bleiben heißt keine Bewertungen abzugeben, keine Partei zu bevorzugen und beiden Seiten gleich viel Zeit und Aufmerksamkeit zu widmen. Sich in Neutralität zu üben kann eine gute Alltagsübung sein. Denn besonders schwierig ist es, wenn ein Konflikt eigene und fremde Kinder betrifft, ältere und jüngere, stärkere und schwächere, Mädchen und Jungen. Die meisten Erwachsenen 98

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sind es gewohnt, sich auf die Seite des Schwächeren zu stellen, aber wer wirklich neutral sein will, darf das nicht. Als Vermittlungsperson darf man keine Stellung beziehen, sondern sollte bewusst zuhören, was die verschiedenen Seiten zu sagen haben. Die vermittelnde Person sollte auch darauf achten, dass sie nicht von „uns“ spricht, sondern von „ihr“. Also statt: „Was sollen wir jetzt machen?“, sagt sie: „Was wollt ihr jetzt machen, dass ihr es wieder gut habt?“ Denn häufig ist es auch wichtig, sich darüber klar zu werden, ob die Streitenden überhaupt Frieden wünschen, oder ob einfach nur die Erwachsenen Ruhe haben wollen. Wenn die Kinder nämlich lieber streiten wollen, nützt eine Vermittlung nichts. Dann macht es mehr Sinn einen Ort zu finden, wo die Kinder streiten dürfen. In den meisten Fällen ist eine (neutrale) Intervention aber erwünscht. Wer unsicher ist, kann natürlich auch fragen: „Wollt ihr jetzt streiten oder braucht ihr Hilfe, um eine Lösung zu suchen?“

Vermittlung bei Kindern Wenn Sie in einem Streit unter Kindern vermitteln wollen, 1. Schritt: Zuhören leiten Sie die Vermittlung mit einer der folgenden Fragen ein:  „Was ist los?“  „Was ist passiert?“  „Was hast du gesehen oder gehört?“ Nun lässt man beide Seiten nacheinander erzählen, bis nichts mehr kommt, und wiederholt dabei das Gesagte. Es ist wichtig, nur zu wiederholen, was gesagt wurde und keine ablenkenden Fragen zu stellen, keine persönlichen Kommentare abzugeben. Der Vermittler lässt beiden Seiten gleich viel Zeit, falls nötig, sagt er dies zu Beginn.

A erzählt, Vermittler wiederholt B erzählt, Vermittler wiederholt

Im zweiten Schritt werden Lösungsideen gesammelt: „Was 2. Schritt: könnt ihr nun tun, damit ihr es beide wieder gut habt? Was habt ihr Lösungsideen für Ideen und Lösungen, damit ihr miteinander auskommt?“ sammeln Eveline Degani: Und wie streiten Sie? – konfliktbewältigung.ch

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Hier braucht es etwas Geduld, bis die Ideen kommen. Wenn man lange genug warten kann, kommen sie aber. Es ist nicht die Aufgabe des Vermittlers, eine Idee zu finden. Falls die Kinder aber Hilfe brauchen, z. B. weil sie zu klein sind, sollte vorher gefragt werden: „Möchtet ihr, dass ich euch helfe, Ideen zu suchen?“ Dann ist es hilfreich, wenn mindestens drei Ideen gesagt werden, damit eine Auswahl besteht. 3. Schritt: Kontrolle Zuletzt wird eine Lösung (eventuell auch eine Kombination aus mehreren Lösungsideen) ausgewählt und kontrolliert:  „Ist die Lösung fair und gerecht?“  „Ist sie ungefährlich?“  „Was, wenn sie nicht funktioniert? Wollt ihr dann noch einmal zusammenkommen und über mögliche Alternativen sprechen?“ Beispiel Jule, Martha, Ruth und Amélie spielen im Garten. Plötzlich beginnt die vierjährige Marte zu weinen und läuft zur Mutter: Beide Seiten „Aua, ich spiele nie mehr mit Jule.“ Die Mutter wiederholt: „Du neutral anhören möchtest nicht mehr mit Jule spielen.“ Marta schimpft: „Jule hat mich mit Sand beworfen.“ Sie versucht schluchzend, sich den Sand aus dem T-Shirt zu wischen. Ruth, Martas Schwester, rechtfertigt Jules Verhalten: „Ich habe mit Jule eine Sandburg gebaut. Marta hat sie uns immer wieder kaputt gemacht, obwohl wir Stopp gesagt haWiederholen, was ben.“ Die Mutter fasst zusammen: „Du wolltest mit Jule eine Burg gesagt wird bauen und Marta hat sie kaputt gemacht.“ Marta wehrt sich: „Ich will auch mitspielen. Ich will ein Loch machen.“ Die Mutter wiederholt: „Marta möchte auch spielen.“ Lösungsideen Nach einer Pause fährt die Mutter fort: „Was könntet ihr jetzt masammeln chen, dass ihr es alle wieder gut habt?“ Amélie spielt auch im Sandkasten und meldet sich zu Wort: „Marta, komm, du kannst mit mir spielen.“ Marta geht wieder zum Sandkasten zurück. Ruth hat noch eine Bedingung: „Aber hier darf man nicht draufstehen, hier bauen wir 100

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unsere Burg.“ Die Mutter wiederholt die Ideen: „Marta darf auch mitspielen, aber man darf sich nicht auf die Burg stellen. Wo könnte Marta dann ein Loch buddeln?“ Ruth sagt: „Hier kann sie buddeln.“ Marta und Amélie buddeln gemeinsam und schaufeln Jule und Ruth den Sand zu, den sie für die Burg weiterverwenden. Eine solche Vermittlung wirkt bei allen Beteiligten positiv, bei Kindern wie Erwachsenen gleichermaßen. Erziehende sind entlastet, weil sie nicht mehr richten müssen. Diese neue Rolle der Begleitung und Unterstützung hilft den Kindern, ihren eigenen Weg zu finden, anstatt Anweisungen zu befolgen. Schimpfen und Schuldzuweisungen sind passé. Das erleichtert eine partizipative, individuelle und konstruktive Lösungssuche, die den Bedürfnissen der Kinder gerecht wird.

Das Konfliktgespräch Im Konfliktgespräch wird auf strukturierte Weise ein Konflikt angesprochen. Diese Methode ist für Kinder wie auch für Erwachsene geeignet. Mit der Zeit können die Kinder Konflikte selbst lösen. Für Kinder ist es anfangs hilfreich, wenn sie jemand beim Ablauf unterstützt. Um die Struktur sichtbar zu machen, benutze ich gerne diese drei Symbole: Mund, Ohr, Glühbirne.

Z Z d Z Z d Z Z d

 Der Mund bedeutet: „Ich darf meine Sicht schildern und du1. 1. deine.“ 2.

 Das Ohr sagt: „Ich höre dir zu und will verstehen,1. was du2. sagst. Das bedeutet nicht, dass ich dieselbe Meinung habe.“

d d 3.

2.

3.  Die Glühbirne steht für die Suche nach einer gemeinsamen Lösung.

d

Das Konfliktgespräch besteht aus drei Schritten. Im ersten 3. Schritt nimmt A die Rolle des Mundes ein, B ist das Ohr. Später werden die Rollen getauscht. Im dritten Schritt suchen A und B gemeinsam nach einer guten Lösung für den Konflikt. Eveline Degani: Und wie streiten Sie? – konfliktbewältigung.ch 101


A beginnt zu erzählen (Mund) B hört zu (Ohr)

1.

Z ZZ ZZ Z d d d

A beginnt also zu erzählen. B hört zu und wiederholt, was sie oder er gehört hat.

Im zweiten 1. Schritt werden die Rollen getauscht. Jetzt erzählt B ihre 2. oder seine Sicht. A hört zu und wiederholt, was er oder sie gehört hat: B erzählt (Mund) A hört zu (Ohr)

3. 1.

d d

2.

Dieses Gespräch kann so lange im Wechsel stattfinden, bis beide 3.Parteien bereit sind, eine gemeinsame Lösung zu suchen.

2.

Wenn es soweit ist, überlegen beide, welche Ideen zu einer Lösung führen könnten.

3.

d

„Wollen wir eine Lösung suchen?“

Eine Lösungsidee wird ausgewählt und eine Vereinbarung wird getroffen.

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Methodisch kann diese Gesprächsstruktur auf verschiedene Weise gestaltet werden. Oft stelle ich zur Einführung zwei Stühle auf. Der eine Stuhl ist mit einem Ohr, der andere mit einem Mund gekennzeichnet. Die Person, die sich eher bereit fühlt, zuerst zuzuhören, setzt sich auf den Ohrstuhl (zu Beginn Person B). Die Plätze werden gewechselt, sobald Person A bereit ist, die andere Seite zu hören. Viele Menschen nutzen bei dieser Übung die Gelegenheit, dem anderen einmal ohne Unterbrechungen ihre Sicht zu schildern, und schätzen es, dass ihr Gegenüber sich nicht sofort rechtfertigt. Diese Form des Gesprächs kann natürlich auch auf andere Variante: Weise strukturiert werden. Eine Variante, die nach Belieben Indianergespräch angepasst werden kann, ist das „Indianergespräch“. Beim Indianergespräch benutzen wir einen Sprech- oder Redestab, auf Englisch auch „talking stick“. Wer ihn hält, darf sprechen. Der andere hört zu und wiederholt, was er gehört hat. Dann wird der Stab übergeben und B spricht, während A zuhört. Wenn sich die Parteien ausgesprochen haben, wird die Friedenspfeife dazu geholt. Jetzt werden gemeinsam Lösungsideen gesucht und schließlich eine ausgewählt. Manchmal gelingt es nicht sofort, eine Lösung zu finden. Dann kann es hilfreich sein, sich über die verschiedenen Bedürfnisse klar zu werden, darüber zu schlafen und sich Zeit zu nehmen. Ich erlebe ganz oft, dass Kinder sehr schnell eine Lösung finden. Bei Erwachsenen dauert es, je nach Situation, länger. Wenn es sehr anstrengend wird, kann es entlastend sein, wenn man sich Unterstützung holt, zum Beispiel in Form einer Mediation oder eines Beratungsgesprächs. Eveline Degani: Und wie streiten Sie? – konfliktbewältigung.ch 103


4-Schritt-Modell Wer einen Konflikt lieber ruhig angehen möchte, dem empfehle ich das schriftliche 4-Schritt-Modell. In vier Schritten werden Parteien zur Lösungsfindung gebracht. Zum Abschluss wird gefeiert. „Worum geht es?“ Im ersten Schritt, der Themensammlung, werden für alle Konfliktthemen kurze Titel gesucht, die auf einem Blatt gesammelt werden. Wenn alle Themen notiert sind, wird ein Thema oder eine Themenkombination ausgewählt. „Was ist mir wichtig? Im zweiten Schritt werden die Bedürfnisse erarbeitet. Beide SeiWarum ist mir das ten überlegen sich, was ihnen zu diesem Thema wichtig ist. wichtig?“ Dieser Teil kann mündlich oder schriftlich geschehen, wichtig ist, dass beide Seiten ihre Bedürfnisse äußern. „Welche Angebote kann ich machen, damit ich zu der Lösung gelange, die für mich okay ist?“

Der dritte Schritt ist die Ideensuche. In Form eines Brainstormings werden Ideen und Angebote aufgeschrieben, die zu einer Lösung führen könnten. Die Ideen sollten möglichst konkret sein und nicht kommentiert werden. Zum Schluss dürfen die Ideen bewertet werden: Alle markieren die Ideen, die ihr oder ihm zusagen.

Vereinbarung Im vierten Schritt wird eine Vereinbarung festgelegt. Aufgrund festlegen der Markierungen wird die Lösung ausgehandelt. Manchmal braucht die eine Seite noch Zugeständnisse. Dann hilft die Frage: „Was brauchst du, damit du zu einer Lösung ja sagen kannst?“ Die Lösung wird dann schriftlich festgehalten und besiegelt – zum Beispiel am Kühlschrank aufgehängt. Für manche ist ein Zusatz darüber hilfreich, was passiert, wenn sich jemand nicht an die Abmachung hält. Vielfach reicht es, wenn man sich auf einfache Wiedergutmachungsangebote einigt wie zum Beispiel: Wer sich nicht daran hält, bringt dem andern am Sonntag das Frühstück ans Bett, macht am Abend die Küche sauber, etc. 104

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Auch wenn die Lösung in vier Schritten da ist, gehört ein ge- Abschluss: bührender Abschluss dazu. Das Ziel jedes Konfliktes ist die Versöhnen und Versöhnung. Deshalb darf jetzt gefeiert werden! Jede gemein- Feiern sam ausgearbeitete Lösung will entsprechend gewürdigt werden. Vielleicht gönnen Sie sich einen gemeinsamen schönen Abend. Oder Sie zünden miteinander eine Kerze an, gehen als Familie ein Eis essen, schenken sich gegenseitig einen Versöhnungskuss, machen eine Kuschelrunde, gönnen sich ein gutes Essen, kleben einen Stern ins Familienbuch (bei zehn Sternen gibts einen Familienausflug), malen sich eine Sonne in den gemeinsam gebastelten Streitpass, schenken sich gegenseitig eine Massage, usw. Da fallen Ihnen bestimmt eigene Sachen ein! Das Feiern der Versöhnung ist eine gute Möglichkeit, einen positiven Zugang zum Streiten zu finden. Sie schaffen damit angenehme Assoziationen und sind Ihren Kindern damit wunderbare Vorbilder. Die Eltern Maria und Reto streiten. Maria ist total frustriert, sie ärgert sich über die Unordnung in der Wohnung und auch noch über ein paar andere Dinge. Reto ist zuerst abgeschreckt. Dann erinnert er sich an das 4-Schritt-Modell und lädt Maria ein, dieses nach Feierabend auszuprobieren. Maria ist einverstanden. Dass ihr Frust gehört wird und sie sich am Abend extra Zeit nehmen, um eine Lösung zu finden, erleichtert sie und erfüllt sie mit Dankbarkeit. Am Abend sammeln sie zuerst die aufgelaufenen Konfliktthemen:

Kommunikation untereinander Ordnung in Stube und Küche WC-Rolle, Zahnpasta Mithilfe im Haushalt Umgang mit Terminen und Absprachen Verantwortung/Entlastung

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Themensammlung


Sie entscheiden sich für das Thema „Verantwortung/Entlastung“. Danach tauschen sie sich über ihre Bedürfnisse aus. Sie halten fest:

Maria: Ich wünsche mir mehr Unterstützung im Haushalt Ich will die Entscheidungen gemeinsam tragen (nicht immer ich, ich bin entscheidungsmüde) Ich brauche Entspannung und Erholung (bin total erschöpft) Ich wünsche mir einen angenehmen Umgangston

Reto: Ich schätze klare Anweisungen Ich unterstütze gerne und brauche Klarheit, was genau gewünscht wird Ich möchte mich am Abend entspannen und erholen Ich wünsche mir Anerkennung für das, was ich bereits alles tue Ich mag Harmonie und Freundlichkeit

Nachdem sie Lösungsideen und Angebote gesammelt haben, bewerten beide die möglichen Lösungen: Ideensuche

Maria/Reto

- + Wir stellen eine Putzfrau an. übernimmt am Mittwoch und Samstag + + Reto das Staubsaugen. geht 1x pro Woche abends weg + + Maria (oder schaut TV). übernimmt am Wochenende das Kommando: + + Reto das heißt, er trifft die Entscheidungen.

