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ÖStZB 73. Jahrgang, 15. Jänner 2020, Nr. 1-2

ÖStZB

FINANZRECHTLICHE ERKENNTNISSE DES VwGH, VfGH, EuGH UND BFG Beilage zur Österreichischen Steuerzeitung

ERKENNTNISSE DES VwGH »EStG 1988: § 4 Abs 2 Z 2, § 13 idF BGBl 1993/818 Anschaffung von Wäsche zum Vermieten – geringwertiges Wirtschaftsgut / Bilanzberichtigung – Zulässigkeit eines Gewinnzuschlages

3 VwGH 24. 10. 2019, Ra 2018/15/0072

»EStG 1988: § 4 Abs 12, § 27 Abs 3 idF BGBl I 2011/112, § 31 idF vor BGBl I 2010/111; UmgrStG: § 17 Abs 1 idF vor BGBl I 2012/112; DBA-USA: Art 13 Abs 7 idF BGBl III 1998/6 Steuerneutrale Einlagenrückzahlungen nach (vorübergehendem) Wegzug in die USA

5 VwGH 20. 11. 2019, Ro 2018/15/0017

»EStG 1988: § 16, § 20 Abs 1 Z 2 lit a Hüftoperation eines Sängers und Schauspielers als Privatpatient – keine Werbungskosten

9 VwGH 13. 11. 2019, Ra 2019/13/0070

»EStG 1988: § 16, § 30 ff, § 98 Abs 1 Immobilienertragsteuer – Kursverlust aus der Tilgung eines Fremdwährungsdarlehens keine Werbungskosten

11 VwGH 24. 10. 2019, Ra 2018/15/0114

»EStG 1988: § 30 Abs 2 Z 1 lit a idF BGBl I 2012/22 Immobilienertragsteuer – erster Hauptwohnsitzbefreiungstatbestand

13 VwGH 24. 10. 2019, Ra 2018/15/0115

»EStG 1988: § 30 Abs 4 Z 2; BAO: § 24 Abs 1 lit d Private Grundstücksveräußerung – kein Altvermögen wegen gleichzeitigem Abschluss von Options- und Mietvertrag im Jahr 2001

16 VwGH 24. 10. 2019, Ro 2019/15/0177

»EStG 1988: § 30 Private Grundstücksveräußerung – auf Einbauküchen, Wandverbauten, Außenanlagen und Außenpools entfallender Veräußerungspreis

18 VwGH 13. 11. 2019, Ro 2019/13/0033

»FLAG: § 2 Abs 2 Kein primärer Anspruch der rumänischen Großmutter auf Differenzzahlungen nach dem FLAG

20 VwGH 12. 11. 2019, Ra 2019/16/0133

»UStG 1994: § 4, § 16; EStG 1988: § 8 Abs 4 Doppel- oder Überzahlungen – umsatzsteuerliche Behandlung / Abschreibung von Mieterinvestition

23 VwGH 24. 10. 2019, Ro 2018/15/0013

»UStG 1994: § 17 Abs 4, § 22 Landwirt – Wechsel von Regelbesteuerung auf Pauschalierung

26 VwGH 24. 10. 2019, Ro 2018/15/0021 oestz.lexisnexis.at


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ÖStZB 1-2/2020 INHALTSVERZEICHNIS/IMPRESSUM

ERKENNTNISSE DES EuGH »Internationales Steuerrecht; AEUV: Art 56; KStG 1988: § 21; EStG 1988: § 99

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Die Festsetzung von Verzugszinsen für nichtabgeführte Quellensteuer bis zum Nachweis der Anwendbarkeit eines DBA bei Gesellschaften, die nach dem DBA keine Quellensteuer schulden, steht der Dienstleistungsfreiheit entgegen

EuGH 25.7.2018, C-553/16

»Mehrwertsteuer; Mehrwertsteuerrichtlinie: Art 2 Abs 1, Art 14, Art 24, Art 62, Art 63, Art 65 und Art 73 sowie von Art 79 Buchst b; UStG 1994: § 3 und § 4 Zahlungen für den Erwerb von „Guthabenpunkten“ für die Teilnahme an einer Online-Auktion stellen ein Entgelt für die Teilnahme dar

33 EuGH 5.7.2018, C-544/16

»Mehrwertsteuer; Mehrwertsteuerrichtlinie: Art 167, Art 168 und Art 184; UStG 1994: § 2 Abs 3, § 12 und § 21 Vorsteuerberichtigung für Grundstückserwerb einer Einrichtung öffentlichen Rechts, wenn diese im Erwerbszeitpunkt als Steuerpflichtige handelte

38 EuGH 25.7.2018, C-140/17

»Mehrwertsteuer; Mehrwertsteuerrichtlinie: Art 311 Abs 1 Nr 1; UStG 1994: Anlage Art 24; EuGH 11.7.2018, C-154/17, SIA „E LATS“ Gegenstände, die aus Edelsteinen und Edelmetallen bestehen, sind keine Gebrauchsgegenstände, wenn sich ihre Funktion auf jene der Steine und Metalle reduziert

Redaktion: Mag. Birgit Bleyer 1030 Wien, Marxergasse 25 Tel. +43-1-534 52-1579, Fax DW 144 E-Mail: birgit.bleyer@lexisnexis.at

