Die Schatzkammer des Königs von Hazrat Inayat Khan - Sufigeschichten (Leseprobe)

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Hazrat Inayat Khan Die Schatzkammer des Kรถnigs


Auswahl aus der englischen Gesamtausgabe „The Sufi Message of Hazrat Inayat Khan“, Barrie & Rockliff. London,1983 Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Inayat Khan < Hazrat>: Die Schatzkammer des Königs / Hazrat Inayat Khan Ausgew., übers. u. eingeleitet von Karima Sen Gupta Illustrationen von Subhani Koster Weinstadt, Verlag Heilbronn, 2010 Verlag Heilbronn Postfach 2162 D-71370 Weinstadt Verkehrsnummer 14894 ISBN 978-3-936246-00-1 Alle Rechte vorbehalten © International Headquarters of the Sufi Movement Gestaltung: Wajad Ernst Grünwald, Wien Gesamtherstellung: PRESSEL Digitaldruck 73630 Remshalden


Hazrat Inayat Khan

Die Schatzkammer des Kรถnigs Sufigeschichten


Inhalt Einleitung Der Mullah und ein Bauernmädchen Der unverschämte Sufi Die Schale des Derwisches Alif Das Feuer der Liebe Die Kraft des Wortes Fasten Musikmeditation Majnun und Leila Einssein mit Gott Moses und der Hirtenjunge Goldbestickte Schuhe Die Füße Gottes Der Test für den König Was geschieht nach dem Tod? Wahrer Glaube Menschliche Schwächen Die Königin der Fische Beobachtung Geduld Hafis Gedächtnis Sa’dis Bücher Der Heilige als Dieb Der König und der Papagei Geistige Reinigung Ein Seufzer Schönheit

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Eben darum! Unter dem Baum der Wünsche Datteln Meditation Pilgerreise Birbals Frage Vom Privileg, ein Mensch zu sein Die Schatzkammer des Königs Vertrauen Tansen und Akbar Ehestreit Salomon Shah Khamush Aufrichtigkeit Kali und der Sufimeister Tugend und Sünde Im Spiegel Weise Liebe Puran Bhagat Nicht genug!

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Einleitung In der Geschichte der Menschheit wurden von jeher spirituelle Wahrheiten in Geschichten verkleidet erzählt, sei es in den großen Epen und Mythen der Völker, oder in teils besinnlichen, teils heiteren kurzen Parabeln, Gleichnissen, Anekdoten, die besonders bei den Sufis, im Chassidismus und im Zen-Buddhismus eine Rolle spielen. Für den, der nur das äußere Geschehen aufnimmt, sind sie eine vergnügliche Unterhaltung, - für denjenigen, der die hintergründige Bedeutung erkennt, sind sie eine Weisung für den inneren Pfad. In Indien und sicher auch in anderen Ländern des Orients, in denen die Kunst des Lesens noch nicht allgemein verbreitet ist, und die Massenmedien die Freude am Einfachen und die Phantasie noch nicht verdorben haben, spielt der Geschichtenerzähler noch heute eine große Rolle. Man kann es immer wieder beobachten, wie eine Schar von Menschen einem Mann lauschen, der gesprochen oder gesungen oder gar mit Hilfe einiger Puppen, die uralten, seit langem bekannten Geschichten erzählt, singt oder tanzt. Selbst für einen Europäer, der die Sprache nicht versteht, vermittelt dies einen Zauber, dem man sich schwerlich entziehen kann. Die gleichen Themen finden wir in vielerlei Variationen, die jeweils eine besondere Facette aufleuchten lassen. Der indische Mystiker und Musiker Pir-o-Murshid Hazrat Inayat Khan war der erste, der die Sufi-Lehren in die westliche Welt brachte. Er wurde am 5. Juli 1882 in Baroda geboren. Er lebte mit seiner ganzen Familie im Haus seines Großvaters Moula Bakhsh, das nicht 6


