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preview Beitr채ge gegen Staat, Nation und Kapital


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Inhalt

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Impressum

Was interessiert mich Deutschland!? Positionsbestimmungen gegen Staat, Nation und Kapital

10 „Standort-Politik heißt, den ‚eigenen‘ Leuten ordentlich etwas zuzumuten“ Interview mit Ilka Schröder

12 Leistung oder ich schieße! Rassismus und Sozialchauvinismus - Bausteine kapitalistischer Integration

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Gruppe Kritik & Intervention c/o Antifa AG Universitätsstraße 25 D-33615 Bielefeld Web http://kritikundintervention.org Email gruppe(a)kritikundintervention.org

Gruppe Kritik & Intervention ist organisiert in:

The only PIIG‘S the System! Organisiert den Vaterlandsverrat! vom Antifa AK Köln

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http://umsganze.de

Rassismus: Ein paar Notizen zu einem grausamen Phänomen von [association critique]

24 Zurück in die Politik! Antinationale Kritik ist die Wahrheit des antideutschen Gefühls. Doch es kommt darauf an, sie praktisch zu machen. von T.O.P. Berlin

28 FAQs Gruppe Kritik & Intervention

Ein Selbstgespräch

http://rotermontag.blogsport.de

Mit freundlicher Unterstützung von: Antifa AG der Uni Bielefeld http://antifaagbi.blogsport.de


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Editorial

Nationalismus ist seit je her das wahrscheinlich größte verstandesmäßige Hindernis, um überhaupt eine radikale Kritik an der kapitalistischen Klassengesellschaft und dem bürgerlichen Staat zu vermitteln. Das gesellschaftliche Problem des Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit kann vor allem nicht gelöst werden, weil die von diesem Widerspruch Beherrschten sich positiv zu einem nationalen „Wir“ stellen. Die Wirkung der Widersprüche, die die Klassengesellschaft notwendig hervorbringt, wird von dieser Ideologie nicht geleugnet, aber als politisch organisierbar gewürdigt. Davon ausgehend werden innerhalb des hierzulande herrschenden demokratischen Staatsbewusstseins alle möglichen Ideale gebildet, nach welchen die hiesigen sozialen und politischen Verhältnisse und damit die eigene Stellung darin beurteilt werden. Zum Einmaleins des demokratischen Nationalismus gehört dabei besonders die Frage der Nützlichkeit: was schadet dem nationalen Wohl oder was kommt ihm zugute? Nicht zuletzt wurde dies durch die Integrationsdebatte deutlich. Die Diskussionen von parlamentarischen Linken und Rechten ging immer nur um dieselbe Frage: Welchen Nutzen haben die Ausländer*innen für Deutschland? Dabei haben aber auch die linken Nationalist*innen nichts anderes zu sagen als: die bereichern unser Land -anstatt das nationalistische Argument zurückzuweisen. Deswegen ist unser Verhältnis zum Nationalismus aber nicht rein taktischer Natur. Der Nationalismus - und Ideologie im Allgemeinen - ist nicht einfach die Denke von manipulierten Subjekten, denen man nur erklären müsste, wie es mit der Wirklichkeit besteht, damit sie aus ihrem Dornröschenschlaf aufwachen. Ideologie ist überhaupt ein von dieser Gesellschaft hervorgebrachtes Bewusstsein von Individuen, die den gesellschaftlichen Widersprüchen von Lohnarbeit, kapitalistischer Konkurrenz und staatlicher Herrschaft unterlegen sind. Dass Ideologien vor allem aus den Widersprüchen dieser Gesellschaft zu erklären und zu kritisieren sind, heißt aber nicht, dass sie nicht eine gewisse Selbstständigkeit erlangen und sie somit nicht ausschließlich aus den politökonomischen Gegebenheiten ableitbar sind. Marx‘ Prognose aus dem Kommunistischen Manifest, dass die Klasse der Bourgeoisie „kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen [hat] als das nackte Interesse, als die gefühllose ‚bare Zahlung‘“1 scheint sich nicht bewiesen zu haben. Auch wenn der Marxismus grundsätzlich recht hat, dass diese ‚nackten Interessen‘ die Triebfeder der gesellschaftlichen Verlaufsfor1

Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, Stuttgart 1999. S.22.

men sind, zeigt sich, dass Ausbeutung in modernen kapitalistischen Gesellschaften des 20. und 21. Jahrhunderts in einer vorher nie gekannten Tragik durch politische Illusionen und brutale Ideologien verhüllt wurde. Eine kommunistische Politik, die ideologische Geflechte und damit das Bewusstsein als das entscheidende Moment für die Umwälzung moderner Herrschaftsformen begreift, steht deswegen angesichts der vorherrschenden ideologischen „Fetische“ vor dem Problem der revolutionären Praxis. Diese Zeitung und die damit verbundenen Veranstaltungen sollen einen Beitrag dazu leisten, kommunistische und antinationale Kritik in Bielefeld und Umgebung zur Diskussion zu stellen, um darüber hinaus mögliche Interventionsstrategien gegen den alltäglichen Wahnsinn zu entwerfen, den uns ökonomische und politische Strukturen zumuten. Vorerst sollte aber die Kirche im Dorf gelassen werden. Und deswegen haben wir uns angesichts des ganzen Geredes von Gemeinwohl, das einem täglich in Medien und Politik als ultimatives Argument der verschiedensten Interessen daher kommt, die einfache Frage gestellt: „Was interessiert mich Deutschland!?“ In dem Text stellen wir dar, wie Nationalismus mit bürgerlichem Staat und kapitalistischer Produktion vermittelt sind. Im Rahmen der Kampagne des kommunistischen „…umsGanze!“-Bündnisses „Vielen Dank für die Blumen!- Gegen Integration und Ausgrenzung“, haben wir im April eine Diskussionsveranstaltung zum Thema Rassismus und Sozialchauvinismus veranstaltet. Der Text „Leistung oder ich schiesse!“ ist als Zusammenfassung der Diskussion gedacht. Ilka Schröder, die am 6. Oktober in Bielefeld mit Thomas Ebermann und Renate Dillmann auf einem Podium zum Thema Nationalismus diskutieren wird, haben wir vorab interviewt. Weil die Diskussionen um Nationalismus eine ganze Menge Wissen voraussetzen, haben wir Oliver Barth eingeladen, um mit ihm im Rahmen eines Tagesseminars zu Materialistischen Theorien über Staat und Nationalismus Grundsätzliches zu diskutieren. Kritik beinhaltet aber nicht nur trockene Theorien. Und deswegen kommen am „Tag der deutschen Einheit“ Thomas Ebermann und Rainer Trampert, um mit einer satirischen Lesung eine kritische Perspektive auf „20 Jahre grosses Deutschland“ zu werfen. Desweiteren kommen verschiedene befreundete Gruppen in Gastbeiträgen zu Wort.


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Was interessiert mich Deutschland!? Positionsbestimmungen gegen Staat, Nation und Kapital


05  Was interessiert mich Deutschland!?

JJ Sich zu Deutschland positiv zu stellen, ist mittlerweile common sense im reunionierten Deutschland. Während zu Zeiten des kalten Krieges deutsche Vaterlandsliebe noch den anrüchigen Beigeschmack des völkischen Vernichtungskriegs der Nazis besaß, ist davon nach 21 Jahren deutscher Einheit nicht mehr viel zu vernehmen. Zu allen möglichen sportlichen und politischen Events feiern sich die Deutschen heutzutage als ‚weltoffene Nation‘, dessen demokratischer Charakter nirgends bezweifelt wird. Begraben wurde auch die letzte Skepsis der ehemaligen Erzfeinde Frankreich und Großbritannien gegenüber deutscher Großmachtpolitik und dem dazugehörigen Nationalismus mit den NatoKriegseinsätzen Ende der 90er Jahre. Aber nicht nur die internationale Skepsis wich. Nachdem die nationalistische Feierei der Wiedervereinigung abgeklungen war und in rassistische Pogrome überging, stellte sich die Zivilgesellschaft mit Lichterketten gegen den Rassismus und warb für ein neues, tolerantes Deutschland, während ihre Politiker*innen die Asylgesetzgebungen verschärften. Nur ein marginalisierter Haufen Linksradikaler bemühte sich unter der Parole „Nie wieder Deutschland!“ gegen die notwendigen Übel von Staat, Nation und Kapital vorzugehen. Dies geschah jedoch hauptsächlich mit dem Verweis auf eine geschichtliche Kontinuität, an dessen Ende das Wiedererstarken eines vierten Reichs stünde. Die BRD zeigte jedoch, dass sie durchaus im Stande ist auf demokratischem Wege eine nach innen und außen erfolgreich funktionierende Volkswirtschaft aufzubauen, die sich auf die dafür notwendigen heimischen Parteigänger*innen des nationalen Gemeinwesens verlassen kann und sie auch braucht, um den Zwangszusammenhang der kapitalistischen Klassengesellschaft sicherzustellen. So pflegen hierzulande alle Parteien und gesellschaftlichen Akteure ihre Form des Nationalismus, weil sie für ihr Fortkommen in der kapitalistischen Gesellschaft, durch Hauen und Stechen gekennzeichnet, einem höheren Wesen danken: der Nation. Das Gros der Staatsbürger*innen stellt sich affirmativ zu ihrer Nation und sie weisen jeden Vorwurf des Nationalismus zurück, weil man sich als patriotisch versteht. Während der Nationalismus als eine besonders aggressive und chauvinistische Ideologie, die lediglich von einigen Extremist*innen praktiziert werde, besonders vehement von allen etablierten Parteien abgelehnt wird, ist der Patriotismus die akzeptierte Form der Vaterlandsliebe. Die Unterschiede zwischen beiden sind aber tatsächlich keine wirklichen, sondern nur von den bürgerlichen Idealist*innen halluzinierte, die sich ihre Freude für den demokratisch

verwalteten Kapitalismus und dessen Erfolge in der internationalen Konkurrenz nicht von Neonazis kaputt machen lassen wollen.

Deutsche Spezialitäten Nationalbewusstsein konstituiert sich aber besonders in Deutschland stärker über den positiven Bezug auf die nationale Volks- und Kulturgeschichte, die als Beweis für den quasinatürlichen Charakter der deutschen Nation herhalten muss, als über die politische Verfasstheit des Staates, wie es in Frankreich oder den USA der Fall ist. So müssen auch heute noch Varus-Schlacht oder das tausendjährige Deutsche Reich für die nationale Selbstinszenierung herhalten. Da Nazifaschismus und der damit verbundene Massenmord dafür aber kaum von Nutzen sind, wurde im offiziellen Geschichtsbild aus der nationalen Schuld eine nationale Verantwortung; eine Lehre, die aus der Geschichte zu ziehen sei. Auf diese Weise hat es der offizielle demokratische Nationalismus Deutschlands fertig gebracht seiner Geschichte etwas positives abzugewinnen. So wurde beispielsweise der Nato-Einsatz im Kosovo 1999 durch Außenminister Fischer mit der historischen Verantwortung legitimiert, dort „ein neues Auschwitz verhindern“ (Fischer) zu müssen. Sicherlich ist jede Form von Nationalismus immer konkret an die historisch-politischen Besonderheiten gebunden, auf die sich die nationale Geschichtsschreibung bezieht und unter welchen Bedingungen sich dort die Staatsnation formiert hat. Der deutsche Nationalismus scheint auf dieser Ebene einer der reaktionärsten Ausformungen unterlegen zu sein. Schließlich ist es nicht unplausibel den Nazifaschismus im Nachhinein als Folge einer „verspäteten Nation“(Plessner) zu verstehen, welche ihr Selbstverständnis hauptsächlich negativ über die gemeinsame Ablehnung von westlichen Idealen (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) oder gar anderen Völkern bestimmt und sich in der Betonung des eigenen „Volkstums“ ausdrückt. Ohne geschichtsdeterministische Argumente lässt sich die Singularität solcher Verlaufsformen jedoch nicht nachweisen, da sie auf der Suche nach immer neuen kausalen Zusammenhängen in einer zirkulären Erkenntnis des „und dann, und dann…“ verhaftet bleiben, von der aus vieles als historische Notwendigkeit erscheinen mag. Welches Argument führt eine antinationale Kritik dann noch an der Nation, wenn sie den Nationalcharakter, den sie als adäquates Bewusstsein der von Staat, Nation und Kapital zugerichteten Individuen kritisieren will, als quasinatürliches, überhistorisches ‚deutsches Wesen‘ umdeutet

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Der nach der friedlichen Übernahme des Staatsgebietes der DDR forcierte Nationalismus scheint dagegen kaum in solchen historischen Kontinuitäten zu verharren. Wenn auch die Pogrome, die rassistische Politik und das Erstarken der Faschos Anfang der 90er Jahre in dem Kontext der deutschen Wiedervereinigung zu sehen sind, zeigt dies viel weniger auf, wie stark deutscher Nationalismus noch in völkischen Ideologien verhaftet war oder ist, als dass auch demokratische Verhältnisse nicht vor Rassismus schützen, weil sie dessen Voraussetzungen gar nicht in Frage stellen. Sie basieren ebenso auf der nationalen Verwaltung der kapitalistischen Ökonomie, die die Menschen in In- und Ausländer*innen sortiert und die gesellschaftliche Entzweiung in Lohnarbeit und Kapital objektiv in einen gewaltsamen Zusammenhang bringt und deswegen subjektive Parteilichkeit für diesen erfordert. „Wenn die nationale Borniertheit überall widerlich ist, so wird sie namentlich in Deutschland ekelhaft, weil sie hier mit der Illusion, über die Nationalität und über alle wirklichen Interessen erhaben zu sein, denjenigen Nationalitäten entgegengehalten wird, die ihre nationale Borniertheit und ihr Beruhen auf wirklichen Interessen offen eingestehen.“ –Karl Marx, Die deutsche Ideologie Die Frage nach welchem Maßstab der deutsche Nationalismus zu kritisieren sei, ist deswegen gar keine ausschließende. Wenn er als spezifisch deutscher Nationalismus auftritt, wie ihn schon Marx beschrieb, muss er als solche konkrete Form kritisiert werden. Die viel grundsätzlichere, allgemeinere Funktion des Nationalismus als notwendiges, aber falsches Bewusstsein einer bürgerlichen Gesellschaft über sich selbst geht dieser Kritik jedoch voraus. Anhand der Funktion des bürgerlichen Staates für die kapitalistische Konkurrenz und des Standpunktes, den die Insassen dieses gewaltmäßig garantierten Zusammenhangs dazu einnehmen, wenn sie ihn nicht kritisieren, soll im Folgenden erläutert werden, was den Nationalismus zu diesem notwendig falschem Bewusstsein der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft macht.

ask not what your country can do for you, ask what you can do for your country. (Kennedy) Wie bereits angedeutet, ist der Nationalismus nicht einfach eine Ideologie unter vielen, im Sinne einer gesonderten Meinung über die


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06  Was interessiert mich Deutschland!?

