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Übersicht

Wer kreiert Bach Recomposed?

Der Abend beginnt mit einer Neukreation von Po-Cheng Tsai. Er gilt als einer der bekanntesten Choreografen Taiwans. Tsai hat bereits zweimal, 2017 und 2019, den Berner Tanzpreis gewonnen und ist seither auch im europäischen Raum kein Unbekannter mehr. Neben seinen Gastkreationen leitet er in Taiwan seine eigene Compagnie B.Dance. Sein neues Stück Aegir ist nach Inception, das im Rahmen des Abends mit dem Titel Einstein gezeigt wurde, bereits die zweite Arbeit, die er für das Berner Ensemble choreografiert.

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Der Italiener Mauro Astolfi hat mit Postlude zum ersten Mal ein Stück für Bern Ballett choreografiert. Er ist der Gründer und künstlerische Leiter des römischen Spellbound Contemporary Ballet, das mittlerweile eine der wichtigsten Tanzcompagnien in Italien ist und Astolfis Arbeiten in ganz Europa präsentiert. Der italienische Choreograf schuf einen eigenen Bewegungsstil, der verschiedenste Ausdrucksformen zeitgenössischer Bewegung auf ungewöhnliche und neue Art kombiniert. Neben seiner Tätigkeit als Choreograf hat Mauro Astolfi Lehraufträge an internationalen Tanzzentren in Tokio, Paris, New York, Zürich, Stockholm, Amsterdam, Los Angeles und in Italien inne.

Mit bODY_rEMIX/les_vARIATIONS_gOLDBERG – excerpts beinhaltet der Abend eine exklusiv für Bern Ballett gekürzte Fassung eines modernen Klassikers als Schweizer Erstaufführung. Marie Chouinards faszinierendes Meisterwerk wurde 2005 an der Biennale in Venedig uraufgeführt. Die vielfach ausgezeichnete kanadische Choreografin entwickelt seit 1978 eigene, oft irritierende Stücke und gründete nach mehr als dreissig Soloarbeiten 1990 die Compagnie Marie Chouinard. Sie erhielt zahlreiche renommierte Preise und Ehrungen wie den One Step Further Award (2019), Prix du Québec (2010), Chevalier de L’Ordre des Arts et des Lettres (Frankreich 2009), Officer of the Order of Canada (2007) und den Bessie Award (New York 2000). Von 2017 bis 2020 war sie Direktorin der Tanzbiennale Venedig.

Welche Themen haben die Choreograf*innen für ihre Stücke gewählt?

In seinen choreografischen Arbeiten zeigt sich Po-Cheng Tsais Faszination für mythologische Figuren. Nachdem er bereits ein Stück über Odins Raben, Niflheim oder den zweiköpfigen Hund Orthrus geschaffen hat, widmet er sich in seiner neusten Arbeit Aegir dem Meeresriesen aus der nordischen Mythologie. Aegir ist den Göttern sehr nahe, er bewirtet sie, ist selbst mit einer Meeresgöttin verheiratet und Vater der neun Aegirstöchter, die unterschiedliche Qualitäten von Meereswellen darstellen sollen. Als ein Herrscher der Weltmeere ist Aegir oft wild und aufbrausend, wie auch das Meer nicht immer ruhig und sanft ist. Der Choreograf verbindet in dieser Arbeit seine Liebe zum Wasser und zum Ozean mit dieser mythischen Gestalt. Er lässt das Ensemble von Bern Ballett wortwörtlich abtauchen, in ein Universum aus Bewegungen, die sich aus dem Thema Wasser ergeben. Ausgegangen ist Po-Cheng Tsai in seiner Bewegungsfindung von zwei Gesten: Betenden Händen und mit Fingern geformten HummerScheren. Er verbindet diese Elemente zu kraftvollem zeitgenössischem Tanz – rhythmisch und impulsiv.