nur ein Treffpunkt berühmter Musiker, sondern auch der Dichter, Philosophen und Mystiker verschiedenster Herkunft war. In dieser Atmosphäre wuchs der junge Inayat auf. Grossen Einfluss hatte sein Großvater auf seine Erziehung. Er pflegte ihn jeden Morgen zu wecken und den Vormittag mit ihm zu verbringen. Inayat zeigte bereits als Kind ein ungewöhnliches Interesse für Religion. Oft besuchte er Yogis und Derwische, um ihnen still zuzuhören. Inayat Khan wurde in seiner Zeit zu einem der berühmtesten Musiker Indiens und musizierte an den Höfen der Maharajas, bis er in Hyderabad seinem geistigen Lehrer, Murshid Abu Hashim Madani, begegnete und die meiste Zeit mit seinem Meister verbrachte. Vor seinem Tod trug sein Murshid ihm auf, in den Westen zu gehen, um dort die Weisheit des Sufismus zu verbreiten, denn dies sei seine Aufgabe. Er reiste 1910 mit seinen Brüdern, zu denen sich später auch der jüngste, Moulamia Musharaff Khan, gesellt hatte, zuerst in die USA und später nach England und Frankreich, wo er sich nach dem ersten Weltkrieg in Suresnes bei Paris mit seiner Familie niederließ. Von hier aus unternahm er zahlreiche Reisen, auf denen er Vorträge hielt, Besucher empfing und seine Botschaft vermittelte. Die Zahl seiner Anhänger vermehrte sich rasch. Im Jahr 1922 veranstaltete er in Suresnes seine erste Sommerschule, der jährlich weitere folgten, zu denen immer mehr Menschen aus aller Welt kamen, um sich von Murshid Inayat Khans Botschaft von Liebe, Harmonie und Schönheit inspirieren zulassen und ihr zu folgen. Sein Werk blühte auf und er schuf die Organisation der „Sufi-Bewegung“, um damit „der Seele der Weisheit 7


eine äußere Form zu geben.“ Es entstand ein umfangreiches Werk an Schriften, teils aus mitgeschriebenen Vorträgen, teils von ihm selbst diktiert. Er drückte sich in einer schlichten Sprache aus, die immer mehr enthüllt, je tiefer man nachdenkend in sie eindringt. Als echter Orientale schmückte er seine Lehren nach alter Sufitradition mit anschaulichen Bildern und Geschichten, die für jeden verständlich sind. Die Sommerschule im Jahre 1926 bildete den Höhepunkt seines Wirkens. Bald darauf kehrte er in seine geliebte Heimat zurück. Er hoffte dort die Ruhe und Zurückgezogenheit zu finden, um sich von den Anstrengungen der letzten Jahre zu erholen, die ihn physisch erschöpft hatten. Doch für ihn war die Zeit gekommen, seine irdische Aufgabe war erfüllt. Am 5. Februar 1927 starb er in Delhi. Die Nachfolge übernahmen nach einander seine Brüder und Nachkommen bis heute. Karima Sen Gupta

Die Ziffern am Ende einer jeden Geschichte beziehen sich auf Band und Seitenzahl in der englischen Originalausgabe.

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Der Mullah und ein Bauernmädchen Ein Bauernmädchen war auf dem Weg zu ihrem Geliebten. Sie ging an einem Mullah* vorüber, der betete. In ihrer Unwissenheit ging sie an ihm vorbei, was das Gesetz verbietet. Der Mullah war sehr zornig und als sie zurückkehrte, tadelte er sie für ihr Vergehen und sagte: „Mädchen, was hast du für eine große Sünde begangen, als du vor mir vorübergingst, während ich betete.“ Sie fragte: „Was ist das: Beten?“ Er erwiderte: „Ich dachte an Gott, den Herrn des Himmels und der Erde.“ Darauf sagte sie: „Es tut mir leid, wenn ich etwas Unrechtes tat. Ich weiß kaum etwas von Gott und vom Beten. Ich war auf dem Weg zu meinem Geliebten und dachte an ihn. Ich sah nicht, dass Sie beteten. Aber wie konnten Sie mich sehen, wenn Sie an Gott dachten?“ Diese Worte berührten den Mullah so sehr, dass er zu ihr sagte: „Von diesem Augenblick an bist du mein Lehrer. Ich bin es, der von dir lernen sollte!“ *Priester

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Der unverschämte Sufi Ein Sufi ruhte einst glücklich und zufrieden unter einem Baum; seine Beine waren ausgestreckt, die Arme unter den Kopf gelegt. Er war ganz entspannt. Ein Vorübergehender, ein sehr frommer Mann, sah ihn so und rief aus: „Ich wusste nicht, dass du ein so unverschämter Kerl bist!“ Der Sufi war ganz überrascht über diese Bemerkung. „Warum sagst du, dass ich unverschämt sei? Ich tue nichts, ich ruhe mich hier nur friedlich aus.“ – „Du liegst auf eine höchst unverschämte Art, weil deine Füße nach Mekka zeigen!“ sagte der fromme Freund. Der Sufi dachte einen Augenblick nach. „Komm bitte hierher, mein Freund“, sagte er dann, „nimm meine Beine und drehe sie in d i e Richtung, wo Gott nicht ist.“

