Japanische Märchen aus dem Süden Japans

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Über dieses Buch Zwischen den japanischen Hauptinseln und Taiwan liegt eine mehr als tausend Kilometer lange Inselkette, die zu Japan gehört: Okinawa. Die Märchen dieser paradiesischen Inselwelt hat die Herausgeberin auch in Europa einem interessierten Publikum bekannt gemacht. Von ihr sind bereits erschienen: »Märchen aus Japan«, Krummwisch 2005, ISBN 978-3-89875-160-5 »Erotische Märchen aus Japan««, Krummwisch 2007, ISBN 978-3-89875-189-6

Über die Herausgeberin Rotraud Saeki, Jahrgang 1947, stammt aus Deutschland und lebt seit über 30 Jahren in Japan. Dort ist die studierte Germanistin als Deutschlehrerin an Fachschulen, Dolmetscherin und Übersetzerin tätig. Daneben beschäftigt sie sich intensiv mit japanischen Märchen, insbesondere mit den Überlieferungen der Inselgruppe Okinawa. Sie lebt in Hiroshima. Weitere Informationen: www.maerchen-emg.de sowie www.koenigsfurt-urania.com.


JAPANISCHE MÄRCHEN AUS DEM SÜDEN JAPANS Übersetzt und herausgegeben von Rotraud Saeki


Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Erstausgabe/Sonderausgabe Krummwisch bei Kiel 2008 © 2008 by Königsfurt-Urania Verlag GmbH D-24796 Krummwisch www.koenigsfurt-urania.com Umschlaggestaltung: Stefan Hose, Götheby-Holm, unter Verwendung eines Motivs von Lo Scarabeo, Turin Satz: Noch & Noch, Balve Druck und Bindung: GGP Pößneck Printed in EU ISBN 978-3-86826-002-1


INHALT Die Wachteln und die Roggenernte . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Drache und Tausendfüßler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Die Gimpeltaube und die Krähe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Der Eisvogel und die Krähe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Der treue Sperling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Der Wettlauf von Frosch und Krebs . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Die zwölf Tierkreiszeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Fische auf Bäumen und Hasen im Fluß . . . . . . . . . . . . . . 21 Vom Jungen der träumte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Bruder und Schwester . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Der goldene Vogel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Meister und Geselle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Schwiegertochter und Schwiegermutter . . . . . . . . . . . . . 41 Der Weg zum Wohlstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Schicksalsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Nach der großen Flut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Früchte des Fleißes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 Die Geschichte von der goldenen Kugel . . . . . . . . . . . . . 55 Die Braut, die nicht sprechen wollte . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Das Stiefkind, das zur Taube wurde . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 Der arme Junge, der sein Glück machte . . . . . . . . . . . . . . 66 Die Schildkröte, die sprechen konnte . . . . . . . . . . . . . . . 70 Prüfungsaufgaben für Eheanwärter . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 Das Kalb als Braut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Die goldene Blume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 Urashima Tarô . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Was die Krähen sich erzählten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Der Hahn auf dem Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Die Segnungen von Wald und Meer . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Die dankbare Habu-Schlange . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Die Maus und der Bambussamen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

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Arzt und Drache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Angeberei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zashu, der Ohrlose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie ein Stiefkind seinen Vater rettete . . . . . . . . . . . . . . . Sanjû Fûshi und der steinerne Affe . . . . . . . . . . . . . . . . . Mazumuns Tarnmantel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Hund Gôtarô vom Lande Shô . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Gott vom Wald und der Jüngling . . . . . . . . . . . . . . . Der dankbare Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Mann Ârupannâ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seimei und Tobunko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Blume Nichi-i . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie der Nordstern entstanden ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strohhüte und die Ishigantô-Götter . . . . . . . . . . . . . . . . Der Gott Miruku und der Gott Sâka . . . . . . . . . . . . . . . . Der Gott des Meeres und der Gott des Festlandes . . . . . Der Gott, der sich den Menschen zeigte . . . . . . . . . . . . . Die Götter über die Krankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Feuergott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Märchensammeln in Japan, auch in unseren Tagen noch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187

