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Wissen(schaft) & Literatur
Thomas Streifeneder
„Der Dichter ist mit der Wahrheit verheiratet, er hat aber daneben eine zärtliche Beziehung zur Phantasie.“ Alfred Polgar (2003)
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Don Quijote liest (zu) viele Ritterromane. Der Rest ist weltbekannt(es Literaturwissen): Er reitet in musealer Ritterrüstung mit Sancho Pansa durch die spanische Mancha. Aus der Zeit gefallen ist er, gefangen in seiner fiktiven Welt. So sehr, dass er Riesen-Windmühlen anrennt und bekämpft. Er genoss eine verwirrende Überdosis Literatur. Über das Ritterwesen und ihre Zeit weiß er aber alles; er ist eine wandelnde Ritter-Enzyklopädie. Literarische Werke verändern uns. Selten so stark wie Don Quijote. Doch nach der Lektüre sehen wir die Welt, unsere soziale Wirklichkeit meist etwas anders. Weil wir neues Wissen erwerben. Das macht Literatur literaturdidaktisch und gesellschaftspolitisch relevant. Ein Streifzug durch Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Wechselwirkungen von Literatur und Wissen(schaft).
Wissenscontainer Literatur. Viele Werke der Literatur sind wahre Wissensfeuerwerke. In narrativ-kraftvollen Sprach-Kunstwerken feiern die Schriftsteller*innen das Wissen unterschiedlichster wissenschaftlicher Disziplinen, aber auch praktisches, alltägliches und lokales Wissen, Erfahrungen und Beobachtungen. Gelungene historische Romane sind zum Beispiel voller Geschichtswissen. Spannend und erkenntnisreich vermitteln sie historische Ereignisse oder Epochen aus einer besonderen Perspektive. Romane über die bewegte Südtiroler Zeitgeschichte sind Bestseller. Dem literarischen Wissen in Romanen trauen Wissenschaftler viel zu. Oft mehr als wissenschaftlichen Beiträgen. Jedenfalls wenn es um die Vermittlung komplexer internationaler gesellschaftlicher Entwicklungen geht. Wer die politischen Prozesse im postkolonialen Afrika oder Indien verstehen will, sollte lieber Romane lesen und nicht einen Bericht der Weltbank. So David Lewis, Dennis Rodgers und Michael Woolcock (2008). Sie sind
Inhalt
Thomas Streifeneder bespricht mit Marc Zebisch literarische Formate wie Climate Fiction und Öko-Thriller.
Die Frage, warum wir auf Berge steigen, führt Martina Kopf ins Miniaturgebirge von Fontainebleau.
Oft vermitteln Romane ein konstruiertes Bild des ländlichen Raumes. Thomas Streifeneder sucht authentische Alternativen.
Romane fügen geschichtswissenschaftlichen Deutungen eine literarische Dimension hinzu, findet Josef Prackwieser
Simone Mair und Lisa Mazza von BAU geben Einblicke in das Gewächshausprojekt Caldera
Der Garten als Fundus und Inspirationsquelle: Zu Besuch bei Carmen Müller
Veronika Oberbichler lässt im Distelmeer der SAVANNEN Poesie erblühen.
Brennend heiße Climate Fiction Literatur stellt Lydia Zimmer vor.
Vielseitige Kunst wurde am LanaLive Kulturtag im alten Magazin in Zusammenarbeit mit dem Lions Club Meran Host gezeigt.
Öko-Thriller und Climate Fiction
Literarische Erzählungen bedienen sich häufig wissenschaftlicher Erkenntnisse, etwa aus der Klima-, Natur- oder Geschichtsforschung. Auf diese Weise entstehen neue Genres, zwischen Weissagungen und gebrochenen Narrativen, wie jüngst Öko-Thriller oder Climate Fiction. Zukünftige Folgen des Klimawandels literarisch vorherzusagen und in utopische, meist dystopische Erzählungen zu packen, ist jedoch ein literarisches Wagnis, ein Kraftakt. Doch das Wort ist geduldig und die Literatur kann hier wagen, was die Wissenschaft nicht leisten kann.
Sie kann wachrütteln und unsere Wahrnehmung schärfen, aber auch zu einem besseren Verständnis unserer Lebenswelt beitragen. Nicht zuletzt erreicht sie ein breiteres Publikum als wissenschaftliche Beiträge in Fachjournalen, die erst durch mediale Verbreitung populär werden. Die Wissenschaft dagegen muss auf dem Boden der Tatsachen operieren und steckt hinsichtlich präziser Prophezeiungen in einer Zwickmühle. So wird zum Beispiel von ihr erwartet, dass sie Naturkatastrophen rechtzeitig vorhersagt, andererseits lässt die Faktenlage dies aber oft gar nicht zu.