Verwaltung der Nation und ihrer Politik, auch wenn dies im Fall der Faschist*innen durchaus zutrifft, sondern er ist allgemein notwendige Denk- und Verkehrsform der zu Staatsbürgern degradierten Individuen. Indem die Leute im demokratisch verwalteten Kapitalismus dazu gezwungen sind, ihre Interessen vom Standpunkt des Staatsbürgers aus und nicht vom Standpunkt ihres tatsächlichen Partikularinteresses zu vertreten, sind sie überhaupt zum nationalistischen Denken verdammt. Das heißt aber eben nicht, dass sie besonders üble Hetzer*innen gegen andere Nationen sein müssen oder sich als Teil eines völkischen Kollektivs verstehen. Entscheidend für diesen staatsbürgerlichen Standpunkt des Nationalismus ist der Glaube an das allgemeine Interesse, welches ideell im nationalen ‚Wir‘ halluziniert wird. Dass von diesem ideellen Standpunkt des allgemeinen Interesses aus gedacht wird, ist in einem Land, wo Staat und Kapital sich überhaupt erst einmal durchgesetzt haben, auch gar kein großes Wunder, weil mit der Durchsetzung ihrer Herrschaft ja schon gesagt ist, dass es eine Gesellschaft gibt, die sich den Prinzipien der Herrschaft von Staat und Kapital untergeordnet haben muss: Das Denken der Leute ist ein Resultat ihres eigenen Bemühens, sich mit der Herrschaft zu arrangieren, sich ihr positives Bild von ihr zu machen. Weil die kapitalistische Konkurrenz freie und gleiche Rechtssubjekte und keine Sklaven oder Leibeigene zur Voraussetzung ihres Funktionierens hat, beherrscht der bürgerliche Staat seine Bürger*innen mit den Prinzipien der Freiheit und Gleichheit. Sie sollen als Privateigentümer*innen auf dem Markt ihre Waren anbieten, kaufen und verkaufen, und so verordnet er die dafür notwendigen Rechte und Pflichten. Diese verordnete Freiheit der Bürger*innen wird jedoch nicht materiell gewährleistet, sondern bleibt formal, von dem Willensinhalt der Bürger*innen getrennt. Sie basiert auf dem gesellschaftlichen Ausschluss von den Gütern und Produktionsmitteln, die man bräuchte, um den Inhalt des Wollens auch in die Realität umzusetzen. Die Freiheit des bürgerlichen Staates bedeutet deswegen auch lediglich die Freiheit zu besitzen, sich zu verdinglichen und seine eigene Meinung bilden zu dürfen, das heißt sich gute Gründe für seine Position in der gesellschaftlichen Hierarchie zurechtzulegen. Und so ist der Idealismus in der bürgerlichen Welt überhaupt eine Begleiterscheinung des Materialismus. Man schreibt den Dingen, die man vorfindet, immer irgendwelche positiven Attribute zu, die sie gar nicht verdienen. Das trostlose Tun der Lehrer*innen, ihre Schüler*innen in die gesellschaftlichen Berufshierarchien einzusortieren oder das der Angestellten, für ihren Betrieb

eine möglichst günstige und trotzdem effektive Produktivkraft abzugeben, wird immer noch mit den Idealen der Selbstverwirklichung durch Arbeit oder dem Beitrag zu einer guten Sache gerechtfertigt. Und so wie sich jeder selbst einen höheren Grund ausdenkt, der sein Fortkommen legitimiert, so hat ihn die bürgerliche Gesellschaft im Nationalismus gefunden. Dieses Ideal des nationalen ‚Wirs‘ ist aber nicht ganz aus der Luft gegriffen. Objektiv sind die Staatsbürger*innen in ihrem materiellen Fortkommen auf den Erfolg des Standorts Deutschlands angewiesen, weil ihre Existenz im Kapitalismus von Arbeitsplätzen, staatlichen Transferleistungen oder Bildungschancen abhängig ist. Denn der Nationalstaat ist der primäre Bezugsrahmen für jede kapitalistische Ökonomie, wie wir sie heute vorfinden. Die tatsächlichen Klassengegensätze, die die Privatwirtschaft notwendig hervorbringt, werden durch diese nationale Reichtumsproduktion objektiv überlagert. Der Wunsch, dass „alle in einem Boot“ sitzen, illustriert die nationalen Ansprüche, die sich die Staatsbürger*innen gegenseitig aufbürden. So verstehen sich alle zuallererst als Deutsche, weil sie sich als Betroffene ihres schicksalshaft erscheinenden Zusammenhangs sehen müssen, wenn sie sich einen Reim darauf machen wollen, warum ihre Partikularinteressen als Angestellte oder als Unternehmer*innen nicht zur Geltung kommen. Nationalismus will aber nicht nur den Misserfolg der Staatsbürger*innen in der kapitalistischen Konkurrenz legitimieren, indem er dessen Ursache im schlechten Zusammenspiel der dem Gemeinwohl verpflichteten Interessen sieht. Vielmehr wird die positive Stellung zu dem Projekt Nation als Voraussetzung des Funktionierens dieses gewaltmäßigen Zusammenhangs ins Feld geführt. Deswegen kennen die gesellschaftlichen Akteure, von Gewerkschaften über Unternehmerverbände und Beamte, keinen anderen Legitimationsgrund für ihr gefordertes Stück vom Kuchen, als die Selbstvergewisserung, dass ihr Interesse auch für die Nation dienlich sei. Auf diese Weise ordnen sich die bürgerlichen Subjekte willentlich demokratischer Herrschaft unter.

Eine Frage der Gewalt Die Verhältnisse in einem kapitalistischen Staat sehen aber weniger rosig aus, als es sich die „normalen“ Nationalist*innen vorheucheln. Dass die ‚Errungenschaften‘ der Gewerkschaften oder der sozialen Marktwirtschaft die klassenspezifische Armut der Lohnabhängigen abschaffen könnten, gar die Illusion, dass es heute überhaupt keine Klassen mehr gäbe, hat sich tief in die herrschenden Bewusstseinsformen eingebrannt.


07  Was interessiert mich Deutschland!?

Tatsächlich aber funktioniert das ganze Spiel wie eh und je, nur unter anderen Vorzeichen der Produktivkraftentwicklungen, die dazu geführt haben, dass das Proletariat in der Masse nicht mehr, wie bis ins 20. Jahrhundert hinein, ein Haufen verelendeter und unqualifizierter Schichtarbeiter*innen ist. Der größte Teil der Gesellschaft verkauft seine Arbeitskraft an den anderen Teil der Gesellschaft, der die Geld- und Produktionsmittel besitzt oder verwaltet. Ob der Betrieb aber anstellen und bezahlen kann, hängt von seiner Konkurrenzfähigkeit ab - und diese wiederum von staatlicher Regulierung. Der ‚Heißhunger‘ des Kapitals würde ohne staatliche Verordnungen, die es den Arbeiter*innen ermöglicht die Normierung des Arbeitstages durch Arbeitskämpfe und Tarifverträge festzulegen, zur tendenziellen Vernichtung seiner ureigensten Quellen führen. Weil aber damit die Zerstörung der Basis seines eigenen Reichtums, also der Natur und der menschlichen Arbeitskraft, einherginge, begrenzt der bürgerliche Staat die Ausbeutung durch seine Gewalt, damit sie überhaupt stattfinden kann. Mit seinem Instrumentarium an Gesetzen und Verordnungen, Polizei und anderen Beamten, sowie dem Justizapparat werden die ganzen ökonomischen Verkehrsformen zwischen Käufern und Verkäufern, Eigentümern und Besitzlosen verrechtlicht, damit sie überhaupt funktionieren können und sich die Gesellschaftsmitglieder nicht gegenseitig in ihren unversöhnlichen Interessen zerfleischen. Der eigentliche Gegensatz besteht aber nicht, wie es die bürgerliche Philosophie und Sozialwissenschaft behauptet, in den grundsätzlichen persönlichen Interessengegensätzen, die in der Natur des Menschen zu verorten seien und durch den Heilsbringer des modernen Staates praktisch ausradiert werden. Sie bestehen zwischen der Klasse der Lohnabhängigen und der Lohngebenden, also besitzenden Klasse. Der sich darauf aufbauende Widerspruch zwischen Besitz und Nicht-Besitz der zum Leben notwendigen Gebrauchswerte konstituiert die ganze kapitalistisch produzierende Gesellschaft. Dem Lohnabhängigen reicht sein verdientes Geld, wenn er überhaupt noch Arbeit findet, immer gerade zur Reproduktion seiner Arbeitskraft, weil die Unternehmer*innen ihm immer nur gerade so viel zahlen können, dass sie noch ihren Gewinn machen. Nur hängt es nicht an ihrem persönlichen Willen, ob und wie stark sie ausbeuten. Als austauschbare ‚Charaktermasken‘ dieses unpersönlichen Produktionsverhältnisses vertreten sie die Interessen des Kapitals, dessen Schergen auch sie nur sind, weil sie durch die Konkurrenz zu anderen Unternehmen dazu gezwungen sind die Kosten niedrig zu halten, damit der Gewinn möglichst

hoch ausfallen kann. Nur deswegen ist das bekannte Argument des Sachzwangs, das regelmäßig zur Rechtfertigung von Politik oder massenweisen Entlassungen herhalten muss, ein so überzeugendes. Grundsätzlich mangelt es den Nichtbesitzenden aber nicht an Arbeitsplätzen, sondern nur an einem: An den ausreichenden Geldmitteln, weswegen sie gezwungen sind, sich auf Lohnarbeit einzulassen. Sie sind damit systematisch von den Mitteln ihr Auskommen zu sichern ausgeschlossen, weil sie immer abhängige Variablen vom Kapital sind. Warum eine so konstituierte Gesellschaft aber überhaupt funktionieren kann, ist eine Frage der Gewalt und des von dieser Gewalt zugerichteten Bewusstseins: bürgerliche Ideologie, sich noch über jedes materielle Interesse hinwegsetzen zu wollen, um es einem höheren Ideal unterzuordnen. Die Gewalt von bürgerlich-demokratischem Staatswesen und Kapital sind ja gerade nicht als solche persönlichen Abhängigkeitsverhältnisse zu charakterisieren, wie sie aus vorbürgerlichen oder diktatorischen Regimes bekannt sind. An die Stelle der willkürlichen Gewalt der Herrschenden über ihre Untertanen trat eine Form der subjektlosen Gewalt des Rechts und des gesellschaftlichen ‚survival of the fittest‘, welches es allein vermochte ein Vertragsverhältnis sicherzustellen, das Arbeitnehmer und Arbeitgeber eingehen, weil sie es um der Produktion von Mehrwert willen müssen. Nur als Freie und Gleiche können die Eigentümer*innen von Produktionsmitteln und die, denen außer ihrer Arbeitskraft nicht viel gehört, sich auf dem Markt gegenübertreten, um Geld gegen Arbeitskraft zu tauschen. Denn das ganze Prinzip der freien Konkurrenz basiert auf der zahlungsfähigen Verfügbarkeit über die Mittel, die man benötigt, um in der Konkurrenz der Eigentümer*innen zu bestehen. Weil die Arbeitskräfte für die Funktionäre des Kapitals aber auch nur Mittel zum Zweck der Kapitalanhäufung sind, bedeutet diese staatlich garantierte Freiheit des Eigentums für die meisten gerade die Freiheit vom Eigentum und damit die Entbehrung jeglicher Verfügungsgewalt über die für das eigene Leben notwendigen Mittel. Mit der rechtlichen Gleichstellung der Subjekte und damit der Unterordnung jedes Partikularinteresses unter das des Staates erhält er die kleinen und großen materiellen Unterschiede in der Gesellschaft. Das heißt, dass der Staat zwar einerseits eine Position einnimmt, die von den gesellschaftlichen Widersprüchen abstrahiert - er ist nicht Parteigänger für irgendeine Klasse. Aber dadurch, dass er die Klassengegensätze nicht antastet, sondern organisiert, ihnen eine gewaltmäßig gesicherte Ordnung

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gibt, gewährleistet er überhaupt die Herrschaft des Kapitals über die Arbeit und nimmt die Form eines ‚ideellen Gesamtkapitalisten‘ an. Er überbrückt die gesellschaftlichen Widersprüche, indem er den Staatsbürger*innen die Freiheit des Dürfens aufzwingt. So gibt er beispielsweise dem Klassenkampf die rechtliche Form des Tarifvertrags, mit dem sich Gewerkschaften und Unternehmerverbände arrangieren, weil sie es müssen. Er nimmt sich mit seinen Sozialsystemen überhaupt dem ganzen Problem der Armut in der Gesellschaft an, aber nicht um es abzuschaffen, sondern um dessen Voraussetzungen zu erhalten.

Es rettet uns kein höheres Wesen Nationalismus ist also überhaupt eine unangenehme Angelegenheit. Was also interessiert mich Deutschland? Die kategorische Zustimmung zu einem Zwangskollektiv, das mir eigentlich nur Schaden zufügt - das ist schon ein absurdes Unterfangen. Dass die wohlwollende Haltung der Leute dazu ungebrochen bleibt, selbst wenn sie versuchen eine Kritik zu üben, ist allerdings keine Psychomacke. Um sich von dieser Denkform zu lösen reicht es nicht aus, ihre irrationalen Verlaufsformen zu blamieren. Das grundlegende Prinzip, von einer materialistischen Basis aus zu kritisieren, also von den objektiven Notwendigkeiten der von Staat und Kapital gesetzten gesellschaftlichen Zwänge her, bleibt unerlässlich. Erst damit ist Nationalismus als Ideologie, also einem notwendig falschen Bewusstsein über die Zustände dieser Gesellschaft, zu verstehen. Es ist es unser Anliegen das Bewusstsein in die Gesellschaft hineinzutragen, sich nicht mehr von höheren Zwecken bestimmen zu lassen, nicht mehr Objekt der Geschichte zu sein, sondern die Geschichte selbst in die Hand zu nehmen. Dies meint der Begriff des Kommunismus. Solange die Zwecke kapitalistischer Ökonomie und damit die rastlose Verwertung des Werts über den Menschen herrschen, die der Staat mit seinem Gewaltmonopol garantiert, bleibt diese Perspektive bloße Utopie.