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DIE WACHTELN UND DIE ROGGENERNTE (uzura to mugitori)

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or vielen Jahren hatte sich einmal eine Wachtel ihr Nest in ein hohes Roggenfeld gebaut. Jetzt saß sie auf ihren Eiern und hielt sie liebevoll warm. Das Getreide war in der Zwischenzeit reif geworden, die Zeit der Ernte rückte heran, und eines Tages erschien der Besitzer des Feldes, um nach der Frucht zu schauen. Er war sehr zufrieden und murmelte vor sich hin: »Ah, unser Korn steht gut, dieses Jahr gibt es eine reiche Ernte, ich glaube, wir schneiden morgen schon!« Dann ging er wieder heim. Die Wachtelmutter hatte alles genau gehört und geriet in Aufregung: »Was mach ich nur? Was die Menschen nun vorhaben, gefällt mir gar nicht. Meine Kinderchen sind noch nicht einmal geboren, und auch wenn sie geschlüpft sind, brauchen sie einige Zeit, bis sie kräftig geworden sind. Wenn die Leute doch noch eine Weile warten wollten!« Auf jeden Fall aber setzte sie sich womöglich noch fester auf ihre Eier und brütete eifrig weiter. Vier oder fünf Tage geschah nichts weiter. Die Menschen erschienen nicht, um das Korn zu schneiden. Die jungen Wachteln jedoch krochen zur Freude ihrer Mutter aus den Eiern. Die kleine Familie war glücklich in ihrem Feld, und da kam wieder der Ackerbesitzer, schaute sich das Getreide an und murmelte auch diesmal vor sich hin: »Man sollte ernten, morgen ist es wohl am besten!« Dann ging er wieder. Die Wachtelchen irrten verschreckt um ihr Nest herum: »Mütterchen, was soll aus uns werden? Die Menschen werden unser Heim zerstören, wo sollen wir dann hingehen?« Sie zirpten ängstlich und scharten sich um ihre Mutter. Die Mutter jedoch glaubte, die Menschen besser zu kennen, sie beruhigte ihre aufgeregte Schar und sprach: »Kinder, macht

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euch keine Sorgen, die Menschen reden viel und tun nichts. Sie gehen gerne alles langsam an. Morgen, sagen sie immer, morgen, aber nichts geschieht. Wer weiß, wann sie endlich zum Kornschneiden kommen. Und in der Zeit werdet ihr groß und stark werden.« Wie es die Wachtelmutter gesagt hatte, so geschah es auch: Die Kinder wurden Tag für Tag größer und tüchtiger, und ehe man sich versah, konnten sie ihre Kinderstube verlassen. Erst als auch das kleine Nesthäkchen ausgeflogen war, erschienen die Menschen und ernteten das Feld ab. Die Mutter war froh und dankbar und verließ mit ihren Kindern die Gegend. Erzählt von Ikema Matsu, Miyako-gun, Irabu-chô.

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DRACHE UND TAUSENDFÜSSLER (ryû to mukade)