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Die Schale des Derwisches Eine alte Geschichte erzählt von einem König, der einem Derwisch einen Wunsch erfüllen wollte. Der Derwisch wünschte sich, dass man seine Bettelschale mit Goldmünzen füllen möge. Der König hielt es für ein Leichtes, die Schale zu füllen. Aber die Schale erwies sich als eine Zauberschale. Je mehr er auch versuchte, sie zu füllen, - sie blieb leer! Der König war sehr enttäuscht bei dem Gedanken, dass er sein Versprechen nicht erfüllen könnte. Da sagte der Derwisch: „Majestät, wenn Sie meine Schale nicht füllen können, so sagen Sie es nur, und ich werde sie wieder mitnehmen. Ich bin ein Derwisch und werde wieder gehen und nur denken, dass Sie Ihr Wort nicht gehalten haben.“ Mit all seinen guten Absichten, seiner Großzügigkeit und seinem Reichtum konnte der Herrscher die Schale nicht füllen. Darum fragte er: „Derwisch, erzähle mir das Geheimnis deiner Schale. Es scheint mir nicht natürlich zu sein.“ Der Derwisch antwortete ihm: „Ja, Majestät, es ist wahr, Sie vermuten richtig. Es ist eine Zauberschale. Es ist die Schale eines jeden Herzens. Es ist das Herz des Menschen, das niemals zufrieden ist. Füllen Sie es, womit Sie wollen, mit Reichtum, mit Aufmerksamkeit, mit Liebe, mit Wissen, mit allem, was es gibt. Es wird niemals gefüllt sein, denn es ist ihm nicht bestimmt, gefüllt zu werden. Weil er dieses Geheimnis des Lebens nicht kennt, verlangt der Mensch stets nach allen Dingen, die er vor sich sieht. Und je mehr er bekommt, desto mehr wünscht er sich, - die Schale seines Verlangens wird niemals gefüllt sein. VI/190-191 11


Alif In Indien wird eine Geschichte aus der Kindheit des großen Heiligen Bullhe Shah erzählt. Als Kind wurde er zur Schule geschickt, um Lesen und Schreiben zu lernen. Ihm wurde zuerst der Buchstabe Alif (ein gerader Strich) gelehrt, aber er kam über diesen einen Buchstaben nicht hinaus. Die anderen Knaben in seiner Klasse beendeten das ganze Alphabet, während er sich noch immer mit dem ersten Buchstaben abmühte. Als Wochen vergingen und sein Lehrer sah, dass das Kind keine Fortschritte machte, dachte er, dass der Knabe geistig zurückgeblieben sein müsse und schickte ihn nach Haus zu seinen Eltern. Die Eltern taten alles, was in ihrer Macht stand für den Sohn, schickten ihn zu den verschiedensten Lehrern, aber er machte einfach keine Fortschritte. Sie waren darüber sehr enttäuscht. Schließlich lief er von zu Hause fort und lebte im Dschungel, damit er nicht länger seinen Eltern zur Last falle. Er lebte im Wald und sah die Manifestationen von Alif, das sich als Gras, Blätter, Bäume, Zweige, Früchte und Blumen zeigte. Das gleiche Alif offenbarte sich als Berge und Hügel, als Steine und Felsen. Er war Zeuge desselben im Keim, im Insekt, im Vogel und im Tier. Das gleiche Alif war in ihm selbst und in anderen Menschen. Er dachte an Eines, sah Eines, fühlte Eines, realisierte Eines und nicht anderes daneben. Nachdem er diese Lektion zutiefst beherrschte, kehrte er nach vielen Jahren zurück, um seinen alten Lehrer zu besuchen. Der Lehrer, ganz in Anspruch genommen