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Was heißt hier eigentlich „Wir“? Podiumsdiskussion zur Kritik der Nation Deutschland ist angekommen. Nach NS-Faschismus, Krieg, und der darauf folgenden vierzigjährigen Teilung in BRD und DDR ist Deutschland nun mehr seit zwanzig Jahren nicht nur eine etablierte „souveräne“ Staatsnation unter vielen in Europa, sondern eine Weltmacht, ohne die in Europa nichts mehr läuft. Wie der für dieses nationale Projekt adäquate Nationalismus zu kritisieren sei, ist nicht nur in linksradikalen Debatten hart umstritten. Das vierte Reich, das Ende der 80er Jahre bis in die Sozialdemokratie hinein mit der „Wiedervereinigung“ erwartet wurde, blieb aus. Die Ansprüche auf die deutschen Ostgebiete wurden zurückgeschraubt und die DDR wurde mit freundlicher Unterstützung der Blockparteien an die BRD und damit an die Nato angegliedert. Damit einher gingen rassistische Pogrome, die nicht zuletzt durch verschärfte Asylgesetzgebungen in den frühen 90ern von Staatswegen geschürt wurden. Die Nazis bekamen mehr und mehr Zulauf, organisierten sich und zündeten Asylbewerberheime an. Die deutsche Bevölkerung schaute mehrheitlich zu oder bildete Menschenketten. Damals wurde dieser im Zuge der „Wiedervereinigung“ aufkommende Nationalismus und Rassismus von der antinationalen Linken als Beleg für die Kontinuität eines deutschen Vernichtungswahns gedeutet, der sich, wenn er erst die Gelegenheit dazu bekommen sollte, auch nicht halt machen würde vor Gaskammern und KZs. Gleichzeitig entwickelte sich die BRD zu einem in der NATO akzeptierten Einsatzpartner für Kriege in aller Welt. So wollte es die Ironie der Geschichte, dass gerade eine SPD-Regierung den dritten deutschen Kriegseinsatz auf serbischen Boden und den ersten Krieg mit deutscher Beteiligung seit 1945 zu verantworten hatte. Gerechtfertigt wurde er in der Öffentlichkeit durch die ‚historische Verantwortung‘, die Deutschland habe und wegen der nun in anderen Ländern Auschwitz verhindert werden müsse. Dieses positive Umdeuten des Holocaust zum ideologischen Bezugspunkt einer Rechtfertigung deutscher Interessen, bildete eine neue Basis für Diskussionen um den besonderen

Charakter des deutschen Nationalismus: Da ein wesentliches Element des Nationalismus der positive Blick auf die eigene nationale Geschichte darstellt, musste in Deutschland jeder Nationalismus in eine Relativierung des Holocaust münden. Weil es in Deutschland keinen Bruch mit dem NS und dem völkischen Nationalismus gab, sondern nur einen militärischen Sieg über den Faschismus, legitimiere sich der deutsche Nationalismus nie ausschließlich über das republikanische Erbe, sondern deute jede deutsche Tat als deutsche Verantwortung. Dieses Verantwortungsbekenntnis bedeute jedoch nicht die Einsicht in die Gründe für Krieg, Rassenmord und Nationalismus, sondern gerade das reinwaschen der eigenen Geschichte. Neben den Fragen der spezifischen Besonderheit des deutschen Nationalismus soll auf dem Podium auch über die Funktionsweisen des Nationalismus als notwendig falsches Bewusstsein diskutiert werden, als welches er in der bürgerlich kapitalistischen Gesellschaft zutage tritt. Nationalismus als die vom Standpunkt des Staatsbürgers aus begründete Parteilichkeit für die eigene Nation, die die Widersprüche zwischen Kapital und Arbeit dem höheren Ideal des nationalen Gemeinwohls unterstellt. Aber was macht ihn dabei notwendig? Wie vermittelt sich dieses Bewusstsein? Sind die Staatsbürger*innen per se Nationalist*innen, weil ihr individuelles Fortkommen im Hauen und Stechen der kapitalistischen Konkurrenz vom nationalen Erfolg des Staates in der Weltmarktkonkurrenz abhängt, oder ist Nationalismus ein viel weniger auf ökonomischen Erfolg schielendes Bedürfnis nach quasi natürlichen Rechtfertigungen, weil die ökonomischen Zwänge den Individuen wie Naturgewalten entgegenstehen? Inwiefern ist mittlerweile, auch im Zusammenhang der EU, eine „gemeinsame“ europäische oder allgemein westliche „Kultur“ ein entscheidender Bezugspunkt zur Rechtfertigung nationaler Interessen und Identitäten? Podiumsdiskussion mit: Ilka Schröder (Jungle World, Konkret) Thomas Ebermann (Konkret) Renate Dillmann (Redaktion Gegenstandpunkt) Donnerstag, 06.10.2011 Murnausaal der VHS Bielefeld 19:00 Uhr


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„Standort-Politik heißt, den ‚eigenen‘ Leuten ordentlich etwas zuzumuten“ Interview mit Ilka Schröder

Am 6. Oktober kommt Ilka Schröder nach Bielefeld, um auf einer Podiumsveranstaltung mit Thomas Ebermann und Renate Dillmann über Nation, Nationalismus und die deutschen Zumutungen zu diskutieren. In einem Interview haben wir sie zu deutschem Imperialismus und der Frage, wie Nationalismus vermittelt ist, befragt. Ilka, Du warst von 1999 bis 2004 Mitglied des europäischen Parlaments und hast Dich dort und in deinem Buch „Weltmacht Europa – Hauptstadt Berlin?“ vor allem gegen

Deutschlands Großmachtbestrebungen via EU stark gemacht. Wie sehen diese Bestrebungen in etwa aus, und was ist so gefährlich an einer deutschen Vormachtstellung in Europa? Deutschland will ein Player auf dem Weltmarkt sein – politisch, ökonomisch und militärisch – und dafür nutzt es es die EU. Diese Bestrebungen sind für die meisten eine unangenehme Angelegenheit – und zwar nicht nur für die Opfer von Kriegen unter deutscher Beteiligung. Politisch führend sein zu wollen, heißt imperialistisch aktiv zu sein, wo immer sich die deutsche Regierung etwas davon verspricht. Das kann eine Enthaltung zum Einsatz im libyschen Bürgerkrieg beinhalten – durchaus auch gemünzt gegen den wichtigen

innereuropäischen Konkurrenten Frankreich –, um dann diplomatisch bereit zu stehen und die Verhältnisse in Nordafrika als „neutraler Vermittler“ nach den eigenen Vorstellungen prägen zu können. Zu diesem imperialistischen Paket gehört weiterhin alles mögliche von Flüchtlingsabwehr (meist in großer Einmütigkeit innerhalb Europas vorangetrieben) bis zu Freihandelsabkommen mit dem europäischen „Hinterhof“ in Nordafrika. Oder die deutsche Außenpolitik unterstützt nationalistische Bewegungen, wenn sie sich davon ein Mehr an Einfluss verspricht – und macht das gerne auch mal federführend und mit Druck auf die EU-Partner wie in Ex-Jugoslawien. Oder aber Griechenland werden die Bedingungen fürs Sparen serviert, damit die gemeinsame


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Währung halbwegs stabil und damit Deutschland ökonomisch attraktiv bleibt, statt schwache Konkurrenten zu sehr subventionieren zu müssen. Aber nicht nur in Krise macht sich das Schwergewicht Deutschlands für andere EU-Partner bemerkbar. Jene haben zwar auch ihr Kalkül: für einen Anteil am Machtblock EU eine deutliche Unterordnung gerade unter Deutschland und andere große Staaten in Kauf nehmen. So widerlich das diplomatische und militärische Tagesgeschäft schon ist, bedeutet das nicht, dass wenigstens die Leute im Inland verschont blieben. Innerhalb Europas den Ton anzugeben und diese Position mindestens halten zu wollen, kann Maßnahmen wie HartzIV zur Folge haben. Standort-Politik heißt, den „eigenen“ Leuten ordentlich etwas zuzumuten, um für das eigene wie für fremdes Kapital attraktiv zu bleiben. Besonders unangenehm sind dabei drei Punkte: Erstens sind aufstrebende Mächte in der Regel besonders bemüht, den eigenen Imperialismus hinter der Fassade des Weltrettens zu verstecken, die eigene Machtpolitik mittels Menschenrechtspolitik zu verkaufen – ganz so, als ginge es dabei um das Wohlergehen von Einzelnen. Zweitens – und das ist eine deutsche Besonderheit – unterfüttert man die Außenpolitik gerne mit dem Argument, man müsse ein neues Auschwitz verhindern. (Was so richtig nachhaltig ginge, wenn man die Verhältnisse abschaffte, die nur weiter zugespitzt wurden im Mordsprogramm des Nationalsozialismus.) Drittens hat Deutschland hier und da gute Erfahrungen mit einer Ethnisierungspolitik als möglichem Einmischungstitel auf dem diplomatischen Parkett gemacht und setzt diese weiterhin gerne ein. Inwiefern hängt der hiesige Nationalismus, der sich mittlerweile nur noch schwer als ein völkischer charakterisieren lässt, mit diesen Entwicklungen zusammen? Nationalisten drücken durchaus fortwährend die Daumen fürs weltweite Vorankommen des nationalen Kollektivs. Sie brauchen keinen Weltmachtstaat, um ihre Fähnchen zu schwenken und sich begeistert unterzuordnen. Eher andersrum: der Nationalismus wird gerne nochmal so richtig aufgefahren, wenn die eigenen Leute auf dem Weltmarkt oder dem Schlachtfeld gerade nicht den beanspruchten Erfolg haben. Allerdings lässt sich feststellen, dass sich die genannten ideologischen Begründungen für die deutsche Außenpolitik im Selbstverständnis vieler „Deutscher“ widerspiegeln. Etwa im ordentlich geschönten Bild von den weltweiten Aktivitäten des deutschen Militärs, Kapitals und der politischen

Interessenvertretung. Aber im Wesentlichen sind die imperialistischen Bestrebungen Deutschlands genau so normal wie die außenpolitischen Bemühungen anderer Staaten. Und so verhält es sich auch mit dem hiesigen Nationalismus in Relation zu dem der Konkurrenten. Zumindest in den westlichen Staaten versprechen sich allerdings die meisten Nationalisten tatsächlich noch etwas davon, dass sie auch zu ihrem Zwangskollektiv gehören – wie widerlich vermittelt, zurechtgestutzt und gemein auch immer. Nur deswegen ist antinationale Aufklärung in einem erfolgreichen Deutschland noch ein bisschen schwieriger als sonst auch schon. Viel spricht für die These, dass die positive Stellung der Bürger*innen zu ihrer Nation in ihrer Abhängigkeit vom Erfolg der Nationalstaaten in der internationalen Konkurrenz gründet, wie es in der … umsGanze! Staatsbroschüre diskutiert wurde. Worin siehst Du das vermittelnde Moment, das Ja zu einem „Wir“, in welchem wir Kommunist_Innen nur Gegensätze sehen? In dieser Analyse des Nationalismus wird dann aber der zweite Schritt ohne den ersten gemacht: Der positive Bezug kommt schon im direkten Verhältnis von Menschen zur vorgestellten und wahrgemachten eigenen Nation zustande und nicht erst über die Weltmarktkonkurrenz. Das passiert an drei Ecken: Staaten erklären immer wieder per herrschaftlichem Akt, wer zu ihnen als Bürger gehört. Weil aber in liberalen Demokratien so viel Wert auf die Legitimierung gelegt wird, also tatsächlich jene, die die Herrschaft ausüben, eben von den Bürgern ausgesucht werden, erscheint das Verhältnis als ein frei gewähltes. Damit geht unter, was dieses Verhältnis der Sache nach ausmacht: Der Pass ist ein Bezug auf den eigenen Staat, der ganz prinzipiell eine Unterordnung unter seine Gesetze verlangt. Dabei könnte man sich noch an die Spielregeln halten, das Ganze aber kritisieren – also einen kalkulierenden Staatsbezug einnehmen, statt das Unterordnungsverhältnis auch noch toll zu finden. Aber unter Konkurrenzbedingungen im Inlandist genau diese Affirmation so naheliegend: Der Staat erscheint als der Retter in der Not, wenn auf dem freien Markt mit zu harten Bandagen gekämpft wird. Und in der Tat ist er ja derjenige, der die Konkurrenzsubjekte erhält. Nur so kann man auch die eigentlich absurde Einsicht in den eigenen Verzicht haben, also anerkennen, dass kapitalistisches Recht, auch wenn es einen selber beschneidet, am Ende doch etwas Gutes sei. Damit hat man allerdings schon den Pakt mit dem Teufel

unterschrieben, weil das genau der Schutz für den Einzelnen Konkurrenzsubjekt(und auch das nur austauschbar durch andere Vertreter der eigenen ökonomischen Klasse) bedeutet – und nicht etwa Schutz für Menschen als Menschen. Diese Einsicht in den Verzicht hat auch nichts mit einer netten Geste gegenüber Bedürftigem zu tun, sondern sie erfolgt für den Kapital-Zweck. Es wird verzichtet, damit es mit Deutschland vorangehe. Die dritte naheliegende Frechheit liegt darin, diesem Zwangszusammenhang auch noch zuzuschreiben, dass seine Zwecksetzung – Kapital- und Machtvermehrung wie bei fast allen anderen Staaten auch – eine dufte Angelegenheit ist. Das kapitalistische Allgemeinwohl als ein Versprechen zu begreifen statt als das, was es ist: eine Zumutung. Diese drei Punkten – Nation als Kompliment statt als Unterordnungs- und Zwangskollektiv, Staat als Fairness-garantierende Instanz sowie nationale Kapitalakkumulation als erstrebenswertes Ziel, für das es sich klassenunabhängig als Teil der Nation lohnt zu verzichten – sind die geistigen Schritte, die noch fast jeder Nationalist hinlegt. Und das alles, obwohl so viel passiert, was diese Ideen täglich widerlegt: nämlich dass das nationale Vorankommen schon irgendwie gut sei für die Einzelnen. Das ist es, was an der Ums-GanzeThese zu Nationalismus nur negativ stimmt: Schmiert die nationale Ökonomie ab, geht es noch mehr Menschen materiell noch dreckiger. Der Aufschwung allerdings hält noch lange keine Lohnerhöhung oder Einstellungsgarantie bereit. Es gibt keine Garantie und nicht einmal notwendig eine höhere Chance, dass es vielen Leuten materiell wieder besser geht. Warum nicht, wo doch etwa die Arbeitslosenzahlen zu Boomzeiten regelmäßig zurückgehen? Weil das Kapital – bei Erfolg wie bei Misserfolg, also immer und grundsätzlich – mehr werden soll. Jede ökonomische Ausgangslage ist damit Anlass zu rationalisieren, zu kürzen, kurz: die Ausbeutung auf dem einen oder anderen Weg voranzutreiben. Denn sie ist und bleibt Quelle des Profits. Damit produziert auch der im Aufschwung frisch angestellte Arbeiter immer auch die ökonomischen Mittel für seinen Chef, so viel zu akkumulieren, dass jener diesen – ob durch Automation oder Rationalisierung oder Wechsel seines Kapitals in eine lukrativere Anlagesphäre – entlassen kann. Dieses Verhältnis entgeht auch den oben von Euch erwähnten Linken, die am republikanischen Nationalismus nicht wirklich was auszusetzen haben und auf den deutschen deshalb schimpfen, weil er sich gerade hinter der vorgeblichen Läuterung durch die Lehren aus Auschwitz gerne mal als ganz schön aggressiv herausstellt. Sie reden damit dem gemäßigten Nationalismus mindestens indirekt das Wort.