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n einem heißen Sommertag ließ sich einmal ein Drache auf die Erde hinunter. Und weil die Sonne gar zu sehr brannte, suchte er sich unter Bäumen ein schattiges Plätzchen, räkelte sich wohlig, und bald war er in Halbschlummer eingelullt. Während er friedlich so ruhte, kam ein Tausendfüßler vorbeigekrochen. Auch dem machte die Hitze arg zu schaffen, er keuchte und war ganz ermattet. Er fühlte sich am Ende seiner Kräfte und als er schon glaubte, daß er jetzt verschmachten müsse, entdeckte er neben seinem Pfad eine dunkle Höhle. »Ah, gerettet, gerettet, hier ist ein kühles Loch, da drinnen will ich mich ein wenig erholen!« Der Tausendfüßler dachte nicht im Traum daran, daß vor ihm das Ohr eines Drachen gähnte, und er hastete, so schnell ihn seine vielen Beinchen tragen wollten, in den finsteren Gang hinein. Drinnen drehte und wendete er sich und machte es sich richtig bequem. Der Drache jedoch fühlte sich gestört, er fuhr auf, sträubte seinen prächtigen Schnurrbart und murmelte verdrießlich: »Was kratzt mich denn da so im Ohr? Das tut ja richtig weh!« Er schüttelte das Haupt heftig hin und her. Der Tausendfüßler wurde dadurch aus seiner Bequemlichkeit gerissen und schrie auf: »Ein Erdbeben, Hilfe, ein Erdbeben!« Er wurde tüchtig durchgerüttelt, und deshalb faßte er fester Fuß. Er klammerte sich, wo er nur konnte, mit allen seinen Beinen und Zangen kräftig an. Das nun bereitete dem Drachen beträchtlichen Schmerz, er wollte das Bohren und Stechen im Kopf loswerden, er wand sich auf dem Erdboden, schüttelte das Haupt immer gewaltiger, und als das alles nicht helfen wollte, fuhr er zuckend in das Himmelszelt hinauf. Gerade eben noch war das Firmament strahlend blau gewesen, jetzt aber zogen im Nu schwarze Wolken auf, es blitzte und donnerte, der Sturm sauste, und ein

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Wolkenbruch rauschte auf die Erde hinunter. Der Tausendfüßler im Ohr wollte jedoch keine Ruhe geben. Der arme gequälte Drache war am Ende seiner Weisheit, sein Ohr zwickte und plagte ihn ganz fürchterlich, er beschloß, Hilfe zu suchen, und deshalb begab er sich wieder auf die Menschenwelt hinunter. Er nahm Menschengestalt an, suchte einen berühmten Heilkundigen auf und bat verzweifelt: »In meinem Ohr ist ein Spukding, das mich fast zu Tode plagt, ach bitte, hilf mir und befreie mich von diesem Quälgeist!« Der Doktor untersuchte das Ohr und seine Umgebung sehr sorgfältig, und weil er tatsächlich ein gelehrter Mann war, merkte er bald, daß sein Patient gar kein Mensch war, und er sagte mahnend: »Wenn du wirklich willst, daß ich dir helfen soll, mußt du dich in deiner wahren Gestalt zeigen. Sonst kann ich nichts machen. Wer bist du denn eigentlich?« Der Drache seufzte, bat um Entschuldigung und verwandelte sich in seine ursprüngliche Gestalt zurück. Er sagte: »Ich bin, wie du siehst, ein Drache. Ich wollte dich nicht erschrecken und habe mich dir deshalb als Mensch gezeigt. Kannst du mir nun helfen?« Der Heilkundige prüfte das Ohr noch einmal ganz genau, und nun konnte er deutlich sehen, daß sich im Inneren ein Tausendfüßler festgeklammert hatte. »Jetzt weiß ich, was dich so plagt. Ein Tausendfüßler ist in dein Ohr hineingeschlüpft und hält sich mit Beinen und Zangen fest. Ich glaube schon, daß dir das Unbehagen bereitet. Laß mich mal nachdenken, wie wir den Kerl entfernen können.« Der Doktor legte den Finger an die Nase und dachte eine Weile angestrengt nach. Dann verließ er den Raum und kam mit einem Huhn im Arm zurück. Er ließ es in das Ohr des Drachen hineinkriechen und wartete gespannt. Es dauerte nicht lange, das Federvieh erschien wieder, und es hatte den Tausendfüßler im Schnabel! Bevor Doktor und Patient auch nur ein Wort sagen

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konnten, nickte das Huhn mit dem Kopf und hatte den Störenfried auch schon aufgefressen! Der Drache war unendlich dankbar, sein Ohr war wieder wie neu, und als Zeichen seiner Zufriedenheit verehrte er seinem Retter ein Säckchen mit goldglänzendem Drachendreck. Das ist eine ganz wunderbare Arznei, denn mit Drachendreck ist jede Krankheit auf dieser Welt zu heilen. Der Heilkundige nutzte dieses kostbare Geschenk sehr weise, und sein Ruhm als großer Arzt erscholl durch das ganze Land. Erzählt in Shimajiri-gun, Yonabaru-chô.