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von seiner Sicht der Mannigfaltigkeit, hatte ihn schon längst vergessen. Aber Bullhe Shah konnte seinen alten Lehrer nicht vergessen, der ihm seine erste so inspirierende Lektion gegeben hatte, die fast sein ganzes Leben in Anspruch genommen hatte. Er verneigte sich demütig vor dem Lehrer und sagte: „Ich habe die Lektion, die ihr mir so liebevoll gelehrt habt, vorbereitet. Wollt ihr mir nun weiteres, was es zu lernen gibt, zeigen?“ Der Lehrer lachte ihn aus und dachte bei sich selbst: „Nach all der Zeit hat sich dieser Narr doch noch an mich erinnert.“ Bullhe Shah bat um die Erlaubnis, die Aufgabe aufschreiben zu dürfen. Der Lehrer antwortete im Spaß: „Schreib auf diese Wand dort.“ Da schrieb Bullhe Shah das Zeichen Alif an die Wand, indem er sagte: „Schauen Sie, ist es so recht?“ Augenblicklich spaltete die Wand sich in zwei Teile und formte so das Zeichen Alif. Der Lehrer war über dieses Wunder verblüfft und rief aus: „Du bist mein Lehrer! Das, was du aus dem einen Buchstaben Alif gelernt hast, zu dem war ich mit all meiner Gelehrsamkeit nicht fähig. Ich bin fortan dein Schüler!“ I/40

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Das Feuer der Liebe Ein Murid* war lange bei einem geistigen Lehrer, machte jedoch keine Fortschritte und wurde nicht inspiriert. Schließlich ging er zum Lehrer und sagte: „Ich habe gesehen, dass viele meiner Mitschüler inspiriert wurden, aber ich bin unglücklich, weil ich keine Fortschritte mache. Jetzt habe ich alle Hoffnung aufgegeben und werde Sie verlassen.“ Der Lehrer gab ihm den Rat, die letzten Tage seines Aufenthalts in einem Haus nahe dem Khankah** zu verbringen. Jeden Tag schickte er ihm sehr gutes Essen und ließ ihm sagen, dass er mit seinen geistigen Übungen aufhören und ein bequemes und ruhiges Leben führen solle. Am letzten Tag sandte er ihm einen Korb mit Früchten durch ein besonders schönes, junges Mädchen. Sie setzte ihren Korb ab und ging augenblicklich zurück, obwohl er sie bat zu bleiben. Ihre Schönheit und ihr Charme hatten ihn zutiefst beeindruckt, sodass er an nichts anderes mehr zu denken vermochte. Er sehnte sich danach, sie wiederzusehen, und sein Wunsch wuchs mit jedem Augenblick. Er vergaß zu essen, war voller Seufzer und Tränen. Sein Herz war geschmolzen durch das Feuer der Liebe. Nach einiger Zeit besuchte ihn der Lehrer, und jetzt vermochte ein einziger Blick, ihn zu inspirieren. * geistiger Schüler

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** Ashram, Kloster

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Die Kraft des Wortes Eine Geschichte erzählt von einem Sufi, der ein krankes Kind heilte. Er wiederholte leise einige Worte, dann gab er das Kind seinen Eltern und sagte: „Nun wird es gesund werden.“ Jemand, der dies nicht glauben konnte, warf ein: „Wie kann das möglich sein, dass irgendjemand durch ein paar Worte geheilt werden kann?“ Von einem sanften Sufi erwartet niemand eine zornige Antwort, doch jetzt drehte er sich zu dem Mann um und entgegnete: „Du verstehst nichts davon. Du bist ein Narr!“ Der Mann fühlte sich sehr beleidigt. Sein Gesicht lief rot an und er wurde sehr wütend. Der Sufi sagte nun: „Wenn ein Wort die Kraft hat, dich wütend zu machen, wie sollte dann ein Wort nicht auch die Kraft haben zu heilen?“

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Anfragen für Informationen über die von Hazrat Inayat Khan gegründete Internationale Sufi-Bewegung und Internationaler Sufi-Orden können an folgende Adressen geschickt werden:

The General Secretariat of the Sufi Movement International Sufi Movement Geschäftsstelle: ihq@sufimovement.org www.sufimovement.org Sufi Orden Deutschland e.V. Geschäftsstelle sekretariat@sufiorden.de www.sufiorden.de Sufi Orden Schweiz www.sufismus.ch Sufi Orden Österreich www.sufiorden.at Verlag Heilbronn Postfach 2162, D-71370 Weinstadt info@verlag-heilbronn.de www.verlag-heilbronn.de





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