Luzia Kaufmann
Zweiundzwanzig Kurzgeschichten’13 Begleiten durch den Advent 2013
Zweiundzwanzig Kurzgeschichten’13 Begleiten durch den Advent 2013
Š Kreativkontakt Kaufmann, 2013 luzia.kaufmann @kreativkontakt.ch
© Kreativkontakt Kaufmann, 2013
1. Geschichte «Familie Gabriel» Die Kerze brennt leise vor sich hin. Moos, Tannenzweige und -zapfen schmücken den Tisch auf dem das Licht das Zentrum bildet. Ein leichter Luftzug weht durch den Raum und bewegt die Flamme sanft hin und her – still, ruhig, wartend. Die helle Flamme hält sich am Docht fest und gibt sich dem feinen Hauch des Windes widerstandslos hin. Das honigfarbene Bienenwachs zu ihren Füssen schmilzt und bietet dennoch genügend Halt für Docht und Flamme. Immer wieder gerät die Flamme aus dem Gleichgewicht. Und immer wieder findet sich jedoch die Flamme zentriert und majestätisch in der Ausgangsposition wieder. Eigentlich weiss die Flamme genau, dass sie ohne den Docht, ohne das Wachs und ohne den Wind nicht existieren kann. Die Flamme wirkt immer überheblicher, protziger und arroganter. Das Licht und die Wärme haben die Flamme geblendet. Von unten tönen die Worte: «Sei dankbar, dass ich dir helfe zu erstrahlen und gib einen Teil deines Ruhmes an mich ab!». Die Flamme hat jedoch besseres zu tun als sich um diese Worte zu kümmern. Sie versucht den Schatten um sie
herum möglichst klein zu halten. Um dieser Dunkelheit die Grösse zu nehmen muss sie sich jedoch Mühe geben sich nicht zu bewegen und gerade zu stehen. Wieder ertönt eine Stimme. Diese ist lauter, eindringlicher und spricht direkt aus ihrer Mitte zu ihr: «Teile deinen Ruhm mit mir, denn ohne mich wäre dein Licht nicht möglich!». Die Flamme ignoriert beide dieser Rufe. Die anfänglich feierliche und harmonische Atmosphäre scheint nun schlagartig zu kippen… …von draussen ertönen Stimmen. Gestampfe und lautes Lachen wird immer lauter. Familie Gabriel kehrt vom sonntäglichen Winterspaziergang zurück. Mit einem kräftigen Schwung platzen die beiden halbwüchsigen Kinder in die Wohnung. Dieser lebhaften Ankunft kann die Flamme nun nicht mehr standhalten. – Zurück bleibt der Duft des Bienenwachses und der Geruch des erloschenen Dochtes. Diese beiden Gerüche durchmischen sich mit der hereingetragenen Winterluft. Das Leben hält wieder Einzug und erleuchtet die ganze Wohnung.
2. Geschichte «Leukaios»
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Heute tanzen sie alle wieder den stummen Tanz. Sie lassen sich fallen und treiben. Dieses leise, schlichte Schauspiel in Weiss faszinierte Leukaios bereits als er noch als graues, unerfahrenes Küken mit den Eltern unterwegs war. Als Jungvogel, alleine durch die Gewässer streifend, hoffte er dass jeder einzelne Schneekristall das Weiss auf sein Gefieder übertragen würde. Und nun, da er zum stolzen und
schneeweissen Schwan herangewachsen ist, ist er sogar überzeugt, dass in der winterlichen Kälte die Göttin zu ihm hinuntergestiegen war. Die tanzenden Flocken haben ihn in mancher Hinsicht berührt und wachsen lassen. Die Einzigartigkeit der Schneekristalle strahlt direkt aus seinen Federn – dieses erhaltene Geschenk, dieses Weisse trägt Leukaios stolz und erhobenen Hauptes in die Welt hinaus.