Die vorliegende Ausgabe der Kulturelemente –angeregt und großteils von Thomas Streifeneder, dem Leiter des Instituts für Regionalentwicklung der Eurac Research, konzipiert – ist dieser Diskrepanz zwischen Wissenschaft und neuen literarischen Genres, die sich daraus ergeben, auf der Spur. Fiktionale Texte verbreiten und veranschaulichen Wissen – jedoch ohne Fußnoten und ohne Gewähr. Es könnte auch alles ganz anders kommen. Dennoch regen sie zur Hinterfragung an, denn sie blicken in die noch ungeschriebene Zukunft und vermitteln so auch die Vergangenheit neu.
Hannes Egger / Haimo Perkmann
Soziologen, Wirtschaftswissenschaftler und Geographen und empfehlen für dieses Thema die Romane von Fieldings („Cause Cebab“, 1994), Shuklas („Raag Darbari“, 1968) oder Mistrys („A fine balance“, 1996). Oder Alis Sozialreportage „Brick Lane“ (2003), um globale Entwicklungen besser nachvollziehen zu können.
Literarisches Wissen. Wer diese Werke liest bildet sich weiter. Und wer Rosinante, Dulcinea und Sancho Pansa kennt, gewinnt literarisches Wissen. Er kann mit anderen über diese grandiosen fiktiven Figuren reden. Er kann im Alltag Vergleiche, Anspielungen anstellen. Der Mensch, dem ich auf dem Feldweg begegne und mich an Sancho Pansa erinnert, wird plötzlich ein anderer Mensch.
„Literature gets us to think anew, it knows about the ›other‹ and motivates us to contemplate different spatial and social orders, which would otherwise remain concealed or suppressed.“
Angharad Saunders (2010) missverständlich zu präsentieren versucht? Meisterliche Sprachkunst ist nicht nur Garant für das Verständnis von Komplexem. Sie lässt uns bestenfalls aus der Realität ausgeklinkt abdriften im fiktiven Aquarium der Gefühle und als empathische Menschen mit mehr Selbsterkenntnis wieder auftauchen.
Wissenserweiterung. Literarische Werke liefern wichtige ontologische und anthropologische Erkenntnisse über bekannte Ereignisse. Bedeutend, interessant und spannend sind sie aber vor allem, weil sie insbesondere von (scheinbar) Marginalem, Unbeachtetem, selten Wahrgenommenem berichten. Aus einer unerwarteten Perspektive erzählen sie über Peripherien, spezielle Lebenswelten, Begebenheiten, Ereignisse, die sich sonst nirgendwo erlesen lassen, ausgeblendet werden, eigentlich unsagbar und kaum zu fassen sind. Uns mit randständigen und unberücksichtigten Realitäten zu konfrontieren, macht auch ein gelungenes Kunstwerk aus (Alain de Botton 2011). Literarische Werke zeigen uns Wirklichkeiten, über die wir noch nicht nachgedacht haben oder die uns nicht bewusst waren. Sie eröffnen nach Peter Handke neue Seh-, Sprech-, Denkund Existenz-Möglichkeiten. Das klingt stark nachdem, was auch innovative Forschung leisten sollte.
Antizipiertes Wissen. Zum Beispiel Georg Büchner mit den Werken „Woyzeck“ (1836/37) und „Lenz“ (1839).
„Ich verdanke der Literatur, dass sie mich in Bereiche geführt hat, die mein eigenes Erleben niemals auch nur gestreift hätte.”
Roger Willemsen (2020)
„Still! Wir wollen in eine Seele schauen.“
Thomas Mann, Tonio Kröger (1903)
HERAUSGEBER Distel-Vereinigung
ERSCHEINUNGSORT Bozen
PRÄSIDENT Johannes Andresen
VORSTAND Peter Paul Brugger, Gertrud Gasser, Martin Hanni, Bernhard Nussbaumer, Reinhold Perkmann, Roger Pycha
KOORDINATION Hannes Egger, Haimo Perkmann
VERANSTALTUNGEN
PRESSERECHTLICH
VERANTWORTLICH Vinzenz Ausserhofer
FINANZGEBARUNG Christof Brandt
SEKRETARIAT Hannes Egger
– 39100 Bozen, Silbergasse 15
Tel +39 0471 977 468
Fax +39 0471 940 718 info@kulturelemente.org www.kulturelemente.org
GRAFIK% SATZ Barbara Pixner
DRUCK Fotolito Varesco, Auer
LEKTORAT Olivia Zambiasi
BEZUGSPREISE Inland Euro 3,50, Ausland Euro 4,00
ABONNEMENT Inland Euro 22,00, Ausland Euro 29,00
BANKVERBINDUNGEN Südtiroler Landessparkasse Bozen
IBAN IT30 F060 4511 6010 0000 1521 300
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Südtiroler Landesregierung, Abteilung Deutsche Kultur
Die kulturelemente sind eingetragen beim Landesgericht Bozen unter der Nr. 1/81. Alle Rechte sind bei den Autorinnen und Autoren. Nachdruck, auch auszugsweise, ist nur mit Genehmigung der Redaktion und Angabe der Bezugsquelle erlaubt.