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Leistung oder ich schieĂ&#x;e! Rassismus und Sozialchauvinismus Bausteine kapitalistischer Integration


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JJ Agenda 2010, Abbau von Sozialstaatsleistungen, noch weniger Jobs, noch härtere Einschnitte, noch größere Sparauflagen - seit der Krise geht es schlechter. 2008 tötet ein Mann seine Frau aus Angst vor HartzIV. Im Mai 2011 wird eine Frau vor dem Frankfurter Jobcenter von Polizisten erschossen, nachdem sie nach einer vorangegangenen Auseinandersetzung mit dem Personal der Agentur ein Messer zog. Im Juli meldet die Tagesschau, dass die im europäischen Vergleich relativ stabile Wirtschaftslage in Deutschland nicht zuletzt der gut eingesetzten Zeitarbeit zu verdanken ist. Die Lage der Lohnabhängigen verschlechtert sich, prekäre Arbeitsverhältnisse nehmen zu. Während die USA schon als zahlungsunfähig gehandelt werden, erfreut man sich in Deutschland, „gestärkt“ aus der Krise hervorgegangen zu sein. In beiden Fällen bedeutet das für die Lohnabhängigen, den Gürtel enger zu schnallen, in der jüngeren bundesdeutschen Vergangenheit beispielsweise mittels Sparpaket und Gesundheitsreform. Der Grund dafür könnte simpler nicht sein: wie auch vor der Krise wird nicht für die Bedürfnisbefriedigung der Menschen produziert, sondern um Gewinne zu erzielen. Leute werden Überflüssig, weil sich ihre Arbeitskraft schlichtweg nicht rentabel einsetzten lässt. Allerdings wird eine gelungene Verwertung von Arbeit und Kapital in der Krise schwieriger, und was auch in „krisenfreien“ Zeiten als Kostensenkungsmittel gut funktioniert, kommt nun geballt zur Anwendung: wer eben noch gebraucht wird, wird mit harten Lohneinschnitten und Überstunden beglückt, der Rest geht, bzw. bleibt vor der Tür. Passend zum Hauen und Stechen um die Sicherung des eigenen materiellen Auskommens in der Konkurrenz, in der sich der Mensch unterm Kapital notwendig wiederfindet, ist der härter wehende Wind von einem ebenso derber werdenden Chor rassistischer und sozialchauvinistischer Hetze begleitet. Die Integrationsdebatte läuft in vollem Gange, und nicht nur ihre prominenten Vertreter*innen aus Wirtschaft und Politik wissen von „nicht-Integrierbaren“ aus „fremden Kulturkreisen“ und „Arbeitsunwilligen“ zu berichten, deren ökonomisches Scheitern durch individuelles Fehlverhalten, durch Herkunft und bisweilen sogar durch den Genpool (v)erklärt wird. Was immer die jeweils bevorzugten Erklärungsmuster der Diskutierenden von Stammtisch, Partei und Wirtschaftsweise seien, wie beherzt man sich gegenseitig auch vorwirft, den springenden Punkt zu verfehlen - in einem sind sie alle einig: es muss was geschehen mit denen, die dieser Gesellschaft keinen Nutzen bringen. Sie müssen schleunigst aus ihren Problemvierteln und sozialen Hängematten geholt und integriert werden,

sonst geht’s abwärts mit dem Projekt Wirtschaftsstandort Deutschland. Weswegen das vermeintliche Angebot der Integration ganz selbstverständlich in erster Linie das Einfordern einer Bringschuld ist. Da es für das Bruttoinlandsprodukt (BIP) grundsätzlich irrelevant ist, welche Herkunft, welche Hautfarbe oder welches Geschlecht „gute Leistung“ erbringt, wird staatlicher Logik folgend ganz klar nach ökonomischer Nutzenkalkulation sortiert. Dabei wird offenbar, was den Kern „unserer Gemeinschaft“ ausmacht, was also das Kriterium zur Diagnose ist, wie integriert eine*r ist: wie krumm man sich macht für den Erfolg nationaler Reichtumsproduktion. Bei knapper werdender Luft treten die Gebeutelten nach unten, wo es nur geht - kann doch die eigene Zugehörigkeit / Leistungsbereitschaft gerade durch Abgrenzung und gediegenes Denunziantentum unter Beweis gestellt werden. Besonders zu Zeiten der Krise lässt sich das gut beobachten, da ebendiese den Menschen erstens zeigt, dass der Zugang zum Reichtum einer Gesellschaft nicht garantiert ist – weil es jede*n treffen kann, plötzlich nicht mehr genug Kohle zu verdienen um zu konsumieren, weil die Firmenleitung achselzuckend auf die schlechten Zahlen verweist. Damit wird zweitens die eigene potenzielle Überflüssigkeit immer präsenter, wenn man sich nicht schon längt als „gescheiterte Existenz“ befragen lassen muss, ob man sich denn noch dazugehörig fühlt, so ganz ohne Job. Diese Überflüssigkeit wird dann, eben verklärt als individuelles Scheitern, in „mangelndem Integrationswillen“ oder einer nicht zu rechtfertigenden Faulheit gesucht. Integration soll hier Abhilfe verschaffen. Dabei ist Integration als Drohung zu verstehen, weil einem das, worin man integriert werden soll, nämlich in ein Kollektiv, das sich auf dem Weltmarkt zu behaupten hat, den ganzen Schlamassel erst einbrockt: sein Auskommen in Konkurrenz sichern zu müssen und zugleich mit ständigen Einschnitten und Zurückhaltungen das eigene potenzielle „Versagen“ abwenden zu wollen. All dem geht dabei noch voraus, ob die Frage der Integration überhaupt gestellt wird. Was davon abhängt zeigt sich an der Brutalität der Abschottung der europäischen Außengrenzen durch Frontex und der nationalen Abschiebepolitik. Als ideologische Entsprechung des ökonomischen Zwangs erscheinen die nationalistischen Ereiferungen gegenüber südeuropäischen Staaten, deren Wirtschaftspolitik bzw. der Arbeitsmoral ihrer Bevölkerungen, besonders aber die kulturalistischen Ausbrüche gegen türkische und arabische Migrant*innen folgerichtig. Ist man von dem Leistungsterror selbst noch eindeutig bedroht, kann eine leistungsunabhängige Zugehörigkeit

zur Mehrheitsgesellschaft und damit ein Anspruch auf Zugang zu staatlichen Hilfsleistungen durch rassistische und ethnisierende Ausschlüsse konstruiert werden. Dass es dann aber doch wieder die Leistung sein soll, die Dazugehörig macht, „beweisen“ Integrationskarrieren wie die von Mezut Özil, der mitsamt Integrationsbambi medial herumgereicht wird. Die gesellschaftliche Großwetterlage bietet damit Sozialchauvinist*innen und Rassist*innen aller Couleur einen guten Grund zur wiederholten Hetze, und „nah beim Volk“ können sich selbst einige Politiker*innen nicht zügeln ganzen Menschengruppen abzusprechen, qua Herkunft und „Kultur“ überhaupt zu irgendwas zu gebrauchen zu sein. Dabei gehören Sozialchauvinismus und Rassismus untrennbar zusammen und sind doch voneinander verschieden – wie die sprichwörtlichen zwei Seiten einer Medaille. Der altbekannte Rassismus funktioniert weiterhin über die Konstruktionen unterschiedlicher „Rassen“, mittels derer pseudobiologisch entschieden wird, welchem Kolletkiv jemand angehört und welche Eigenschaften das jeweilige Individuum deswegen angeblich hat. Zugleich hat sich in der jüngeren Vergangenheit eine ethnopluralistische Rechte formiert, die es in einigen europäischen Staaten zu durchaus auch gewählten Parteien gebracht hat. Genannt seien beispielsweise die Belgische „Vlaams Belang“ (Flämische Interessen), die niederländische „Partij voor de Vrijheid“ (Partei für die Freiheit) die verschiedenen „Pro-Bürgerinitiativen“ in Deutschland (ProKöln, ProNRW,…), die FPÖ in Österreich oder die SVP in der Schweiz. Sie alle bemühen sich der Brandmarke des Rassismus zu entgehen, indem sie vornehmlich kulturalistisch argumentieren. So ist es nicht die Frage nach „schwarz und weiß“, sondern die Zugehörigkeit zu „kulturellen Räumen“, etwa einem christlich-Abendländischen versus einem islamistisch-arabischen Kulturkreis. Analog zum Rassismus wird auch hier einzelnen Menschen ein Hintergrund angedichtet, von dem aus vermeintliche Eigenschaften der einzelnen Person abgeleitet werden. Allerdings sind diese nicht ganz so naturwüchsig-unhintergehbar, wie es bei den Rassenkonstruktionen der Fall war und ist, was den enthnopluralistischen Hardlinern allen Grund zur Skepsis und dem bürgerlichen Rest Grund zur Hoffnung bereitet: eine individuelle Anstrengung sich zu integrieren sei möglich, angefangen beim „Bekenntnis“ zur „christlich-Abendländischen Tradition“, zur „freiheitlichen Grundordnung der deutschen Verfassung“ oder dergleichen mehr. Letztlich ist aber auch die Zugehörigkeit zu einer solchen Kultur qua Geburt und Sozialisation kein Garant, verschont zu bleiben von den


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Ansprüchen, „etwas beizutragen“ und dem Gemeinwesen nicht auf der Tasche zu liegen. Und getreu dem Motto „Bist Du nicht willig, so brauch´ ich Gewalt“ werden Wege des Zwangs ersonnen und erlassen, um die Faulenzer*innen zur Leistung zu animieren. Man erinnere sich an die Debatten in Deutschland, ob es HartzIV-Empfänger*innen neben all den Maßnahmen und Schulungen und dem ohnehin sinnlosen Bewerbungsmarathon erlaubt sein darf, Alkohol, Tabak oder Silversterböller von den staatlichen Zuwendungen zu konsumieren. In Großbritannien diskutiert die politische Öffentlichkeit aktuell, ob den Familien der „jugendlichen Krawallmacher“ nicht die Sozialleistungen gestrichen werden sollten. Wer keine leistungswilligen Arbeitskräfte hervorbringt, die auch dann noch „Ja“ sagen, wenn es ihnen an den Kragen geht, soll auch nichts abbekommen. Die staatliche Bevölkerungspolitik wird begleitet von rassistischen und sozialchauvinistischen Ressentiments gegenüber als nicht dem jeweiligen Kollektiv zugehörig bzw. „leistungsfaul“ identifizierten Personengruppen. Vor dem Hintergrund der objektiven Abhängigkeit des Individuums vom Erfolg in der Konkurrenz handelt es sich dabei um die narzistisch ausgeformte Sorge, dass man im Kapitalismus selbst unter die Räder geraten kann. Die Zugehörigkeit zu einem Kollektiv, das vorpolitisch gültig ist, also gerade über die aktuellen und künftigen Anforderungen nationaler Reichtumsproduktion hinausweist, verspricht dagegen Trost und Abhilfe. Mit all dem soll nicht gesagt sein, dass die Rassist*innen und Sozialchauvinist*innen ihre ideologischen Ereiferungen nach rationalem Kalkül entwickeln und äußern, oder sich diese monokausal, „ökonomistisch“ allein aus der strukturellen Verfasstheit bürgerlicher Nationalstaaten herleiten ließe. Aber dass genau dies die Folie ist, entlang derer sie Kollektive unmittelbar bestätigt sehen und auf der ihre Hetze ihre Wirkung entfalten kann und soll. Die kategorische Ablehnung bestimmter Menschen aufgrund ihrer Herkunft, ihres Geschlechtes, angeblicher kultureller Gepflogenheiten und ähnlicher Merkmale sind aus nationalökonomischer Perspektive deutlich dysfunktional. Ob jedoch eine „Ausländerpolitik“ im Sinne brauchbaren Humankapitals nach marktwirtschaftlichen Aspekten durchorganisiert wird, ob in guter ethnopluralistischer Manier eine „Vielfalt der Kulturen“ begrüßt oder abgelehnt, oder ob über völkische Ideologie von „Blut und Boden“, die sich um „Überfremdung“ sorgt, argumentiert wird all das ist für das Ergebnis letztlich sekundär: sie alle sorgen sich um das Wohlergehen der eigenen Nation, ihres politischen Apparats und dem eigenen Überleben in diesen Zwangskollektiven. Die Übergänge zwischen der nüchtern argumentierenden SachzwangStandortverwaltung und den alltäglich-rassistischen Bürger*innen bleiben fließend, weil sie denselben Bezugsrahmen teilen – die Nation. Und eben dieser ist die Differenz zwischen innen und außen ein so notwendiger Bestandteil wie die Ausgrenzung, die der Unterscheidung folgt.


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Für weitere Informationen und kurzfristige Änderungen bitte unsere Internetseite besuchen. http://kritikundintervention.org

Info- und Mobilisierungsveranstaltung Gegen die Feier der Nation! Für die soziale Revolution! mit Antifa AK Köln Montag, 26.09.2011 Infoladen Anschlag 19 Uhr

Tagesseminar Materialistische Theorien über Staat und Nationalismus–vom Kuschelkurs mit der Nation zum antideutschantinationalen Grabenkampf mit Moritz Zeiler Sonntag, 02.10.2011 Universität Bielefeld 10 Uhr

Satirische Lesung „20 Jahre großes Deutschland“ mit Rainer Trampert und Thomas Ebermann Montag, 03.10.2011 Extra Bluesbar 20 Uhr

Podiumsdiskussion Was heißt hier eigentlich „Wir“? Podiumsdiskussion zur Kritik der Nation mit Ilka Schröder (Jungle World, Konkret), Thomas Ebermann (Konkret), Renate Dillmann (Gegenstandpunkt) Donnerstag, 06.10.2011 Murnausaal VHS 19 Uhr

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Veranstaltungen




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The only PIIG‘S the System! Organisiert den Vaterlandsverrat!

vom Antifa AK Köln


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JJ Am 3. Oktober ist es wieder soweit. Während rund um den Globus – mittlerweile auch in Europa – verschiedene Formen der sozialen Auseinandersetzungen als Antwort auf die kapitalistische Reorganisierung stattfinden, zelebriert die BRD in der ehemaligen Bundeshauptstadt Bonn die Feier der deutschen Nation. Unter dem Motto „Freiheit.Einheit.Freude – Bewegt mehr.“ feiert sich der stolze „Krisengewinner“ und „Vorzeigenation“ Europas ein ganzes Wochenende auf sämtlichen Fest- und Parademeilen selbst. Ein idealer Anlass zur antinationalen Intervention: Denn was gibt es an einem 3. Oktober besseres zu tun als die Bockwurstparty zu crashen. Die Einheitsfeier ändert zwar nichts an der alltäglichen Ohnmacht in den Mühlen von Staat und Kapital, jedoch ist die Identifikation mit dem nationalen „Wir“ ein ideologischer Fluchtreflex vor dem Druck kapitalistischer Konkurrenz und Vereinzelung – zugleich aber ihr bestes Schmiermittel. Die „Freiheit“, der zugejubelt wird, ist nichts anderes als ein gesellschaftliches Zwangsverhältnis, welches Menschen ins existentielle Korsett des Privateigentümers forciert und in die gesellschaftliche Konkurrenz zueinander versetzt. Gerade vor dem Hintergrund aktueller Krisen geht die Allgegenwärtigkeit der ökonomischen Bedrohungslage mit der Erkenntnis einher, dass die jeweiligen Verwertungschancen in der globalen Konkurrenz von den nationalen Reichtumsproduktionen vermittelt abhängig sind. Im Moment der Krise steht an der Stelle einer kritischen Prüfung des Zusammenhangs von Staat, Nation und Kapital in der Regel das weitere Zusammenrücken von Bevölkerung und Staat zur realen nationalökonomischen Gemeinschaft in der Weltmarktkonkurrenz. Der stinknormale Nullachtfünfzehn-Nationalismus, die Gewissheit und das Gefühl einer nationalen Zusammengehörigkeit, erlebt in den Erfahrungen der widerkehrenden Krisentendenzen gesellschaftlicher Konkurrenz neue Bedeutung. Sie sind Ausdruck der ganz realen Abhängigkeit des Individuums vom ökonomischen Schicksal „seines“ Staates. Den deutschen Standortameisen scheint aufgrund der ökonomischen Stellung des deutschen Standortes es logisch, dass Aufstand oder Empörung über die miesen Lebens- und Arbeitsbedingungen im deutschen Lande der Situation „unangemessen“ sind. Zum Wohle des Standorts lautet das ideologische Motto: Floriert erst das nationale Kapital, geht es uns nicht schlecht oder zumindest immer noch besser als die Anderen. Die sozialen Revolten in Europa dienen den deutschen Standortameisen nicht als Beleg für die Schadhaftigkeit der herrschenden Wirtschaftsordnung. Stattdessen erscheinen Aufstände im Umkehrschluss

als Beweis für die Stimmigkeit der eigenen Nationalreligion, bestehend aus Leistung und stoischem Verzicht. Solch erfolgreiche zelebrierte Askese für den Standort wird in Krisenzeiten sodann gleich zum Exportschlager und zum ethischen Leitbild für Europa.

