In Tallinn leben

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In Tallinn leben Geschichten von Menschen und Häusern Treten Sie ein! – so habe ich einen meiner ersten Blogtexte aus Tallinn betitelt. Ich habe ihn nach einem Spaziergang mit Eduard Kohlhof verfasst. Eduard ist Stadtführer und hat mich so manches Mal durch die Straßen der Stadt begleitet. Er sagt, wenn man Tallinn wirklich kennenlernen will, muss man seine Nase hineinstecken. Sich nicht mit dem Vorbeigehen begnügen, sondern in die Hinterhöfe schauen, einen Umweg einplanen, hölich fragen, ob man eintreten darf. Diesen Ratschlag habe ich befolgt. Zu Beginn meines Aufenthalts in Tallinn erkundete ich die Stadt zunächst auf den klassischen Touristenpfaden: Durch die alten Stadttore hindurch, an den gotischen Speicherhäusern vorbei, über Kopfsteinplaster hinauf auf den Domberg. Ich beobachtete, wie die anderen Touristen und ich gleichermaßen begeistert um die Wette fotograierten und verstand, dass die prächtige Kulisse von Tallinn eine große Anziehungskraft auf die Menschen ausübt und regelrecht verzaubert. Die Bilder von all den wunderbaren Fassaden, Straßenzügen und Gemäuern Tallinns sind in unzähligen Fotoalben und auf Festplatten als Urlaubserinnerung verewigt. Sie sollen mit dieser Foto-Ausstellung ergänzt werden. Während die meisten Bilder, die die Besucher Tallinns machen, im Vorübergehen aufgenommen sind, möchte ich auch Bilder zeigen, die nach dem Hineingehen entstanden sind. Damit setze ich in dem Moment an, in dem sich Reisende auf die Zehenspitzen stellen, um einen Blick über den Zaun zu werfen oder versuchen, durch die Gardine kurz in ein Wohnzimmer zu schielen. Und in dem Moment, in dem sie, wenn sie Glück haben, die Menschen kennenlernen, die in einer Stadt leben.

Folgerichtig präsentieren sich die Fotos immer im Doppelpack, mit einer Aufnahme von außen und einer Aufnahme von innen. Die dazugehörigen Texte erzählen jeweils eine kurze Geschichte, die aus zwei Teilen besteht. Einer spielt in der Vergangenheit, einer in der Gegenwart. Es liegt am Betrachter, diese Geschichte beliebig fortzuspinnen. Denn die Fragen, die mich während der Vorbereitung dieser Ausstellung begleitet haben, waren immer auch die nach der Vergangenheit: Wie sah sie aus? Was bedeutet sie heute für die Menschen? Gibt es eine Verbindung zwischen einst und jetzt? Entstanden sind die Bilder im Zeitraum zwischen Mitte Mai und Mitte September 2011. Während meiner Erkundungstouren durch die Stadt, auf der Suche nach den passenden Motiven und im Gespräch mit den Menschen, die ich fotograierte, habe ich viel gelernt und die Stadt auf eine besondere Art und Weise kennengelernt. Ich bin hinter den alten Gemäuern einem äußerst lebendigen Tallinn begegnet und habe gemerkt: Die Kulisse hält dem Blick hinter sie stand. Viele der Funktionen, die die Stadt im Mittelalter besessen hat, erfüllt sie noch immer. Tallinn ist Zentrum und Marktplatz, ein Ort, an dem man Waren kaufen kann, Dinge erledigen, Wissen erwerben und Ideen tauschen. Sicherlich mag dieser Handel im Mittelalter anders ausgesehen haben, aber das Prinzip, dass die Stadt als Knotenpunkt fungiert, hat sich nicht geändert. Eine Stadt bleibt eine Stadt bleibt eine Stadt. Eine Stadt zieht immer auch kreative Köpfe an. Die Auswahl der Menschen und Projekte, die hier vorgestellt wird, ist nicht repräsentativ, aber doch

aussagekräftig. Wenn man aus den Fotos ableiten will, welche Menschen sich im historischen Zentrum der Stadt besonders wohl fühlen, dann sind es wahrscheinlich besonders oft leidenschaftliche Menschen, die ihre eigenen Ideen umsetzen wollen. Und es sind Menschen mit einem Gespür für Geschichte. Die alte Stadt ist für sie Inspiration. Viele Menschen in Tallinn haben einen ausgeprägten Sinn für die historische Umgebung, in der sie arbeiten oder wohnen. Sie kennen zwar nicht immer die genauen Fakten und Daten zu den Gebäuden, aber im Gespräch ist herauszuhören, dass die geschichtsträchtige Atmosphäre sie fasziniert und mit Stolz oder Ehrfurcht erfüllt. Und nicht wenige Bewohner wollen das kulturelle Erbe ihrer Stadt bewusst bewahren und zeigen dabei viel Geschick. Das historische Tallinn ist nicht nur in der Altstadt zu inden, das haben mir die Menschen hier gleich klar gemacht. So sind viele Fotos jenseits der Stadtmauern entstanden, wagen auch hier den zweiten Blick über das Naheliegende hinaus. Jedes Stadtviertel macht das Bild von Tallinn bunter und vielschichtiger, wie in einem kunstvollen Kaleidoskop. Und doch habe ich das Gefühl, dass ganz Tallinn in konzentrischen Kreisen um die Altstadt herum angeordnet ist. Dort, wo die Stadt am ältesten ist, schlägt bis heute ihr Herz.