3. Geschichte «Clemens»
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Heute ist ein guter Tag. – Clemens steigt in seine braunen Winterstiefel, legt sich den beige-orange gemusterten Wollschal dreifach um den Hals und zieht sich den dunkelbraunen, dicken Mantel über. Noch bevor er den Schlüssel ins Schloss steckt und die Türe ganz zuzieht wirft er nochmals einen Blick zurück in sein stilles, wartendes, warmes Zuhause. In Gedanken ertönen die Worte «ich bin bald zurück». Vor der Haustüre streift er sich die gefütterten Lederhandschuhe über und setzt sich seine dunkelrote Schie-
bermütze auf. Achtsam geht der grauhaarige Herr Schritt für Schritt seinen gewohnten Weg entlang. Er lässt sich Zeit. Seine Hände hält er auf dem Rücken verschränkt. Und so geht er – geht er um des Gehens willen. Immer wieder bleibt er stehen und schaut zum strahlend blauen Winterhimmel hoch. Mit jedem Aufschauen und Sehen des unendlich scheinenden Blaus, erfüllt ihn diese Weite mit einer unbeschreiblichen inneren Ruhe. Die Zeit scheint still zu stehen. – Ja, heute ist ein wirklich guter Tag!
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4. Geschichte «Sophie» Ich bin Sophie. – Ich spüre den kalten Wind und die feuchten, kleinen Perlen des Nebels auf dem ganzen Gesicht. Die verfärbten, übriggebliebenen Blätter lassen sich von den Bäumen fallen. Sie tanzen durch die Luft bis sie müde sind und sich auf der Erde beginnen auszuruhen. Noch tiefer ziehe ich meine Mütze ins Gesicht und laufe los in Richtung Wald. Das nasskalte Wetter verstärkt den Geruch der Nadelbäume. Dieser Geruch der Tannen durchströmt meinen ganzen Körper und entfaltet in mir eine vertraute Wärme. Gedankenversunken setze ich einen Fuss nach den Anderen. Der Nebel hüllt alles in einen weissen Schleier und dämpft die Farben und Formen der Landschaft. – War da nicht etwas links im Gebüsch? Ich bin mir nicht sicher und laufe mit mehr Aufmerksamkeit weiter. Was sind das plötzlich für Geräusche? Es tönt wie ein Chorgesang von jungen Frauen. Bin ich durch den Nebel und die gebildeten Gestalten des Waldes in meinem Verstand beeinträchtigt? Wieder höre ich den lieblichen Gesang ertönen und entschliesse mich den Klängen zu folgen. Vorsichtig und konzentriert bewege ich mich quer durch den Wald. Der Blätterboden erlaubt ein weiches aber hörbares Gehen. Äste knacksen unter
meinen Füssen. Mein Atem wird immer unregelmässiger und aufgeregter. Der Gesang wird immer klarer und schöner. Fast hypnotisch zieht es mich tiefer und tiefer in den Wald hinein. Und dann, auf einer Lichtung, traue ich meinen Augen kaum: Sechs junge Frauen in weissen Hochzeitskleidern schweben in einem Kreis kaum 100 Meter vor mir in luftiger Höhe. Sie scheinen wie auf Luftkissen hochgetragen worden zu sein. Ungläubig bleibt mein Blick auf diesem befremdenden Bild haften, vergesse ganz zu atmen. – Plötzlich ist alles Schwarz und totenstill. Nichts ist mehr erkennbar. Lediglich mein Anheben, Absenken des Brustkorbes und eine Schwerelosigkeit nehme ich wahr. – Was passiert da mit mir mitten im tiefen Wald? Ich habe niemandem gesagt, wohin ich heute gehe! Wird mich jemand suchen und finden? Mit diesen Gedanken ertönen wieder die engelhaften Stimmen. Ganz nahe und geschlossen um mich herum hörbar. Die Schwärze weicht, es wird heller und heller bis ich erkenne, dass ich mich mitten im Kreis der jungen Frauen befinde. Getragen von einem Luftpolster steige ich mit ihnen in die Höhe. Ich sage nichts, denn ich befürchte die Schönheit und Leichtigkeit dieses
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Augenblickes ansonsten zu zerstören. Der Blick in jedes einzelne der Gesichter lässt mich die jeweilige Stärke darin erkennen: Leichtigkeit, Offenheit, Tiefe, Beständigkeit, Mut, Neugier. Es scheint fast als hätten diese Gestalten bemerkt, was ich in ihnen erkenne. Sie lassen mich auf die Erde zurück schweben. Mit dem Kontakt zur braunen Erde verwandeln sich die sechs Frauen
in wunderschöne Schmetterlinge und verschwinden lautlos durch die blattlosen Bäume dem Horizont entgegen. Alles ist wieder ruhig. Was war das soeben? Verliere ich den Verstand? Bin ich am Träumen und wache demnächst auf? Etwas benommen suche ich den Weg zurück nach Hause. Nein, dies konnte kein Traum gewesen sein…
5. Geschichte «Aurelia»
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Manchmal fehlen Aurelia die Worte um das wunderschöne, fast magische einer scheinbar flüchtigen Begegnung wiederzugeben. Begegnungen auf der Strasse oder beim Einkaufen. Es sind Momente des Zufalls. Bruchteile einer Sekunde, in der Augenkontakt mit dem Fremden stattfindet. Der Schleier der
Anonymität ist auf einmal weg. In diesem kurzen und ganz kostbaren Moment füllt sich ihr Körper bis in die letzte Pore mit Energie – Wärme des Berührtwordenseins und des Berührens. Ohne Absicht und ohne Wissen wer das Gegenüber ist, lächelt Aurelia der alten Frau zu.