Kartoffeln, Sirtaki und der große Krisenkrach Die Staatspleiten der sogenannten, peripheren „Schweineländer“ (PIIGS-States) verschaffen den Deutschen zudem einen zusätzlichen ideellen Krisengewinn. Sie scheinen zu belegen, dass die Verzichtspraxis der letzten Jahrzehnte sich bewährt und auszahlt. Die eigene Opferbereitschaft für den Standort schlägt gegenüber den PIIGS in Bestrafungsphantasien um. Den „Pleitegriechen“ werden härtere Einschnitte an den Hals gewünscht, als man sie selbst seit Jahren akzeptiert hat. Sozialchauvinistische Hetze steht auf der Tagesordnung. Durch die politische und ökonomische europäische Interaktion hängen die einzelnen Nationalstaaten ökonomisch und politisch voneinander ab, so dass im medialen Diskurs das Projekt Europäische Union als Verkörperung einer schicksalhaften zusammengeschweißten Gemeinschaft verklärt wird. Die Nicht-Leistung der Überflüssig-Gemachten erscheint als „Faulheit“ und damit als Erpressung an der europäischen Gemeinschaft. Wer sich nicht in die Leistungsmaschinerie einfügt, gilt als „dekadent“. Im Kampf um das Recht des Geldes sich zu vermehren, mutieren alle Parteien und Parteigänger*innen des Geldes zu vollendeten Opportunist*innen der herrschenden Verhältnisse, zu Sozialchauvinist*innen erster Güte. An diese Form der ideologischen Krisenverarbeitung setzt der Rassismus á la „Pleitegriechen“ und „faulen Südländern“ problemlos an. Die Finanzierungsschwierigkeit der Staatsgewalten in Europa gilt als Beweis für die nationalen Charakterzüge einer Dekadenz und Arbeitsunwilligkeit. Die „Freude“ über die elendigen Verhältnisse in der BRD geht einher mit der rassistischen Forderung, dass den „südlichen Völkern“ die Verhältnisse verpasst werden, die zu ihren defizitär ausgemachten Charakterzügen passt. Mit der Entfaltung der Staatsschuldenkrise in Europa treten die ökonomischen Ungleichgewichte im Euroraum in die politischen Diskussionen. Das Projekt europäische Union war stets mit dem gemeinsamen Anspruch verbunden, zum „dynamischsten Wettbewerbsraum“ der Welt zu werden. Nun steht die Währungsund Wettbewerbsunion mit der Staatschuldenkrise scheinbar vor ihrem Scheitern. Denn die innereuropäische Konkurrenz um Wachstumsanteile, die den nationalen Standorten die

benötigten Vorsprünge innerhalb der Weltmarktkonkurrenz verschaffen sollten, funktionierte für die Exportökonomie der BRD so gut, dass die europäischen Peripheriestaaten in den Bankrott getrieben wurden. Als größte Ökonomie Europas und ‚Exportweltmeister der Herzen‘ hat der deutsche Staat ein besonderes Interesse an der ökonomischen Integration der EU. Seine hervorgehobene Stellung im politischen Geschäft Europas verdankt sich gerade seinem ökonomischen Gewicht. Zugleich galt für die „Führungsmächte“ in Europa (Deutschland, Frankreich) die europäische Integration gerade nur unter dem Vorbehalt der Sicherung und Ausweitung ihrer eigenen ökonomischen Vormachtstellung und Voranbringung ihrer Standorte im globalen Wettbewerb. Dieser ökonomischen und politischen Hackordnung unterwarfen sich die anderen EU-Länder jedoch gerne; durch Marktöffnung und die Nutzung des Gemeinschaftsgeldes Euro, womit sie für niedrige Zinsen Schulden aufnehmen konnten, wollten sie ihren eigenen Standort fürs Weltmarktgeschäft tauglich herrichten. Die europäische Union als transnationaler Standort setzte darauf, dass durch die Forcierung der innereuropäischen Konkurrenz die jeweiligen Staaten die Förderung ihrer Wettbewerbsfähigkeit als selbstständiges Anliegen ihrer Politik entwickeln. Rhetorisch fand diese Übereinkunft aller EU-Staaten lange vor dem Ausruf der „Pleitegriechen“ seinen Niederschlag in der jährlichen Vergabe von Titel wie „Wachstums-Lokomotive“ oder „Europas rote Laterne“. Denn jeder Aufbau einer Nation als Standort bedeutet Konkurrenz. In dieser Konkurrenz versucht jede Nation vom Wachstum der anderen Nationen zu profitieren, jedoch geht ihr Profit ebenfalls auf Kosten der anderen Nationen. Daher bewegt sich die innere Einheit Europas stets in den scheinbar äußeren Gegensätzen von nationalistischer Vorteilsuche der jeweiligen Staaten und dem Gemeinschaftsprojekt aller EU-Staaten „Europa“ als Weltmacht auf die Bühne der Geschichte zu heben und ihr supranationales Geld, den Euro, als wirkendes und geltendes globales Geschäftsmittel (Weltgeld) neben den Dollar zu installieren. Im nationalen Verzicht auf eine eigene Währung bestand die Möglichkeit, das Gemeinschaftsgeld für seinen nationalen Wachstumserfolg in Anspruch zu nehmen. Doch durch die Freiheit der nationalen Haushalte konnte sich jeder Staat in einem gemeinsamen Geld verschulden und damit den anderen Euro-Staaten die Freiheit ihrer Verschuldung begrenzen. Dieser Widerspruch tritt als Staatsschuldenkrise in Erscheinung, Kern dieses Widerspruches bleibt Europa als Wettbewerbsgemeinschaft und das zu ihr


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gehörige Projekt des Euros.

Kommunismus statt EU! Die Rettung der in die Staatsschuldenkrise geraten Staaten wurde verkauft als Rettung der Griech*innen, Spanier*innen und wie sie alle heißen verkauft. Jedoch basieren die ergriffenen Maßnahmen der EU keineswegs auf etwas wie einer Solidargemeinschaft. Durch die staatliche Neujustierung der europäischen Wettbewerbsordnung sollen die Ambitionen, den Euro als Weltgeld zu installieren und die EU mit Weltmacht-Anspruch auszustatten, verteidigt werden. Die „Rettungspakte“ für in finanzielle Schwierigkeiten geratene Euro-Länder werden daher auch nur im Tausch gegen die finanzpolitische Souveränität über die Haushalte der einzelnen Staaten gewährt. Mit der Begründung, es gelte verantwortungslose Schuldenmacherei zu unterbinden, wird den zahlungsunfähigen Ländern von der Europäischen Zentralbank (EZB) in Kooperation mit der Brüsseler Kommission und dem Internationalen Währungsfond (IWF) , zusammen „Troika“ genannt, der Haushalt geführt. Dabei wird gestrichen, was für Standortexpert*innen als Hintertreibung der Parameter europäischer Wettbewerbsordnung gilt. Jedes in finanzielle Sorgen geratene Land hat von diesem Maßstab aus neuerdings kein unmittelbares Anrecht mehr auf die Nutzung des Geldes als Kreditmittel zur Wirtschaftsförderung. Die von der „Troika“ verordneten „Austeritäts-Programme“ bzw. Zerschlagung von bisherigen sozialen Strukturen dient offiziell dem Ziel, den strauchelnden Ländern „Anpassungen“ zur Widerherstellung ihrer Konkurrenzfähigkeit abzuverlangen; tatsächlich verordnet die europäische Haushalts-Aufsicht ein nationales Schrumpfen, das der Entwertung des gesamten Inventars dieser Nationen so nahe kommt, wie sie ein offizieller Staatsbankrott erzwungen hätte. Der Charakter der eingeschlagenen Krisenlösung ist damit die politische Festschreibung der ökonomischen Hierarchie innerhalb der Währungsunion. Zugleich buchstabiert sich die „Rettung des Euros“ als europäische Pflicht – als Gemeinschaftsprojekt aller Euro-Länder, dass die Lohnabhängigen durch die Entwertung ihrer Arbeits- und Lebensverhältnisse zu leisten haben. In dieser explizit politischen Durchsetzung einer ‚Schrumpfungskur‘ für die Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt liegt die neue Ordnung Europas. Das absehbare Ergebnis der Neuordnung des europäischen Herrschaftsregimentes ist die politisch kalkulierte Verelendung breiter Teile der Bevölkerungen und die Festschreibung der politischen und ökonomischen

Vormachtstellung der BRD in „Deutsch-Europa“. Dass bei diesem Programm die ideelle Feindschaft zwischen den Sieger- und Verlierernationen dieser Ordnung gehegt und gepflegt wird, versteht sich von selbst.

Antinationalismus muss praktisch werden! Dieser radikalen Reorganisation der kapitalistischen Verwertung in den europäischen Ländern begegnen diverse soziale Kämpfe mit ganz eigenen Charakteristika. Das gemeinsame in den Kämpfen liegt in der Weigerung, sich der neuen europäischen Rechnungsweise zu unterwerfen. Die Kämpfenden versuchen

ihre Lebensordnung vor der Entwertung zu retten und geraten dadurch in Widerspruch zum herrschenden Zwang der politisch verordneten „Schuldenbremse“. Die Auseinandersetzungen rund um die Sparprogramme sind auch von der jeweiligen Stellung ihrer Standorte in der Konkurrenz geprägt. In Griechenland spitzen sich die sozialen Konflikte seit Längerem zu, sozialer Frieden ist für den Moment vergessen. Bereits seit der Dezember-Revolte 2008 stellen größere, radikale Zusammenhänge den griechischen Staat des Kapitals in Frage. Zugleich ist neben den routinierten Generalstreiks der Gewerkschaften anlässlich der EU-Spardiktate im Sommer 2011 eine bürgerliche „Empörten-Bewegung“


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bisher als Krisengewinner dar. Der Korporatismus der Gewerkschaften zum „Gürtel enger schnallen“ geht einher mit der sozialchauvinistischen und rassistischen Hetze in der demokratischen Meinungsbildung. Wenn die „faulen Südländer“ „unseren Euro“ kaputt machen, wird die Verwertbarkeit des Kapital als Verteidigung der eigenen nationalen Machtmittel gedacht. Aus in ihrem ideellen Anspruch auf den Euro, als Mittel zur weiteren Vermehrung des nationalen Eigentums, entspringt der Chauvinismus wenn nötig den „Südländern“ mittels Zwang zum Glück europäischer Wettbewerbsfähigkeit zu verhelfen. Eine antinationale und kommunistische Intervention richtet sich gegen die sozialchauvinistische Stimmungsmache nach „innen“ wie nach „Außen“ und hält die Flamme grenzüberschreitender Solidarität gegen den Irrsinn vom einem immer schnelleren „Rennen, Rackern und Rasen“ im Hamsterrad der kapitalistischen Konkurrenz hoch. Gegen die weitere Durchsetzung von Krisennationalismus, Leistungsterror und Standortpolitik gilt es den revolutionären Defätismus zu stärken, die Einsicht, dass ein gutes Leben nur in der Niederlage der eignen Nation zu finden ist. Weder die reformistischen Anbiederung an den Zwangszusammenhang aus Staat und Nation, Kapital und Lohnarbeit; noch der selbstzufriedenen Rückzug auf die Position der kritischen Kritiker*innen vermag die notwendigen Schritte zur Assoziation freier Individuen zu beschreiten. Erst wenn sich den Standortpolitiken kollektive Verweigerung und gemeinsame Kämpfe für die eigenen unmittelbaren und radikalen Bedürfnisse entgegenstellen, dann steht die Krise als eine des Kapitalismus, und nicht – wie bisher – seines „unflexiblen Humankapitals“, überhaupt erst auf die Tagesordnung. Denn egal ob in Athen, Madrid oder London: die Kämpfe mögen verschiedenen Spezifika aufzeigen, doch antinationale Kritik fokussiert immer die Mühen ideologischer Widerspruchsbereinigung sowohl in der alltäglichen Normalität, als auch in der Krisenverwaltung. Ohne in naiven Bewegungsoptimismus zu verfallen ergeben sich in den Kämpfen immer wieder Ansatzpunkte theoretischer und politischer Radikalisierung. Der Kampf um ein besseres Leben gelingt eben nur als soziale Revolution. Bis dahin greifen wir den ideellen Rückhalt für Nation und Kapital an und organisieren gegen die Realität von „Deutsch-Europa“ den Vaterlandsverrat. . Die Einheitsfeierlichkeiten in der alten Bundeshauptstadt sind der ideale Anlass, um der Freude und Sorge um Deutschland mit der Idee des Kommunismus zu begegnen.

Für einen internationalen Antinationalismus! 02. und 03. Oktober: Heraus auf sämtliche Party-Meilen von „schwarz-rot-geil“! Auf nach Bonn!

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entstanden, die Ausdruck des Zerfalls der griechischen Mittelschicht ist. Zugleich übernehmen große Teile, die für den griechischen Staat problematische objektive Abhängigkeit vom Diktat der Troika, als ihre zentrale Angelegenheit. Die soziale Krise wird als von „Außen“ aufgedrückt verstanden und nicht selten erscheint die Dominante Europas, die BRD, als Ausgemach des Bösen. In solchen Vorstellungswelten ist Griechenland eine „unterdrückte Nation“ und nicht das Naheliegenste, nämlich als bürgerlicher Staat der Standortmanager für das heimische wie internationale Kapital. Imperative des bürgerlichen Staates, wie z.B. Wachstum und Konjunktur, werden von der Protestwelle übernommen, statt deren herrschaftlichen Charakter der Kritik zu unterziehen. Eine kommunistische Agitation sollte die Gunst der Krise nutzen, um den Irrsinn des großen Ganzen anzuklagen sowie den Niedergang dessen zu verlangen. Ein ähnlicher „Empörungs“-Spirit wie in Athen zeigte sich auf den Protestcamps in Spanien. Die Klage über eine aus Sicht der Empörten „undemokratischer“ Politik nimmt die angeblich alternativlose Durchsetzung europäischer Krisenpolitik ins Visier, der mit der Forderung nach „echter Demokratie“ begegnet wird. Doch die Hochhaltung der Ideale von Demokratie und Freiheit vermochten keine passende Antwort auf die europaweiten sozialen Einschnitte zu geben. Schließlich sind es diese Ideale der bürgerlichen Ordnung selbst, die gegeben sind und gerade samt ihrer Verrücktheit in der Krise zum Vorschein kommen. Die utopische Sehnsucht, die bürgerlichen Ideale aufzufrischen und die Nation zum Besseren zu ändern, kann nur in Perspektivlosigkeit und Entmachtung verbleiben. Stattdessen setzt die antinationale Intervention auf den schlichten Ansatz, der Negation bürgerlich-kapitalistischer Ordnung. In den „Banlieu-Riots“ in England vollzog sich eine andere Form von Krisenverarbeitung. An die Stelle der Verherrlichung der Ideale der bürgerlichen Ordnung trat die Organisierung der Überflüssig-Gemachten als Bande im Aufstand. Die Reproduktionskrise der in die Elendsquartiere Verbannten fand seine natürliche Antwort im Raub und der Plünderung, im Angriff auf die Institutionen des Rassismus und Sozialchauvinismus sowie in blinder Zerstörungswut. Der britische Staat reagierte mit dem „juristischen“ Ausnahmezustand, der unter dem Stichwort „Law und Order“ nur noch die Frage der Kapazitäten der Knäste kennt. Gegen die realistische Option des Bandenraubs und der weiteren autoritären Formierung ist eine kommunistische Perspektive jenseits von Ausgrenzung und Integration zu formulieren. Die BRD fällt aus dem Raster; sie steht