Das Schriftstellerhaus besticht nicht gerade durch Schönheit und fällt neben all den gotischen Fassaden der Tallinner Altstadt doch ein bisschen auf. Es wurde 1963 in der Harju-Straße errichtet, dort, wo die sowjetischen Bombenangriffe gegen das von Deutschland besetzte Tallinn im März 1944 die größten Zerstörungen angerichtet hatten. Hier leben nicht nur mehrere Schriftsteller, Lektoren und Übersetzer, sondern hier hat auch der Estnische Schriftstellerverband seinen Sitz. Im „Saal mit der Schwarzen Decke“ im zweiten Stock inden regelmäßig Festivals und Symposien statt und in der Wintersaison die wöchentlichen Literaturtreffen am Mittwochabend.

Stadtschreiberin Tallinn 2011

Diese Foto-Ausstellung ist Teil des Projekts „Stadtschreiberin Tallinn 2011“, das im Sommer 2011 in der estnischen Hauptstadt verwirklicht wurde. Sarah Jana Portner, eine junge Journalistin aus Bayern, hat von Anfang Mai bis Ende September in Tallinn, dem früheren Reval, gelebt und ihre Annäherung an die Stadt in einem Blog festgehalten. Eingang in das InternetTagebuch fanden zum einen Momentaufnahmen und Alltagserlebnisse. Zum anderen hat sich Sarah Jana Portner immer wieder auf Spurensuche begeben, um mehr über die Geschichte der Stadt zu erfahren. Der Blog wurde von Nele Meikar ins Estnische übersetzt und ist im Internet unter www.stadtschreiber-tallinn.de

und www.tallinna-linnakirjutaja.com zu inden. Das Stadtschreiber-Stipendium des Deutschen Kulturforums östliches Europa soll das gemeinsame kulturelle Erbe der Deutschen und ihrer Nachbarn in jenen Regionen Mittel- und Osteuropas, in denen Deutsche gelebt haben bzw. heute noch leben, in der breiten Öffentlichkeit bekannt machen sowie herausragendes Engagement für gegenseitiges Verständnis und interkulturellen Dialog fördern. Es wird vom Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) dotiert. Das Projekt ist als Wanderstipendium konzipiert und geht jedes Jahr mit einem anderen Autor in eine andere

Stadt. 2009 war es in Gdansk/Danzig (Polen) und 2010 in Pécs/Fünfkirchen (Ungarn) angesiedelt. 2011 wurde es in Zusammenarbeit mit dem Estnischen Schriftstellerverband und der Stadt Tallinn in der estnischen Hauptstadt verwirklicht. Dass Tallinn in diesem Jahr Kulturhauptstadt Europas war, bot den willkommenen und passenden Anlass. Auch in den kommenden Jahren soll das Stadtschreiberprojekt jeweils in einer Kulturhauptstadt stattinden. So soll es etwa 2012 einen Stadtschreiber in Maribor/ Marburg (Slowenien) und 2013 einen Stadtschreiber in Košice/Kaschau (Slowakei) geben. In der Gästewohnung des Schriftstellerverbands kommen Gäste unter, die aus dem Ausland anreisen. Im Sommer 2011 wohnte dort in einem Zimmer Sarah Jana Portner, die fünf Monate lang als Stadtschreiberin in Tallinn gearbeitet hat. Sie schrieb ein Internet-Tagebuch und stellte eine Foto-Ausstellung zusammen, die den Blick hinter die Tallinner Fassaden zeigt. Das Projekt hat ihr viel Spaß gemacht. Doch es wäre wohl nur halb so erfolgreich verlaufen, wenn sie in Tallinn nicht vielen aufgeschlossenen Menschen begegnet wäre, die sich Zeit für sie genommen haben, und wenn nicht die Daheimgebliebenen immer mal wieder eine Postkarte in die Harju-Straße geschickt hätten.

© Sarah Jana Portner, Deutsches Kulturforum östliches Europa

Das Projekt „Stadtschreiberin Tallinn 2011“


Dieses schmale Haus an der nordöstlichen Ecke des Rathausplatzes ist eines der ältesten der Stadt, die Kellermauern datieren aus dem 14. Jahrhundert. Bemerkenswert ist auch das gut erhaltene Kaminsystem aus dem 15. Jahrhundert. Von der Feuerstelle in der Diele aus leitete es die warme Luft in den Wohnraum, in dem noch heute ein schmucker Kachelofen steht. Und die Holzbalkendecke in der Diele hält sogar einen Rekord: Sie stammt aus der Mitte des 16. Jahrhunderts und ist die älteste ihrer Art in Tallinn. So gestaltet sich ein Rundgang durch das Gebäude wie ein Museumsbesuch.

