Die Welt, die wir nicht betreten werden Jeder kennt Bilder aus Afghanistan – doch wie reagieren die Künstler auf das Thema?
Die Documenta 13 hat schon lange begonnen. Ihr Vorspiel vollzog sich nicht unbemerkt und unerreichbar wie vor zehn Jahren, als der Kurator Okwui Enwezor an weit auseinanderliegenden Orten Symposien abhielt. Die Documenta 13 hat begonnen mit der Lektüre von schmalen Notizbüchern, die seit einigen Monaten nach und nach in ganz unterschiedlichen Größen und Farben, aber immer einfach geheftet erscheinen. Es sind Schätze darunter, die man sich leicht in die Tasche steckt und immer mal gerne hervorzieht für kurze, erhellende Eindrucksblitze oder auch nur Blicke auf kunstvolle Faksimiles. Für Perfektionisten, die alles durchschauen, sortieren und begreifen wollen, ist das nichts. Doch für Augen, die sich etwas zeigen lassen wollen, birgt der Zettelwald Schätze. Zum Beispiel „No. 29“: Das Büchlein haben die Documenta-Teilnehmerin Mariam Ghani, Jahrgang 1978, und ihr Vater Ashraf Ghani gemeinsam herausgegeben. Ihr Thema wird in Kassel aus verschiedenen Gesichtskreisen betrachtet werden: Afghanistan, das Land, zu dem die Deutschen, die dort gerade resigniert ihre Soldaten abziehen, seit langem eine komplexe Beziehung haben. 71 Begriffe zwischen Modernisierung, Revolution und Kollaps haben die beiden versammelt. Man studiert sie und begegnet dabei historischen Figuren wie König Amanullah, der 1919 das Land aus der britischen Herrschaft befreite und etliche Reformen – gemeinsam mit deutschen Helfern – in Angriff nahm. Was sagt das der Kunst? Mariam Ghani wird auf der Documenta mit ihrer in den vergangenen zwei Jahren für die Kunstschau entstandenen Zwei-Kanal-Videoinstallation „Dar ul-Aman 2010 / Fridericianum 1943“ an die Motivik des Hefts anknüpfen. Die New Yorkerin mit den afghanischen Wurzeln hat keine Angst, etwas mitzuteilen, das nicht durch Originalität auffallen will: Krieg zerstört Leben und vernichtet alle Voraussetzungen für Kultur – überall. So stellt sie Filme des im Zweiten Weltkrieg beschädigten Kasseler Fridericianums, das 1779 als eines der ersten öffentlichen Museen Europas gebaut wurde und seit 1955 als Herz der Documenta gilt, den Aufnahmen der Ruine eines bedeutenden Monuments aus der Heimat ihrer Familie gegenüber: des Darul-Aman-Palasts, zerschossen von den Mudschahedin in den neunziger Jahren. Der Palast, in den zwanziger Jahren unter Amanullah mit Hilfe deutscher Architekten erbaut, liegt vor der Stadt und sollte das afghanische Parlament aufnehmen. Der klassizistische Bau funktioniert als Symbol nie vergessener, nicht verlorener Chancen. Die Modernisierung endete jäh mit dem Sturz des Monarchen 1929. Es gibt Anstrengungen – erneut mit deutscher Hilfe –, den Palast für das Parlament wiederaufzubauen. Bei Mariam Ghani verbindet eine künstlerische Geste zwei Gebäude, die viele tausend Kilometer voneinander entfernt sind. Ihre Botschaft lautet: Gegen organisierte Brutalität hilft nur das Festhalten an Verbindungen, in denen Erinnerung und Hoffnung einander durchdringen.
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv". Erstveröffentlichung am 5. Juni 2012 (Seite 28 & 29), Autor: SWANTJE KARICH