6. Geschichte «Sophie Teil 2»
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…die Dunkelheit dominierte die immer kürzer werdenden Tage. Der Gesang der jungen Frauen verblasste mehr und mehr in der Erinnerung von Sophie. Der erste Schnee war der Vorreiter der bevorstehenden Weihnachtszeit und der Zeit des Weihnachtsmarktes in der Stadt. Die warmen Lichter und frohen Menschen belebten die kalten Nächte. Am 6. Dezember schlenderte Sophie mit ihrem Freund glühweintrinkend durch die Gassen. – Was war da ein schöner Gesang? Diese Stimmen kannte sie doch? Eilig nahm sie ihren Freund an der Hand und zog ihn
in die Richtung aus der die Stimmen erklangen. Und da standen sie wieder: Sophies sechs jungen Frauen aus dem Wald. Heute waren Sie nicht alleine da, sie wurden von einem weissbärtigen Mann in rotem Mantel begleitet. Ihr Freund und sie standen nahe beieinander, lauschten den wunderschönen Klängen und genossen die Zweisamkeit in der Menge. Die Frauen schauten zu ihr rüber und erkannten in ihrem Gesicht Leichtigkeit, Offenheit, Tiefe, Beständigkeit, Mut, Neugier und Liebe.
7. Geschichte «Fenja»
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Ausbalanciert steht Fenja vor dem Wohnzimmerfenster. Die Sonnenstrahlen berühren ihre Stirn, ihre Nase, ihre Wangen, ihre Lippen,… ihr ganzes Gesicht und ihren ganzen Körper. Sie atmet diese Wärme tief ein: einmal, zweimal, dreimal. Momente und Erinnerungen des Sommers kehren zurück. Jeder Atemzug bringt sie mehr und mehr in die
Wärme. Orange tanzt mit Sonnengelb. Vogelgezwitscher streift durch die grünen Grashalme. Die Blumenwiese duftet und summt vor sich hin. Zitronengelb fliegt durch kräftiges Blau. Fenja nimmt nochmals einen tiefen Atemzug vom Sommer bevor sie ihre Augen wieder öffnet und in die Winterlandschaft blickt.
8. Geschichte «Mattis»
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Er hört sich die kalte Luft ein- und ausatmen. Nach ein paar Metern des Starts hat Mattis seinen Rhythmus gefunden. Joggend streift er durch die ruhige noch schlafende Landschaft. Er geniesst solche Momente der morgendlichen Ruhe. Heute ist alles starr, von einem eisig-kalten Mantel umhüllt. Vereinzelt durchdringt Vogelgezwitscher ganz hoch
und schrill diese unbewegliche Morgenreife. Die Gräser scheinen sich aus Angst zerspringen zu können nicht bewegen zu wollen. Selbst das Gespräch der bunten Zwerge scheint zu pausieren. Vereinzelt kämpfen sich Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke hindurch. Mattis geniesst dieses sich bewegen durch das Stillstehende. – Es ist Sonntag.
9. Geschichte «Oliver»
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Gegen Ende des Jahres ist es Aufgabe eines Jeden im Dorf eine Handvoll Tränen des Waldes einzufangen und zum Fest des Neuanfangs mitzubringen. Auch Oliver ist in diesem Jahr alt genug, um alleine in den Wald hinaus zu gehen und die Sorgen, Ängste und Verletzungen der Bäume kennenzulernen. Er sieht die versteinerten Tränen im braunen Mantel. Mit stillem Weinen wurden die Wunden überdeckt. Einige Verletzungen erkennt Oliver auf seinem Weg, andere bleiben ihm verborgen. Ganz wenige, besondere Bäume sind gezeichnet von Leichtigkeit und Lebendigkeit. Ihre Trä-
nen wirken anders. Tränen in klarem, reinen, funkelndem Gold – von ganz oben bis ganz unten. Nach der Begegnung mit elf Bäumen kehrt Oliver ins Dorf zurück. Das Fest des Neuanfangs beginnt mit dem Aufsteigen des letzten Vollmondes im Jahr. In der Hitze des Feuers durchmischen sich die Tränen der Trauer mit den Tränen der Freude. Sie umarmen sich beim Aufsteigen in der schwarzen Rauchsäule. Tanzen einen Tanz der Versöhnung. Lassen sich wieder los und verabschieden sich von diesem Ort.