Passenderweise arbeiten dort die Menschen, die sich mit den Baudenkmälern Tallinns bestens auskennen: Die Mitarbeiter der städtischen Abteilung für Denkmalplege. Eine von ihnen ist Kunsthistorikerin Erja-Liina Raidma. Sie gehört zu dem Team, das ganz oben unter dem spitzen Dach sitzt und für die Viertel jenseits der Altstadt zuständig ist. Bei Gebäuderenovierungen in Gegenden wie Kalamaja, Kadriorg oder auch Lasnamäe berät sie Architekten und Hausbesitzer. Und in der Mittagspause genießt sie den Blick auf den Trubel am Rathausplatz.


Die Tallinner Ratsapotheke rühmt sich, die älteste Apotheke Europas zu sein. Ob sie das tatsächlich ist, ist nicht gewiss, fest steht, dass sie im Jahr 1422 bereits den dritten Besitzer hatte und über zehn Generationen hinweg von den Söhnen der Familie Burchart geführt wurde. Viele Jahrhunderte lang erfüllte die Apotheke für die Stadt auch die Funktion eines Cafés und der Inhaber musste seine Kunden kostenlos mit dem Würzwein Klarett bewirten. Dessen Zutaten wuchsen neben anderen Heilplanzen in den Apothekengärten im Pfarrhof der Heiliggeistkirche und vor den Stadtmauern.

Auch heute hängen im Keller der Apotheke, in kleine Sträußchen gebunden, Kräuter zum Trocknen: Weidenröschen, Johanniskraut, Schafgarbe, Kamille, Thymian und Frauenmantel. Biologin Silja Pihelgas hat die Aufgabe, die traditionsreiche Atmosphäre der Apotheke zu bewahren, und sammelt deshalb im Sommer Kräuter, um nach alten Rezepturen duftende Salben, Tees und Tinkturen herzustellen. So kann sie, wenn sie Schulklassen und Touristengruppen durch die Räume führt, gut erklären, wie die Arbeit eines Apothekers früher ausgesehen hat.


Marzipan wird in diesem stolzen Haus an der Gabelung Lange Straße – Heiliggeiststraße (Pikk – Pühavaimu) schon seit über 200 Jahren hergestellt. Genauer seit dem Jahr 1806, als Lorenz Cavietzel, ein Konditor schweizerischer Herkunft, hier ein Café eröffnete. Zu einer echten Erfolgsgeschichte wurde die Marzipanproduktion seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, als die deutschbaltische Familie Stude das Café übernahm. Die edlen Kreationen der Familie waren so berühmt, dass sie bis an den Hof des Zaren in Sankt Petersburg geliefert wurden.

Wer in die „Martsipanituba“ (Marzipanstube) tritt, kann in der linken Ecke des Verkaufsraums Külli Mihkla beobachten, die mit engelsgleicher Geduld und ruhiger Hand Marzipanigürchen bemalt. Mit einem Pinsel und Lebensmittelfarbe verpasst die Graikerin jeden Tag vielen kleinen Tieren niedliche Gesichter. Hunde, Affen, Katzen, Vögel, Fische, Schildkröten – in den Schaufenstern des Geschäfts ist fast die gesamte Tierwelt zu bestaunen. Die meisten der rund 200 Holzformen, mit denen die Figuren angefertigt werden, sind noch Originale aus dem 19. Jahrhundert.


Jüri Kuuskemaa ist einer der Altstadtexperten in Tallinn und fühlt sich im Herzen der Stadt wohl wie ein Fisch im Wasser, so sagt er. Seit vielen Jahren schon wohnt er deshalb in diesem Haus in der Pikk-Straße. Dass dieses eine gotische Fassade besessen hat, ist kaum mehr zu erahnen, stattdessen fällt eine Fensterfront im Stil der Renaissance ins Auge. Doch eine kleine Holztür unter einem der Fenster verrät, dass die Geschichte des Hauses älter ist als zunächst vermutet. Denn hinter ihr führt eine kleine Treppe hinunter in den Keller, dessen Mauern noch aus dem frühen 14. Jahrhundert stammen.

Dort, wo früher der Ofen das ganze Gebäude beheizte, hat Jüri Kuuskemaa eine kleine Galerie mit alten Ansichtsgraiken eingerichtet. Im Lauf von vier Jahrzehnten hat der Kunsthistoriker rund 90 Exemplare zusammengetragen und restaurieren lassen und zeigt sie nun gerne den Gästen, die er durch die Stadt führt. Die meisten Bilder stammen aus der Biedermeierzeit und zeigen Reval aus einem entsprechend gemütlichen Blickwinkel. Dass es uns gestressten Menschen von heute gut tut, diese Idyllen aus dem 19. Jahrhundert zu betrachten, davon ist Jüri Kuuskemaa überzeugt.