+ + + + + 106

Wir nehmen uns einmal pro Woche Zeit zum Reden, wir tauschen uns aus über unser Befinden. Wir nehmen uns bewusst täglich eine halbe Stunde Zeit für den persönlichen Austausch z. B. 18–18.30 Uhr. Wir sagen uns abends, worüber wir uns gefreut haben. Maria holt sich Unterstützung (Massage, Craniosacraltherapie, Homöopathie, oder … ), damit sie wieder zu Kräften kommt.

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Schließlich notieren Sie Ihre gemeinsame Entscheidung:

Vereinbarung Wir nehmen uns jeden Abend Zeit (beim Zubettgehen) für den Austausch. Wir sagen, was uns heute gefreut hat, was wir am anderen schätzen und was wir brauchen. Reto übernimmt abends den Küchendienst, um Maria zu entlasten. Maria gibt Reto mehr Verantwortung ab, das heißt, sie akzeptiert seine Entscheidungen, auch wenn sie vielleicht anders ausfallen, als sie diese treffen würde. Reto berücksichtigt Marias Wünsche und spricht sich mit ihr ab (auch was die Termine betreffen). Die Termine werden von Reto wöchentlich überprüft und geklärt. In zwei Wochen gibt es eine Nachbesprechung, um zu sehen, ob sie die Lage verbessert hat. Falls nicht, werden neue Optionen gesucht.

In der Streitarena Bei diesem Konfliktlösungsmodell sollten sich die Beteiligten bewusst sein, dass es laut wird und vielleicht verletzend wirken kann. In der Hitze des Gefechts geht es erst einmal ums Dampfablassen. Die Vorwürfe sind Teil des Prozesses, sie werden ausgesprochen, damit sie behoben werden können. Manche Menschen mögen diese Art von Auseinandersetzung nicht, vielleicht weil sie Angst vor den Verletzungen haben, die daraus resultieren können. Wer aber dem Frieden zuliebe immer wieder seinen Ärger oder seine Enttäuschung runterschluckt, wird niemals die wunderbare Erfahrung der Versöhnung nach einem heftigen Streit machen können. Wer Frieden will, tut gut daran zu akzeptieren, dass es auch mal krachen darf. Friede schließt Streit nicht aus. Eveline Degani: Und wie streiten Sie? – konfliktbewältigung.ch 107

Vereinbarung festlegen


Ängste oder Befürchtungen sollen aber sehr wohl ernstgenommen werden. Menschen, denen es bei lauten Tönen unwohl wird, empfehle ich deshalb eine sorgfältige Vorbereitung, bevor sie sich alleine an dieses Modell wagen. Streitfreudige stellen fest, dass dieses Modell sehr viel Spaß machen kann, weil viele Energien freigesetzt werden und sich Spannungen gut lösen können. Ich kann endlich sagen, was ich denke – und werde trotzdem noch geliebt. Ich darf auch mal schimpfen und fluchen – und weiß, dass es nur ein Ausdruck meines persönlichen momentanen Befindens ist. Ich darf laut werden und meinen Ärger rauslassen – und die Sicherheit genießen, dass mein Gegenüber das aushält. Wichtig ist, dass beide mit diesem Modell einverstanden sind, der Ablauf klar ist, die Signale vereinbart wurden. Das Ziel ist auch in diesem Modell die Entwicklung einer gemeinsamen Lösung. Der erste Teil des Modells ist vergleichbar mit dem Kampfring. Erst tobt man sich aus, aber im Unterschied zum Kampfring sollen hier beide als Gewinner herauskommen. Damit dies möglich wird, gilt es durchzuhalten und dranzubleiben. Wenn jemand eine Auszeit braucht, besteht die Möglichkeit, ein Time-out zu nehmen. Dann ist es besser, ruhig und überlegt an die Sache heranzugehen. Denn laute Töne können durchaus überfordern. Wenn jemand während des Prozesses wegläuft, ist das ein Zeichen, dass diese Person nicht (mehr) bereit ist, auf diese Weise zu kommunizieren. Dann sind vielleicht die anderen Modelle (Konfliktgespräch, 4–Schritt-Modell) besser geeignet. Der Tanz des Tigers In der Streitarena durchläuft die Auseinandersetzung auf ihAmpelmodell rem Weg hin zu einer Lösung drei Phasen: Phase rot, Phase gelb und Phase grün. Weil dieses Modell die Gelegenheit gibt, den Streittyp des Tigers auszuprobieren, nenne ich es auch den „Tanz des Tigers“.

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In der Phase rot darf man Dampf ablassen. Ich kann hier un- Phase rot: strukturiert alles rauslassen, was mich ärgert. Am besten hilft Schimpfen und dazu die innere Haltung: „Schimpfen ist in Ordnung. Wir kön- Schreien nen den Konflikt aushalten.“ Der Partner kann dabei loopen, was mich ärgert, oder einfach schweigend zuhören. Oder aber, beide Partner schimpfen einfach drauflos. Viele Leute schimpfen automatisch in Du-Botschaften. „Du hast schon wieder den Müll vergessen. Du bist immer zu spät. Du regst mich auf, wenn du so redest. Du machst mir immer so viel Druck. Dir kann man nichts recht machen.“ Es ist aber auch möglich, in Ich-Botschaften zu schimpfen. Das gelingt dann, wenn man ganz bei sich selbst bleibt und seine Gefühle benennt: Ich bin verärgert, enttäuscht, wütend, es macht mich rasend, ich bin verletzt oder traurig. In dieser ersten Phase sind beide Formen möglich. Manche Paare schätzen es, wenn im Voraus in einer ruhigen Minute geklärt wird, ob mit Du-Botschaften oder nur in Ich-Botschaften gesprochen werden soll. Viele finden es entlastend, wenn man in der ersten Phase einfach mal „den Frust rauslassen“ kann, ohne auf korrekte Formulierungen achten zu müssen. Zwei Hilfsmittel stehen hier zu Verfügung: die Rote Karte und das Time-out. Die Rote Karte bedeutet: „Das war unter der Gürtellinie. Das hat mich verletzt.“ Da es einige Menschen gibt, die ihre Verletzung nicht kundtun, und ihre Partner deshalb nicht wissen, wie es um sie steht, habe ich dieses Kartensystem entworfen. Die Rote Karte heißt dann für den anderen: keine Du-Botschaften mehr, sprich bitte nur von dir und deinen Gefühlen. Die Erfahrung hat gezeigt, dass in der Hitze des Gefechtes die Rote Karte meist vergessen wird. Es ist einfacher, wenn sich Eveline Degani: Und wie streiten Sie? – konfliktbewältigung.ch 109


beide Seiten zuerst aussprechen, ohne unterbrochen zu werden. Im Anschluss daran wird nachgefragt:  Wie war es mit der Roten Karte? Wann hättest du sie eingesetzt? Gab es Situationen, wo es für dich unfair oder verletzend wurde?  Was brauchst du jetzt, dass du weitermachen kannst? Das Time-out bedeutet eine Auszeit. Wer Time-out anzeigt, soll sich überlegen, wie viel Pause er braucht und wann es weiter gehen kann (in fünf Minuten, in einer halben Stunde, am Abend, usw.). Das Time-out hat das Ziel, die Emotionen herunterzufahren. Nach der ersten Phase wird mit der zweiten, weniger lauten Phase weitergemacht. Damit will man auf eine ruhigere Ebene kommen und den Fokus auf die Lösung richten. Phase gelb: Ich spreche von meinen Bedürfnissen und Wünschen

Die zweite Phase kehrt ein, sobald der Dampf draußen ist. Wenn bei beiden Seiten gesagt wurde, was unter den Nägeln brennt, kann in einem nächsten Schritt den Bedürfnissen und Wünschen nachgegangen werden. Dabei helfen die Fragen: was ist mir wirklich wichtig? Was wünsche ich mir genau? Welche Bedürfnisse stehen dahinter? Beispiele:  Ich brauche mehr Zeit für mich.  Ich sehne mich nach Nähe und Geborgenheit  Ich wünsche mir Verständnis.  Ich brauche Zuverlässigkeit und regelmäßige Absprachen.  Ich brauche das Gespräch mit dir, die Auseinandersetzung, um zu hören wie es dir geht und ich brauche die Zuversicht, dass wir gemeinsam eine Lösung finden.  Ich wünsche mir, dass wir miteinander eine Lösung suchen.  Ich wünsche mir mehr Zeit mit dir.  Ich wünsche mir, dass Abmachungen eingehalten werden, dass Zuverlässigkeit gilt. 110

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In den Streitseminaren erleben wir oft, dass die intensivste Arbeit auf der Beziehungsebene geschieht. In vielen Fällen ist es nicht so relevant, wie die Lösung letztendlich ausschaut. Viel wichtiger ist das Gespräch vorher, das „Im Kontakt sein“ mit dem Gegenüber. Diese Nähe findet dann statt, wenn wir über unsere Gefühle und Bedürfnisse sprechen. Dabei können folgende Fragen nützen:  Ich bin unsicher, ob das was ich sagen möchte, so angekommen ist, wie ich es gemeint habe. Kannst du mir sagen, was du von mir verstanden hast?  Wie ist das jetzt bei dir angekommen?  Kannst du verstehen, was ich meine?  Glaubst du mir, wie schwierig das für mich ist?  Wie geht es dir damit, wenn du mich das sagen hörst?  Was wird in dir jetzt gerade lebendig (Gefühle und Bedürfnisse)? In der dritten Phase geht es darum, konkrete Ideen zu sam- Grüne Phase: meln und Angebote zu verhandeln. Die Ideen sollten mög- Lösungssuche lichst messbar sein, damit die Einhaltung realistisch wird. Wer ganz bewusst vorgehen möchte, kann seine Ideen auch Ideen sammeln auf Notizkarten schreiben. Hilfreich ist es, statt Forderungen Angebote zu notieren. Denn Forderungen können die Koope- Angebote verhandeln ration blockieren. Gegenseitige Angebote werden konstruktiv empfunden. Nützlich können folgende Fragestellungen sein:  „Was kann ich selbst tun, um die Situation zu verbessern?

Fragen an mich

 Welche Angebote meinerseits könnten für mein Gegenüber nützlich sein?“  „Ich bin bereit, … (Angebot) zu tun. Wäre das okay für dich?“  „Was brauchst du, damit du zu … (Angebot) ‚Ja‘ sagen kannst?“ Je klarer die Wünsche formuliert werden, desto einfacher können sie erfüllt werden.

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Fragen an dich


10. Ideen für den Alltag In diesem Kapitel habe ich ein paar Ideen zusammengetragen, die uns im Alltag, zu Hause oder in der Beratung immer wieder begegnet sind. Gerne möchte ich diese mit Ihnen teilen.