Mauro Astolfi hat mit Postlude eine Art Kammerstück für fünf Tänzer*innen choreografiert. So wie der Begriff Postludium im musikalischen Kontext das Nachspiel bezeichnet, so will Astolfi in seiner Choreografie seine Figuren in einer Situation zeigen, in der sie mit etwas abschliessen oder auch Vorausgegangenes ordnen. «Wir sind vom Drang getrieben, Lösungen zu suchen und eine endgültige Ordnung zu finden. Der Wunsch, den Verstand zum Schweigen zu bringen, das Übermass an Bewegung, das Rauschen der Aussenwelt zu verarbeiten – nach diesem Gefühl suche ich in diesem Stück», sagt der Choreograf über diese Arbeit. Astolfis präzise und detailgenaue Bewegungssprache gibt den Blick frei auf intime, energetisch hoch aufgeladene, fast schon existenziell anmutende Erzählungen, die aus dem tiefen Unbewussten der Protagonist*innen nach aussen drängen.

Schönheit und Deformation, Leichtigkeit und Schwere, Körperkontrolle und Freiheit – in ihrem faszinierenden Werk bODY_rEMIX/les_vARIATIONS_ gOLDBERG – excerpts dekonstruiert Marie Chouinard auf irritierende Weise die Traditionskunst Ballett. Sie zeigt das Streben nach tänzerischer Perfektion und thematisiert dabei gleichzeitig die Verletzlichkeit und die Begrenzungen des menschlichen Körpers, aber auch die Überwindung dieser Einschränkungen mithilfe von Krücken, Prothesen, Stangen und Seilen.

Mit Spitzenschuhen an Händen und Füssen lässt sie die Tanzenden erforschen, welche Bewegungsmöglichkeiten sich ihnen über das klassische Schrittmaterial hinaus bieten. Die Formensprache des Balletts wird dadurch auf einzigartige Weise verfremdet. Das Stück kann auch als ein Sinnbild über die Bedingungen der menschlichen Existenz gelesen werden, die in der physischen Wirklichkeit gefangen ist und gleichzeitig nach Vollkommenheit und Freiheit strebt.

Welche Musik erklingt?

Im ersten Stück des Abends erklingt neben zwei Originalkompositionen von Johann Sebastian Bach, dem Adagio aus dem Konzert für Oboe in d-Moll und dem Eröffnungschor aus der Johannespassion, das Trio Bach Space der israelischen Komponistin Tamar Halperin, in der sie die Musik Bachs mit Samples, Loops und Klängen fusioniert – eine Rekomposition von Bachs Musik, die an der Schnittstelle von Barockmusik und Electronica anzusiedeln ist.

Sein Stück Postlude hat Mauro Astolfi hauptsächlich zu Peter Gregsons Rekompositionen von Bachs Cello-Suiten choreografiert. Der britische Cellist Peter Gregson ist ein namhafter zeitgenössischer Komponist und Klangkünstler. Er interpretiert Bachs Suiten auf einzigartige Weise neu und erweitert und bearbeitet die Originalmusik durch fünf weitere Celli, die er mitunter über einen sanften elektronischen Klangteppich legt. Daneben erklingt je ein Satz aus Bachs Sonaten für Orgel und für Flöte.

Marie Chouinard hat für ihr Stück eine Rekomposition von Bachs Goldberg-Variationen in Auftrag gegeben. Der kanadische Komponist Louis Dufort, der regelmässig mit der Choreografin zusammenarbeitet, zerlegt darin die 1981 eingespielten Goldberg-Variationen des Pianisten Glenn Gould, die zu den berühmtesten Aufnahmen der Schallplattengeschichte zählen. Dazu mischt er die Stimme Goulds aus einem Interview, in dem der Pianist persönlich über seine Einspielung spricht. Das so sezierte und danach neu zusammengesetzte Material formt Dufort radikal zu einem elektroakustischen Sounderlebnis, das die Quellen nur ansatzweise wiedererkennen lässt.

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