Fernidee 3/2021

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KARAWANENWEG DER LEGENDEN Mit dem Orient Silk Road Express zügig durch Zentralasien. Am Rande des Schienenstrangs: Wilde Reiter, Wüsten, Abenteuer und magische Städte

USBEKISTAN Chiwa

TURKMENISTAN Aschgabat Buchara Merw

KASACHSTAN Turkestan Almaty Taschkent Samarkand Schahrisabs

Von Bernd Schiller Mythos Seidenstraße: Wohl kein anderer Handelsweg der frühen Geschichte hat die Menschen so bewegt wie das mehr als zwölftausend Kilometer lange Netz von Karawanenstraßen zwischen China und dem Mittelmeer. Es waren nicht nur exotische Luxuswaren – Seide, Keramik, Jade, Teppiche, Tee und Gewürze –, die aus dem Herzen Asiens bis nach Palmyra und Aleppo im heutigen Syrien und weiter über See nach Rom geliefert wurden. Zwischen dem 1. Jh. v. Chr. und dem 13. Jh. n. Chr. gelangten auch Religionen, Wissen und Kulturen in beide Richtungen – über gewaltige Bergketten, durch glutheiße Wüsten und endlose Steppen. Der Begriff Seidenstraße wurde allerdings erst 1877 in Berlin vom Geografen Ferdinand von Richthofen geprägt. Längst hat die Legende die Urlaubskataloge erreicht, sie ist zum Sehnsuchtsziel für Reisende in aller Welt geworden. Zwei Wochen lang sind wir unseren Bildern im Kopf nachgereist. In Almaty, einer Anderthalb-Millionen-Stadt in Kasachstan, unweit der chinesischen Grenze, stand der Orient Silk Road Express bereit, ausgiebig bestaunt von Einheimischen, die dort auf ihren Regionalzug warteten. Unser Sonderzug, der in Deutschland vom Spezialveranstalter Lernidee angeboten wird, hat uns von Almaty bis nach Aschgabat in Turkmenistan gebracht, auf einem abenteuerlichen Schienenstrang, der die Fantasien bei Weitem übertreffen sollte. Wir haben oft aus dem Fenster geschaut und wilde Reiter durch die Steppe preschen gesehen. Stundenlang sind Sandund Salzwüsten, Seen und schneebedeckte Berge an uns vorbeigezogen. Ein Weltwunder nach dem anderen lag an der Strecke, Städte wie Samarkand und Buchara, die Oase Chiwa und die Stadt Turkestan, einst Hauptort des Kasachen-Khanats. Und bei Ausflügen in abgelegene Dörfer, weit weg vom nächsten Bahnhof, wurden wir rührend bewirtet und haben mit Männern, Frauen und Kindern einer Großfamilie getanzt und gelacht. Szenen einer fremden Welt, die uns auf einmal ganz nah war, im Reisetagebuch festgehalten: „Großmutter Mashura schenkt noch eine Runde Tee nach. Ein Teil der Gruppe hockt auf Stühlen, die aus allen Zimmern des Hauses und der Nachbarschaft geholt wurden. Die anderen Teilnehmer des Abenteuers Seidenstraße tanzen Ringelreihen um Maulbeer- und Mandelbäume, gemeinsam mit einigen der zwölf Kinder, die Mashura geboren hat, und mit einer Auswahl jener vierzig Enkel, die diese Kinder ihr geschenkt haben. Mashura ist 85, ihre goldenen Zähne blitzen, wenn sie 4

lacht, und sie lacht viel. Seit ihr Mann nicht mehr lebt, hat sie das Sagen auf diesem Hof im Bergdorf Baysun, tief im Süden Usbekistans.“ Es ist der vierte Tag unserer Reise durch Zentralasien, der erste, an dem wir nicht schon morgens staunend vor den Kuppeln mächtiger muslimischer Sakralbauten stehen. Zwar werden wir auch heute Nachmittag wieder den Spuren Tamerlans folgen, des ebenso grausamen wie genialen Eroberers, der diese Region im 14. Jahrhundert verändert hat wie vor ihm nur sein Vorbild Dschingis Khan. Aber noch genießen wir Mashuras Aprikosenkekse, trinken Quellwasser und Jasmintee und lassen uns in ländlicher Idylle erzählen, wie hier Geburt, Hochzeit und Tod, Glaube und Aberglaube gelebt werden. Nachmittags in Schahrisabs, dem Geburtsort des Tamerlan, der in unseren Geschichtsbüchern besser als Timur Lenk bekannt ist. Die Gruppe schart sich, wie zuvor in der usbekischen Hauptstadt Taschkent und auf den ersten Stationen im Süden Kasachstans, um Nelya Kim. Sie ist unsere Reiseleiterin, klein, quirlig, klug. Natürlich weiß Nelya alles über den Despoten, der in Usbekistan bis heute als Nationalheld verehrt wird. So spannend wie sie diese Vergangenheit schildert, so interessant informiert sie über das Heute, über das Schulsystem, die Benzinpreise, den neuen Reichtum, Erdgas, Gold. Da schnurren in kurzer Zeit die Historie und die Probleme dieses noch jungen Staates zusammen, der bis zur Unabhängigkeit 1991 mehr als 120 Jahre russisch geprägt war. Nur fünf Stunden liegen zwischen Großmutter Mashuras Garten Eden und den Ruinen von Schahrisabs. Fünf Stunden, in denen wir von Baysun mit einem Bus zum Bahnhof Karmashi gefahren sind, wo unser Sonderzug auf uns wartete. Mittagessen im Speisewagen. Kellner Juri serviert zum Beispiel Sabsavotli Schurpa, usbekische Gemüsesuppe, und Pelmeni, die typischen Teigtaschen der Region, dazu, wie überall in Zentralasien, Fladenbrot und Chai. Vier Kabinenkategorien standen bei der Buchung zur Auswahl, mit oder ohne Stockbetten, mit eigenem Bad oder Dusche am Ende des Wagens. Bei uns sorgt die Usbekin Fevziya, gerade 20 geworden, für penible Ordnung. Sie freut sich, wenn wir mit ihr plaudern, über ihre Familie, ihre Pläne, und dabei helfen, ihr Englisch zu verbessern. Tage „an Bord“ wechseln mit Tagen „an Land“. Für jeweils ein oder zwei Nächte ziehen wir in ein Hotel, in Taschkent, Samarkand, Chiwa oder Buchara. In diesen und anderen Oa-


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