Dass es in der LaboratooriumiStraße eine Kirche gibt, erkennt man erst auf den zweiten Blick, wenn man den Glockenturm auf dem Dach eines kleinen Speicherhauses entdeckt. In der Tat war das Gebäude aus dem späten 15. Jahrhundert nicht immer ein Gotteshaus gewesen. Zuerst wurde es als Warenspeicher genutzt, dann lange Zeit als Konirmationssaal der Olai-Kirche und zu Sowjetzeiten als KGB-Lager. Mitte der 1990er Jahre erwarb die Ukrainische GriechischKatholische Kirche das Haus, renovierte es und baute es zu einer Kirche um, die im Jahr 2000 ihre Türen öffnete.

Diese ist seitdem zu einem echten Begegnungszentrum geworden, in dem sich Menschen treffen, ohne dass deren Muttersprache, deren Nationalität oder deren Konfession eine große Rolle spielen würden. In den Werkstätten der Kirche stellen junge Künstler und Handwerker handgeschöpftes Papier, kalligraische Kunstwerke oder Holzschnitzereien her. Die Erzeugnisse werden in Ausstellungen präsentiert oder in Souvenirläden verkauft. Viele Künstler kommen aus der Ukraine und leben für einige Monate in Tallinn – so wie zum Beispiel im Sommer 2011 Roman Dubenchuk.


Die Geist-Gasse (Vaimu) verbindet zwei Hauptstraßen in Tallinns Altstadt, die Lange Straße (Pikk) und die Breite Straße (Lai). Sie ist einer der stilleren Orte, Touristen laufen selten hindurch, Autos haben keine Zufahrt. Die Häuser vorne links, auf der Nordseite der Gasse, sind – für die Verhältnisse in Tallinns Altstadt – recht spät errichtet worden. Auf einer Zeichnung aus dem Jahr 1825 ist zu erkennen, dass sich dort, wo sie jetzt stehen, damals noch ein Garten befunden hat. Erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts begann der Eigentümer des Grundstücks, ein Bäcker, mit der Bebauung.

Die Wohnung von Radiojournalistin Kristel Kossar erstreckt sich deshalb über mehrere Gebäude, die jeweils aus unterschiedlichen Epochen stammen. Das Schlafzimmer gehört zu einem mittelalterlichen Haus, so dass man dort noch auf dicke alte Deckenbalken trifft. Die Küche beindet sich in einem Haus, das wahrscheinlich erst Anfang des 20. Jahrhunderts gebaut wurde, doch weniger gemütlich ist sie deshalb nicht. Kristels Lieblingsplatz ist das Fensterbrett. Es ist einfach ein perfekter Ort, um die Passanten zu beobachten oder bei einer Tasse Kaffee ein gutes Buch zu verschlingen.


Die Gebäude auf der Südseite der Vaimu-Gasse sind älter, ihre Existenz ist für das frühe 15. Jahrhundert belegt, als in einem Grundbuch von „Häusern zwischen der Langen und der Kleinen Straße“ (letztere wohl die Vaimu-Gasse) die Rede ist. Noch ist nicht der ganze Komplex renoviert und bauhistorisch erforscht worden, so dass in den kleineren Häusern rund um den Innenhof noch interessante Entdeckungen zu machen sind. Vielleicht begründet diese Tatsache den romantischen Charakter des Hinterhofs, der durch den wilden Wein, der die Mauern berankt, noch verstärkt wird.

Eine Holztreppe führt vom Innenhof in die gemeinsame Werkstatt eines Schusters und eines Scherenschleifers. Slava Hanov ist der Scherenschleifer und arbeitet seit 31 Jahren in seinem Laden. Politische Wechsel und Wirtschaftskrisen ließen sein Geschäft beinahe unberührt, genug Kundschaft gab es immer. Friseure lassen ihre Scheren schärfen, Köche ihre Messer, Chirurgen ihr Operationswerkzeug. Und manche Landsleute, die im Ausland leben, liefern im Urlaub ihre Nagelknipser ab – in den Städten, in denen sie arbeiten, gibt es keine Scherenschleifer mehr.


Schützend thront der Torturm (Väravatorn) über dem Kurzen Bein, das auf den Domberg führt. Wenn sich tagsüber die Touristenmassen durch die steile, schmale Gasse schieben, kann es schon ein bisschen eng werden. Dann ist der benachbarte „Garten des Dänischen Königs“ eine willkommene Oase, um einen Moment zu verweilen und unter den Bäumen zu sitzen. Manchmal mischt sich in das Rauschen der Blätter noch eine andere Musik – denn seit der Torturm Ende der 1980er Jahre renoviert wurde, beherbergt er das Ensemble „Hortus Musicus“.

Während ihrer Tourneen reisen die Musiker oft wochenlang durch die weite Welt, doch wenn sie in Tallinn weilen, sind die alten Mauern des Turms ihr Zuhause – und im Sommer ein angenehm kühler Ort zum Proben. Dass die Musiker fast vierzig Jahre nach der Gründung der Gruppe noch immer Spaß an ihrer gemeinsamen Arbeit haben, hat vor allem einen Grund: Sie legen sich auf nichts fest, auf keine bestimmte Epoche, auf keine gängige Interpretation, auf keine feste Besetzung. Freilich fühlen sie sich auf dem weniger gut erforschten Terrain der Renaissance-Musik besonders wohl.