Rituale Menschen bekommen gerne positive Rückmeldungen. Das gibt ihnen ein gutes Gefühl und lässt sie neu erstrahlen. Menschen mit einem ausgeprägten Selbstwertgefühl gehen gestärkt durchs Leben und sind grundsätzlich konfliktkompetenter. Rituale, die in das Familienleben eingebaut werden, bereichern das Zusammenleben und geben der Familie die Rituale verbinden Möglichkeit für besondere Momente. Viele Familien haben intuitiv Rituale in den Alltag eingebaut. Jans Vater liest den Kindern jeden Abend eine Gutenachtgeschichte vor, Familie Müller spricht jeden Mittag ein Tischgebet, Jara geht nie ohne einen Abschiedskuss und eine Umarmung aus dem Haus, Petras Mutter weckt die Kinder mit einem Gutenmorgenlied, und die Meyers feiern jeden Abend beim ins Bett gehen die schönen Momente des Tages und bedauern, wenn ihnen etwas auf dem Herzen liegt. Für Familienrituale eigenen sich besonders die Abendzeiten vor dem ins Bett gehen. Aber jede Form des gemeinsamen Zusammenseins, sei dies auf einer Autofahrt, beim Essen oder am Sonntagmorgen beim Kuscheln im Familienbett kann ein geeigneter Moment sein. Probieren Sie es einfach aus. Achten Sie bei den Ritualen auf positive Formulierungen. Die Kinder dürfen hören, was geschätzt wird, und nicht was sie nicht gut machen. Das Ziel der Rituale ist, sich der positiven Dinge bewusst zu werden, die Wahrnehmung der Gefühle zu schulen und gemeinsame Momente der Nähe zu erleben. Einige besondere Rituale habe ich hier zusammengestellt. 112

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Dieses Ritual kann mit Schokoladekugeln, Murmeln oder Per- Perlen unserer len durchgeführt werden. Mama oder Papa beginnt und sagt Familie dem Kind, was sie oder er an ihm besonders findet. Dabei bekommt es eine Kugel. Je nach Variante sagen nur die Eltern den Kindern etwas, oder jeder sagt jedem etwas oder jeder sagt der Person links von ihm etwas. Die Varianten sind frei wählbar. Dabei sollte darauf geachtet werden, dass es nicht zu Wiederholungen kommt. Jede Person soll etwas anderes gesagt bekommen. Mit etwas Übung geht das gut. Dabei ist es noch interessanter, wenn das Gesagte möglichst konkret ist und sich auf eine bestimmte Situation bezieht. „Du bist für mich eine Perle in unserer Familie, weil …  … ich mag, wie deine Augen so schön leuchten, wenn du lachst.“  … ich mich so gerne von deiner Freude anstecken lasse, wenn du fröhlich durchs Haus tanzt.“  … es mich beglückt, wenn ich dich lachen höre, deine Fröhlichkeit steckt mich richtig an.“  … ich es mag, dass du einen ganz eigenen Kleidergeschmack hast. Wenn ich sehe, wie du selbständig deine Wahl triffst, freue ich mich, weil ich Selbständigkeit mag.“  … ich deine Hilfsbereitschaft und Sorgfalt schätze, wie heute, als du den Tisch gedeckt und geschmückt hast. Das macht mir sehr viel Freude, wenn ich sehe, wie du dich beteiligst und ich genieße diese Zusammenarbeit.“  … ich deine kreative Ader schätze, wenn du beim Spielen oder Basteln deine Ideen einbringst.“  … ich es sehr schätze, dass du dich auch alleine beschäftigen kannst, wenn du zum Beispiel malst, Briefe schreibst oder mit Lego etwas baust. Wenn ich sehe, dass du dich gut selber beschäftigen kannst, wird es mir ganz leicht, weil ich dann auch Zeit für mich habe.“  … du mir heute beim Abwasch geholfen hast und wir miteinander geredet haben. Ich habe es sehr genossen, diese Nähe zu spüren und die Aufgabe gemeinsam zu erledigen.“ Eveline Degani: Und wie streiten Sie? – konfliktbewältigung.ch 113


 … ich finde, dass du ein liebenswertes Schlitzohr bist, das mich herausfordert und den Alltag lebendig macht.“  … ich deine Schlagfertigkeit schätze, wenn ich mal mit dir schimpfe. Das bringt mich dazu, über mich selbst nachzudenken und dafür bin ich dir dankbar!“  … ich mit dir so gut streiten kann: Ich schätze es, dass du im Streit da bleibst und aushältst, auch wenn ich dir mal einen Vorwurf mache. Ich schätze es, dass du mir zuhörst, und ich schätze deine Bereitschaft eine Lösung zu finden. Und am meisten mag ich es, wenn wir uns dann wieder versöhnen.“  … du es mir übel nimmst, wenn ich zu viel mit dir schimpfe: dann erkenne ich, wie verletzlich und wertvoll du bist und dass ich mit dir so reden möchte, dass wir es schön haben zusammen.“  … es so schön ist, mit dir zusammen zu malen. Ich staune gerne, was dabei entsteht und wie viel Spaß mir das macht.“  … ich mit dir gestern so gut Hütten bauen konnte. Wir haben uns gegenseitig geholfen und unsere Ideen eingebracht. Das hat mir gut getan, weil ich Kreativität und Zusammenarbeit erleben konnte.“  … du mich daran erinnerst, was mir wirklich wichtig ist im Leben. Nämlich mit den Menschen, die ich liebe, Zeit zu verbringen.“  … usw. „Ich mag an dir“ – Ähnlich ist das Spiel „Ich mag an dir“. Auch hier ist es für das eine Wertschätzungs- Kind interessant, wenn Sie dazu eine konkrete Erinnerung dusche parat haben. „Ich mag an dir …  … wie du mit dem Baby sprichst: du hast eine ganz liebevolle Stimme und sprichst so zärtlich, dass ich gleich selbst gerne ein Baby wäre.“  … dein liebenswertes Wesen: wie gestern, als du so auf dem Sofa lagst, da habe ich einfach gedacht, dass ich dich toll finde und dich aus tiefstem Herzen liebhabe.“ 114

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 … deinen Sinn für schöne Schuhe.“  … deinen Sinn für Ästhetik: wie dir schöne Kleider, Schmuck, schöne Fotos, Zeichnungen, Landschaften oder schöne Farben auffallen.“  … die Art wie du lachst: du hast eine ganz spezielle Art zu lachen, manchmal meine ich, du drückst es heraus und dann lachst du einfach weiter und weiter und weiter, bis dich alle hören und mitlachen. Das macht dich besonders.“  … dass du zuverlässig den Fernseher ausschaltest, wenn die Zeit um ist.“  … deine Zuverlässigkeit: wie gestern, als du gleich kamst, als ich dich zum Abendessen rief.“  … deine Kreativität: wie du so viele Zeichnungen herstellen kannst, auch wenn wir nicht alle aufhängen können.“  … deine Lust aufs Spielen: du bist immer für eine Partie ‚Mensch ärgere dich nicht‘ zu haben.“ „Ich mag es …  … mit dir herumzubalgen.“  … mit dir zu kämpfen.“  … mit dir zu lachen.“  … mit dir zu shoppen.“  … wenn wir uns gegenseitig die Haare kämmen und uns Frisuren machen.“  … wie du dich für Traktoren begeistern kannst. Du blühst dann richtig auf und bist ganz in deinem Element.“ Manche Pädagogen empfehlen Vorsicht beim Loben von Äußerlichkeiten („Du bist so schön schlank“) oder Leistungen („Du bist ein tolles Kind, weil du so gute Noten nach Hause bringst“), da die Kinder um ihrer selbst willen geliebt werden sollen, nicht weil sie sich so benehmen, wie die Eltern es von ihnen erwarten. Ich bin der Ansicht, dass man alles sagen kann, was einem gefällt, wenn man sich der Aussage bewusst ist. Denn ehrlichEveline Degani: Und wie streiten Sie? – konfliktbewältigung.ch 115


erweise sollten wir gestehen, dass auch Ästhetik und Erfolg Dinge sind, die uns erfreuen. Achten Sie dabei aber auf Ihre Formulierungen. Wenn Sie dem Kind sagen „Du bist toll, weil du so schöne Haare hast“ (Du-Botschaft), bewerten Sie das Gegenüber wegen seines Aussehens. Ein konstruktives Kompliment drückt aber einfach den Gefallen oder die Bewunderung aus und ist als Ich–Botschaft formuliert: „Mir gefallen deine Haare, sie sehen so samtig und weich aus!“ Kinder bekommen gerne erzählt, was man an ihnen mag. Dabei soll der Blick aufs Wesentliche immer im Vordergrund bleiben. Versuchen Sie, das Gegenüber mit dem Herzen zu sehen: Wann empfinden Sie Freude? Was macht ihr Kind besonders gut? Was macht Sie stolz? Wann geht Ihr Herz auf? Ich nennen diese Spiele Wertschätzungsduschen. Je klarer und konkreter beschrieben wird, warum ein Verhalten geschätzt wird, was dieses Verhalten auslöst, welches Gefühl und Bedürfnis dabei erfüllt wird, desto wertvoller ist die Rückmeldung für das Gegenüber. Meine Erfahrung ist, dass die Menschen regelrecht zu strahlen beginnen, wenn sie solche Wertschätzungsduschen erleben. Feiern und Besonders gefällt mir ein weiteres Ritual, das am Morgen, Bedauern Mittag oder Abend eingesetzt werden kann und auf der gewaltfreien Kommunikation basiert: „Feiern und Bedauern“. Jedes Familienmitglied überlegt sich, was es heute besonders gefreut hat, und auch was es weniger gut fand. Das wird dann beispielsweise so formuliert:  Ich bedaure, dass ich heute nicht so viel Zeit zum Aufräumen hatte und es immer noch so unordentlich aussieht, weil ich gerne Ordnung hätte.  Ich feiere, dass ich mit dir gespielt und gelacht habe, das hat mir richtig gut getan und mich glücklich gemacht.  Ich bedaure, dass ich heute einige Dinge nicht erledigen konnte, die ich mir vorgenommen hatte. 116

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 Ich feiere, dass Papa heute frei hatte und wir gemeinsam Zeit verbracht haben. Ich habe die Gemeinschaft genossen, die wir erlebt haben.  Ich freue mich über die Nähe gerade jetzt.  Ich freue mich, weil du mir den Rücken kraulst und das in mir eine wohlige Wärme auslöst.  Ich bedaure, dass ich morgen nicht ausschlafen kann.  Ich bedaure, dass ich heute weinen musste, weil wir Streit hatten, und ich feiere, dass wir es jetzt wieder gut haben.  Ich feiere, dass ich mit Papa so gut streiten kann. Ich schätze es, dass wir uns ebenbürtig sind und im Streit fair bleiben.  Ich feiere, dass wir heute so toll gekämpft haben. Der Körperkontakt hat gut getan und ich feiere, dass ich gespürt habe, wie stark du geworden bist.  Ich feiere, dass wir uns immer wieder versöhnen und so viel kuscheln. Ein Dauerritual, bei dem nicht immer alle Beteiligten gleich- Briefkasten zeitig anwesend sein müssen, ist der Briefkasten. Jedes Familienmitglied bekommt einen Schuhkarton, den es selbst verzieren, anmalen oder bekleben kann. Der Schuhkarton wird vor dem Zimmer deponiert. Die persönliche Post kommt in diesen Briefkasten. Damit er immer wieder einmal gefüllt wird, schreiben wir uns gegenseitig kleine Briefe oder malen uns Zeichnungen:  Willst du mit mir ins Kino gehen?  Ich gratuliere dir zur guten Note! Ich freue mich mit dir, ich finde, du hast das gut hingekriegt.  Ich möchte dir danken, dass du mir gestern beim Aufräumen geholfen hast. Es hat mir Spaß gemacht, mit dir zusammen Ordnung zu schaffen.  Kannst du bitte bis Freitag dein Zimmer aufräumen? Ich möchte gerne staubsaugen. Gibst du mir bis Mittwochmittag Bescheid, ob das klappt und wann du es machen kannst?

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„Schreibst du mir Wir haben jedem Kind zu Weihnachten ein Buch geschenkt. was in mein Buch?“ Da schreiben wir unsere Erlebnisse rein und kleben Erinnerungsstücke auf wie einzelne Fotos, Postkarten, Eintrittskarten oder besondere Briefe. Die Kinder dürfen natürlich auch selbst etwas reinschreiben oder reinzeichnen. Sie genießen es aber sehr, wenn wir dies tun. Damit können wir besondere kleine Alltagsgeschichten aufbewahren. Damit das Buch aktualisiert bleibt, können diese Maßnahmen hilfreich sein: Am Ende der Woche werden die wichtigsten Ereignisse reingeschrieben. Die Kinder bringen ihr Buch demjenigen von dem sie etwas geschrieben haben wollen. Alle zwei Monate wird das Buch gemeinsam angeschaut. Als idealer Aufbewahrungsort hat sich die Toilette bewährt. Das ist manchmal der einzige Ort, an dem man mal fünf Minuten ungestört ist und Zeit hat, den aktuellen Tagesspruch reinzuschreiben. Oder falls man eine entspannende Lektüre braucht … Aus Nicoels Buch, 20. Juli 2011: Eine faule Tomate liegt im Kühlschrank. Ich führe gerade ein Selbstgespräch: „Ach, hier ist eine faule Tomate, was macht die denn hier?“ Malin fragt: „Was hast du gesagt?“ Der dreijährige Nicoel erklärt ihr: „Wais, Tomätli is müed. Tuet si slöfele, gell.“ (Weißt du, die Tomate ist müde, sie schläft jetzt, gell.)

Signale und Codes Für Notfallsituationen haben wir in unserer Familie mit den Kindern Signale und Codes vereinbart. Diese benutzen wir, wenn es darum geht, jetzt sofort die ganze Aufmerksamkeit zu kriegen. Kinder und Erwachsene können sie gleichermaßen benutzen. Sie sind je nach dem von unterschiedlicher Bedeutung.