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DIE GIMPELTAUBE UND DIE KRÄHE (mihagibato to karasu no yugatai)

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or langer, langer Zeit waren die sanfte Gimpeltaube und die schlaue Krähe gute Freunde gewesen. Eines Tages machte die Gimpeltaube einen Ausflug nach der Insel Ikema auf die Barinau-Anhöhe. Dort ließ sie sich auf einem hohen Baum nieder, und nun konnte sie weit nach Süden blicken, bis in das flache Land von Nakamagusu, wo auch der Oharuzu-utaki liegt. Und wie sie sich an dem herrlichen Rundblick erfreute, bemerkte sie, wie am Strand von Nakamagusu ein großer Fisch angeschwemmt wurde. »Oh, was für ein verlokkender Leckerbissen«, dachte sie, und schon war sie hinunter zu ihm ans Wasser geflogen. Sie trippelte um den Fisch herum, betrachtete ihn von allen Seiten und konnte sich nicht entscheiden, wo sie nun eigentlich mit dem Essen anfangen sollte. Und wie sie noch so am Überlegen war, kam ihre Freundin, die Krähe, angeflogen. Die besah sich den Fund und sprach: »Schwester Gimpeltaube, das ist ja ein ganz besonders appetitlicher Fisch, du gibst mir sicher ein wenig davon ab?« Die Taube war nicht sogleich einverstanden: »Nein, das ist alles mein Essen, ich habe schließlich den Fisch entdeckt!« – »Aber liebe Freundin, wir sind doch schon seit langem gute Kameraden. Komm, laß uns teilen. Weißt du, wir machen es so, daß die Ältere von uns beiden den Vortritt beim Verspeisen haben soll. Das ist nur gerecht. Wie alt bist du denn eigentlich?« So redete die schlaue Krähe, und in ihren Augen glitzerte es. Die Gimpeltaube war nur zu leicht zu überreden: »Also einverstanden, ich bin gerade sieben Jahre alt, und du?« – »Was, nur sieben Jährchen? Ach Gott, wie jung noch. Ich hingegen habe schon zwölf auf dem Buckel. Ich bin älter, da darf ich denn anfangen!« Und ohne weiteres Federlesen machte sich die Krähe über den Fisch her.

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Die Gimpeltaube sah nicht gerne zu, wie der schwarze Vogel an dem Fisch herumhackte. Sie flog deshalb zurück zur Barinau-Anhöhe, um dort abzuwarten, bis die Krähe ihren Anteil verzehrt habe. Nach einer Weile wurde die auch satt, sie kam sehr zufrieden zur Taube geflogen und sprach: »Gimpeltaube, meine Liebe, meine Beste, das war ganz vorzüglich, ich dank dir recht schön. Nun flieg du rüber und iß deinen Anteil. Es ist noch mehr als genug übrig!« Die Krähe hielt den Kopf schief und guckte die Taube listig an. Die Gimpeltaube hatte Hunger und sie begab sich eilig hinunter zum Strand. Ja, und wie sah der Fisch nun wohl aus? Es war nur noch der große, knochige Kopf übrig, die Krähe hatte das ganze Fleisch verzehrt. Die Gimpeltaube aber war, wie ihr Name ja sagt, recht einfältig, und der große Fischkopf machte einen gewaltigen Eindruck auf sie. »Da schau, die Krähe hat mir den größeren Teil gelassen«, dachte sie, verspeiste zufrieden, was von dem harten Kopf genießbar war, und anschließend flog sie wieder hinüber nach Barinau. So soll es gewesen sein, und die schlaue Krähe hatte wieder einmal die sanfte Gimpeltaube geprellt. Erzählt von Maedomari Tokusei, Ikema-jima. Oharuzu-Utaki: Ein Heiligtum auf der Insel Ikema. Die Oharuzu-Gottheit wacht über das Leben der Bewohner der Miyako-Inseln. Im Hintergrunde des Schreines erhebt sich die Barinau-Anhöhe.