Der Tallinner Domberg (Toompea) war über Jahrhunderte hinweg Zentrum der Macht. Hier residierten die verschiedenen Landesherren, der estländische Bischof und die Mitglieder der Ritterschaften. Entsprechend ist die Geschichte fast aller Gebäude mit den Namen bekannter deutschbaltischer Adelsfamilien verbunden. Diese Residenz in der Gerichtsstraße (Kohtu) gehörte der Familie von Ungern-Sternberg und wurde vom Berliner Architekten Martin Gropius errichtet. In der Zwischenkriegszeit diente sie als Sitz der Kulturselbstverwaltung der deutschen Minderheit.

Auch heute konzentrieren sich auf dem Domberg wichtige politische und kulturelle Einrichtungen. Sozusagen Tür an Tür sind hier das estnische Parlament, die Regierung und mehrere Botschaften zu inden. Das frühere UngernSternberg-Anwesen ist Sitz der Estnischen Akademie der Wissenschaften und wird von verschiedenen Institutionen für Vorträge, Seminare und Empfänge genutzt. So feierte dort zum Beispiel der Estnische Schriftstellerverband im Mai 2011 in festlichem Rahmen die Eröffnung seines jährlichen Literaturfestivals „Head Read“.


Männliche Touristen, die in der Toom-Rüütli-Straße (Dom-Ritter-Straße) auf dem Domberg vorbeikommen, schenken ihre Aufmerksamkeit meistens dem Alfa Romeo, der dort fast immer parkt. Die Häuser ringsum beachten sie weniger. Dabei könnten sie zum Beispiel im Hinterhof am Ende der Straße nach Hinweisen auf die Stallungen suchen, die es dort noch im 19. Jahrhundert gegeben hat. Auch das Gebäude rund um den Hof gehörte bis 1939 der Familie von Ungern-Sternberg und ist so groß, dass es heute Platz für 14 Wohnungen bietet.

In einer dieser Wohnungen leben seit gut zwei Jahren Michael Zinsmeister und Marija Jakobson. Den Vertriebsund Marketingleiter hat es aus Bayern über Schweden nach Tallinn verschlagen, die Krankenschwester ist hier geboren und aufgewachsen. An ihrem Zuhause schätzen die beiden auch die alten Wände, die urigen Balken und die hohen Decken. Doch wäre all dies nur halb so schön, wenn es die Kneipe „Luscher und Matiesen“ nicht gäbe, die zwanzig Schritte um die Ecke liegt und in der sich an lauen Sommerabenden die Nachbarschaft zu LiveGitarrenmusik zusammenindet.


Von den ehemals 46 Türmen der mittelalterlichen Stadtmauer von Reval sind 26 erhalten geblieben – einer von ihnen ist der Loewenschede-Turm (links). Und dass, obwohl man das Backsteingewölbe im zweiten Stock in so schlechter Qualität errichtet hat, dass man nach dem Abschluss der Bauarbeiten Ende des 16. Jahrhunderts das Stützgerüst nicht entfernt hat. Seinen Namen trägt der Turm wahrscheinlich in Erinnerung an Winent Louenschede, seinerzeit Mitglied des Revaler Stadtrats. Seit 2007 hat die Künstlervereinigung „Asuurkeraamika“ den Turm gemietet.

Auf den fünf Etagen des Turms hat sie sich ihre eigene kleine Welt eingerichtet. Im Erdgeschoss liegt der Verkaufsraum, im ersten Stock das Atelier, darüber beinden sich die Büros und ganz oben gibt es viel Platz für Ausstellungen und Privatkonzerte. Gegründet wurde die Gruppe „Asuurkeraamika“ Anfang der 1990er Jahre von drei Künstlern, im Lauf der Jahre bekamen diese Gesellschaft und heute ist Liisa Pähk das jüngste von insgesamt sieben Mitgliedern. Die Keramikkünstler sagen von sich selbst, dass sie „Altstadtpatrioten“ sind. Woanders zu arbeiten, können sie sich nicht vorstellen.


Die Dicke Margarete mit ihren 155 Schießscharten und die Große Strandpforte bildeten im Mittelalter das Bollwerk für den Hafen. Sie waren so nah am Wasser gebaut, dass bei Sturm die Wellen ans Tor klatschten – so steht es in den Ratsprotokollen. Über die Jahrhunderte hinweg ist die Gegend verlandet, der Hafen liegt inzwischen ein ganzes Stück weit von dem alten Kanonenturm und der Pforte entfernt. Doch eine Verbindung zur Seefahrt und zu Handelsschiffen haben die Gebäude noch heute, denn seit 1987 ist in der Dicken Margarete das Meeresmuseum untergebracht.