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Gemeinsam vereinbarte Signale können helfen, eine Situation schnell zu erfassen und die nötigen Maßnahmen einzuleiten. Die Codes dienen dazu, dass andere Leute nicht wissen, was gemeint ist. So können die Eingeweihten unauffällig handeln, ohne sich vor Außenstehenden zu entblößen. Solche Signale können auch unter den Erwachsenen vereinbart werden. Ein Ehepaar erzählt, dass sie vor dem gemeinsamen Urlaub mit Freunden ein Signal vereinbart haben. Wenn die Frau zum Mann sagt „Ich brauche jetzt eine Schwarzwälder Torte“, ist sie gerade sehr gestresst und möchte sagen „Ich finde dein Benehmen im Moment sehr unangenehm und möchte dich bitten, dein Verhalten zu überprüfen. Was brauchst du, damit du wieder ruhig und respektvoll mit uns umgehst?“. Wenn der Mann sagt „Ich brauche eine Schokotorte“, meint er damit: „Ich bin gerade etwas überfordert und brauche eine Pause. Kannst du bitte einspringen?“ Hier finden Sie eine Auswahl von Signalen und Metaphern, Beispiele die im Alltag bei uns bereits Verwendung gefunden haben:  „Papagei“ heißt bei uns: „Mama, Papa, bitte hör jetzt richtig zu und sei ganz da. Du bist nicht wirklich bei mir und jetzt ist es mir wichtig, dass du dich für diesen Moment auf mich einlässt.  „Redbull“ bedeutet: „Pass mal auf, jetzt geschieht gerade eine Ungerechtigkeit! Ich brauche Unterstützung.“  „Stopp!“ ist unser Signal, sofort aufzuhören. Dieses Wort wird hauptsächlich bei Gerangel benutzt.  „Die Bombe tickt!“ heißt: „Bitte gib mir Hilfestellung, ich weiß nicht, wie lange ich es noch aushalte, bevor ich explodiere.“  „Die Ampel steht auf orange“ bedeutet: „Ich bin kurz vor ROT. Bitte übernimm du, bis ich mich etwas erholt habe!“  „Blitzableiter“ heißt: „Ich brauche jemanden zum Spannungsabbau. Ich muss jetzt einfach mal drauflos schimpfen. Wenn es möglicherweise persönlich wird, so ist das nur ein Ausdruck meiner momentanen Überforderung.“ Eveline Degani: Und wie streiten Sie? – konfliktbewältigung.ch 119


 Indianergeheul: „Kinder, der Häuptling ruft. Kommt schnell her. Gefahr droht.“  „Alles hört auf mein Kommando!“: „Kinder, jetzt ist eine Notsituation, wir brauchen jetzt sofort und nur vorübergehend euren unbedingten Gehorsam. Kommt sofort her und macht, was ich euch auftrage. Wir sind euch dafür sehr dankbar.“  „Rote Rosen im Garten“: „Ich ärgere mich über diese Leute. Bitte hilf mir, mit diesem Ärger besser umzugehen. Kannst du dich um diese Leute kümmern?“

Umgang mit Gewalt Eltern wollen ihre Kinder respektvoll behandeln. Trotzdem entstehen manchmal Situationen, in denen es zu Handgreiflichkeiten kommt. Anschließend plagt das schlechte Gewissen. Auch in der folgenden Situation geht es um dieses Thema: Um den Urlaub friedlich und harmonisch zu gestalten, haben wir im Voraus Regeln und Signale ausgehandelt. Wir haben die Kinder gefragt, was sie brauchen, damit der Urlaub friedlich wird, und wir haben auch überlegt, was die gemeinsamen Regeln sind. Wir haben zum Beispiel das Stopp-Signal eingeführt. Wenn jemand Stopp sagt, hört der andere sofort auf. Jetzt gab es aber trotzdem die Situation, wo die Kinder das Stopp nicht gehört haben: Rebecca hat ihre jüngere Schwester Nicki geweckt, die ich gerade mit Mühe und Not zum Einschlafen bringen konnte. Das hat mich so wütend gemacht, dass ich Rebecca sehr gescholten habe. Ich habe sie unsanft gepackt und bin handgreiflich geworden. Sind wir schlechte Eltern, wenn wir handgreiflich werden? Bedürfnisse Die Frage nach gut oder schlecht, nach richtig oder falsch beermitteln statt schäftigt uns immer wieder. Meiner Meinung nach bringt es urteilen nicht viel zu urteilen, ob jemand richtig oder falsch gehandelt hat. Viel hilfreicher finde ich, zu schauen, um welche Bedürfnisse es gerade geht. Der Einsatz von Gewalt deutet darauf 120

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hin, dass keine andere Strategie gefunden wurde, um ein wichtiges Bedürfnis zu erfüllen. Wichtig ist hier, genau zu schauen, was das Bedürfnis ist und welche Möglichkeiten es sonst noch gibt, um diesem Bedürfnis gerecht zu werden. Sehen wir uns einmal die möglichen Bedürfnisse der Beteiligten an. Die Bedürfnisse der Kinder könnten sein: aufbleiben, nichts verpassen, den Tag bis zur letzten Minute auskosten, Nähe und Spaß erleben, miteinander spielen, Gemeinschaft spüren. Die Mutter wünscht sich vermutlich Ruhe, Feierabend, Struktur und Orientierung („Wann sind die Kinder im Bett?“), Erholung, genügend Schlaf für die Kinder (damit sie am nächsten Tag ausgeruht sind). Die Heftigkeit der Reaktion der Mutter deutet jedoch vor allem darauf hin, dass sie angestrengt ist. Ich vermute dahinter das Bedürfnis nach Leichtigkeit. Wahrscheinlich wünscht sie sich, dass die Kinder endlich problemlos ins Bett gehen. Fazit: Am Morgen werden die Bedürfnisse im Familienrat besprochen und es wird nach einer gemeinsamen machbaren Lösung gesucht. Tipp: Das Aussprechen von Bedürfnissen erhöht die Chancen auf eine stimmige Lösung! In den Kinderrechten heißt es: Jedes Kind hat das Recht auf Kinder haben körperliche und seelische Unversehrtheit. Diesem Recht Rechte stimme ich von ganzem Herzen zu. Gleichzeitig ist mir bewusst, dass wir in einer Welt leben, in der niemals alles perfekt läuft. Das Wetter besteht ja auch nicht nur aus Sonnenschein. Ich bin sogar der Überzeugung, dass Gewitter uns in der Entwicklung weiterbringen, wenn alle bereit sind, daraus zu lernen und die verschiedenen Sichtweisen zu sehen. Als Mutter von vier Kindern bin ich mir bewusst, dass ich nicht allen Bedürfnissen gleichzeitig gerecht werden kann. Eveline Degani: Und wie streiten Sie? – konfliktbewältigung.ch 121


Und ich selbst habe auch schon Situationen erlebt, in denen ich Gewalt ganz bewusst als Mittel eingesetzt habe, weil alle anderen Versuche und Strategien, die mir zu Verfügung standen, fehlgeschlagen sind. Dann ging es um Schutz oder um Sicherheit. Ich erinnere mich an eine Situation, als ein Schüler aus Wut aus dem Fenster zu springen versuchte. Ich entschied mich, ihn mit Gewalt festhalten, bis er sich beruhigt hatte und ich ihn guten Gewissens wieder loslassen konnte. Das war für mich in diesem Augenblick eine gewaltvolle und unangenehme Situation. Die Gewalt ist nicht meine Lieblingsstrategie, aber dennoch ist sie eine Strategie wie jede andere auch. Und es gibt manchmal Situationen, in denen Gewalt sinnvoll erscheint. Wann ist Die Frage, wann Gewalt okay ist, klingt möglicherweise fragGewalt okay? würdig. Ersetzen Sie jedoch das Wort „okay“ mit dem Wort „lebensdienlich“ und schon erweitert sich die Perspektive. Ja, es gibt tatsächlich Situationen, in denen Gewalt lebensdienlich ist. In der Gewaltfreien Kommunikation spricht man dann von der schützenden Gewalt, die zum Schutz angewendet werden darf. Zum Beispiel, wenn man die Kinder davor bewahrt, über die Straße zu springen, weil gerade ein Auto kommt. Gewalt wird als negativ eingestuft, weil es im Alltag viel zu viele Situationen gab oder gibt, in denen Gewalt eben nicht lebensdienlich ist. Solche Situationen gilt es zu vermeiden. Geschehen sie dennoch, halte ich es für sinnvoll, die Bedürfnisse aller Beteiligten genau anzuschauen und nach neuen Möglichkeiten zu suchen. Die Frage nach Gewalt in der Erziehung ist ein offenes Kapitel, das viele Diskussionen auslöst. Dieses komplexe Thema von allen Facetten zu beleuchten, würde dieses Buch sprengen. Gerne möchte ich Ihnen diese Erkenntnis aus der gewaltfreien Kommunikation nach Marshall B. Rosenberg mitgeben: „Gewalt ist ein tragischer Ausdruck für unerfüllte Bedürfnisse.“ 122

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Und wie Mahatma Gandhi sagte: „Wenn ich nur die Wahl zwischen Unterwerfung oder Gewalt hätte, so würde ich Gewalt wählen.“ So wünsche ich Ihnen, dass es Ihnen gelingt, unter Berücksichtigung der Bedürfnisse neue lebensdienliche Strategien zu finden, die für Sie und ihre Liebsten stimmig sind.

Organisation und Erholung In einer Partnerschaft, in der die Beziehung stimmt (wenn sich die Partner gegenseitig immer wieder die Zeit nehmen, sich empathisch zuzuhören), sind jene Probleme, die bleiben, in vielen Fällen rein organisatorisch zu lösen. „Wo sind die Kappen und Handschuhe?“, ruft Papa Leon wieder Beschriften statt einmal. Obwohl Mama Lisa ihm schon oft erklärt hat, was sich wo suchen befindet, kann er es sich einfach nicht merken. Mama Lisa ärgert sich. Also organisiert sie Ablagefächer und beschriftet sie entsprechend (für jedes Kind ein Fach). Am Abend bittet sie ihren Mann um Zeit, damit sie ihm das System erklären kann. Seither sind alle Kappen und Handschuhe auch für den Mann einfach zu finden. Zur Konfliktprävention gehört auch genügend Erholung. Es ist sehr wichtig, sich im Alltag immer wieder genügend zu Verschnaufpausen erholen. Liebe Eltern, gönnt euch darum im Lauf des Tages schaffen immer wieder kleine Verschnaufpausen, die auch den Kindern gegenüber als Pausen deklariert werden! Da die meisten Eltern weder am Mittag noch am Abend Ruhe kennen (weil sie sich entscheiden, die Küche aufzuräumen, die Essecke wohntauglich zu machen und in der Stube Ordnung zu schaffen), ist es umso wichtiger, sich während des Tages Pausen zu gönnen. Ob das bei einem Kaffee ist oder ob man sich kurz hinlegt, ob man in Ruhe die Zeitung liest, mit den Kindern am Boden herumtollt oder endlich mal telefonieren kann, solche Eveline Degani: Und wie streiten Sie? – konfliktbewältigung.ch 123


Time-outs sind ganz wichtig und absolut legitim, auch wenn die Küche noch nicht aufgeräumt ist. Schnappen Sie sich jede Gelegenheit zum Erholen! Gönnen Sie sich pro Halbtag zwischendurch mindestens 20 Minuten Pause? Papatage Männer und Frauen: gönnt den Kindern Papatage, an denen die Männer alleine mit den Kindern unterwegs sind. So können sich die Mütter erholen und die Väter auch. Diese Erkenntnis hatten auch diese beiden Männer, die mich sehr zum Schmunzeln gebracht haben. Unterwegs im Zoo. Vor mir spazieren zwei Männer mit ihren Kindern. Bemerkt der eine Mann zum anderen: “Es ist eigentlich viel ruhiger ohne Frauen.” Antwortet der Zweite: “Ja, es kostet nur halb so viel und ist doppelt so lustig!” Verständnis dank Die Papatage haben auch noch einen anderen Vorteil. Der Rollenwechsel Mann übernimmt einmal die Rolle der Mutter, während sie sich vom Alltag erholt und etwas für sich macht. So kommt die Mama mal zur Ruhe und der Papa versteht, was es bedeutet, den ganzen Tag für die Familie zu Hause zu sein. Dieses Verständnis kann für alle Seiten sehr wohltuend sein. Kurtag. Einen Tag ohne Kinder. „Super!“ Mama Maja freut sich. Am Abend, als Maja nach Hause kommt, nörgelt Papa beim Abendessen rum. Maja fühlt sich etwas angegriffen, aber hält sich gerade noch zurück mit einer Rechtfertigung. „Hattest du einen strengen Tag heute?“, fragt Maja. „Ja, das kann man wohl sagen“, Rolf atmet tief durch. „Zu nichts kommt man, einfach zu nichts.“ Wie sind diese Worte wohltuend für Majas Seele. Auch wenn ihr Mann die Arbeit zu Hause immer wieder würdigt, auch mit Worten. Diese seine eigene Erfahrung ist für sie sehr viel mehr wert. Sich Unterstützung Als Vater Müller eine Woche im Männerurlaub war, war das kleinsholen te Kind der Familie Müller gerade acht Monate alt. Zu der Zeit weinte das Baby regelmäßig mehrmals während der Nacht, manch124

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mal sogar halbstündlich. Trotzdem wollte die dreifache Mutter ihrem Mann diesen Urlaub gönnen. Sie hat sich darum vorgenommen, jeden Tag mit den Kindern zu Bett zu gehen, damit sie genügend Schlaf bekommt und ihre Nerven tagsüber fit sind. Sie gesteht mir: „Ich wollte einmal sehen, ob ich das auch alleine hinkriegen würde. Ich muss sagen, dass ich ziemlich an meine Grenzen gekommen bin und ohne Hilfe der Schwiegereltern hätte ich es nicht geschafft.“ Den Alltag organisieren heißt auch, sich Entlastung im Alltag zuzugestehen. Eine andere Familie erzählt, dass sie ihr Baby einmal pro Woche den Genügend Schlaf ist Eltern zum Schlafen bringen. „Es klingt zwar blöd, aber so kommen das A und O wir wenigsten einmal richtig zum Schlafen“, rechtfertigt sich der Vater. Wie Recht hat er, denn wer während des Schlafes immer wieder geweckt wird und aufstehen muss, kann sich nur halb so gut erholen. Einmal hatten mein Mann und ich einen Streit, weil ich mich Missverständnissen über unsere Kommunikation geärgert habe. Mein Mann ging vorbeugen damals oft weg, obwohl die Diskussion für mich noch nicht beendet war. Das lag vielleicht daran, dass ich zu viel geredet habe, oder dass er gedacht hat, das Gespräch sei bereits zu Ende, oder dass wir beide abgelenkt worden sind. Jedenfalls entstanden dadurch oft verwirrende Missverständnisse, weil uns dann die genaue Absprache fehlte. Damals habe ich ein rotes Blatt an den Küchenwandschrank geheftet. Darauf standen drei Kontrollpunkte, die wir kurz durchsprechen wollten, bevor jemand wegläuft oder das Gespräch beendet wird. Der Zettel hängt bis heute:

Eine kurze Zusammenfassung verhindert Missverständnisse!  Was ist der genaue Inhalt, worum geht es?  Wer macht was, bis wann?