Komplexes Weltwissen. Lesen wir Romane und Erzählungen, dann fliegen wir wie Falken über Landschaften von Menschen und Gesellschaften. Der Blick aus der Höhe, aufs Ganze. Und der durchdringende Blick auf winzigste Details komplexer Lebenswelten. In wenigen Sätzen, auf ein paar Seiten entwickelt Literatur ein Panorama an raum-zeitlichen, individuellen, gesellschaftlichen und kulturellen Einzelheiten und Bedingungen. Literatur vermittelt komprimierte Gesamtsichten auf individuelle und soziale Entwicklungsverläufe in bestimmten Epochen. Diese ganzheitliche Herangehensweise macht Literatur zu einer Querschnittsdisziplin, einem interdisziplinären Medium. Zu einer literarischen inter-/ multidisziplinären Wissenschaft? Literatur als zielführendes Modell für eine wissenschaftlich holistische Herangehensweise im Zeitalter des Anthropozäns?
Literatur schafft Wissen. Zum Beispiel das Wissen mit meinen Gewohnheiten, Einstellungen und mentalen Zuständen nicht allein zu sein. Alain de Botton (2011) spricht von der helfenden Funktion von Literatur gegen die Einsamkeit. Die Darstellung von Einzelschicksalen ist meist exemplarisch und stellvertretend für die Situation anderer. Zum Beispiel von verlassen, alleinlebenden Menschen (Streifeneder/Piatti 2022). Die fiktiven menschlichen Erlebnisse zeigen, wie normal unsere Gefühls- und Gedankenwelt ist. Ist das die wissenschaftliche Fallstudie, die exemplarisch ist und sich auch auf andere räumliche und soziale Kontexte übertragen lässt?
Woyzeck gilt als psychiatrische Krankheitslehre. Lenz als für die Darstellung der Schizophrenie bekannte Erzählung. Beide sind Beispiele wie vor der psychiatrischen Fachliteratur literarische Werke psychologische oder psychiatrische Fälle beschreiben. Thematisch verwandt ist auch die Bearbeitung der physiognomischen Frage in den Werken Jean Pauls, u.a. in „Des Feldpredigers Schmelzle Reise nach Flätz“ (1809). In diesen wird das Thema, ob mentale Zustände körperlichen Ausdruck finden, immer wieder experimentell durchgespielt. Und was Mary Shelley in ihrem berühmten „Frankenstein; or, the Modern Prometheus“ (1818/1831), eine der ersten Science-Fiction-Romane, über einen künstlich geschaffenen Menschen erzählt, wird durch die enormen Entwicklungen in der modernen Biotechnologie vielleicht bald Realität. Überhaupt bietet Science-Fiction einen möglichen Fundus an antizipiertem Wissen über das, was auf uns zukommen kann (und von der Forschung aufgegriffen werden sollte?). Climate-Fiction scheint damit gleichzeitig auf Klimawandelwissen zu reagieren. Sie liefert eine (Über-)Interpretation aktueller Wissensbestände. Sie präsentiert aber auch eine wirkungsvolle Problematisierung von Tatsachen, weil sie zeigt, was das heutige Wissen an zukünftigen Herausforderungen bedeuten kann. Lassen uns gut recherchierte Climate-Fiction-Werke wie Kim Stanley Robinsons „Das Ministerium der Zukunft“ (2021) nicht verständlicher als abstrakte wissenschaftliche Klimaszenarien imaginieren, welche dystopische Welten, Klimazukünfte und sozio-politische Disruptionen durch den Klimawandel vorstellbar sind?