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DER EISVOGEL UND DIE KRÄHE (koharu to karasu)

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in Zugvogel ist er, koharu, also Eisvogel, nennen wir ihn, und er ist ganz rot. Und er soll einmal sehr habsüchtig gewesen sein. Irgendwann trafen sich die Krähe und dieser Vogel, der koharu nämlich. Die beiden beschlossen, ein Bad zu nehmen, sie wollten sich im frischen Wasser ergötzen. Sie legten also ihre Kleider ab und spielten im klaren Naß. Und als sie fertig waren, meinte der koharu, dieser Kerl, dem man Habgier nachsagt: »Liebe Krähe, du hast heute aber ein schönes Kleid, ich will es einmal anprobieren!« Und er nahm es einfach und flog davon. Und seither ist er rot! Die Krähe war früher nämlich, müßt ihr wissen, nicht schwarz, rot war sie früher gewesen. »Also, ich zieh es mal an«, sagte der koharu, dann machte er sich geschwind davon. Seit diesem Ereignis ist die Krähe mit dem koharu verfeindet. Wo sie ihn sieht, verfolgt sie ihn und hackt ihn zu Tode. Das kann man doch verstehen, denn der koharu hat ihr das Kleid genommen. Der koharu hat ewig Angst, er fliegt sehr hoch oder versteckt sich im Schatten der Bäume, damit ihn die Krähe nicht entdecken kann. Erzählt von Yamashiro Kôjirô, Hontô. Koharu: eigentlich »akashôbin«, der rote Ryûkyû-Eisvogel.

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DER TREUE SPERLING (suzume kôkô)

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er Sperling hat einst, so wird berichtet, seine Mutter geehrt und seine Kindespflicht gewissenhaft ausgeübt. Er war bescheiden angezogen gewesen, das hat ihn aber nicht daran gehindert, so schnell wie möglich ans Totenbett der Mutter zu eilen. Er war damals gerade bei der Arbeit auswärts, als ihn die Nachricht erreichte, seine Mutter liege in den letzten Zügen und verlange nach ihm. Der kleine braune Vogel, der ein reines gutes Herz hatte, ließ alles liegen und stehen und hastete zur kranken Mutter, um ihr die allerletzten Augenblicke auf der Welt zu erleichtern. Die Sterbende schaute den braven Sperling aus brechenden Augen an, ein froher Glanz umleuchtete ihr Gesicht, und sie sprach: »Mein gutes Kind, ich bestimme, daß du immer den Reis, der um die Speicher herum verstreut liegt, auflesen und verzehren darfst!« Ja, und seither lebt der Spatz in der Nähe der Menschen. Er baut sein Nest unter die Hausdächer und er verzehrt Körnerfutter. Seine Schwester, der Eisvogel, hingegen, wohnt an den Bergbächen und muß sich das Futter recht mühsam fangen. Er ist ein wunderschöner Vogel, der Eisvogel, seine Federn schimmern herrlich blau. Schön ist er in der Tat, aber er ist eitel. Als die Mutter im Sterben lag und nach ihm rufen ließ, legte er zuerst feine Gewänder an und malte sich Schminke ins Gesicht. Dann endlich bequemte er sich zur kranken Mutter, und als er ankam, war diese bereits verschieden. Zur Strafe für seine Saumseligkeit und Putzsucht muß der Eisvogel für alle Zeiten, auch an den kältesten Tagen im Winter, in die eisigen Bergwässer tauchen und sich so unter großer Mühe sein Futter fangen. Er hat es nicht leicht, der Eisvogel! Erzählt in Nakagami-son, Urasoe-shi. Eisvogel: Kawasemi (Alledo atthis).