10. Geschichte «Herr Phönix»
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Grau und blass war sein Gesicht, monoton seine Stimme. Tag für Tag, Woche für Woche und Monat für Monat lebte er einen Tag wie den anderen. Herr Phönix war eine unscheinbare Figur. Nichts interessierte ihn sonderlich, nichts schien ihn begeistern zu können. Es war ein besonders grauer Tag. Noch eine Station, dann musste er den Bus verlassen. Seit fast 10 Jahren stieg er nun um 7.25 Uhr an derselben Station aus. Der Arbeitsort war danach in wenigen Schritten zu erreichen. Wie immer arbeitete er von 7.30 bis 12.00 Uhr. Ass am Mittag irgendwo sein mitgebrachtes Brot. Ging um 13.00 Uhr zurück an seinen Arbeitsplatz und erledigte die aufgetragenen Arbeiten. Wechselte schliesslich einige fachliche Worte mit den Arbeitskollegen. Pünktlich um 17.00 Uhr machte er sich wieder auf den Heimweg. – Irgendwie schien er zufrieden mit dem was er hatte. Lediglich in seinen Träumen kehrte das bunte, aufregen-
de, abwechslungsreiche und mit lautem Lachen geprägte Leben zu ihm zurück. Diese Farbigkeit konnte er meist mit dem morgendlichen schwarzen Kaffee wegspülen. Es war ein besonders schöner Tag. Weit und breit kein Nebel. Der Glitzer der Nacht lag noch auf den Strassen. Noch eine Station, dann sollte Herr Phönix den Bus verlassen. Um 7.25 Uhr stieg er bei der «Palmstrasse» aus. Durch die Baumallee hindurch erreichte er das hellgelbe, einladende Gebäude in dem er seit genau stolzen 10 Jahren seinem Beruf nachging. Über den Mittag hockte er sich im duftenden Park unter die grösste der Linden und ass genüsslich sein selbst zubereitetes Brot. Nach einer Stunde kehrte Herr Phönix mit rosigen Wangen an seinen Schreibtisch zurück und fragte seine Teamkollegen: «Weiss jemand von euch wieso die Palmstrasse, Palmstrasse heisst?».
11. Geschichte «Konstantin»
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Hoch über dem Dorf steht er, trägt Früchte von süss bis bitter. Zentral und stoisch auf einem grünen Hügel. Seine Wurzeln gehen bis tief in die Erde. Lange hat er sich gehalten – eine Ewigkeit. Unzähligen Gesprächen des Windes, der Tiere und der Menschen gelauscht und in seiner Ruhe geholfen Antworten zu finden. Er ist immer da, wartet auf die, die zu ihm kommen. Auch
Konstantin besucht den alten Nussbaum seit er sich erinnern kann. Regelmässig setzt er sich zu ihm hin und lässt seinen Gedanken freien Lauf. Manchmal legt er im Traum seine Gedanken ganz in den Schoss des mächtigen Baumes. Mit geklärtem Verstand geht Konstantin nach dem Besuch auf direktem Weg nach Hause.