Emotionales Wissen und Empathielehre. Dass fiktive Werke in sensitive Welten und Gefühlszustände eintauchen ist ihr besonderes Kennzeichen und eine der Literatur eigene Wissensform. Sonst unzugängliche Bereiche des Selbst und Persönlichen werden zugänglich. Erfahrbar wird die „Morphologie des Seelenlebens“ (Streifeneder/Piatti 2022). Mittels innerer Monologe und Psychogramme werden den feinsten mentalen Nuancen von Emotionen und Empfindungen nachgespürt, Psychologien seziert. Das bleibt nicht wirkungslos. Neurowissenschaftler (sic!) haben bewiesen: Über Emotionen lesen sensibilisiert und beeinflusst unsere eigenen Emotionen. Das Lesen (zwischen)menschlicher Schicksale und Innenwelten lehrt Empathie und Einfühlungsvermögen. Literatur schult soziale Kompetenzen und unsere Wahrnehmung, Einstellung und unser Verständnis anderer. Kognitive neurowissenschaftliche Ergebnisse belegen die dahinterstehende Theory of Fiction und Theory of Mind: Durch die Fiktion werden die gleichen Areale des Gehirns aktiviert, wie während der Durchführung ähnlicher Aktivitäten und Wahrnehmungen im Alltag. Eine Persönlichkeitsentwicklung passiert aber auch dann, wenn mich das Erzählte gar selbst betrifft, es Selbstreflektion und -verständnis anregt. Dann wird gelungene Literatur zu einer Bibliotherapie. Weil sie im Wiedererkennen Erleichterung bedeutet oder auch Bewältigungsstrategien in Gang setzt. (Beim Forscher ist es beim Lesen eines Journalartikels wohl eher die Frage, wo der Fehler liegt).
Sprachlich eintauchen. Lesend Empathie zu erlernen, benötigt, nach der „Narrative Transportation Theory“, „narrative Empathie“. Das heißt eine Lektüre, die mich mitleben und teilnehmen lässt. Wie intensiv wir uns in einem Buch vertiefen, mit ihm auseinandersetzen und narrativ „eintauchen“, hängt von vielen persönlichen und stilistischen Faktoren sowie Bedingungen ab; auch davon, wie lange wir überhaupt schon Lesen. Entscheidend ist aber die Sprache. Wissenschaftliche Studien belegen, dass vertieftes Lesen von der stilistischen Qualität der Werke abhängt und sie Psychisches, Räumliches und Soziales sprachlich verschmelzen können. Es geht um sprachliche Grenzbereiche des eigentlich Unsagbaren, wo Stil mit Subtilem verschmilzt (Michael Maar 2021). Trifft das nicht auch auf einen wissenschaftlichen Artikel zu, der mittels Fachsprache, Abbildungen und Formeln Forschungsergebnisse un-
Popularisierung von Wissen. Der Historiker Harari (2018) ist überzeugt, dass Menschen eher mit Geschichten als mit Fakten erreicht werden. Jemand, der von der bewegten Geschichte Südtirols wenig Ahnung hat, wird zum Beispiel Francesca Melandris „Eva schläft“ (2011) oder Marco Balzanos „Ich bleibe hier“ (2020) mit viel Gewinn lesen. Historiker, Autonomieexperten und Südtiroler*innen werden diese Bücher aufgrund ihres Wissens eventuell anders beurteilen und sind deshalb vielleicht weniger einfach zu begeistern. Das mag manche Autoren motivieren wie Wissenschaftler vorzugehen und explizit in einem Nachtrag (siehe Nota S. 177ff, Marco Balzano „Resto qui“, 2018) oder an anderen Stellen (u.a. Tagebuch) Zeugnis über ihre Datenquellen und Recherchen abzulegen. Beweis von Professionalität, Qualität und Authentizität des Erzählten?
Wirkkräftiges Wissen. Die Wirkkraft narrativer Werke bei der Wissensvermittlung nutzt wiederum zunehmend auch die Wissenschaft („Poetologien des Wissens“). Das zeigen die Wissenschafts-Blogs/-Podcasts und Science Slams, die in den letzten Jahren enorm an Bedeutung gewonnen haben. Auch weil offenbar wurde, dass sich zum Beispiel Umweltthemen durch die wirkungsvolle Erlebniserfahrung in narrativen Werken scheinbar eingehender und überzeugender vermitteln lassen als in wissenschaftlichen Beiträgen. Zutreffend auch für das, was gerade an Umweltzerstörung passiert und auf uns zukommt? Selbst Klimaforscher wie Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung erkennen den Verdienst von Climate-Fiction an (Spiegel, 17.09.2022). Ihn überzeugte die inhaltliche Qualität gut recherchierter aktueller Science-Fiction Romane. Sie erweisen gegenüber wissenschaftlichen Ergebnissen einen konkreteren Dienst für die Vorstellung der Welt von morgen.
„Lebenswahr? Das genügt nicht. Der Zuschuß an Überlebenswahrheit ist es, der Dichtung von Bericht unterscheidet.“
Alfred Polgar (2003)
Wichtige Referenzen des Beitrages sind die Publikationen und das Konzept ´Rural Criticism` – Erzählungen über ländliche Räume (www.rural-criticism.eu), erarbeitet in Zusammenarbeit mit der Basler Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Frau Dr. Barbara Piatti (https:// barbara-piatti.ch/).