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Kontrollfragen


Systemisches Konsensieren – die neue Familiendemokratie Der Sonntag ist oft auch der Familientag. „Was wollt ihr heute unternehmen?“, fragen manche Eltern ihre Kinder, wenn sie sich einmal ganz den Wünschen der Kinder widmen wollen. Ideen sind bald viele vorhanden, doch statt dass sich die Kinder voller Freude einig werden, entsteht oft Zwist. „Die Kinder sind mit dieser Frage überfordert!“, interpretieren dann manche Eltern. Das kann sein. Ich glaube aber eher, dass der Zwist mit dem Entscheidungsprozess zusammenhängt. Viele wissen nicht, wie es auf leichte Weise gelingt, in einer Gruppe eine Entscheidung zu treffen. Seit ich in der Ausbildung das Systemische Konsensieren kennengelernt habe, haben wir in der Familie gerne hin und wieder dieses Mittel benutzt, um gemeinsam eine Entscheidung zu finden. So haben wir in unserer Familie das Widerstandmessen eingeführt. Der Lösung mit dem geringsten Widerstand wird meistens wohlwollend zugestimmt. Beim Systemischen Konsensieren wird normalerweise noch die Nulllösung dazugenommen und zur Wahl gestellt. Die Nulllösung ist jene Alternative, die nichts verändert: alles bleibt, wie es ist. Das wäre also im folgenden Beispiel, keine DVD zu schauen und wie gewohnt ins Bett zu gehen. Welche DVD wird „Wir machen uns heute einen gemütlichen Abend!“, eröffnet die angeschaut? Mama den Kindern. „Ihr dürft eine DVD aussuchen, die wir gemeinsam anschauen.“ Sofort beginnen die ersten Streitereien: „Ich will Karate Kid schauen!“, erklärt Mete. „Nein, wir schauen die Schlümpfe!“, bestimmt Lynn. „Nein, das ist langweilig!“, widerspricht Mete, bereits etwas ungeduldig. „Wir machen das so:“, die Mutter ergreift das Wort: „Jeder von euch darf vier DVDs aussuchen. Danach schauen wir, wie sehr jemand etwas gegen die einzelnen DVDs hat. Die DVD mit dem wenigsten Widerstand nehmen wir dann. Einverstanden?“ Gesagt, getan. Mete wählt „Karate Kid“, „Rapunzel“, „Die Schlümpfe“ und „Ab durch die Hecke“ aus. 126

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Lynn möchte „Spongebob“, „Alvin und die Chipmunks“, „O wie schön ist Panama“ oder „Das fliegende Bett“ schauen. Die Mutter leitet den zweiten Schritt ein und fragt die Bedürfnisse ab. Mete äußert sich: „Ich will Karate Kid schauen, weil ich ihn noch nicht kenne. Die Schlümpfe habe ich schon fünf Mal gesehen.“ Lynn meint: „Ich will einen lustigen Film schauen.“ Und die Mutter ergänzt: „Ich wünsche mir einfach einen harmonischen Abend.“ Die Mutter erklärt weiter: „Nun werden die Punkte verteilt: Fünf Punkte heißt: Diesen Film möchte ich gar nicht schauen. Vier Punkte heißt: Diesen Film will ich eher nicht schauen. Drei Punkte heißt: Mit diesem Film bin ich mittelmäßig einverstanden. Zwei Punkte heißt: Ich bin zwar nicht ganz für diesen Film, aber er wäre okay für mich. Ein Punkt heißt: Dieser Film ist für mich okay. Null Punkte heißt: Diesen Film möchte ich unbedingt schauen. Bei jedem Film kann jeder mit der Hand zeigen, wie viele Punkte er oder sie ihm gibt. Alles klar?“ Die Mutter macht bei der Abstimmung auch mit.

Auswahl aufstellen

Interessen und Bedürfnisse klären

Widerstände Geringster messen Widerstand

Karate Kid

4 Punkte Mete möchte etwas Neues schauen, Schlümpfe 8 Punkte etwas, das sie nicht Ab durch die Hecke schon mehrmals 4 Punkte gesehen hat. Rapunzel 6 Punkte Spongebob Chipmunks

Lynn möchte etwas 3 Punkte Lustiges und Entspannendes sehen. 9 Punkte

Das fliegende Bett Mama will einen harmonischen Panama Abend haben. Kein Film schauen

Entscheidung

5 Punkte 9 Punkte 13 Punkte

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Auswertung


Das Resultat, die Lösung mit dem geringsten Widerstand, wird widerstandslos akzeptiert und die Familie erlebt einen friedlichen und vergnügten Abend. Beim Systemischen Konsensieren versucht man, dem Gruppenkonsens möglichst nahe zu kommen. Mit der Widerstandsrechnung gelingt das gut. Oft macht es auch Sinn, wenn man im Vorfeld die Bedürfnisse abklärt, um vorliegende Widerstände auflösen zu können. Diese Informationen können möglicherweise wichtige Hinweise für die entsprechende Auswahl liefern. Welche Lösung findet insgesamt den geringsten Widerstand?

Wenn auf diese Art und Weise eine Entscheidung getroffen wird, kann es trotzdem sein, dass jemand unzufrieden ist. Das darf sein. Eine wichtige Voraussetzung ist, dass die Beteiligten offen sind, sich darauf einzulassen. Wenn das jemand nicht ist, kann der vorgängige Dialog zur Klärung der Interessen und Bedürfnisse helfen. Was passiert, wenn jemand nur bei seinem Wunsch null Punkte angibt und bei allen anderen den größten Widerstand anzeigt? Dann ist es offenbar so, dass er viel Widerstand empfindet. Und genau darum geht es ja, herauszufinden, wo der Widerstand am geringsten ist. Systemisches Konsensieren:  Alle Lösungsmöglichkeiten werden aufgelistet  Interessen und Bedürfnisse werden geklärt  Widerstands-Abstimmung  Die Lösung mit dem geringsten Widerstand wird genommen

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11. Wie Streit erträglich wird Damit wir Konflikte als Chancen erkennen können, ist es nötig, dass sich die innere Haltung verändert. Vielleicht kennen Sie das Gefühl, wie auf Nadeln zu sitzen, sobald wieder irgendwo ein Streit entfacht. Sofort kommt diese Unruhe: Etwas ist nicht in Ordnung, der Lärm belästigt, man denkt, für Ruhe und Frieden sorgen zu müssen. Doch es geht auch anders: Sie können sich vorstellen, im Kopf den Schalter umzulegen und sich dabei selbst sagen: In Bezug auf Kinderstreit: „Streiten ist okay. Wenn die Kinder mich brauchen, kann ich helfen. Ich weiß, wie ich helfen kann und lasse den Kindern den Freiraum, sich selbst auszuprobieren.“ In Bezug auf Partnerstreit: „Aha, hier sind unerfüllte Bedürfnisse. Worum geht es gerade? Welche Gefühle und Bedürfnisse sind vorhanden?“ Atmen Sie durch und packen Sie die Gelegenheit. Legen Sie den inneren Schalter um und denken Sie daran: Jeder Konflikt ist ein Übungsfeld und jeder Streit eine Chance, neue Strategien auszuprobieren und zu entwickeln. Ein Streit wird dann zur Chance, wenn er konstruktiv geführt Konstruktiv streiten wird. Konstruktiv streiten bedeutet:  Sich gegenseitig ernst nehmen  Sagen können, wie es einem geht, was man fühlt  Unangenehmes aushalten, Gefühle aussprechen  Auch mal schimpfen dürfen  Beide Parteien sind gleichwertig, jeder bringt sich selbstverantwortlich ein  Auch mal sagen dürfen, was stört  Da bleiben – nicht davonlaufen Eveline Degani: Und wie streiten Sie? – konfliktbewältigung.ch 129


 Trotz des Streits das Positive am Anderen sehen  Sich überlegen, was man will, nicht was man nicht will  Vorwürfe in Wünsche und Bitten umformulieren  Miteinander eine Lösung suchen  Sich trösten können Sich versöhnen heißt auch, Dank auszusprechen. Sagen Sie Ihrem Streitpartner oder ihrer Streitpartnerin nach einem Streit bewusst „Danke“. Wenn Sie ergänzend ihr Gefühl und das Bedürfnis benennen, das sich erfüllt hat, wird der Dank noch persönlicher. Mit dem Dank drücken Sie aus, dass Sie den Streit als Chance für eine gemeinsame Entwicklung begreifen, für die Sie dankbar sind.

Streitphasen Nach meinen Beobachtungen durchläuft ein Streit meistens sechs verschiedene Phasen: Sechs Streitphasen  Disharmonie  Auslöser  Vorwürfe und Rechtfertigungen  Aussprache  Lösungssuche  Versöhnung Gerade „Anfängern“ hilft es, sich dieser Phasen bewusst zu sein. Wenn es gelingt, in einem Streit auf die Metaebene zu kommen („Hey, ich denke, wir sind gerade in der Phase drei. Wollen wir einen Schritt weiter gehen?“), kann das eine konstruktive Streitkultur begünstigen. 1. Phase: Zu Beginn ist auf mindestens einer Seite eine Disharmonie. Disharmonie Jemand trägt einen Konflikt mit sich herum: Bedürfnisse sind unerfüllt und lösen unangenehme Gefühle aus. Dies führt zu einer Disharmonie. 130

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Je nach Befindlichkeit kann der Auslöser für den Streit für Au- 2. Phase: ßenstehende ganz klein und unscheinbar sein. Dennoch ist er Auslöser für die betroffene Person ein dominanter Grund, dem angestauten Frust, dem Ärger oder der Enttäuschung Ausdruck zu verleihen. Es kann sein, dass sich etwas ansammelt, anstaut und dann das Fass zum Überlaufen bringt. Diese Phase ist oft kurz, kann aber auch länger sein. Häufig werden dann Vorwürfe und Rechtfertigungen ausge- 3. Phase: tauscht. In diesem Hin und Her bleiben viele Streitende ste- Vorwürfe und cken. Hier droht die Gefahr der Eskalation. Um dem zu ent- Rechtfertigungen gehen, wählen manche Menschen die Strategie der Flucht. Je nach Situation ist es durchaus sinnvoll zu warten, bis sich die Lage etwas beruhigt hat. Andere Streitende bevorzugen es, den Sturm gemeinsam zu überstehen. Das gelingt, wenn der Fokus auf die Bedürfnisse gerichtet wird. In der Aussprache sagt jeder, wie es ihm geht und was er oder 4. Phase: sie braucht oder sich wünscht. Dabei werden Erwartungen Aussprache und Bedürfnisse geklärt. Für manche Menschen ist es anfangs ungewohnt, Bedürfnisse zu formulieren. Das gelingt mit der Zeit immer besser, je mehr man sich damit auseinandersetzt. Die Lösungsideen werden gemeinsam gesucht und ausge- 5. Phase: wählt. Hilfreich ist es hier, wenn man Angebote macht oder Lösungssuche nachfragt, was man füreinander tun kann. Der Streit ist für mich erst mit der Versöhnung beendet. Dieser 6. Phase: sehr wichtige Abschluss ist das Ziel jedes Streits. Mit der Ver- Versöhnung söhnung wird die Beziehung gestärkt und vertieft. Falls Sie sich noch nicht bereit für eine Versöhnung fühlen, ist das ein Hinweis, dass noch Wunden vorhanden sind. Nehmen Sie sich dann nochmals Zeit, um sich über Ihre Gefühle und Bedürfnisse klar zu werden. Der Mensch möchte gehört, ernstgenommen und verstanden werden, damit Heilung geschehen kann.

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Manche deuten auch Rückzug oder Abbruch als Ende eines Streites. Für mich klingt das dann eher nach einem Konflikt, der nicht gelöst wurde. Das gibt es natürlich auch. Nicht immer gelingt eine Versöhnung. Wenn Sie wissen, in welcher Streitphase Sie gerade stecken, gelingt es Ihnen leichter, den Streit bewusst zu steuern und die dritte Phase der Vorwürfe und Rechtfertigungen möglichst kurz zu halten oder gar auszulassen. Es gibt verschiedene Arten, wie man einen Streit angehen kann. Wichtig ist, dass man miteinander in einer ruhigen Minute bespricht, wie man streiten möchte. Gestritten werden kann leise oder laut, schriftlich oder mündlich, verbal oder körperorientiert. Wichtig ist dabei nur, dass es für die Beteiligten stimmig und fair ist. Vielleicht möchten Sie für die Reflexion gerne diese Checkliste benutzen: Checkliste:  Besteht ein Ausgleich bei den Streitparteien? Ist niemand dem Wie wollen wir anderen unterlegen, und bringen sich beide selbstverantwortlich streiten? ein? Das heißt: Ich übernehme die Verantwortung für meine Handlung sowie für meine Gefühle und Bedürfnisse.  Sind Stoppsignale vereinbart, damit beide aufhören, bevor der Streit eskaliert?  Welche Maßnahmen werden eingeleitet, wenn jemand ein Stoppsignal ausspricht? Zum Beispiel eine halbe Stunde joggen gehen oder sich in einen anderen Raum begeben.  Wann wird die Meinungsverschiedenheit ausdiskutiert? Und wer übernimmt die Initiative, um eine Austragungszeit auszuhandeln?  Wo ist ein guter Ort zum Streiten, damit man nicht in Versuchung gerät, wegzulaufen?  Was sind Signale, die dem anderen zeigen: Ich will mit dir eine Lösung suchen (z. B. Kerze anzünden)?