12. Geschichte «Amelie»
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Strammen Schrittes und ganz ausser Atem durchquert Amelie das ganze lange Maisfeld. Sie hat keine Zeit um still zu stehen. Keine Zeit um nach links zu schauen. Keine Zeit um nach rechts zu schauen. Immer schneller läuft, ja rennt sie wie ein gehetztes Reh durch die grünen, kräftigen Stangen hindurch. Die Blätter schlagen ihr ins Gesicht. Je schneller sie rennt, desto heftiger scheint das Maisfeld sie zu peitschen. Und dennoch verlangsamt sie ihr Tempo nicht. Weit vorne erkennt sie den hellblau schimmernden Ausstieg. Amelie ruft nochmals ihre ganze Energie zusammen, tut alles um noch schneller rennen zu können. Die vorbeihuschenden Blätter kann sie nur noch als geschlossene grüne Wand wahrneh-
men und die goldigen Maiskolben lösen sich in einem Blitzgewitter neben ihr auf. Auf einmal kann sie den Ausgang nicht mehr sehen. Panik überfällt sie. Sie rennt, und rennt, und… Schweissgebadet und ganz ausser Atem wacht Amelie in ihrer gewohnten Umgebung auf. Rundherum kann sie in der Dunkelheit den vertrauten Geruch ihres Zuhauses wahrnehmen. Langsam, sehr langsam streckt sie einen Fühler nach dem anderen aus ihrem geschwungenen Haus heraus. Tastet sich Erdkrümmel für Erkrümmel vor. Schaut und fühlt nach links. Schaut und tastet nach rechts. Gemächlich, ohne Eile kriecht Amelie durch die wunderschöne, lichtdurchflutete Königsallee hindurch.
13. Geschichte «Max»
© Kreativkontakt Kaufmann, 2013
Der Tag ist im Dunkel herangereift. Die Silhouetten des Morgens gleichen einem liebevollen, schwarzen Scherenschnitt. Fein und zart stellen sich die Sträucher vor den sanften Farbverlauf von orange bis dunkelblau. Fest und unbeweglich stehen die noch im Schatten des Tagesanbruchs liegenden Häuser. Dazwischen versinken langsam die letzten Sterne am Horizont. Mit jeder weiteren Minute verliert alles allmählich an nächtlicher Schwärze – die Farben kehren zurück. Manchmal wünscht sich Max, dass sein Fell mit dem Tagesanbruch erhellen würde. Immer wieder versucht er sein Schwarz zu überdecken. Er wälzt sich im Schlamm um braun zu werden. Er schleicht sich in die Mühle um durchs Mehl zu kriechen und weiss zu werden. Er verharrt stundenlang im Regen damit das Dunkle sich von ihm lösen möge. Doch nach jedem dieser unzähligen Versuche seine Farbe zu ändern scheinen die Menschen ei-
nen noch grösseren Bogen um ihn zu machen. Früher war das anders. Früher war er sogar stolz auf sein Fell. Er war bereits als kleines Kätzchen rabenschwarz. Einzig die Küsse der Sonnenstrahlen verhalfen seinem Fell zu einem Schimmer aus königsblau. Die Menschen genossen seine Anwesenheit und liebten es mit ihren Fingern durch sein warmes Fell zu streichen. Und dann, von einem Tag auf den anderen war alles anders. Max kann sich an diesen Tag noch genau erinnern. Es war der zweite Freitag im September dieses Jahres. Alle schienen ihn zu meiden. Sie alle liefen einen grossen Bogen um ihn herum, als ob sie seinen Weg um keinen Preis kreuzen wollten. Plötzlich versuchten alle um ihn herum seine dunkle Gestalt vehement zu meiden. Doch, alles was Max doch wollte war nicht alleine sein zu müssen – denn dies machte ihm Angst.
14. Geschichte «Mira»
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Vor ihr im Bus sitzt eine ältere Dame in dunkler Winterjacke. Die kurzen Haare der Frau sind schneeweiss, dicht und ganz fein. Mira kennt die Frau nicht. Vermutlich weiss diese Frau nicht, wer direkt hinter ihr sitzt. Dennoch fahren sie zusammen ein Stückweit in dieselbe Richtung. Die gewohnte Umgebung huscht an Mira Station für Station vorbei. Die Kälte liegt über der Landschaft, im Bus ist es warm. Immer wieder wechselt der Blick von draussen nach drinnen. Immer wieder wechseln die Gedanken von ihrem bevorstehenden Termin zu den möglichen Geschichten der Menschen. Ein Mann mit Bierflasche, eine ältere Frau mit Gehstock, zwei kichernde Mädchen,... und wieder geht ihr weicher Blick nach draussen.
Der Bus hält und neue Geschichten steigen ein. Mira fragt sich, wann die braunhaarige etwa vierzigjährige Frau mit dunklem Wintermantel sich zur Weisshaarigen gesetzt hat. Noch während sie dieser Frage nachgeht, gleitet ihr Blick wieder ungerichtet nach draussen, ihre Gedanken wandern zurück zu ihrem heutigen Tagesprogramm zurück. Gedankenversunken nimmt Mira etwas Lilafarbenes wahr. Diese Farbe gehört der Handtasche der Braunhaarigen. Zeitgleich lehnt sich die Weisshaarige etwas nach links vor und drückt mit ihren in lilafarbene Handschuhe gepackten Fingern den Halte-Knopf. Am Hauptbahnhof steigen sie alle aus und gehen ihren heutigen Weg weiter.