Die Ausstellungen, die dort gezeigt werden, tragen unverkennbar die Handschrift von Roman Matkiewicz, der diese nicht nur konzipiert, sondern meistens auch illustriert. Auch jenseits der Arbeit für das Museum zieht sich das Meer als roter Faden durch das Schaffen des Künstlers. Die Briefmarkenserie mit Leuchttürmen, die er gezeichnet hat, ist in ganz Estland bekannt. Das kleine Atelier von Roman Matkiewicz liegt direkt auf dem Museumsgelände und ab und an klettert er, noch bevor die Besucher kommen, auf das Dach der Dicken Margarete, um dort zu malen.


Die Olaikirche war einst das höchste Gebäude der Welt, das weiß in Tallinn auch heute noch jedes Kind. Von 1549 bis 1625 war ihr Turm 159 Meter hoch, dann brannte er ab und wurde erst viel später und um 35 Meter kürzer wieder aufgebaut. Doch auch mit seinen 124 Metern ist der Kirchturm auf dem Meer schon von weitem zu sehen und diente deshalb den Schiffen lange als Orientierung. Passend ist die Kirche – so wie auch die mittelalterliche Gilde – nach dem norwegischen König Olav II. Haraldsson benannt, der heiliggesprochen wurde und Schutzpatron der Seeleute war.

Toomas Mäeväli ist einer der wenigen Orgelbauer in Estland und macht jeden Freitagnachmittag eine Runde durch die Stadt, um die Kirchenorgeln zu prüfen und gegebenenfalls zu stimmen. Auch in der Orgel der Olaikirche klettert er regelmäßig herum und inspiziert die 3000 Pfeifen. So richtig gut in Schuss ist das Instrument nicht mehr, nur die Hälfte von knapp 80 Registern funktioniert. Doch Toomas Mäeväli tut sein Bestes, um es in einem spielbaren Zustand zu halten. Schließlich möchte die Baptistengemeinde, die in der Olaikirche zu Hause ist, ihre Gottesdienste mit viel Musik gestalten.


Einen Bahnhof besitzt die Hafenstadt Tallinn seit dem Jahr 1871, denn 1870 wurde die Bahnlinie „Baltischport (Paldiski) – Reval – St. Petersburg“ eröffnet. Das Areal zwischen Gleisen und Bahnhofsmarkt gehört bis heute zur Eisenbahn. Dort werden – wie die vielen Radsätze, die dort lagern, gleich verraten – Waggons gewartet und repariert. Noch bis vor zehn Jahren arbeitete dort auch ein Schmied und stellte direkt vor Ort die passenden Ersatzteile her. Doch die Entwicklung moderner Lasertechnologie machte seine Präsenz unnötig und so stand die Werkstatt lange leer.

Doch dann kam im Frühjahr 2011 Märt Vaidla. Nach seinem Abschluss an der Estnischen Kunstakademie hat der Kunstschmied zunächst für eine Firma gearbeitet, die Massenartikel für Tallinns Souvenirläden herstellt. Dann entschied er sich, zusammen mit einem Freund einen eigenen kleinen Betrieb („Weiderwerk“) auf dem Eisenbahngelände zu eröffnen. Das industrielle und durchaus noch sowjetisch anmutende Ambiente dort indet er inspirierend und so fertigt er nun genau die Objekte an, die seine Kunden bestellen – zum Beispiel ausgefallene Fahrräder im Retro-Stil.


Bis in die 1990er Jahre hinein hatte Kalamaja (Fischermaie) einen ziemlich schlechten Ruf. In der ehemaligen Vorstadt der Fischer und Matrosen lebten nur die Menschen, die die Miete woanders nicht bezahlen konnten. Dann kamen die Künstler und die Kreativen und die Liebhaber von Holzarchitektur und entdeckten das Viertel neu. Als eines der ersten Gebäude im Stadtteil überhaupt wurde Ende der 1990er Jahre dieses Haus in der Väike-Patarei-Straße renoviert. Der Grund: 2001 öffnete dort das „Informationszentrum für nachhaltiges Renovieren”.

Seitdem dreht sich dort fast alles um alte Stühle, Kommoden, Fenster und Türen. Und um Naturfarben und die Frage, wie man diese selbst herstellt und für welche Materialien sie sich eignen. Ein kleines Team von Restauratoren bietet regelmäßig Workshops zu verschiedenen Themen an, im Laden nebenan gibt es das richtige Werkzeug dazu. So lernen die Bewohner anderer Holzhäuser, wie sie ihre Schmuckstücke in neuem Glanz erstrahlen lassen können, wie man sein Zuhause richtig gemütlich einrichtet und wie man mit alldem auch noch die Umwelt schützt.


Auf der anderen Straßenseite, direkt gegenüber dem Infozentrum, steht ein so genanntes Tallinn-Haus. Jahrhundertelang waren die Wohnhäuser in Kalamaja ausschließlich aus Holz und nur ein- oder zweigeschossig errichtet worden, doch schließlich wirkten sich in den 1920er Jahren Bevölkerungswachstum und frühere Brandkatastrophen auf deren Architektur aus. So entstand das Tallinn-Haus, das weiterhin aus Holz gebaut ist, aber oft drei Stockwerke und auf jeden Fall ein Treppenhaus aus Stein hat und dessen Name untrennbar mit der Estnischen Republik verbunden ist.