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Im Folgenden beschreibe ich zwei Streitbeispiele aus der Praxis, zwei verschiedene Wege, wie Konflikte gelöst werden können. Ich lade Sie herzlich ein, während des Lesens zu beobachten, was bei Ihnen abläuft. Was wird in Ihnen lebendig, wenn Sie das lesen? Was spricht Sie an, wo entsteht bei Ihnen Widerstand? Ihre Antworten auf diese Fragen können Hinweise sein, in welche Richtung Sie Ihre eigene Streitkultur führen möchten. Familie Meier ist zum Essen eingeladen. Maya hat versprochen, ein Erstes Beispiel Dessert mitzubringen. Am Morgen sagt sie zu Rolf, ihrem Mann: „Ich werde noch eine halbe Stunde brauchen, um das Dessert zu machen.“ Rolf findet das etwas unangebracht: „Muss das sein, warum müssen wir uns diesen Stress antun?“ Maya antwortet etwas genervt: „Weil ich dieses Dessert machen will. Ich muss nicht, ich darf und ich will. Es wird doch wohl noch möglich sein, dass ich eine halbe Stunde Zeit dafür aufwenden kann. Du kannst ja in dieser Zeit das Auto packen.“

Phase 1: Disharmonie Unterschiedliche Bedürfnisse kollidieren

Nun denn, Rolf fügt sich und verabschiedet sich: „Ich gehe mich dann zurechtmachen.“ Die Kinder streunen neugierig um Maya herum: „Was machst du da? Kann ich helfen?“, will Nora, die Älteste wissen. „Okay“, sagt Maya, „du kannst den Rahm schlagen. Soll ich dir die Sachen geben, oder kannst du sie dir selber holen?“ – „Ja, ich weiß, wo“, sagt Nora und holt sich den Handmixer und den Rahm selbst. Rolf steht immer noch in der Stube herum. Der zweijährige Sandro streunt Maya um die Beine: „Matu? Chani slecke?“ („Was machst du? Kann ich abschlecken?“) Während Maya ihm etwas zum Lecken gibt, ruft sie bereits etwas genervt: „Rolf, kannst du dich bitte um die Kinder kümmern!“ Sie möchte nämlich möglichst ungestört und in Ruhe das Dessert machen. Rolf ruft den kleinen Sandro zwar, aber da der kein Interesse zeigt, geht er wieder raus. Irgendwann wird es Maya zu viel. „Rolf!“, Eveline Degani: Und wie streiten Sie? – konfliktbewältigung.ch 133

Bedürfnisse der Kinder: Dabei sein, mithelfen, geniessen

Kontrollfrage: Bin ich offen für ein „Nein?“


Der Ruf nach Unterstützung bleibt ungehört Ärger staut sich an

schreit sie. Aber keine Antwort ertönt. Zu Nina, der Zweitältesten, sagt sie: „Such Papi, ich kann jetzt keine Kinder brauchen.“ Emotional ist sie sehr angespannt und der Druck ist bereits hoch. Nina geht Papa suchen, aber bald kommt sie zurück: „Ich kann ihn nicht finden.“ – „Rolf!!!“, schreit Maya nochmals. Wenig später kommt er mit dem Badetuch um die Hüften in die Stube. „Was ist los? Ich geh jetzt unter die Dusche.“ Ohne Kinder geht er wieder davon.

Phase 2: Maya bringt das Dessert zu Ende. Beim Abwaschen verbrennt sie Der Auslöser ist die sich die Hand. „Aua!!!“, schreit sie aus voller Kehle. Rolf kommt Verbrennung angerannt. „Was ist los? Was ist passiert?“ Maya steht da, hält ihre Hand unter das Wasser und bleibt stumm. „Was hast du?“, wiederholt er weiter. Maya schweigt und ist verärgert. Phase 3: Plötzlich sprudelt es aus ihr heraus: „Du hast mich alleine gelassen! Vorwürfe und Ich habe dich gerufen, habe Nina geschickt, habe geschrien und geRechtfertigung schrien und du bist einfach wieder gegangen.“ Rolf fühlt sich angegriffen: „Sandro wollte ja nicht mitkommen, da habe ich ihn halt hier gelassen.“ – „Ja genau“, schimpft Maya weiter, „du hast mich einfach alleine gelassen. Alle haben gemerkt, dass ich am Anschlag bin, die Kinder haben es gemerkt, ich habe es dir gesagt, dass du die Kinder übernehmen sollst und du bist einfach wieder gegangen. Was brauchst du denn noch? Was muss ich denn noch sagen, dass du reagierst?“ Rolf reißt der Geduldsfaden, schließlich hat er sich ja diesen Dessertstress nicht eingebrockt. „Was ist los? Geht es noch?“ – „Nein, es geht eben nicht mehr! Das sage ich ja schon die ganze Zeit, es geht eben nicht mehr“, schluchzt Maya kreischend. „Kann ich denn nicht einmal mehr duschen?“, ärgert sich Rolf. „Doch, das kannst du, und du kannst Sandro mitnehmen. Ich dusche nie alleine. Ich habe immer die Kleinen dabei!“ Maya fühlt sich im Stich gelassen.

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„Dann gehst du eben wieder arbeiten, wenn du es zu Hause nicht mehr kannst.“ – „Hier geht es nicht ums Arbeiten. Hier geht es nur darum, was ich sagen muss, damit du merkst, dass ich es ernst meine.“ Weinend setzt sich Maya an den Tisch. „Es ist einfach schwer. Ich mag nicht mehr. Gestern habe ich wieder Ausschlag bekommen. Ich weiß wirklich nicht warum. Ich mache ja gar nicht viel. Ich komme einfach zu nichts.“ – „Musst du denn dieses Dessert unbedingt machen? Ist das denn nötig?“, versucht Rolf zu beschwichtigen. „Ja, ist es nicht möglich, dass ich einmal im Tag eine halbe Stunde Zeit habe? Ist es nicht möglich, dass du mir diese halbe Stunde freihältst, damit ich dieses Dessert machen kann?“ Maya fühlt sich immer noch nicht verstanden.

Phase 4: Das Weinen leitet den Prozess der Aussprache ein

„Doch, schon, dann musst du es eben sagen.“ Rolf setzt sich zu Ma- Phase 5: ya hin. „Habe ich ja. Ich will wissen, was ich für ein Signal machen Lösungssuche kann, damit du auch wirklich handelst.“ Maya weint immer noch. Rolf schweigt. Maya weint und schimpft und lässt allen Dampf raus. Rolf hält aus. Gleichzeitig wird sich Maya bewusst, dass Rolf immer noch hier Phase 6: sitzt, im Badetuch, anstatt wie sonst davonzulaufen. Eine Dankbar- Die Versöhnung keit überkommt sie. Sie ist froh, dass Rolf dies alles zulässt und aushält. „Eigentlich hast du es jetzt gut gemacht“, schnieft Maya und denkt dabei auch an den Austausch jetzt. „Ich muss einfach das Signal wissen. Das ist alles. Und jetzt brauche ich etwas Trost, kannst du ihn mir geben?“ Rolf beugt sich zu ihr: „Du leistest die ganze Zeit so viel. Natürlich hast du es schwer. Das Signal lautet Ausschlag.“ Er nimmt sie in die Arme und spendet ihr Trost. Maya weint sich aus: „Danke, dass du das ausgehalten hast“, sagt sie. Eveline Degani: Und wie streiten Sie? – konfliktbewältigung.ch 135


Auswertung Am Abend reflektieren die beiden ihren Streit. Beide empfinden es als Fortschritt, dass Rolf die Situation ausgehalten hat, statt davonzulaufen. Maya: „Ich glaube Grund für den Streit war, dass wir uns nicht die Zeit genommen haben, um klare Abmachung zu treffen, wer was macht bzw. wie jetzt vorgegangen werden soll. Mir wäre wichtig gewesen, dass ich das Dessert ungestört machen kann. Ich backe gerne, so kann ich meine Kreativität ausleben. Zudem ist mir wichtig, dass ich etwas mitbringen kann, wenn wir eingeladen sind. Ich hätte mir gewünscht, dass du mir in der Zwischenzeit den Rücken freigehalten hättest.“ Rolf: „Mir wäre wichtig gewesen, dass wir uns stressfrei organisieren können. Ein Dessert zu machen bedeutet zusätzlichen Aufwand und Mehrarbeit. Dafür hatte ich in diesem Moment kein Verständnis.“ Maya: „Du hast etwas lange gebraucht, bis du wirklich verstanden hast, worum es mir geht. Dass ich wirklich Unterstützung wünsche. Erst als ich mich verbrannt habe, konnte ich dich erreichen.“ Rolf: „Ja stimmt, meine Ruhe war mir wichtig. Ich habe nicht erkannt, wie ernst es dir ist. Diese Klarheit hat mir gefehlt.“ Maya: „Ich habe es sehr geschätzt, dass du geblieben bist und meinen Frust angehört hast. Da habe ich gespürt, dass du mich ernst nimmst.“ Rolf: „Die Ruhe am Morgen ist mir wichtig, aber ich bin auch gerne bereit dir zu helfen. Jetzt bedaure ich, dass ich das nicht früher erkannt habe. Ich bin froh, wenn du in Zukunft dieses Codewort benützen kannst. Daran kann ich erkennen, wie dringend es für dich ist.“ Zweites Beispiel Ein Paar sucht die Beratung auf, weil aufgrund des aggressiven Verhaltens der Frau nicht mehr weiter wissen. Die Frau möchte wissen, ob ihr Verhalten noch normal ist oder ob sie wirklich eine „Störung“ hat. Die Frau berichtet: 136

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„Ich muss gestehen, wenn ich wütend bin, würde ich oft wirklich gerne drauflos hauen. Ich würde gerne meinen Mann schlagen und habe das ansatzweise auch schon gemacht. Er findet das dann sehr gewalttätig und es macht ihn richtig wütend. Er sagt mir, dass ich ein Problem habe, meine Gefühle zu kontrollieren. Darum sind wir hier. Ist das wirklich falsch?“ Die Frau möchte wissen, ob ihr Bedürfnis nach Körperkontakt in solchen Situationen normal ist. Es kann sein, dass die Gefühle so stark sind, dass man sie Wenn Worte durch die Sprache nicht ausdrücken kann. Wenn diese Sprach- nicht mehr reichen losigkeit eintritt, haben viele Menschen den Drang, sich körperlich zu betätigen. Sie: „In dieser Situation kann ich dann gar nicht mehr reden. Ich muss einfach etwas tun, das ihm ein bisschen weh tut. Zum Beispiel kneife ich ihn dann in den Arm.“ Er: „Genau, und mich macht das richtig wütend, ich finde das respektlos und unkontrolliert. Ich will nicht gekniffen werden, nur weil sie mit ihrer Wut nicht zurechtkommt.“ Sie: „Er sagt dann oft, ich solle aufhören, sonst müsse er mir weh tun. Aber ehrlich gesagt, hat er sich noch nie gewehrt. Ich wünsche mir in diesem Moment, dass er mich packt und mir seine Stärke zeigt.“ Er: „Aber ich habe Angst, dass das dann ausarten könnte. Ich will nicht, dass sich jemand dabei verletzt.“ Sie, zu ihm gewandt: „Ich würde dir schon sagen, wenn du aufhören musst.“ – Er: „Und dann? Wenn ich dich verletze?“ Sie: „Es ist ja nicht so, dass du mich schlägst. Darum habe ich keine Bedenken, dass es ausartet. Auch weil du viel stärker bist als ich. Ich glaube, es würde mir reichen, wenn du mich einfach festhältst. Ich brauche dann einfach deine Nähe und deine Stärke. Und in diesem Eveline Degani: Und wie streiten Sie? – konfliktbewältigung.ch 137


Moment würde ich dich einfach gerne spüren wollen. Ich weiß auch nicht warum. Und jedes Mal, wenn ich dich kneife, ist das eine Aufforderung zum Kämpfen. Ich würde das wirklich gerne ausprobieren.“ – Er denkt nach. – Sie: „Und wenn jemand Stopp sagt, würden wir sofort aufhören.“ Er: „Okay.“ Und nach einer kurzen Pause: „Aber ich frage mich doch, ob das normal ist?“ Sie: „Das werden wir ja dann sehen.“ Ein halbes Jahr später berichten die beiden. Sie: „Ich finde, es ist viel besser geworden. Es macht mir Spaß, mit dir Handgreiflichkeiten auszutauschen. Ich finde es sehr wohltuend, für mein Empfinden waren es auch eher freundschaftliche Klapse und Aufforderungen zum Balgen. Das hat mir richtig gut getan.“ Zum Mann gewandt fährt sie fort: „Mir gefiel, dass es auch manchmal von dir ausgegangen ist. Das hat meinem Bedürfnis nach Nähe und Freundschaft extrem gut getan. Danke, dass du das mit mir ausprobiert hast!“ Sie gibt ihm einen freundschaftlichen Puffer.“ Leichter statt Er: „Für mich ist es auch in Ordnung. Stimmt, es ist seither viel weniger gelassener und unkomplizierter geworden.“ „Sind die Konflikte weniger geworden?“, will ich wissen. Er: „Nein, das nicht, aber sie sind leichter zu lösen. Irgendwie ist es jetzt einfach nicht mehr so schlimm. Die Bereitschaft, eine Lösung anzunehmen, ist jetzt viel schneller da.“ Das Ziel ist nicht, nicht mehr zu streiten, sondern das Wie zu klären

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Papas entscheiden anders Viele Konflikte, von denen wir hören, haben ihre Ursache in voneinander abweichenden Erziehungsvorstellungen der Eltern. In der Konfliktlösungsarbeit stellt sich heraus, dass Papas und Mamas die Dinge häufig unterschiedlich sehen. Die Mamas handeln oft mit einem erzieherischen Gedanken, den sie beim Papa vermissen. Im Gespräch stellt sich heraus, dass sich die Väter sehr wohl Gedanken machen, aber das Leben einfach aus einer anderen Perspektive betrachten. Hinterher sind viele Paare dankbar, dass sie gelernt haben, diese Unterschiedlichkeit zu integrieren. Denn die Kinder profitieren, wenn sie beide Seiten ausleben dürfen. Klare Abmachungen helfen dabei, die Unterschiedlichkeit bewusst zu akzeptieren. Einige typische Beispiele sind hier für Sie notiert: Die Kinder holen sich mit Papa ein Eis. Die Mutter will nicht, dass Im Schwimmbad in der Badi Eis gegessen wird: „Wer einmal ja sagt, hat nachher jedes Mal ein Gejammer.“ Für Papa gehört das Eis in der Badi dazu, denn es steht für Freizeit, Genuss und Erholung. Abmachung: Papa klärt mit den Kindern, dass er der Eiskäufer ist. Nur wenn Papa dabei ist, gibt es ein Eis. Wenn Papa auf die Kinder aufpasst, ist hinterher alles unordentlich. Unordnung Für Papa ist die Ordnung im Haus nicht so wichtig. Er findet es ziemlich anstrengend, ständig gleich alles wieder aufzuräumen. Lieber genießt er den Nachmittag mit den Kindern und lässt auch mal Fünfe gerade sein. Abmachung: Damit die Mama keinen Unordnungsschock bekommt, wenn sie nach Hause kommt, wird das Wichtigste aufgeräumt. Geeinigt haben sie sich darauf, dass Küche, Tisch und Garderobe gästetauglich sein sollen. Das andere wird abends miteinander aufgeräumt.