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Gegen die Feier der Nation! Für die soziale Revolution! Info- und Mobilisierungsveranstaltung Vergangenheit bewältigt, Exportweltmeister der Herzen geblieben – und jetzt sind sogar die Neudeutschen schwarz-rot-geil! So viel friedlich war nie! Nur „die Autonomen“ sind wieder mal dagegen, verbrennen Fahnen und erzählen was von „Ausgrenzung“, während Sami und Mesut für Schland punkten. Spinnen die?! Könnte man meinen. Die Nation ist zwar ein großer Mist, aber ihre Kritik alles andere als einfach. Deutschland ist eben nicht nur eine „Konstruktion“, und auch nicht erst dann scheiße, wenn es rassistisch wird. Der Antifa AK Köln präsentiert ein paar triftige Gründe, warum es ein Fehler ist Parteigänger der Nation zu sein, und zugleich wieso der „Nationalismus“ zum Kapitalismus gehört wie das Spiegelei zum Frühstück-Speck. Als objektive Gedankenform staatsbürgerlicher Vergesellschaftung verläuft gerade die Verarbeitung der letzten Krisen und der permanenten Frage quo Vadis Europe im Rahmen von Staat. Nation und Kapital. Dagegen wäre es Aufgabe einer internationalistischen Antinationalen Intervention, von der Kritik der Politik zurück in die politischen Auseinandersetzungen um die Sparprogramme in Europa zu kommen. Dies, die neusten Infos aus Bonn zum Stand der antinationalen Mobilisierung gegen den ‘Tag der deutschen Einheit’ und Treffpunkte zu den Fahrten zur Demo am 2.10. und 03.10. gibt es am 26.08.2011 um 19h im Infoladen Anschlag. Info- und Mobilisierungsveranstaltung mit Antifa AK Köln Montag, 26.09.2011 Infoladen Anschlag 19 Uhr


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Rassismus: Ein paar Notizen zu einem grausamen Phänomen von [association critique]

„Von Rassismus ist zu sprechen, wenn Gruppen von Menschen zu einer ‚Rasse‘, einer ‚Ethnie‘ und/oder einer ‚Kultur‘ konstruiert werden, auf deren Grundlage eine Wertung aus der Perspektive der privilegierten Position heraus vorgenommen wird, die in Richtung der Machtund Herrschaftsverhältnisse ausgerichtet ist. Diese Prämissen können unterschiedliche Gewichtungen und Ausformungen haben, weshalb es sich um Rassismen handelt.“1 (Sebastian Friedrich) Rassismen können in unterschiedlicher Form und Ausprägung auftreten und auch ihre vermeintliche Begründung folgt nicht immer einem einheitlichen Muster. Vielmehr ist Rassismus ein gesamtgesellschaftlich prägendes Strukturprinzip. Dieses tritt nicht nur bei (Neo-)Nazis, in ausgeprägter und radikalisierter Form als völkischer Rassismus, auf, sondern lässt sich überall in der Gesellschaft finden, ob im Alltagsbewusstsein, in der Wissenschaft oder auf staatlicher Ebene. Als markantes Beispiel für letzteres kann man das immer noch gültige deutsche Staatsbürgerrecht anführen, das auf dem Abstammungsprinzip (Ius sanguinis) der (ver)erbbaren Staatsbürgerschaft basiert. Obwohl der Begriff „Rassismus“ ein relativ junger ist (entstanden ist er 1920 aus einem antirassistischen Kontext)2, gibt es das Phänomen schon seit der Antike. Bereits damals wurden „die Anderen“ zu Herrschaftszwecken unterworfen. Aber Rassismus, wie er uns heute begegnet, konstituierte sich als Bewusstseins- und Herrschaftsform im Wesentlichen erst im Zeitalter des Kolonialismus und ist seit dem ein „kontinuierliches und kollektives Phänomen der europäischen Moderne“3, das in Deutschland vor allem im nationalsozialistischen Rassenwahn seine spezifische Ausprägung fand.4 Dass Rassismus immer noch kein alter Hut ist, lässt sich an vielen Punkten aufzeigen. Wie zum Beispiel die Pogrome von Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda, denen die durch alle Parteien (CDU, CSU, FDP, SPD) beschlossene faktische Abschaffung des Asylrechts folgte. In der deutschen Abschiebepolitik und der europäische Grenzsicherung manifestiert sich Rassismus jeden Tag aufs Neue. Spätestens seit der Debatte um Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ zeigt sich deutlich, dass sich Rassismus auch mit

anderen Ungleichwertigkeitsideologien, wie dem Sozialchauvinismus, verknüpfen kann. Der klassische Rassismus erweitert sich hier so, dass er sich nicht mehr nur auf vermeintliche äußerliche Merkmale und Vorurteile stützt, sondern die Verwertbarkeit der Menschen stärker in den Blick rückt. Damit ist nicht gesagt, dass Rassismus erst seit Thilo Sarrazin sozialchauvinistisch aufgeladen wird und werden kann. Seit August 2007 verlangt die Bundesregierung gem. § 30 (1) 2 AufenthG beim EhegattInnennachzug einen Sprachtest im jeweiligen Herkunftsland und benachteiligt damit vor allem Menschen aus sogenannten bildungsfernen und sozial schwachen Schichten. Migrant­_innen, die „Leistung erbringen“, werden eher in die Gesellschaft inkludiert, als diejenigen, die - wie es so „schön“ heißt - „Leistung verweigern“. Dadurch werden Menschen „nicht-deutscher“ Herkunft, die etwa alt, krank oder arbeitslos sind, aus der Gesellschaft ausgeschlossen, da sie scheinbar keine Leistung für diese (bzw. den s. g. Standort) erbringen können oder wollen. Trotz dieser Entwicklung gibt es gleichzeitig noch immer biologistischen und essentialisierenden Rassismus. Das zeigt sich schon in ganz banalen Situationen: z.B. wenn jemandem aufgrund von vermeintlich „nicht-deutschen“ äußeren Merkmalen die Frage gestellt wird, woher er_sie denn eigentlich käme. Eine weitere Form des Rassismus basiert auf kultureller Zuschreibung und wird daher auch kulturalistischer Rassismus genannt. Dieses Phänomen ist heutzutage sehr präsent und hat den biologistischen Rassismus weitestgehend abgelöst, der spätestens nach dem Nationalsozialismus diskreditiert war. Diese Form des Rassismus dominiert nicht nur die nicht enden wollende Integrationsdebatte, sondern wird vor allem durch sogenannte rechtspopulistische Gruppierungen verbreitet, die in Europa zunehmend an Stärke gewinnen. Er findet sich jedoch leider auch in der linken und vermeintlich antirassistischen Szene. So wird etwa sexistisches oder rassistisches Verhalten häufig mit der Begründung verharmlost, dass dieses Verhalten doch in der jeweiligen Kultur verankert sei („Kulturrelativismus“). Gerade in der Linken wird häufig vergessen, dass nicht jede Bewegung von Migrant_innen auch automatisch eine emanzipatorische Bewegung ist. „Es ist eben dann ein

Widerspruch“, so bringt die Bremer Gruppe associazione delle talpe es auf den Punkt, „wenn einerseits Rassismus, Antisemitismus und Sexismus als ein gegenwärtig gesellschaftlicher Missstand völlig begründet angegriffen werden soll, aber diese Phänomene beim so genannten »Anderen« beschwichtigt oder verschwiegen werden. Dieses dann bspw. als kulturbedingt zu verniedlichen ist erschreckend relativierend und wird dem Phänomen des Rassismus, des Antisemitismus und dem des Sexismus in ihrer bedrohlichen Bedeutsamkeit nicht gerecht.“5 Rassismus ist ein komplexes Phänomen und zeigt sich auf verschiedene Weise auf verschiedenen Ebenen. Weder geht Rassismus völlig in einer ökonomischen Logik von Leistung und Nutzen auf, noch kann er völlig unabhängig davon betrachtet werden. So sehr auch Staat, Nation und Kapital Rassismen in ihrer Form bestimmen: Sie manifestieren sich auch immer wieder gegen diese Logik und sind nicht alleine durch diese zu erklären. Wer gegen Rassismus vorgehen will, muss sich seiner vielen Gesichter bewusst werden. Die [association critique] besteht als Zusammenschluss von unzufriedenen Individuen seit Anfang 2010, fühlt sich der Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse verpflichtet und möchte sowohl zur emanzipatorischen Überwindung des Bestehenden beitragen, als auch den verschiedenen Erscheinungen seiner reaktionären Ablehnung eine Absage erteilen. Den Rahmen unserer bescheidenen Möglichkeiten möchten wir irgendwann sprengen, in der Hoffnung, dass das, was wir tun, dann nicht mehr nötig sein wird. associationcritique.blogsport.de

1

Sebastian Friedrich (Hg.), Rassismus

2

Vgl.: Christian Koller, Rassismus, Verlag Ferdinand Schöningh, 2009, S. 8.

3

Lou Sander, Nie wieder Antira! (http:// www.conne-island.de/nf/177/20.html).

4

Hier soll weder die konstitutive Bedeutung des Antisemitismus für den Nationalsozialismus noch seine qualitative Differenz zum Rassismus unterschlagen werden. Siehe dazu: Samuel Salzborn, Wahn der Homogenität - Zur Politischen Theorie des Antisemitismus. Eine Skizze.(http://jungleworld.com/artikel/2010/16/40805.html).

5

Associazione delle talpe, Falsche Freund_innen, In: Extrablatt 01/07.


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Zurück in die Politik! Antinationale Kritik ist die Wahrheit des antideutschen Gefühls. Doch es kommt darauf an, sie praktisch zu machen.

von T.O.P. Berlin


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25  Zurück in die Politik!

JJ In einer bemerkenswerten Abfolge nationaler Jubiläen und Gedenktage hat Deutschland in den vergangenen Jahren sein staatspolitisches Selbstverständnis transformiert. Parallel zur offiziellen Anerkennung des Holocaust als singulärem Menschheitsverbrechen und »Zivilisationsbruch« (Thierse)1 der deutschen Nation wurde eine historisch begründete Opferidentität kultiviert, etwa in Narrativen um alliierten »Bombenterror« oder um »Vertreibungsverbrechen« am deutschen Volk. Seither sieht sich Deutschland als moralisch rehabilitiertes Vollmitglied der Staatengemeinschaft, das seine Interessen aus historischer Verantwortung heraus »selbstbewusst« durchsetzt. Bei den Staatsfeiern zu 60 Jahren Grundgesetz und 20 Jahren Mauerfall 2009 konnte sich die Berliner Republik bereits als gewachsene Demokratie mit revolutionären Wurzeln inszenieren, Stichwort »friedliche Revolution«. Als politische Gruppe in Berlin und Teil des umsGanze!-Bündnisses haben wir diese Staatsfeiertage zur linksradikalen Gegenmobilisierung genutzt. Im Rahmen der antinationalen Kampagne von umsGanze! zum »Supergedenkjahr« 2009 haben wir in Berlin eine Bündnisdemo gegen das Grundgesetzjubiläum initiiert. Zum 20. Jahrestag des Mauerfalls haben wir ebenfalls die Gegendemo angemeldet und organisatorisch getragen. Unsere GenossInnen von der Antifa [F] haben im Rhein-Main-Gebiet ein sozialrevolutionäres und antinationales Krisenbündnis initiiert.2 2010 haben wir uns u.a. stark im Bremer Bündnis gegen den Tag der Deutsche Einheit engagiert. Das Bremer Bündnismotto - »Kein Tag für die Nation! Kein Tag für Deutschland!« - wirft ein Schlaglicht auf wiederkehrende Szenekonflikte bei solchen Anlässen. Denn es scheut beredet jede Festlegung, ob die Kritik an Deutschland nun »antinational« oder »antideutsch« zuzuspitzen sei. Die politische Bedeutsamkeit dieser Frage ist für außen Stehende schwer verständlich. Allgemein geht es darum, ob dem deutschen Staatsprogramm eine reaktionäre »Spezifik« innewohne, eine irgendwie »strukturell« begründete Tendenz oder Anfälligkeit für autoritären Kollektivismus. Vor dem Hintergrund der skizzierten Transformation des

staatsoffiziellen Nationalismus ist genau das die antideutsche Perspektive. In ihr erscheint etwa die aktuelle »Integrationsdebatte« als Ausdruck einer »postfaschistischen« bzw. »postnazistischen« Disposition mit völkischen Reflexen. TOP Berlin und umsGanze! haben sich gegen solche Deutungen positioniert. Nicht weil wir eine spezifische Ausformung des hiesigen Nationalismus rundweg bestreiten würden, sondern weil wir die theoretischen Begründungsmuster und politischen Konsequenzen des antideutschen Spektrums für falsch halten. Die aktuell bedeutsamen politischen und ideologischen Prozesse in Deutschland können wesentlich im Rahmen einer allgemeiner ausgelegten kritischen Theorie der Nation entschlüsselt werden. Das umsGanze!-Bündnis hat diese Position u.a. in seiner Staatsbroschüre skizziert, um die sich 2009/2010 ebenfalls eine breite Debatte entwickelt hat.3 Nach mehreren Podiumsdiskussionen mit unseren KritikerInnen u.a. in Köln, Bremen, Hannover und Berlin möchten wir unsere Position nun noch einmal zusammenfassen. Ermutigt sehen wir uns durch einen bislang eher konstruktiven Diskussionsverlauf, in dem unsere Position gleichwohl beständig falsch kolportiert wird. Wir wollen diesen Klärungsversuch mit einer Diskussion um politische Praxis verbinden. Kritik der Nation ist kein beliebiger Spartendiskurs zwischen Freiraumbewegung und Castor-Alarm, und schon gar keine akademische Schrulle, sondern eine politische Querschnittsaufgabe der radikalen Linken. Denn die Identifikation mit dem Herrschaftsapparat Nation wurzelt als ideologischer Reflex und »objektive Gedankenform« (Marx) in den grundlegenden ökonomischen und institutionellen Beziehungen der bürgerlichen Gesellschaft. Jeder relevante politische Konflikt ist national strukturiert. Der autonome Politikansatz distanzierte sich zu Recht von den erbaulichen Mythen linker Politikmacherei: weder »Klasse« noch »Volk« taugen als Subjekte der Emanzipation. Warum, erklärt die Kritik nationaler Ideologie. Insofern war und ist antinationale Kritik ein Fortschritt im Bewusstsein der Unfreiheit. Die Herausforderung besteht nun

1

Dass der einstige Bundestagspräsident diesen kritisch-theoretischen Schlüsselbegriff so leicht enteignen konnte, liegt an dessen Fundierung in einer historisch allzu unspezifischen ›Kritik der instrumentellen Vernunft‹.

2

http://krise.blogsport.de

3

UmsGanze, Staat, Weltmarkt und die Herrschaft der falschen Freiheit, Berlin 2009. Zit. n. http://umsganze.de/media/Staatstext_web.PDF

4

Slogan der Wohlfahrtsausschüsse in den frühen neunziger Jahren, wieder aufgegriffen als Motto der antinationalen Parade 2009.

5

UmsGanze, Staat, 78.

6

INEX, Nie wieder Revolution für Deutschland, Leipzig 2009, 24f.

7

UmsGanze, Staat, 35-40.

darin, diese geläuterte Kritik wieder praktisch zu machen. Keine einfache Aufgabe, weil sich diese Praxis gegen die geronnenen Interessen und institutionellen Formen richten muss, in denen Politik für gewöhnlich eingeschlossen ist. Aber unvermeidlich, wenn wir »etwas besseres als die Nation«4 noch erleben wollen.