16. Geschichte «Noël»
© Kreativkontakt Kaufmann, 2013
Was ist bloss aus der Zeit geworden in der es noch Einhörner gab? In Begleitung dieser Frage steht Noël wartend auf der Brücke oberhalb der Autobahn. Seine Hände sind tief in die Jackentaschen vergraben, sein Gesicht zur Hälfte vom langen, dicken Wollschal umschlungen, die Aktentasche unter den Arm geklemmt. Die Kälte sticht ihn in die Stirn. Er wartet. Ein Rauschen bezeugt den unaufhaltsam rollen-
den Morgenverkehr unterhalb seiner Füsse. Die Pendler fahren von da nach dort und von dort nach da. Noël schaut diesen bewegten Lichtern in der Morgendämmerung zu. Allmählich bilden die roten Lichter zwei parallel verlaufende Lichterketten. Ein glitzernder Reigen aus Silber und Gold strömt ihm entgegen. In diesem verzauberten Moment des Sehens wünscht er sich, wieder Wünsche zu haben.
17. Geschichte «Kreis und Dreieck»
© Kreativkontakt Kaufmann, 2013
Rollen, bewegen, nie still stehen. So ist der Kreis, so fühlt er sich wohl. Eine Vollkommenheit ohne Ecken und Kanten. Ganz rund, ganz geschlossen mit Anfang und Ende in sich fliessend. Das runde fürchtet sich vor dem Stehenbleiben, kann nicht ruhen, will nicht in eine Richtung weisen. Das Dreieck ist nicht
weniger stolz auf seine geometrische Form. Ist stolz auf seine Basis die alles stützt, ein Dach für die Beziehung bietet, drei. In der Begegnung scheinen sie sich gegenseitig zu ergänzen, sich zum Leuchten zu bringen. Der Kreis hilft dem Dreieck loszulassen – das Dreieck hilft dem Kreis zur Ruhe zu kommen.
18. Geschichte «Tobias»
© Kreativkontakt Kaufmann, 2013
Voller Begeisterung schauen sie gemeinsam dem Weissen nach. Schauen ihm nach, wie dieses vor der hellblauen, schnörkellosen Bühne gekonnt seine Bahnen zieht. Vor Freude hüpft Tobias auf und ab und jubelt seinem Flieger zu. Heute am Küchentisch hat ihm seine sonst so doofe Schwester gezeigt wie er aus dem weissen, flachen Blatt Papier einen Flieger falten kann. Sie hat ihm geduldig gezeigt wie er das Papier ziehen und flachdrücken musste. Sein erster Flieger. Und wie
wunderbar dieser einfach so fliegen kann. Jeder Richtungswechsel am Himmel löst einen Richtungswechsel am Boden aus. Tobias lenkt seinen kleinen Körper in alle Richtungen, seine Arme hat er weit ausgebreitet, springt und hüpft auf als ob auch er abheben wollte. In seinen Augen sind heute die Sonnenstrahlen des Tages zu hause. – Immer weiter und immer höher segelt der Papierflieger. Es scheint fast als ob dieser in der blauen Unendlichkeit nicht aufhören möchte zu spielen.
19. Geschichte «Ursula»
© Kreativkontakt Kaufmann, 2013
Immer wieder verlegte Ursula ihre Lesebrille. Sie konnte sich einfach nicht daran halten, nach dem Durchstöbern der Zeitung die Brille zurück in ihr Etui zu legen und dieses griffbereit auf der Kommode zu deponieren. Paula, ihre Enkelin, schien genau dieses tägliche Spiel zu geniessen. Gemeinsam machten sie sich auf, die Brille zu finden. Bei der Oma galt seit jeher das Gesetz, dass nichts gesucht sondern alles wenn die Zeit reif ist, gefunden wird. – Ursula war jahrelang auf der Suche nach ihrem Weg, nach dem Weg der für sie bestimmt zu sein
schien. Dieses Suchen ermüdete sie, liess sie nie ankommen. Beim Beobachten der Kinderschar im Park erhielt sie dann das Geschenk ihres Lebens. Die Kinder spielten Verstecken. Sie beobachtete das Treiben und allem voran das suchende Kind. Angestrengt, mit zusammengekniffenen Augen suchte dieses Kind verzweifelt die anderen. Ungeduld und Ärger begleitete dieses Suchen. Das Finden hingegen, war die ersehnte Erlösung. Ein Entladen der angestauten Energie. Seit diesem Tag im Park schwor sich Ursula nie mehr zu suchen und nur noch zu finden.
