Haben wir die Bienen unterschätzt? Ein Summen überall auf dieser Documenta: Was interessiert Kunst und Theorie an den Insekten?
Selten tauchten so viele lebende Tiere auf einer Documenta auf – und besonders scheint man sich in Kassel für Bienen zu interessieren. Der Künstler Pierre Huyghe arbeitet mit ihnen, in seiner Parkinstallation werden sie nicht als Bild oder Metapher auftauchen, sondern physisch herumsummen, und auch in der Arbeit von Anna Boghuigian spielen sie eine zentrale Rolle. Warum? Die Documenta ist laut Christov-Bakargiev „von einer ganzheitlichen und nichtlogozentrischen Vision angetrieben, die dem beharrlichen Glauben an wirtschaftliches Wachstum skeptisch gegenübersteht“, und diese Vision respektiere die Formen und Praktiken des Wissens aller belebten und unbelebten Produzenten der Welt, Menschen inbegriffen. Das ist eine Vorgabe, unter der es logisch zu sein scheint, Bienenvölker in den Kasseler Parks aktuell arbeiten zu lassen. Denn Bienen waren nie nur Bienen. Sie gehören zu den überdeterminierten Tieren schlechthin. Der abendländische Logozentrismus arbeitet sich bis heute an ihnen ab, schafft es mit den Neurowissenschaften sogar, die nichtbegriffliche Repräsentation von Blütenfarben im Gehirn der Bienen in das durch und durch logozentristische Bild der Intentionalität zu integrieren. Allein die Bienen wollen nicht mehr recht mitmachen. Das aktuell zu beobachtende weltweite Bienensterben hat dramatische Ausmaße angenommen. Die Zahl der Honigbienen, die in den letzten Jahren in den Vereinigten Staaten verschwunden sind, wird auf einen zweistelligen Milliardenbetrag beziffert. Etwa jedes vierte der 2,4 Millionen US-Bienenvölker ist zusammengebrochen. In den Hochrechnungen des US-Landwirtschaftsministeriums ist das Bienensterben zur größten allgemeinen Bedrohung der amerikanischen Lebensmittelversorgung geworden – ein Phänomen, das zentral in Boghuigians Arbeit ist. Wer also dem Glauben an das wirtschaftliche Wachstum skeptisch gegenübersteht, kann kein besseres Beispiel als die Bienen wählen, zumal manche Bienenforscher den Bienenvölkern zugestehen, sich in einem Stadium allgemeiner Erschöpfung zu befinden. Was sollten Bienen nicht alles sein: staatenbildend, schwarmintelligent, fleißig (Arbeiterinnen), faul (Drohnen), honigbringend, blütenbestäubend, tanz- und sprachbegabt. Für Darwin gehörte der Instinkt der Bienen zu den Wundern der Natur, vergleichbar der Entstehung des menschlichen Intellekts. Aristoteles sah in ihnen politische Wesen, weil sie es vermochten, auf ein gemeinsames Arbeitsziel hinzusteuern. Mathematiker und Architekten fanden, dass Bienen mit der Bauweise ihrer Wachszellen das Problem von geringem Verbrauch des wertvollen Wachses bei optimaler Speicherkapazität des Honigs unnachahmlich gelöst hätten. Nur Karl Marx musste der Beschämung menschlicher Baumeister durch Bienen widersprechen – noch den schlechtesten Baumeister zeichne vor der Biene aus, dass der Mensch die Zelle im Kopf gebaut habe, bevor er sie in Wachs gieße. Wie falsch Marx lag, hat dann die Verhaltensforschung klargestellt. Das Gehirn der Bienen hat, auch wenn es nicht so komplex wie das der Säugetiere ist, einige Vorteile: Entwicklungsgeschichtlich alt, müssen sich seine Orientierungsmechanismen bewährt haben und können Hinweise darauf liefern, wie sich durch Lernen Verhalten verändert und welche Bauelemente Bienen dafür zur Verfügung haben; Bienen sehen sich, wenn sie über eine Wiese fliegen, wüsten Farben- und Duftlandschaften gegenüber. Der spezifische Blütenduft ermöglicht ihnen die Unterscheidung verschiedener Blütenarten. Da der Duft im Unterschied zu Farben nur begrenzt weit trägt, ist es die Kombination aus beiden, die ihnen das Ziel zeigt. Mit der Wahl der Blütensorte verbinden sich jeweils verschiedene Verhaltensprogramme: So ist das Sammeln von Pollen etwas ganz anderes, als etwa Nektar in den Stock zu tragen. Außerdem sind Blüten unterschiedlich gebaut, müssen entsprechend mit jeweils anderen Körperbewegungen erschlossen werden. Zurück im dunklen Stock, zeigen die ankommenden Bienen den anderen mit Rund- und Schwänzeltänzen die Richtung und die Ergiebigkeit der Futterquelle. Dabei steht ein Bienenvolk jeden morgen wieder vor dem Problem, einige tausend Sammlerinnen in ein mehrere hundert Quadratmeter weites Areal auszuschicken, in dem sich manchmal stündlich die Blüten- und Nahrungslage ändert. Wie also wird das organisiert? Ein Bienenvolk ist ein Apparat aus einer Menge parallel arbeitender Tiere. Andauernd treffen Tausende Bienen, jede mit einem beschränkten Erfahrungskreis, unabhängig voneinander Entscheidungen, die zudem andauernd durch Lernen modifiziert werden können. Woraus eine lokale Flexibilität folgt, die den Superorganismus der Bienen zu einem schnell adaptierenden Parallelprozessor macht. Und auf den schnellen Reaktionen gegenüber Umweltveränderungen beruhte bis jetzt die Anpassungsfähigkeit der Bienenvölker in der menschlichen Kulturgeschichte. Wenn sie sich in Kassel also wohl fühlen und sich nicht dem Trend zum Bienenvölkertod hingeben, könnte das, mit den Worten des Philosophen Michel Serres, auch ein Indikator dafür sein, dass man
zumindest den Bienen gegenüber das Lernen wieder in seinen lokalen Zusammenhang überführt und es so dem Trend der universellen Wachstumsökonomisierung entzogen hat.
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv". Erstveröffentlichung am 5. Juni 2012 (Seite 28 & 29), Autor: Cord Riechelmann