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Gesundes Essen:

Wenn Papa zuhause kocht, essen die Kinder ungesund. Sie trinken Cola und essen kein Gemüse. Für Papa endlich mal eine Erholung vom „Gesundheitswahn“ seiner Frau, wie er es nennt. Papa als Fleischtiger kann Gemüse gar nicht leiden. Darum sieht er es auch nicht ein, wie er das den Kindern gegenüber vertreten sollte. Auch das mit dem Cola-Konsum ist für ihn nicht so tragisch. Schließlich gibt es das ja nicht alle Tage. Seine Argumente: Die neuesten Ernährungserkenntnisse sagen sogar, dass Kinder selbst entscheiden sollen, was sie essen wollen. Ihr Bedürfnis würde das selbst regulieren, wenn man nicht immer gleich so ein Essenstheater machen würde. Abmachung: Die Familie einigt sich, dass die Kinder einmal pro Tag Gemüse und Früchte essen sollen. Wenn Papa kocht, macht er mit den Kindern aus, wann sie Gemüse und Früchte essen. Falls das abends sein soll, kümmert sich Papa darum, dass dies klappt.

Gut und Böse:

Die Mutter beklagt sich: Wenn wir auswärts sind, kriegen die Kinder von Papa immer alles, und ich muss die Strenge sein. Abmachung: Die Mutter schickt die Kinder zu Papa, wenn sie keine Lust auf Entscheidungen hat. Sie wird großzügiger mit den Entscheidungen von Papa, auch wenn sie es anders entschieden hätte. Papa achtet im Gegenzug darauf, was die Mutter sagen würde. Er sagt bewusst auch mal „Nein“.

Die richtige Papa zieht die Kinder komisch an. Die Kinder gehen bei Papi im Kleidung Schlafanzug einkaufen. Mutter: Wenn ich das machen würde, würden die Leute denken, was ich für eine schlechte Mutter bin. Papa: Sollen die Leute doch denken, was sie wollen. Für die Kinder ist das doch ein Ereignis, den ganzen Tag im Schlafanzug zu sein. Abmachung: Die Eltern machen hin und wieder einen Regelbrechertag, genannt Pippi-Tag (nach Pippi Langstrumpf), um sich bewusst Regeln zu widersetzen und die närrische Seite

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ausleben zu können. Ideen für diesen Tag: Mit den Händen essen, Füße auf dem Tisch erlaubt … Am Morgen gibt es Abendessen, am Mittag Frühstück und am Umgekehrt-Tag Abend gibt es Mittagessen. Am Umgekehrt-Tag entscheiden die Kinder über das Tagesprogramm. Sie sind auch für das Essen und Einkaufen verantwortlich. Bedingungen werden vorher miteinander festgelegt. Wenn die Eltern ihre festgefahrenen Rollen haben, kann es auch mal spannend sein, diese Rollen einen Tag lang zu tauschen. Mama entscheidet wie Papa, Papa entscheidet wie Mama. Wie fühlt sich das an? Wie ist es für die Kinder?

Über die Versöhnung Das Tolle in einer Beziehung ist, dass Fehler gemacht werden dürfen und jemand da ist, der einem die Fehler verzeiht. An diese Worte unseres Pfarrers bei der Trauung erinnere ich mich gerne, wenn ich wütend auf meinen Mann bin. Dann kommt mir in den Sinn wie verständnisvoll und gelassen er reagiert hat, als ich am Auto eine Beule gemacht habe. Als ich den Rückspiegel abgefahren habe oder das erste Mal mit dem neuen Auto in der engen Einfahrt stecken geblieben bin. Anstatt mir Vorwürfe zu machen, hat er mich getröstet. Das Schönste am Streit ist die Versöhnung. Wenn der Dampf weg ist und die Bedürfnisse und Gefühle auf dem Tisch liegen. Wenn die Nähe und Verbundenheit wieder spürbar wird. Wenn ich erkenne, dass mein Gegenüber mir wohlgesinnt ist. Dann kommt dieses wunderbare Gefühl der Dankbarkeit. In manchen Situationen reicht es, wenn eine einfache Entschuldigung ausgesprochen wird (was für mich ein Synonym ist für: „Ich bedaure, dass mein Verhalten dich und deine Werte eingeschränkt hat“). Manchmal braucht es aber mehr. Dann Eveline Degani: Und wie streiten Sie? – konfliktbewältigung.ch 141


kann es hilfreich sein, wenn nochmals ausgesprochen wird, welche Gefühle, Bedürfnisse und Absichten in einem lebendig sind. Zu den verschiedenen Aspekten des Verzeihens schreibe ich im Folgenden einige Worte auf, die zeigen, worum es geht. Das bedeutet nicht, dass man diese Worte so benutzen muss. Klären Sie mit Ihrem Streitpartner oder Ihrer Streitpartnerin, was Ihnen gut tut, und wie Sie das handhaben wollen. Sich selbst Ich nehme mich an mit all meinen Facetten. Auch wenn ich manchverzeihen können mal daran scheitere, mich so zu verhalten, wie ich es mir wünsche. Weil ich dann in alte Muster verfalle, die ich aber so gerne ablegen möchte. Ich akzeptiere, dass es mir nicht immer gelingt, so zu sein, wie ich sein will. Ich achte darauf, dass ich versuche meine Strategien zu ändern, obwohl es für mich schwierig ist. Dem Gegenüber Ich bin traurig, weil mein Bedürfnis unerfüllt blieb. Ich höre, dass es verzeihen nicht deine Absicht war, mir weh zu tun. Ich erkenne, dass du dir gerade selbst ein wichtiges Bedürfnis erfüllt hast. Ich sehe dein Bedauern und deinen Wunsch, mir etwas Gutes zu tun. Ich danke dir für deine Bemühung für eine Wiedergutmachung. Versöhnung Ich bin froh, dass wir uns darüber austauschen konnten, was uns wichtig ist. Ich danke dir, dass du den Streit ausgehalten hast. Ich freue mich über die Nähe, die ich wieder spüre. Ich feiere die Verbundenheit, die ich dir gegenüber gerade ganz stark empfinde. Gehört Vor dem Verzeihen und Versöhnen geht es meistens darum, Verstanden dass man in seinen Gefühlen und Bedürfnissen gehört, verstanErnst genommen den und ernst genommen wird. Wenn diese drei Punkte erfüllt sind und man trotzdem nicht aus dem unguten Gefühl herauskommt, kann es helfen, wenn man sich ablenkt. Dadurch gibt man sich mehr Zeit, so dass es einem besser gelingt, den Fokus zu verändern.

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Eine Seminarteilnehmerin erzählt: „Mir hilft es, wenn ich mich Ablenkung dann vor dem Fernseher ablenke. Ich brauche dann eine leichte Komödie oder einen Liebesfilm und plötzlich werden die Gefühle wieder wach. Ich erinnere mich daran, dass mein Mann mich ja eigentlich liebt und sich einfach gerade nicht so verhalten hat, wie ich es in diesem Moment erwartet habe.“ Rufen Sie sich in Erinnerung, welche Eigenschaften Sie an Den Fokus Ihrem Partner oder Ihrer Partnerin schätzen und was die Din- verändern ge sind, die sie oder ihn für Sie so besonders machen.

Ideen für Versöhnungsrituale:  die Hand geben, Frieden schließen  innige Umarmung, sich ganz fest in die Arme nehmen  Versöhnungskuss  gemeinsames Ritual: wir gehen miteinander essen  wir tun uns gegenseitig einen Liebesdienst (z. B. der Mann räumt die Küche auf, die Frau wertschätzt seine Unterstützung)  sich gegenseitig eine Massage schenken  ein gemeinsames Bad nehmen  einen Ausflug unternehmen  ein romantischer Abendspaziergang  das Lieblingsessen kochen  sich gegenseitig sagen, was man aneinander schätzt  einander liebevolle Briefe oder Notizen hinterlassen  sich gemeinsam einen Film ansehen und aneinander kuscheln  gemeinsam eine Geschichte lesen  Feiern und Bedauern  Wertschätzungsduschen (siehe Rituale)  usw.

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12. Was macht Erziehung erfolgreich? Viele Eltern hinterfragen regelmäßig sich und ihre Erziehungsansätze. Dabei tauchen oft folgende Fragen auf:  Wie erzieht man Kinder erfolgreich?  Welche Methoden sind fair und richtig?  Wie können Konflikte präventiv vermieden werden?

Die richtige Erziehung gibt es nicht Jede Familie priorisiert andere Werte. Für die einen Eltern ist es wichtig, dass ihre Kinder gute Noten nach Hause bringen, damit sie es später leicht im Leben haben (Bedürfnis nach Erfolg, Kompetenz). Anderen ist die gute Note nicht so wichtig, aber der Einsatz, der damit verbunden ist: sie wünschen sich, dass die Kinder ihr Bestes geben, damit sie es auch später im Leben zu etwas bringen können (Bedürfnis nach Engagement, Verantwortung, Sicherheit). Ich persönlich setze den Fokus darauf, dass die Kinder glücklich sein sollen und möglichst viele Erfahrungen sammeln können, um später das zu tun, was ihnen wirklich Spaß macht (Bedürfnis nach Lebensfreude, Autonomie). Wer mit Freude an eine Sache rangeht, der wird automatisch sein Bestes geben, nicht weil er muss oder sollte, sondern weil er will. Echt statt fehlerfrei Eine gute Erziehung ist geprägt durch die Beziehung. Wird ein Kind gesehen, gehört und ernstgenommen? Wie erlebt es mich als Vorbild? Bin ich klar, aufrichtig und wertschätzend? Kinder brauchen nicht etwa fehlerfreie Eltern, sondern echte. Eltern, die ehrlich und aufrichtig gegenüber sich selbst und gegenüber den Kindern sind. Daran können sich die Kinder orientieren.

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Seien Sie echt: sprechen Sie über Ihre eigenen Gefühle und Seien Sie echt Bedürfnisse. Nehmen Sie Ihr Kind ernst: hören Sie ihm empathisch zu, Nehmen Sie lassen Sie es aussprechen und spiegeln Sie die Gefühle und Ihr Kind ernst Bedürfnisse ihres Kindes. Feiern Sie, wenn Sie sich über etwas freuen, sprechen Sie Ihre Leben Sie Freude, Wertschätzung aus. Sprechen Sie auch Ihr Bedauern aus, Wertschätzung wenn Ihnen etwas nicht gelingt wie Sie es sich wünschen und Bedauern oder wenn Bedürfnisse unerfüllt bleiben.

Selbstverantwortung erlernen Es ist hilfreich, nach und nach Verantwortung an die Kinder zu übergeben. Das sind kleine Prozesse des Loslassens. So erweist man auch dem Kind Respekt, das in seiner Selbstverantwortung ernst genommen werden möchte. „Tiefes Vertrauen in die Fähigkeit des Kindes haben“, heißt es auch bei Gordon.16 Doch wenn Ihr Kind darauf beharrt, Dinge zu tun, die Sie nicht für richtig halten, überlegen Sie, warum Sie Bedenken haben und was Sie bräuchten, damit Sie Ihrem Kind Vertrauen schenken können.  Wenn ich dich ohne Jacke hier draußen sehe, befürchte ich, dass Beispiele es dir mit der Zeit zu kalt wird. Bist du bereit, selbst zu schauen, dass du eine Jacke anziehst, wenn du die Kälte spürst?  Ich muss gestehen, dass ich Angst habe, wenn ich dich hier rumklettern sehe. Kannst du mir sagen, wie du dich vor dem Runterfallen schützt?  Kannst du mir sagen, wie du die brüchigen Äste von den sicheren und starken Ästen unterscheidest?  Möchtest du eine Hilfestellung oder willst du es selbst probieren?