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DER WETTLAUF VON FROSCH UND KREBS (kaeru to kani no kyôsô)

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ines Tages trafen sich der Frosch und der Krebs. Der Frosch sagte: »Du, Krebs, ich habe gehört, daß du sehr schnell laufen kannst. Ich bin auch nicht gerade langsam und ich möchte zu gerne wissen, wer von uns beiden der Schnellere ist. Laß uns doch einmal ein Wettrennen veranstalten!« Der Krebs war einverstanden, und die beiden beschlossen, sich in der Nacht des Herbstvollmondes zu messen, dann, wenn der Mond am allerschönsten ist. Sie trafen sich zum abgesprochenen Zeitpunkt am Strand, und der silberne Vollmond leuchtete hell in der stillen Nacht. Der Frosch sprach: »Also, mein lieber Freund, nimm mich nun auf deinen Rücken und lauf so schnell du kannst!« Der gefällige Krebs ließ den Frosch aufsteigen und rannte los, schnell wie der Wind. Der Frosch freute sich sehr, die Luft sauste in seinen Ohren, und er schrie begeistert: »Was bist du doch geschwind, kaum zu glauben, daß jemand so rennen kann!« Nun war der Frosch an der Reihe, den Krebs huckepack zu tragen. Er hatte sich etwas ausgedacht, der schlaue Frosch: »Höre, lieber Krebs, steige mir auf die Hüfte. Halte dich dort gut fest und schaue stets nach oben in den Mond. Vergiß das auf keinen Fall. Wenn du mit deinen großen Glotzaugen nach unten gucken solltest, erschrecke ich darüber, der Atem stockt mir, und ich bleibe urplötzlich stehen. Dann fällst du herunter und bist mausetot. Also, immer nach oben schauen!« Der Krebs hielt sich genau an die Anweisungen des listigen Frosches und schaute starr in den Mond. Die Wolken zogen fliegend an dem Gestirn vorbei, und der Krebs war überzeugt, daß der Frosch mit ungeheurer Geschwindigkeit renne. Fast wollte ihm schwindelig werden! »Ja, lieber Frosch, du bist wirk-

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lich ein ganz unvergleichlicher Läufer«, sagte er voller Lob von seinem Sitz auf der Hüfte her. »Siehst du, Krebs, ich bin der Schnellere von uns beiden. Nun steig aber runter, ich bin müde geworden.« Der Krebs ließ sich sachte auf den Boden nieder, und als er sich umblickte, merkte er, daß er genau am gleichen Ort wie vorher war. Der Frosch hatte ihn angeführt! Der aufgebrachte Krebs faßte an den Hüftknochen des Schwindelpeters und drückte und zerrte in seiner Wut so lange daran herum, bis der Knochen auf einmal zerbrach. Nach langer Krankheit genas der Frosch wieder, aber seine Hüfte wurde nie wieder gerade, und seither muß er mit einem krummen Buckel herumgehen. Erzählt in Yaeyama-gun, Taketomi-chô.

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DIE ZWÖLF TIERKREISZEICHEN (jûniji yurai)