Als Jaan und Eva vor sieben Jahren eine Wohnung suchten, haben sie vor allem in Kalamaja die Augen aufgehalten. Der Radioredakteur und die Schauspielerin sind selbst in Lasnamäe aufgewachsen, doch ihre eigenen Kinder wollten sie am liebsten in dem Künstlerviertel mit den vielen Gärten großziehen. Ihre Bemühungen waren erfolgreich und so wohnt Familie Tootsen nun in der Väike-Patarei-Straße. Im ausgebauten Dachgeschoss haben die beiden Söhne genug Platz zum Spielen und von den Fenstern aus reicht der Blick über die niedrigeren Nachbarhäuser sogar bis zum Meer.


Gleich um die Ecke der Väike-Patarei-Straße ist in der Vana-Kalamaja-Straße dieses Haus zu inden. Es wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts erbaut und kann wirklich Künstlerherberge genannt werden: Da die Eigentümer das Backsteingebäude noch nicht renoviert haben, stellen sie es seit einigen Jahren gegen Übernahme der Betriebskosten verschiedenen Künstlern zur Verfügung. Einige von ihnen leben sogar in dem Haus, andere haben dort nur ihre Studios oder Werkstätten – so wie die drei jungen Frauen Mari Prekup, Britta Benno und Jaanika Okk.

Die schlossen sich nach ihrem Studium an der Estnischen Kunstakademie Mitte der 2000er Jahre zusammen, um ihre eigene Druckwerkstatt zu eröffnen. Sie tauften ihre Bande auf den Namen „Grafodroom“, trieben eine alte Presse mit Handkurbel auf und fanden einen freien Raum in dem Künstlerhaus. Dort arbeiten sie nicht nur an ihren eigenen Projekten, sondern bieten auch Workshops für Kunststudenten und andere Interessenten an und sehen sich dabei als Bewahrer einer alten Handwerkstradition. Druckkunst ist nicht tot – das wollen gerade sie als junge Künstlerinnen beweisen.


Die Narva maantee (Narvaer Landstraße) ist eine der Hauptverkehrsstraßen in Tallinn, wird von mehrstöckigen Stein- und Betongebäuden gesäumt und wirkt entsprechend großstädtisch und hektisch. Dass sich nur ein paar Schritte von der Fahrbahn entfernt in den Hinterhöfen noch die typischen Tallinner Holzhäuser verstecken, ahnt man zunächst nicht. Auch Marika Guralnik und Eduard Kohlhof waren vor sieben Jahren ganz überrascht, ausgerechnet an der NarvaStraße die Wohnung zu inden, die sie suchten: Nicht zu klein, gemütlich und ruhig sollte sie sein.

Und am besten noch einen gewissen historischen Flair haben. Eduard ist Kunsthistoriker und Restaurator und hat sich 2005 als Anbieter von Stadtführungen selbstständig gemacht. Entsprechend ließ er es sich nicht nehmen, mit viel Geduld und Sorgfalt einige alte Möbelstücke herzurichten, um der Wohnung eine ganz persönliche Note zu geben. Marika ist Aktuarin und arbeitet seit der Geburt ihres ersten Sohnes im Sommer 2011 vor allem vom Küchentisch aus. Einen behaglicheren Arbeitsplatz könnte sie sich wohl kaum wünschen.


Die heilige Birgitta von Schweden war eine der großen Fraueniguren des Mittelalters. Nach dem frühen Tod ihres Mannes gründete sie nicht nur den nach ihr benannten Orden, sondern wirkte auch als Diplomatin in Rom und frühe Frauenrechtlerin. Das Birgitten-Kloster in Reval wurde wahrscheinlich 1407 als Filiale des Mutterklosters im schwedischen Vadstena gegründet und 1577 im Livländischen Krieg komplett zerstört. Heute muten die Mauerreste fast an wie eine antike Ausgrabungsstätte in Griechenland, so wie die Touristen zwischen ihnen umher klettern.

Doch direkt neben den Ruinen wird die Geschichte des Ordens fortgeschrieben. Seit 2001 gibt es dort wieder ein BirgittenKloster, das nicht nur mit seiner Architektur aus hellem Sandstein an die Vorgängerinstitution anknüpft. Die acht Schwestern, die dort leben, stammen aus Indien und Mexiko, sprechen alle Estnisch und betreiben unter anderem ein kleines Gästehaus. Außerdem halten sie die Anlage des alten Klosters auf dem Nachbargrundstück sauber. Zur Heiligen Messe am Sonntag besuchen auch die Menschen aus der Umgebung die Klosterkirche.


Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts bestand der Stadtteil Katharinental (Kadriorg) lediglich aus einigen Villen und vielen kleinen Sommerhäuschen, die „Höfchen“ genannt wurden. Normale Wohnhäuser entstanden dort erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als immer mehr Bauland verkauft wurde. Dieses Haus in der Koidula-Straße wurde ab dem Jahr 1915 von dem Architekten A. Bürger errichtet und bildet zusammen mit seinem Nachbarhaus ein Spiegelbild-Ensemble. Im Sommer und Herbst 2011 wurde es renoviert und wieder in seiner ursprünglichen Farbe gestrichen.

In einer der vier Wohnungen des Hauses lebt seit 2010 Familie Veges. Für die Ansammlung von Kinderwägen und Rollern im Treppenhaus hat sie gleich einige Stücke beigesteuert, denn sie besteht aus Mama, Papa und vier Kindern. Papa Kristjan arbeitet in einer Bank, Mama Annika bleibt zurzeit zu Hause, wo sie Sohn Pärtel und die Drillinge Paula, Marta und Miina ganz gut auf Trab halten. Von Beruf ist Annika Innenarchitektin und dies sieht man dem Zuhause der Familie an: Es ist mit gemütlichen Möbelstücken in warmen Farben eingerichtet und bietet viel Platz zum Spielen.


Dieses Gebäude in der Poska-Straße im Stadtteil Kadriorg war ein Privatkrankenhaus, das 1904 von einem russischen und einem deutschen Arzt eröffnet wurde. Entsprechend viele und große Räume waren also vorhanden und mussten nur etwas umgebaut werden, als Mitte der 1990er Jahre die Idee aufkam, dort ein Seniorenbegegnungszentrum aufzubauen. Ein estnisch-deutsches Projekt ermöglichte die Renovierung des Gebäudes und die Gründung eines Vereins und so hat das Zentrum seit 1996 täglich für seine Besucher geöffnet, auch an Feiertagen und am Wochenende.

Manche kommen einfach so zum Plaudern vorbei, andere zu festen Terminen. Denn die Mitglieder des Vereins bieten ehrenamtlich rund 40 Interessensgruppen für Gleichgesinnte an, vom Gymnastiktreff über den Lesekreis bis hin zu den Gartenfreunden, die sich um die Blumenbeete vor dem Haus kümmern. Die Idee ist, dass Geben und Nehmen oft zusammenfällt; wer anderen hilft, hilft auch sich selbst. Zum Saisonabschluss im Sommer und zum Saisonbeginn im Herbst feiern die Senioren traditionell ein großes Gartenfest bei Kaffee, Kuchen und Live-Musik.


Südlich der Altstadt liegt der Stadtteil „Neue Welt“ (Uus Maailm). Das Viertel, das erst während der Industrialisierung Tallinns dichter bebaut wurde, heißt tatsächlich so, wahrscheinlich in Anlehnung an das Gasthaus „America“, das es dort im 18. und 19. Jahrhundert gab. Und als sich dort in den 2000er Jahren eine lebendige und alternative Stadtteilkultur entwickelte, die Künstler und kreative Köpfe anzog, wurde der Name Programm und das gelbe, etwas verfallene „Gemeinschaftshaus“ in der Koidu-Straße zum (zumindest heimlichen) Zentrum des Viertels.

Dort lebten meist um die zehn Leute, die gemeinsam die niedrige Miete aufbrachten und Couchsurfer und Bekannte im Dachgeschoss unterbrachten. So trafen in der Küche stets viele lustige Menschen aufeinander, die gemeinsam neue Ideen ausspannen. Nachdem die Winter oft kalt gewesen waren, die Miete gestiegen ist und mancher Mitstreiter vielleicht zu erwachsen geworden ist, schloss das Gemeinschaftshaus Mitte September 2011. Doch das jährliche Straßenfest, das seine Bewohner ins Leben riefen, soll auch 2012 wieder stattinden, da sind sich alle einig.


Der Stadtteil Nõmme ist eine echte Gartenstadt und versteckt sich zwischen Kiefernwäldern. In diesem Haus in der Väikese-Illimari-Straße lebten gleich zwei berühmte Literatenpaare. Zuerst Marie Under und Artur Adson, die auf dem Grundstück 1933 ein Häuschen errichtet haben. Als diese 1944 nach Schweden gelüchtet waren, überließen sie ihr Heim ihren Freunden Elo und Friedebert Tuglas. Die lebten dort bis 1971, erweiterten das Haus noch um einen Anbau und liebten, wie schon ihre Vorgänger, besonders den Garten, in dem seinerzeit über 100 verschiedene Rosen blühten.

Von den Rosen sind kaum welche erhalten geblieben. Doch die Bibliothek der Schriftsteller gibt es noch und sie steht heute der Allgemeinheit zur Verfügung. Mit ihren rund 20 000 Büchern ist sie eine wichtige Anlaufstelle für Wissenschaftler, die in einem kleinen Lesesaal arbeiten können. Und wenn einer von ihnen nicht weiß, wo sich das dringend benötigte Buch versteckt, steht Eha Rand ihm mit Rat und Tat zur Seite. Außerdem führt sie Besucher durch die Räume, denn das ehemalige Literatenhaus ist nicht nur Bibliothek sondern seit 1976 auch ein Museum.


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