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Thomas Gordon: Die neue Familienkonferenz, Heyne 2008. S. 248 Eveline Degani: Und wie streiten Sie? – konfliktbewältigung.ch 145


Natürlich kann es dann trotzdem sein, dass das Kind runterfällt, oder sich erkältet. Dann stehe ich bereit als Trösterin und vermeide Sprüche wie: Siehst du, ich hab es dir ja gesagt. Selbst Erfahrungen Denn es geht nicht darum, wer Recht hat, sondern darum, machen selbst Erfahrungen machen zu können. Auf dem Spielplatz im Zoo steht ein Karussell. Eine Familie kommt vom Mittagessen. Die Kinder stürzen sich auf das Karussell und drehen sich wild im Kreis herum. Die Großmutter sorgt sich: „Also jetzt ist es genug, sonst wird euch noch schlecht!“ Zwei Kinder steigen aus. Der Größte bleibt sitzen und dreht sich weiter. Besorgt wendet sich die Großmutter an die Mutter: „Hast du keine Angst, dass er sich übergeben muss?“, fragt sie. „Nein“, antwortet die Mutter, „eigentlich nicht. Er muss sein Körpergefühl selbst entwickeln. Er merkt dann schon, wenn es zu viel wird. Und wenn es zu spät ist, ist auch das eine Erfahrung.“

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Fragen und Antworten In meinen Seminaren treffe ich auf viele aufgeschlossene und interessierte Menschen, die mehr über das Streiten erfahren wollen und neugierig darauf sind, neue Seiten an sich und ihrer Fähigkeit, zu streiten zu entdecken. Dennoch fällt es vielen von Ihnen schwer, auch Ihren Kindern diese Erfahrungen zuzumuten. Sind sie nicht noch zu klein, um zu streiten wie Erwachsene? Und wird es meine Kinder nicht beunruhigen, Streit unter Erwachsenen so hautnah mitzuerleben? „Darf man vor Kindern streiten?“, werden wir oft gefragt. Viele Streiten vor den Paare befürchten, dass die Kinder damit überfordert sind und Kindern es ihnen unangenehm ist. Das hat manchmal auch mit der Einstellung der Eltern zu tun, die bisher mit dem Streiten keine positiven Erfahrungen sammeln konnten. Aber auch konflikterprobte Kinder haben manchmal keine Lust auf lautstarke Auseinandersetzungen. Deshalb halten wir es in unserer Familie so: Wir streiten, auch wenn die Kinder da sind. Es ist uns wichtig, dass sie, wenn sie wollen, unsere Meinungen, Diskussionen und Auseinandersetzungen mitkriegen und natürlich auch, wie wir zur Lösungsfindung gelangen. Wenn sie keine Lust haben, Mithörer zu sein, ist es natürlich okay, wenn sie in ihr Zimmer gehen oder an einen anderen Ort, wo sie sich zurückziehen können und ihre Ruhe haben. Wichtig ist uns, dass die Kinder wissen, dass für uns der Streit eine sinnvolle Methode ist, die wir bewusst wählen, weil wir unsere Beziehung lebendig halten wollen. „Ein Streit ist für uns wie ein Gewitter. Wir stellen uns in den Regen und tanzen herum, bis alles was uns wichtig ist gesagt wurde. Dann freuen wir uns über den Regenbogen und den Sonnenschein.“ So erklärte es mein Mann den Kindern, die sich damit zufrieden gaben. Eveline Degani: Und wie streiten Sie? – konfliktbewältigung.ch 147


Sind die Kinder nicht überfordert, wenn sie Streit selber lösen müssen?

Die Konfliktkompetenz entwickelt sich individuell. Immer wieder stelle ich fest, dass die Kinder viel mehr können, als die Erwachsenen ihnen zumuten. Darum habe ich begonnen, die Kinder möglichst früh, eigentlich schon als Baby, bei der Konfliktlösung mit einzubeziehen. Das bedeutet nicht, dass die Kinder immer darauf einsteigen und alles problemlos funktioniert. Es bedeutet aber, dass sie schon sehr früh mitkriegen, wie man Konflikte angehen kann. Wenn kleine Kinder anfangs noch Unterstützung brauchen (Vermittlung), gelingt es mit der Zeit, dass die Kinder einen Streit selbstständig lösen. Viele Kindergärten haben bereits den „Giraffentraum“17, „Faustlos“18 oder andere Projekte durchgeführt, bei denen die Kinder ihre Konflikte selbstständig lösen lernen. Vielen Menschen fällt es schwer, die Lösungsbestimmung den Konfliktparteien (Kindern) zu überlassen, da die Kinder aus ihrer Sicht zu wenig kompetent sind, eine Seite schwächer ist als die andere, die Kinder noch zu klein sind, usw. Es ist natürlich eine Möglichkeit, dass ich als Erziehende bestimme, welches die beste Lösung für die Kinder ist. Vielleicht sind manche Kinder damit zufrieden. Meine Erfahrung ist jedoch, dass Kinder, die ihre Lösungen nicht selber suchen dürfen, in Konfliktsituationen dann oft hilflos sind, wenn niemand mehr da ist, der oder die für sie eine Entscheidung fällt und eine Lösung präsentiert. Meinen Kindern möchte ich beibringen, selbst Lösungen zu finden, damit sie ihre Konfliktkompetenz für das Leben stärken können. Die Erfahrungen, die sie mit diesen Lösungswegen machen können, sind sehr wertvoll, auch wenn mal eine Lösung nicht funktioniert. Denn das sind Erfahrungen die den Lernprozess ausmachen. Meine Intervention ist eine Hilfestellung, bei der ich sie durch Fragen wie z. B. „Ist diese Lösung fair und gerecht? Ist sie unge17

www.giraffentraum.de

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www.faustlos.de und www.faustlos.ch

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fährlich?“ auf dem Weg begleite. In die Lösungsfindung mische ich mich ein, wenn ich denke, dass die Lösung nicht okay ist (z. B. wenn es um Sicherheit geht). Dann bringe ich mein Bedürfnis auch ein: „Ich möchte die Gewissheit, dass ihr alle sicher seid. Was könntet ihr tun, damit ihr in Sicherheit spielen könnt?“ Ein bekanntes Sprichwort sagt: „Was sich liebt, das neckt sich.“ Warum streiten Reibereien passieren da, wo man sich nah ist. Für viele Men- meine Kinder imschen ist es einfacher, in einem bekannten und gewohnten mer? Umfeld ihre Streitereien (und Launen) auszutragen, als bei Menschen, die man nicht kennt und an Orten, wo man sich nicht sicher fühlt. Das ist natürlich eine einfache Antwort auf eine komplexe Frage. Wenn ich genau wissen will, warum meine Kinder immer streiten, lohnt es sich herauszufinden, welche Bedürfnisse dahinter stehen. Worum geht es eigentlich? Denkt die eine Partei, sie kommt zu kurz? Muss dem Bedürfnis nach Autonomie (Selbstbestimmung), nach Ruhe und Erholung (z. B. eigenes Zimmer) mehr Beachtung geschenkt werden? Ist das eine Kind in einer provozierenden Phase, wo es Grenzen ausloten und Kräfte messen will? Sind die Kinder in der Organisation des Tagesablaufs überfordert, zum Beispiel weil sie alleine im Badezimmer sein wollen und morgens die Zeit knapp ist? Die Auslöser können Hinweise liefern, welche Bedürfnisse als Ursache hinter dem Streit stehen. Wenn es im Moment nicht möglich ist, dies herauszufinden, kann es vielleicht helfen zu einem späteren Zeitpunkt das Thema nochmals aufzugreifen und es zu besprechen. Ideen und Modelle dazu finden Sie im Kapitel Konfliktlösungsmodelle.

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Epilog Wir Menschen gehen mit Konflikten unterschiedlich um. Manchen von uns fällt es leichter, konstruktiv und lösungsorientiert zu streiten, manche tun sich schwerer damit. Wer seine Konfliktkompetenz trainieren möchte, dem empfehle ich vor allem, seine Verhaltensweisen zu reflektieren und ab und zu eine neue Strategie auszuprobieren. Finden Sie heraus, welchen Streittypen Sie bevorzugt ausleben. Erweitern Sie ihr Reaktionspotenzial indem Sie bewusst anders reagieren. Beobachten Sie ihre Erfahrung. Überprüfen Sie immer wieder ihre Gefühle: Wie geht es Ihnen? Was empfinden Sie? Wo fühlen Sie es im Körper? Die Gefühle sind die Signale unseres Denkens: Welche Gedanken, Urteile und Glaubenssätze habe ich zu dieser Situation? Und sie weisen uns den Weg zu den Bedürfnissen: Was ist mir wichtig? Was brauche ich? Was ist mein Herzensanliegen? Ich wünsche Ihnen den Mut für eine aufrichtige Kommunikation. Damit meine ich, dass Sie konkret aussprechen, was Sie genau wollen. Und ich wünsche Ihnen die Gelassenheit, auch ein „Nein“ zu akzeptieren – im Wissen, dass ein „Nein“ ein „Ja“ zu etwas anderem ist. Ich wünsche Ihnen auch die Hartnäckigkeit, dranzubleiben, um Lösungen zu finden, die für alle stimmig sind. Und ich wünsche Ihnen die wunderbare Erfahrung der Versöhnung, wenn Verständnis und Nähe wieder die Beziehung bereichern. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen interessante Erfahrungen, immer erfolgreicheres und fröhliches Streiten! Eveline Degani Eveline Degani: Und wie streiten Sie? – konfliktbewältigung.ch 151



Danke Meinen ersten Dank möchte ich meinem Mann aussprechen, der mich mit allen meinen Facetten annimmt, mich unterstützt, sich mit mir streitet und versöhnt. Ich bin dankbar, dass wir gemeinsam diesen Weg beschreiten und ich bin dankbar, für deine tatkräftige Unterstützung, deine Ermutigungen und deine Authentizität. Gemeinsam haben wir schon manche Konflikte ausgetragen und dabei auch Neues über uns gelernt. Die Nähe, die sich daraus ergeben hat, ist für mich so wertvoll! Ich möchte mich auch bei meinen Kindern bedanken, von denen ich vieles lernen darf. Zum Beispiel wie hilfreich es ist, zuerst zuzuhören. Ich danke euch für euer Feedback, wenn es mir nicht gelingt, meinen Werten entsprechend zu reagieren. Und ich freue mich mit euch, wenn wir es gemeinsam schaffen, alle unsere Bedürfnisse unter einen Hut zu bringen. Dann genieße ich die Zufriedenheit und Harmonie, die sich daraus ergibt. Ein großes Dankeschön geht auch an meine Mutter und an meine Schwiegereltern, die so oft die Kinder gehütet haben, damit wir uns der Arbeit widmen konnten. Wir freuen uns sehr, dass wir auch weiterhin auf eure Hilfe zählen dürfen und dass ihr die Beziehung zu unseren Kindern aktiv pflegt!

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Feedbacklesen Danken möchte ich auch allen Menschen, die mich durch das Gegenlesen unterstützt und ermutigt haben – ganz besonders meiner Schwester Caroline Bischof (www.carolinebischof.ch), die mein Buch aus der Perspektive der Psychologin und Familientherapeutin gelesen und mir wertvolle Rückmeldung gegeben hat. Ebenso danke ich meinen Trainerkolleginnen und -kollegen aus der Gewaltfreien Kommunikation für das engagierte Feedback: Elke Wilhelm (www.wege-der-empathie.de), Petra Gloxin, Philippe T. Pereira, Tanja Gronde (www.herzensohr.de) und besonders Markus Castro (www.kommunikationszauber.de) für die bereichernden Differenzierungen. Viele weitere interessierte Menschen haben sich meinen Entwürfen kritisch und wertschätzend angenommen. Ich danke Athena Callister (www.yogawelt.com), Edith Bischof, Claudia Müller, Melanie Rutz, Mirjam Fitze und Renate Stein. Grafik, Layout Ein großes Dankeschön an Sylvan Oehen für die auflockernund Lektorat den Illustrationen, die das Buch bereichern. Danke an Marianne Hermann für die Hilfe bei der Digitalisierung der Illustrationen. Ein herzliches Dankeschön an „meine G(i)raf(f)ikerin“ Stephanie Karcher für die grafischen Tipps und die Gestaltung des Buchumschlags. Kristina Gnirke danke ich für die grammatikalischen Korrekturen meines ersten Entwurfs. Ebenso danken möchte ich der Lektorin Andrea Wierich, die dem Buch den letzten Schliff gegeben hat. An Johannes Ponader (www.johannesponader.de) ein dickes Dankeschön. Er hat mich in der Abschlussphase des Buches begleitet und es durch Lektorat und Layout druckreif gemacht. Ebenso ein Danke an Christiane Schinkel, die ihn dabei unterstützt hat.

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Ich freue mich sehr, dass der Autor und Trainer für Gewalt- Dank euch geht’s freie Kommunikation Frank Gaschler (www.giraffentraum.de) erfolgreich weiter das Vorwort geschrieben hat. Die Begegnungen mit dir und Gundi und euren zwei Töchtern sind für mich wunderbare Bereicherungen, die stets mit Inspiration verbunden sind. Ganz herzlich möchte ich mich bei allen Menschen bedanken, die uns in den Seminaren, Beratungen und bei Vorträgen ihr Vertrauen geschenkt haben. Herzlichen Dank an alle, die mich in irgendeiner Weise ermutigt, unterstützt oder weiterempfohlen haben. Ich freue mich über die Wertschätzung und Anerkennung die mir dadurch zuteil gekommen ist! Den letzten Dank möchte ich an Dominique Baumgartner richten. Seit du für uns das Sekretariat übernommen hast, bist du zu meiner rechten Hand geworden. Ich freue mich, dass du mich mit deinem administrativen und organisatorischen Talent unterstützt. Ich feiere die Leichtigkeit, die ich dank deiner Fachkompetenz und deiner Persönlichkeit gewonnen habe!

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