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or vielen, vielen Jahren sagte im Lande Tô der Himmelsherr: »Zwölf Monate gibt es in einem Jahr, und nun will ich für jeden Monat einen Schutzgott festsetzen.« Der Göttliche dachte eine Weile nach, dann rief er die Maus zu sich und trug ihr auf: »Ich habe beschlossen, jedem der zwölf Monate im Jahr einen eigenen Gott zu verleihen, und ich will diesen Schutzgott aus den Reihen der Tiere bestimmen. Geh und sag aller Kreatur, daß sie sich an dem und dem Tag bei mir einfinden soll. Die zwölf Tiere, die zuerst angekommen sind, sollen der Reihenfolge nach zu den Gottheiten der zwölf Monate ernannt werden. Nun eile und führe meinen Auftrag getreulich aus!« Die Maus hüpfte eilfertig davon und gab, wie es ihr befohlen worden war, allen Tieren Bescheid. Nur der Katze sagte sie mit Fleiß eine Lüge und verlegte den zur Versammlung bestimmten Zeitpunkt auf einen ganzen Tag später. Dann überlegte sie, wie sie selber ohne Mühe und Kraftaufwand zum Zielort gelangen könne, deshalb wandte sie sich an das Rind, und ihre Äuglein blitzten schlau: »Liebes Rind, wie du selber weißt, bist du nicht besonders gut zu Fuß. Du läufst immer so langsam und schwerfällig, laß dir raten und brich zwei, drei Tage früher auf zu der wichtigen Versammlung. Bei deiner Gangart kommst du sonst womöglich nicht pünktlich an!« Und dann sprang die Maus verstohlen auf den Rücken des Rindviehs und versteckte sich in seinem Pelz. Das Rind wollte gerne der allererste sein bei der Versammlung der Tiere, es machte sich einige Tage vorher auf, ging den ganzen Weg langsam und gemütlich, und da es beizeiten aufgebrochen war, traf es in der Tat als erster vor dem Haus des Himmelsherrn ein. Dort wartete es geduldig auf den bestimmten Zeitpunkt.

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Der große, wichtige Tag zog herauf, der Himmlische öffnete im Morgengrauen das gewaltige Portal und ließ die Tiere der Reihenfolge nach, in der sie angelangt waren, einziehen. Das Rind wollte eben über die Schwelle schreiten, als auf einmal die Maus behende von seinem Rücken herabsprang und sich keck vor das verdutzte Reittier stellte. Die Maus war erster von all den versammelten Tieren geworden! Und ihr wurde der erste Monat verliehen. Den zweiten erhielt das Rind, es mußte sich damit zufriedengeben, den dritten der schnelle Tiger, den vierten der Hase, den fünften der gewaltige Drache, den sechsten die Schlange. Der siebte Monat wurde dem Pferd zugesprochen, der achte dem Schaf, der neunte dem Affen, der Hahn wurde der Schutzgott des zehnten Monats, über den elften Monat sollte der Hund gebieten, und der zwölfte und letzte Monat schließlich wurde dem wilden Schwein übergeben. Somit hatten alle Monate im Jahr ihren Schutzgott erhalten, und die Tiere zogen zufrieden wieder in ihre Heimat zurück. Und was war aus der Katze geworden? Sie kam, so wie es ihr die Maus gesagt hatte, um einen Tag zu spät zum Himmelsgott. Der hörte sich an, was sie zu sagen hatte, dann sprach er bedauernd: »Die Monate sind gestern verteilt worden, du kommst zu spät. Es tut mir zwar leid, aber ich kann dir nun auch nicht mehr helfen. Du gehörst nicht zu den Gottheiten, die über die zwölf Monate regieren. Nun geh und finde dich in dein Schicksal!« Die Katze verließ niedergeschlagen die Wohnung des Himmelsherrn. Sie mußte immer an die Lüge der Maus denken, ihre Niedergeschlagenheit wandelte sich in Zorn, und dieser Zorn wurde riesengroß. »Das werde ich der Maus nie und nimmer verzeihen!« zischte die Katze. Und seither sind sich Katze und Maus spinnefeind. Wenn die Katze eine Maus zu sehen bekommt, fängt sie den kleinen Graupelz und frißt ihn ohne Umstände auf. Diesen Haß hat sie auf ihre Nachkommen vererbt, und bis auf den heutigen Tag fangen Katzen Mäuse, bringen sie um und verzehren sie. Sie rächen sich für alle Zeiten für die

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Lüge der Maus, die ihnen die Aufnahme in den Kreis der zwölf Tiere, die über die Monate gesetzt sind, verwehrt hat. Erzählt in Kunigami-gun, Ie-mura. Tô: T’ang. Chinesische Dynastie 618–906 n. Chr. »Tô no kuni«, das »Land der T’ang«, war lange Zeit in Japan die übliche Bezeichnung für China.

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