Nation-Form und bestimmte Kritik Um Inhalt und Verlaufsform spezifischer Nationalideologien angemessen bewerten zu können, muss man ihren Zusammenhang mit den grundlegenden Formen bürgerlichkapitalistischer Vergesellschaftung begreifen. Ausgangspunkt des Nationalismus wie auch seiner Kritik ist nicht die einzelne Nation in ihren je eigentümlichen Entwicklungsvoraussetzungen. Ausgangspunkt ist das kapitalistische Weltsystem, der global ausgreifende Akkumulationsprozess, innerhalb dessen sich Staat, Kapital und nationale Ideologien bilden und transformieren. Deshalb heißt unsere Staatsbroschüre Staat, Weltmarkt und die Herrschaft der falschen Freiheit - zur Kritik des kapitalistischen Normalvollzugs. Der Untertitel bedeutet nicht, dass wir Deutschland als »ganz normale« Nation verharmlosen würden. Wir weisen im Gegenteil aus, was nationalistische Exzesse und insbesondere die nationalsozialistische Ideologie mit den allgegenwärtigen Reproduktionsbedingungen von Staat, Nation und Kapital zu tun haben.5 Diese Pointe wird von unseren antideutschen KritikerInnen zuverlässig ignoriert.6 Die Unterstellung einer allgemeinen Nation-Form ist ein analytisches Konstrukt, aber ein notwendiges. Empirisch gibt es nicht die Nation als solche, sondern nur besondere Nationalstaaten. Doch das Konzept der NationForm fokussiert zu Recht zunächst einmal auf die allgemeinen Reproduktionsbedingungen der bürgerlichen Gesellschaft, wie sie sich im 19. Jahrhundert europaweit verallgemeinert haben und im 20. Jahrhundert global entwicklungsbestimmend wurden7: Trennung von politischer und ökonomischer Macht in Staat und Privateigentum, Durchsetzung der bürgerlichen Individualitätsform unter dem Gewaltmonopol des Staates, Entfaltung einer kapitalistischen Akkumulationsdynamik, Relativierung des anschaulichen Klassengegensatzes in der Weltmarktkonkurrenz der Nationalökonomien und nationale Kapitale etc. Kritik der Nation ist Ideologiekritik. Gefühl und Gewissheit nationaler Identität erscheinen zunächst als unmittelbare und ursprüngliche Regungen, nicht als reflektierter theoretischer Standpunkt. Immanente Begründungsversuche konkreter Nationalideologien sind sekundäre Rationalisierungsversuche mit historisch


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variablem Inhalt: göttliches Mandat, natürliche Rasseeinheit, geschichtliche Prägung, revolutionäre Gründung, gemeinsames Schicksal – oft in wilder Mischung. Wesentlich ist, dass sie je gegenwärtige Identitätspostulate - also soziale Ansprüche - immanent widerspruchsfrei begründen und abgrenzen. Eine kritische Theorie der Nation und des Nationalismus muss ausweisen, wie diese spontanen identitären Haltungen mit den grundlegenden Formen bürgerlich-kapitalistischer Vergesellschaftung zusammenhängen. Erklärungsversuche über Tradition, Propaganda und kulturelle Prägung sind für sich genommen zirkulär. Sie erklären nicht, warum in aller Welt gerade diese, nämlich nationale Propaganda so massenhaft verfängt, warum hier und heute genau diese und keine andere so genannte Tradition akzentuiert wird. Entscheidend für die Rekonstruktion des Nationalismus ist ein Verständnis der allgemeinen Widersprüche und Bedrohungslagen, die er mit Bezug auf den Staat ideell aufzulösen sucht. Nur so ist überhaupt mit Bestimmtheit zu sagen, worin nationale Eigentümlichkeiten bestehen und wie sie sich reproduzieren.

Disko Die skizzierte theoretische Perspektive hat nichts mit »Staatsfunktionalismus« zu tun. Sie ist auch keine gegen die Wirklichkeit abgedichtete »Ableitung«, und schon gar nicht »monokausalistisch«.8 Sie illustriert lediglich die tatsächliche Vermitteltheit nationaler Ideologie in den verallgemeinerten Formen kapitalistischer Reproduktion, ist also formkritisch. In der Tat wird »der Kapitalismus als der basale Grundzusammenhang verstanden, der alle anderen gesellschaftlichen Zusammenhänge ordnet«.9 Alles andere wäre unsachgemäß. Freihändige Verweise auf eine »multidimensionale herrschaftliche Bedingtheit« der Nation oder die prinzipielle Offenheit sozialer Kämpfe

unterschätzen die durchgreifenden Formen gesellschaftlicher Reproduktion.10 Formkritik steht damit aber nicht im Gegensatz zu hegemonietheoretischen Untersuchungen, sondern konkretisiert diese. Die historische Erfahrung des Nationalsozialismus spielt für den Zuschnitt dieser Formkritik eine entscheidende Rolle. Sie informiert uns über einen ideologischen Fluchtpunkt der allgemeinen Konfliktlagen bürgerlich-kapitalistischer Vergesellschaftung.11 Die Ideologie der Volksgemeinschaft bietet eine spezifische Auflösung dieser Konfliktlagen: Die Perspektive eines durch rassische Abkunft gesicherten nationalen Privilegs, die autoritäre Befriedung der Klassengesellschaft, und im handgreiflichen Endkampf gegen eine projizierte jüdisch-plutokratische Weltverschwörung die Aussicht, die Ohnmachtserfahrung bürgerlicher Individualität ein für alle Mal aufzuheben. Dieser ideologische und staatspolitische »Lösungsversuch« zwingt uns nicht auf theoretische Sonderwege. Die antideutsche Pointe wäre zu verallgemeinern. Es ist richtig, die grundlegenden Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft stets in der Perspektive einer möglichen faschistischen bzw. nazistischen Aufhebung zu denken. Es ist aber falsch, dies nur gegenüber Deutschland zu tun. Der Nationalsozialismus muss als historisch situierte politische Bewegung ernst genommen werden, und nicht als bloßer Ausdruck eines wie auch immer begründeten deutschen Wesens. In der Diskussion um die Staatsbroschüre wurde uns ein oberflächlicher und in seiner politischen Konsequenz naiver Begriff nationaler Formierung vorgeworfen. Thomas Ebermann hat diese Kritik auf mehreren gemeinsamen Veranstaltungen an Textpassagen festgemacht, die die historische »Integration der Klassengesellschaft zum Staatsbürgerkollektiv« betreffen.12 Auch Oliver Barths Kritik in der letzten Phase 2 stützt sich im wesentlichen auf diesen Abschnitt.13 Wir »neuen

8

Associazione delle Talpe: Zit. n. http://associazione.files.wordpress.com/2010/07/antideutsch-antinationalhegemonial.pdf, 37ff. und INEX, Deutschland lieben, Jungle World 44 (2009), Dossier; Diskus (2) 2010, 3.

9

INEX, Deutschland lieben.

10 Naturfreundejugend Berlin, Positionen, Berlin 2009, 7. C. Außerhalb, Klassen, Kampf und Konkurrenz, Diskus (2) 2010, 50ff. 11 Dass uns die Rekonstruktion dieses Zusammenhangs als »Verhöhnung der Opfer in den Vernichtungslagern« vorgehalten wird, illustriert den latenten Irrationalismus eines moralistischen Antideutschtums. Dan Tarbow, Diskus (2) 2010, 19. 12 UmsGanze, Staat, Kap. 8. 13 Oliver Barth, Postnazismus, Staatsableitung, Zivilgesellschaft? Phase 2.37 (2010), 52-55. http://phase2.nadir.org/rechts.php?artikel=831&print=ja 14 Associazione delle Talpe, Postnazismus, 35ff. 15 UmsGanze, Staat, 41. 16 UmsGanze, Staat, 15. 17 UmsGanze, Staat, 49.

Antinationalen«14 hätten zentrale Mängel der Staatsableitung der Marxistischen Gruppe (MG) aus den siebziger Jahren übernommen, indem wir die Identifikation mit der Nation vor allem aus politökonomischen Oberflächenphänomenen wie »Interesse« und »Konkurrenz« herleiteten. Beide kritisieren etwa unseren Verweis auf die »materielle Besserstellung« im Staat als Motiv des proletarischen Nationalismus.15 Auch eine mögliche Beteiligung der Arbeiterklasse an nationalen Gewinnen der Kolonial- und Weltmarktkonkurrenz greife als Motiv zu kurz. Ebermann verweist hier zu Recht auf die Opferbereitschaft der Volksgenossen bis hin zur Selbstaufgabe in den Schützengräben des Ersten und Zweiten Weltkriegs. Ausschlaggebend ist demnach nicht rationales Nutzenkalkül, sondern eine tendenziell irrationale Identitätsprojektion der geknechteten Existenzen. In dieser Gegenüberstellung können wir dem nur zustimmen, zumal sie der übergreifenden Argumentationslinie der Staatsbroschüre entspricht. Die problematisierte Passage ist einfach schwach geschrieben. Doch in seinem Gesamtaufbau zielt unser Text genau darauf, den immer wieder »irrational« überschießenden Reflex ideologischer Widerspruchsbereinigung kleinschrittig auseinanderzusetzen. Interpretationsrahmen ist von Beginn an die »alltägliche Irrationalität« der kapitalistischen Ratio16, und hier konkret die zur zweiten Natur geronnene Traumatisierung der Lohnabhängigen in den Absatzschlachten des Weltmarkts. Zentraler Begründungszusammenhang des nationalen Identitätsbegehrens ist also nicht das isolierte private Interessenkalkül, sondern die konstitutive Bedrohungslage des verstaatlichten Individuums angesichts global verselbstständigter Verwertungszwänge. Um die drängende Dynamik des projektiven Prozesses zu erfassen, müssen die grundlegenden Widersprüche der bürgerlichen Individualitätsform benannt werden. Die Staatsbroschüre verweist hier elementar auf die »charakteristische Schizophrenie (…) staatsbürgerlicher Existenz«17, die kaum lösbare und kaum auszuhaltende Spannung im Verhältnis einer stets überforderten Privatautonomie und eines stets frustrierten Gleichheits- und Anerkennungsversprechens, zusammengehalten durch den lebensbestimmenden Zwang, die eigene Haut zu Markte zu tragen. Das antideutsche Gerücht, die Deutschen hätten sich nie von der Gemeinschaft zur Gesellschaft emanzipiert, überreizt die soziologisch legitime Frage nach korporatistischen Formen des Kapitalismus hierzulande. »Interesse« ist in diesem Zusammenhang als von Grund auf widersprüchliche Motivationslage gedacht. Es ist nicht das Gegenteil »irrationaler« Überschüsse des Ideologischen,


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sondern deren Kraftquelle.18 Der häufige Verweis der Staatsbroschüre auf die Bedeutung der »Konkurrenz« im beschriebenen ideologischen Reflexbogen mag stilistisch unbefriedigend sein. Doch anders als fortwährend unterstellt19, ist damit kein plattes Oberflächenphänomen angesprochen, sondern Konkurrenz als durchgreifende Manifestation der Tauschwertvermittlung, jenes »stummen Zwangs« des »automatischen Subjekts« (Marx), der besinnungslos Lebenschancen gewährt oder verweigert.20 Die tagtäglich erfahrbare Unwägbarkeit des individuellen wie des nationalökonomischen Verwertungsschicksals untermauert die ideologische Anziehungskraft des Staates als Verkörperung souveräner Handlungsfähigkeit.21 Unsere Engführung von politökonomischer und ideologischer Form wurde wiederholt als »ökonomistisches« Denken in »Hauptwidersprüchen« kritisiert.22 Dieser Vorwurf überrascht, denn unsere Thesen sind durchweg als Kritik des marxistischen Hauptwiderspruchstheorems angelegt, indem sie die vermittelnde Rolle der politischen Gewalt, der reellen Verstaatlichung von Kapital und Arbeit und der projektiven Dynamik des Ideologischen herausarbeiten. Barth belehrt uns hier mit einem Hinweis, den er unserer Staatsbroschüre selbst entnommen hat: Dass die bürgerliche Gesellschaft gerade nicht - wie Marx und Engels im Manifest noch formuliert hatten - durch das »nackte Interesse« und die »gefühllose bare Zahlung« zusammengehalten werde, sondern durch obskure Ideologien.23 Umgekehrt verzichtet die Naturfreundejugend Berlin (NFJ) gleich ganz darauf, den Zusammenhang von Nationalismus als ideologische Form und Kapitalismus als objektive Reproduktionsordnung auszuweisen. Nationalismus wird abstrakt als »Konstruktion« und »kontrafaktische Behauptung«24 verworfen, ohne dass recht klar würde, warum die Welt seit 200 Jahren darauf hereinfällt.25 Der Nationalstaat wird zirkulär

als »politische[s] Projekt« einer historisch siegreichen bürgerlichen Klassenfraktion erklärt. Die widersprüchliche Gleichheit bürgerlicher Individuen erscheint nur noch als »Illusion«, ihre Klassen übergreifende Abhängigkeit von den Konjunkturen der Nationalökonomie als bloße »Fiktion«. Zur Begründung der unterstellten »deutschen Spezifik« berufen sich unsere KritikerInnen auf die »relative Autonomie« des Sozialen (Barth) bzw. auf das schillernde »Eigenleben« und die »Kontinuitäten« des Ideologischen (INEX). Ohne die Annahme einer »Zähigkeit von Ideologien« könne man überhaupt keine deutsche Spezifik erklären.26 Bei diesen Einwürfen handelt es sich erkennbar um Stehgreifhypothesen. »Kultur« wird herbeizitiert, um ideologische und soziale Sonderwege zu erklären, die sich in der Tat nicht aus der Formbestimmtheit der bürgerlichen Ideologie ableiten lassen. Konzepte wie »Zähigkeit« oder »Eigenleben« scheinen plausibel, sind aber bloß zirkelschlüssige Metaphern. Eine unterstellte Nationaleigentümlichkeit wird als »kulturelle Prägung« einfach vorausgesetzt - ganz so, wie es der bürgerliche Nationalismus seit zwei Jahrhunderten auch tut. So sei laut INEX der deutsche »Wille zur Gemeinschaft (…) wohl eher psychologisch zu erklären als mit dem Kapitalismus«.27 Die deutsche Spezifik wese von alters her »unter ihrer staatlichen Überformung fort«.28 Materialistische Ideologiekritik muss auf solche Spekulationen verzichten. Wer nicht an systematischer Wahrnehmungsverzerrung leidet, muss anerkennen, dass der »spezifisch deutsche« Nationalismus oft so spezifisch deutsch gar nicht ist. Vor allem ist er derzeit ideologisch nicht konsistent strukturiert, jedenfalls nicht konsistent völkisch. Es gibt eine quer laufende liberalistische Leistungsideologie und einen Sozialchauvinismus, der sich auch gegen Volksdeutsche richtet. Insofern ist die aktuelle ethnonationalistische Zuspitzung der »Sozialstaatsdebatte«

18 Barth unterstellt uns hier eine von ihm frei erfundene Priestertrugthese: Nationalismus als Folge von »Vorgaukeln falscher eigener Interessen mittels der nationalen Karte«. Vgl. Barth, Postnazismus, 54. 19 Barth, Postnazismus, 54; Diskus (2) 2010, 3ff, 29, 50ff. NFJ, Positionen, 7. 20 UmsGanze, Staat, 16f. Dass wir diesen Gedanken in einer Massenpublikation nicht werttheoretisch ausbuchstabieren, sollte nachvollziehbar sein. 21 UmsGanze, Staat, Kap. 15 u. 16. 22 AK Grandhotel Abgrund, Diskus (2) 2010, 7; INEX, Deutschland lieben. 23 Barth, Postnazismus, 55. Vgl. UmsGanze, Staat, 40ff, 65ff. 24 NFJ, Positionen, 10, 18. Im Folgenden 12, 16, 18f. 25 Die NFJ formuliert hier tatsächlich eine Trugtheorie: »Mit dem Konzept des ›Volkes‹ schafft der Nationalstaat die Illusion eines homogenen Inneren.« NFJ, Positionen, 16, vgl. 29. 26 Barth, Postnazismus, 54 INEX, Nie wieder Revolution für Deutschland, 36. 27 INEX, Deutschland lieben. 28 INEX, Podiumsdiskussion am 11.9.2010 in Bremen, dokumentiert auf www.top-berlin.net. 29 Stefan Breuer, Aspekte totaler Vergesellschaftung, Freiburg 1985.

zur »Integrationsdebatte« gerade kein Ausweis völkischer Disposition. Sie ist vor allem kein deutsches Spezifikum.