20. Geschichte «Luana»
© Kreativkontakt Kaufmann, 2013
Federleicht. – Seit mehreren Jahren trägt sie eine feine, graue Feder mit sich. Eine Taubenfeder. In ihrem kleinen, brauen Notizbuch lose auf der ersten Seite eingelegt. Bei jedem Öffnen der vergangenen Gedanken schenkt ihr der Anblick dieser Feder einen Hauch von Zufriedenheit. Natürliche Schönheit. Diese kleine, perfekte Feder so einfach und doch so kostbar. Der Anblick entspannt die Augen und lässt ihr Gesicht weich werden. Gerne würde Luana wissen was diese Feder bereits bereist hat bevor sie auf dem Gehweg in ihrem Dorf lan-
dete. Seither geht sie zusammen mit Luanas Gedanken auf die Reise. Eine Leichtigkeit begleitet ihre Gedanken gewinnen Abstand von der Wirklichkeit und fliegen davon. Fliegen hoch, über sie hinaus und weiter in die Ferne. Die Gedanken fliegen weg, steigen auf, sehen von weit oben auf das Einzelne und das Ganze. Luftige Höhe in himmelblau verbunden mit dem Wasser der Weltmeere. Luana geniesst diese unbegrenzte Freiheit bevor ihre Worte im erdigen Gefäss ihren Platz finden.
21. Geschichte «Zoey»
© Kreativkontakt Kaufmann, 2013
Am Winteranfang steigt das Gefühl hoch dass dieser doch schon lange begonnen hat. Dass die Kälte doch bereits seit einer geschätzten Ewigkeit den Tag bestimmt. Niessen auf den Strassen, laufende Nasen schon seit Wochen und der Bus hustet morgens seit längerem einen Kanon. Der kürzeste Tag. Zoey kann sich fast nicht vorstellen, dass an Orten auf der Erde heute die Sonne nicht aufgeht, alles dort dunkel bleibt. Beim Denken dieser Gedanken schaut sie ins knisternde Feuer im
Kamin. Sie hockt vor dem Feuer auf dem Fussboden, ihre Arme umschlingen ihre Beine und den Kopf hat sie leicht auf ihre Knie gelegt. Zoey schaut direkt ins Feuer. Ein Knacksen und Zischen. Der Tanz der Flammen ist ruhig, zierlich, ausgeglichen ein anderes Mal stürmisch, laut und gross. Das Feuer wärmt und nährt sie in diesen besonders kalten, reduzierten Tagen. – «Wintersonnenwende», mit diesem Wort will Zoey den Winter heute feiern und begrüssen.
22. Geschichte «Ruben»
© Kreativkontakt Kaufmann, 2013
Die unsichtbare Wärme entweicht aus den Häusern und wird in der kalten Winterluft zur weissen Rauchsäule. Die noch scheuen Sonnenstrahlen dringen verschwommen durch den leichten Nebel. Die Welt wird langsam wachgekizzelt. Ruben ist bereits mit den ersten Sonnenstrahlen unterwegs die Welt zu begrüssen. Sein schwarzes Federkleid nimmt die kleinsten und feinsten Strahlen auf. Lautlos fliegt er übers Dorf hin zum nächsten. Beobachtet mit seinen ebenso schwarzen Knopfaugen wie die weissen Kristalle langsam schmelzen. Er freut sich
bereits auf die tägliche Begegnung mit dem Herrn mit der dunkelroten Schiebermütze… Heute wird Ruben auch den joggenden jungen Herrn lauthals begrüssen… Vermutlich wird er dem lebhaften Miteinander der einen Familie etwas zuschauen… Eventuell wird auch die weisshaarige Dame in dunkler Winterjacke diesem Treiben aufmerksam zuschauen… Vielleicht haben die Kinder wieder den Papierflieger mit dabei… Gegen Abend wird Ruben zum Nussbaum fliegen um über den Gedanken des jungen Mannes aus seinem Versteck zu naschen…
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