Zurückfinden Aufbauend auf einer Theorietradition, die die »totale (Wert-)Vergesellschaftung« der Individuen in den Mittelpunkt stellt29, beschreibt antideutscher Fatalismus Ideologie in der Regel als hermetisches Gefüge. Antinationale Kritik fokussiert, dem gegenüber, auf die alltäglichen Mühen ideologischer Widerspruchsbereinigung. Ohne in naiven Bewegungsoptimismus zu verfallen, und ohne auf Klassenkampfrhetorik zurückgreifen zu müssen, ergeben sich hier immer wieder Ansatzpunkte theoretischer und politischer Radikalisierung. Doch das post-autonome Spektrum hat in der Regel keine belastbare politische Anbindung an institutionelle Kampffelder und gesellschaftliche Reproduktionskreisläufe. Das Bündnis Interventionistische Linke versucht deshalb, über Projekte wie No Paseran! oder Castor schottern! die Spielräume antikapitalistischer Kritik im bürgerlichen Lager zu erweitern. Ob dabei mehr als Zivilgesellschaft herauskommt, ist immerhin offen. Wir selbst haben in den Krisenprotesten 2009/2010 die vorhersehbare Erfahrung gemacht, dass eine fundamentale Staatskritik in weiten Teilen der Bewegungslinken beargwöhnt wird, teils wegen eigener Staatsgläubigkeit, teils aus Angst, die BürgerInnen zu vergraulen. Wir haben aber auch gesehen, dass sich eine solche Haltung im konkreten Bündnis aufbrechen lässt, wenn man Standortkonkurrenz als Motor sozialer Spaltung und intensivierter Ausbeutung kenntlich macht. Ideologiekritik und Neue Marx-Lektüre sind für den Arsch, wenn sie sich dieser Aufgabe nicht widmen. Dass es derzeit kaum Formen politischer Kollektivität gibt, die die nationalen Spaltungslinien zuverlässig überbrücken, sollte niemanden entmutigen.


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FAQs Gruppe Kritik & Intervention Ein Selbstgespräch

Wer seid ihr? Wir sind eine politische Gruppe, die in dieser Form seit 2009 existiert. Einzelne von uns haben aber auch vorher schon in verschiedenen anderen Gruppen und Zusammenhängen miteinander oder auch einzeln Politik gemacht. Linke Gruppen gibt es ja nicht gerade wenig. Was hat euch bewogen eine weitere Gruppe zu gründen? Was steht dahinter und was versprecht ihr euch davon? Da habt ihr natürlich recht. Allerdings wollten wir erstens eine grundsätzliche Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen formulieren, und zweitens in Diskurse intervenieren, in denen diese Kritik sinnvoll eingebracht werden kann. Dahinter steht die Einsicht, dass man lediglich Feuerwehrpolitik betreibt, wenn man sich an den konkreten Erscheinungsformen des alltäglichen Wahnsinns abarbeitet. Gesellschaftliche Herrschaft erscheint zwar in jeder Alltagssituation, ist aber viel mehr als nur das.

Dem Gesamtzusammenhang auf die Schliche zu kommen, statt uns in blindem Aktionismus aufzureiben, war und ist die Idee. Könnt ihr das nochmal genauer sagen? Alltäglich kann man Kritik an vielerlei Dingen wahrnehmen. Von der Armut vieler Menschen, Lebensmittel-skandalen, Abschiebungen, Hungersnöten, Umweltzerstörung, Kriegen usw. usf. Man kann solche Dinge als typisch für unsere Gesellschaften bezeichnen, da sie ständig wiederkehren, obwohl doch immer versucht wird, ihre Ursachen zu beseitigen. Offensichtlich werden diese Probleme nur an ihrer Oberfläche angegriffen, es ändert sich – wenn überhaupt - nur kurzfristig was. Wenn man das feststellt, schließt sich die Frage an, was die Ursachen dafür sind. Hier ist die Antwort, dass wir im Kapitalismus leben. Die Menschen waren und sind immer an ihre Produktionsbedingungen gebunden - die Frage nach der Ökonomie einer Gesellschaft gibt Auskunft über ihre Bedingungen und Möglichkeiten.

Egal welche Gesellschaft man ana-lysieren möchte, man muss sich anschauen, wie sie organisiert ist. Nun zeichnet sich eine kapitalistische Öko-nomie dadurch aus, dass nicht für die Bedürfnisse der Konsumenten produziert wird, sondern um Profit zu ma-chen, der reinvestiert werden muss. Für die Frage, wer wie viel wovon bekommt, ist nicht das jeweilige Bedürfnis entscheidend und auch nicht, ob es die jeweiligen Dinge gerade gibt. Entscheidend ist, ob das Bedürfnis auch zahlungsfähig ist. So kommt es beispielsweise, dass es Nahrungsmittel im Überfluss gibt, und trotzdem Menschen verhungern. Ok. Und was ist dann eure Antwort, wie wollt ihr das Angehen? Wir wollen erst mal nicht teilnehmen an der konkreten Verbesserung einer Gesellschaft, die ihre Probleme nur verwaltet, statt sie zu lösen. Zunächst muss es darum gehen, zu verstehen, was den ganzen Laden am Laufen hält. Dazu bedarf es einer Analyse der Basiskategorien der


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bürgerlichen, kapitalistischen Gesellschaft. Die (selbst-)zerstörerischen Praxen des Kapitalismus sind dabei Dreh- und Angelpunkt, mit ihnen ist aber noch nicht alles gesagt. Zusammengehalten wird diese Wirtschaft durch den Staat, der durch seine Gesetzgebung den ökonomischen und politischen Verkehr definiert. Dass sich daran auch gehalten wird, stellt er grundsätzlich durch sein Gewaltmonopol sicher. Dies muss er aber oftmals gar nicht zur Anwendung bringen, da der Großteil der Menschen ihm und dem Kapitalismus ohnehin zustimmend gegenübersteht. Die bürgerlichen Gesellschaften zeichnen sich durch eine Vielzahl verschiedener Ideologien aus, die falsche Antworten auf dringende Fragen geben. Das soll wiederum nicht heißen, dass „die da draußen“ alle verrückt seien. Im Gegenteil: zum Beispiel entsprechen der Nationalismus und Rassismus der Leute ziemlich gut der Welt, die sie vorfinden – eine in konkurrierende Nationalstaaten aufgeteilte Welt eben. Ebenso findet der Sexismus in der oberflächlichen Aufteilung der Ökonomie in Produktion und Reproduktion seine Entsprechung. Das klingt jetzt aber hart nach Haupt-Nebenwiderspruchslogik!?! Das ist ein häufig auftretendes Missverständnis. Wir wollen beileibe nicht behaupten, dass mit der Abschaffung des Kapitalismus alle anderen gesellschaftlichen Probleme gleich mit verschwinden würden. Viele der Ideologien wie Rassismus, Sexismus etc. bestehen ja auch schon viel länger, als es der Kapitalismus tut. Alleine deshalb muss davon ausgegangen werden, dass sie auch nach dessen Überwindung fortbestehen können. Trotzdem muss man, um zu verstehen wie die Welt funktioniert, sich anschauen wie sie organisiert ist. Das ist aktuell eben kapitalistisch. Die verschiedensten Ideologien passen damit zusammen und finden so auch für diese Gesellschaft eine adäquate Funktion: als Schmiermittel und Pool einfacher, aber falscher Antworten. Was also wollt ihr all dem als Gruppe entgegensetzten? Erstmal musste es darum gehen, antikapitalistische Positionen wieder auf die Agenda zu setzen. Unter anderem deshalb sind wir auch dem bundesweiten kommunistischem Bündnis …umsGanze! beigetreten. Wir denken, dass das Bündnis diese Aufgabe in den letzten Jahren gut gemeistert hat. Daneben

ist unser Anliegen, die eigene Theoriebildung voranzutreiben und über den Tellerrand einer „linken Szene“ hinaus unsere Kritik an der Gesellschaft anzubringen. Dies scheint uns am sinnvollsten an den „Schnittstellen“ gesellschaftlicher Konflikte zu sein, also an Ereignissen, die überregional bedeutsam sind und an denen gesellschaftliche Zusammenhänge aufzeigbar werden. Dies wären politische Ereignisse, z.B. die jährlichen Fei-erlichkeiten um den Tag der Einheit oder zuletzt die Innenministerkonferenz (IMK) in Frankfurt a.M. Hier ver-suchen wir unsere Ablehnung und Kritik wahrnehmbar werden zu lassen. Zugleich können das auch Anlässe wie der Bildungsstreik vergangenes Jahr sein, an dem wir uns kritisch-solidarisch beteiligt haben, um auch in den Protest intervenieren, wenn er affirmativ wird und keine radikale Veränderung will bzw. den Staat als Verhand-lungspartner anerkennt. Politik muss unseres Erachtens immer „Antipolitik“ sein in dem Sinne, dass sie in grundsätzlicher Opposition gegen die Welt von Staat, Nation und Kapital steht. Denn jede Kritik, die nicht über das Bestehende hinausgeht, nicht die alltäglichen Verlaufsformen kapitalistischer Vergesellschaftung in Frage stellt, bleibt der Reform der ganzen Scheiße verpflichtet. Auf eine Gesellschaft hinzuwirken, deren Produktion sich an den menschlichen Bedürfnissen orientiert und sich zu ihrem Nutzen und in ihrem Sinne organisiert, ist unser Anliegen. Und dann ist die ausnahmslose Negation des Bestehenden und alles zu fordern, gemessen an diesen Verhältnissen, das Wenige was bleibt. Und das nennt ihr dann Intervention? Letztlich macht ihr ja doch nur Theorie und nichts konkretes, damit es den Leuten besser geht?? Wie wir versucht haben darzulegen, ist eine Praxis allein um der Praxis willen auch keine wirkliche Alternative, die etwas ändert. Wir möchten dass nicht selbstbefriedigend machen, um uns selbst zu beweisen dass wir „was getan“ haben, genauso wenig wie Theorie allein etwas bewegt. Theorie und Praxis müssen Hand in Hand gehen, und beim heutigen Stand der Dinge sehen wir Praxis eher als „eyecatcher“ zur Vermittlung einer Kritik, die mit dieser Gesellschaft bricht. Dieses Brechen wird dann wieder einiges an Praxis erfordern, aber mit einer Theorie, die hinter das Minimalziel des Kommunismus zurückfällt, gar nicht erst zustande kommen.

20 Jahre großes Deutschland Satirische Lesung

Fast genauso lange sind Rainer Trampert und Thomas Ebermann nun schon mit ihrer satirischen Lesung auf der Bühne. Die beiden werden einen Querschnitt aus der Sammlung ihrer Stücke bieten, die zu „20 Jahren deutsche Einheit“ und dem 3. Oktober passen. Ein Rückblick voller Überraschungen, bei dem es je nach Laune um eine deutsche Stadt im Schwarzwald, deutsche Flaggenparaden auf Fußballfesten, die Leitkultur am Beispiel einer Wagner-Oper, die Ehrung eines berühmten Fußballspielers, saubere Häuserwände, die Rückkehr der Hirnforschung zur Schädelmessung, die neuen Elite-Unis, eine Nachbetrachtung zum deutschen Herbst, deutsche Märchen, einen deutschen Troubadour oder um etwas anderes aus dem reichhaltigen Programm gehen wird. Nach der Kritik „haben Trampert und Ebermann brillanten, an Marx geschulten Humor“, bei dem auch noch „vor jeder Pointe eine ernsthafte Analyse steht“ (taz). Mancherorts hatten sie „einem Teil des Publikums derart zugesetzt, dass ihnen schon zur Pause der Kopf rauchte“ (Mopo). „Was das Duo präsentiert, hat den Charakter einer dialogischen Lesung, bei der die Sätze und Satzteile ineinander greifen – eine wirkungsvolle und unbestechliche Montagetechnik.“ Nur „die Frage, wie Deutschland den Sprung in die Zukunft schafft, blieb eher offen“, kritisierte die Rheinische Post. Das ist wieder zu befürchten, weil Trampert und Ebermann den Vorsatz pflegen, dem Zeitgeist die Arglosigkeit zu nehmen, ohne sich das Denken durch politischen Pragmatismus verkleistern zu lassen. Satirische Lesung mit Rainer Trampert und Thomas Ebermann Montag, 03.10.2011 Extra Bluesbar 20 Uhr


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Jeden 1. Montag im Monat ab 20 Uhr in der Extra Blues Bar

Termine 2011 3. Oktober 20 Jahre Großes Deutschland – Satirische Lesung von Gruppe Kritik & Intervention mit Rainer Trampert und Thomas Ebermann 7. November „Die (radikale) Linke, Macht & Herrschaft“ von und mit :uniLinks! 5. Dezember Gemütlicher Liederabend von und mit Roter Montag

http://rotermontag.blogsport.de rotermontag@gmx.de

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Materialistische Theorien über Staat und Nationalismus Vom Kuschelkurs mit der Nation zum antideutschantinationalen Grabenkampf Angesichts des jungen Alters von modernen Nationalstaaten und der in seinem Namen geführten Kriege und Ausschlüsse, verwundert auf den ersten Blick der positive Bezug vieler marxistischer Theorien auf die angebliche überhistorische Unwandelbarkeit von Nationen. Dies gilt nicht nur für die parteimarxistische Vergangenheit des 19. und 20. Jahrhunderts – auch heute noch, selbst nach den Erfahrungen grausamster

postkolonialer Befreiungsbewegungen, überwiegt ein linker Impuls, Völker oder Ethnien als Faustpfand für den Kampf gegen das „System“ zu halten. Die Gründe liegen freilich in der Attraktivität kollektiver Identitätsbestimmung und der Komplexität kapitalistischer Gesellschaft. Kritische marxistische Bestimmungsversuche hatten es demgegenüber schwer und wurden, zumal in Deutschland, schnell abgewehrt, wie dies die schnelle Wendung von der durch die Kritische Theorie inspirierte 68er-Studierendenopposition zu den Mao und Lenin verpflichteten K-Gruppen der 1970er Jahre beispielhaft zeigt. Eine Skandalisierung des linken Kuschelkurses mit der Nation erfolgt hierzulande erst nach 1989 mit dem Beginn von Großdeutschland durch die Antideutschen und Antinationalen, wobei sich beide Lager bis heute streiten etwa bei der Bewertung von Großereignissen wie dem Tag der deutschen Einheit.

Das Tagesseminar setzt keine Vorkenntnisse voraus und soll in respektvoller und offener Diskussionskultur stattfinden. Darin werden verschiedene vergangene und aktuelle marxistische Bestimmungsversuche des Nationalstaats und Nationalismus sowie deren Geschichte vorgestellt und anhand von Textpassagen gemeinsam diskutiert. Es werden zentrale Thesen präsentiert und die Potentiale und Defizite der jeweiligen Ansätze besprochen. Oliver Barth promoviert an der Leibniz Universität Hannover und veröffentlicht unter anderem in jungle world und Phase2. Tagesseminar

mit Moritz Zeiler Sonntag, 02.10.2011 Universität Bielefeld 10 Uhr


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