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42 EuGH 11.7.2018, C-154/17

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ÖStZB 1-2/2020 ART.-NR.: 1

Erkenntnisse des VwGH Anschaffung von Wäsche zum Vermieten – geringwertiges Wirtschaftsgut / Bilanzberichtigung – Zulässigkeit eines Gewinnzuschlages » ÖStZB 2020/1

EStG 1988: § 4 Abs 2 Z 2, § 13 idF BGBl 1993/818 VwGH 24. 10. 2019, Ra 2018/15/0072 Unterinstanz: BFG 6. 6. 2018, RV/5100745/2014 betreffend: Feststellung der Einkünfte 2005 bis 2010

1) Besteht das Service einer GmbH im Bereitstellen von Mietwäsche (insbesondere an Hotelbetriebe und Krankenhäuser) und deren Reinigung im vereinbarten zeitlichen Turnus, wobei die Mietwäsche im Eigentum der GmbH verbleibt, so ist der weitaus überwiegende Hauptzweck des Leistungspakets die ständige Reinigung der überlassenen Wäsche und somit die entsprechend ihrem Betriebszweck laufend wiederkehrend erbrachte aktive Dienstleistung. Der gesetzliche Ausschluss der Sofortabschreibung für Wirtschaftsgüter, die zur entgeltlichen Überlassung bestimmt sind, ist daher (in Hinblick auf die eingekaufte Mietwäsche) nicht anwendbar. 2) Entspricht die Vermögensübersicht nicht den allgemeinen Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung oder den zwingenden Vorschriften des EStG, so ist sie zu berichtigen (Bilanzberichtigung). Kann ein Fehler allerdings auf Grund der bereits eingetretenen Verjährung nicht mehr steuerwirksam berichtigt werden, kann – zur Erreichung des richtigen Totalgewinnes – (von Amts wegen oder auf Antrag) eine Fehlerberichtigung durch Ansatz von Zuoder Abschlägen vorgenommen werden. Die Zu- oder Abschläge kommen allerdings nur in Betracht, wenn ein Verfahrenstitel vorliegt, der es ermöglichen würde, den fehlerhaften Bescheid (des Wurzeljahres) in Durchbrechung der Rechtskraft zu korrigieren und der Einsatz dieses Verfahrenstitels bloß deswegen nicht möglich ist, weil dem die eingetretene Verjährung entgegensteht.

Sachverhalt Die Revisionswerberin stellt gereinigte Berufs- und Hotelwäsche aller Art einschließlich Matten für Gesundheitswesen, Hotellerie und Gastronomie sowie Industrie und Wirtschaft bereit. Das Service der Revisionswerberin besteht dabei im Bereitstellen der Mietwäsche, Reinigen im vereinbarten zeitlichen Turnus, zweckmäßigem Instandhalten, Lagerhalten, kostenlosen Austausch

bearbeitet von Mag. Birgit Bleyer, LL. M.

nach Verschleiß sowie Zustellen/Abholen. Gemäß den vertraglichen Geschäftsbedingungen bleibt die Mietwäsche im Eigentum der Revisionswerberin und darf nur durch sie oder eine von ihr genannte Wäscherei gereinigt und in Stand gehalten werden. Der Kunde verpflichtet sich, seinen kompletten Mietwäschebedarf nur von der Revisionswerberin zu beziehen, und haftet mit Ersatzpreisen für abhanden gekommene und über die normale Verwendung hinaus unbrauchbar gewordene Mietwäsche. Die eingekaufte Mietwäsche wurde von der Revisionswerberin unter Berufung auf § 13 EStG 1988 für steuerliche Zwecke sofort abgeschrieben. Unter Zugrundelegung einer Nutzungsdauer von drei Jahren wurde im Jahresabschluss jeweils eine Bewertungsreserve ausgewiesen. Nach Durchführung einer Außenprüfung kam der Prüfer zu dem Ergebnis, dass die Voraussetzungen des § 13 EStG 1988 nicht vorlägen. Gemäß § 13 EStG 1988 sei eine Sofortabschreibung von Wirtschaftsgütern auch bei Anschaffungskosten von nicht mehr als € 400,- dann nicht zulässig, wenn es sich um Wirtschaftsgüter handle, die zur entgeltlichen Überlassung bestimmt seien, was im gegenständlichen Fall zutreffe. Zwar interpretierten die Einkommensteuerrichtlinien diese Bestimmung insofern einschränkend als „zur entgeltlichen Überlassung bestimmt“ nicht vorliege, wenn die entgeltliche Überlassung „nur als völlig untergeordneter Nebenzweck anzusehen ist“. Im gegenständlichen Fall bestehe der Zweck der betreffenden Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens, nämlich der diversen Textilien, jedoch in deren Überlassung an die Kunden iVm der Erbringung verschiedener Dienstleistungen, insb des regelmäßigen Waschens. Die Mietwäsche mache weit über 90 % des gesamten Anlagevermögens der Revisionswerberin aus und der Aufwand für Wäscheanschaffungen betrage jährlich ca 3 Millionen € betrage. Die Hinzurechnung erfolge gem § 4 Abs 2 Z 2 EStG 1988 durch Ansatz eines Zuschlages in Höhe der Bewertungsreserve im Wirtschaftsjahr 2004/05 sowie in den Folgejahren durch Hinzurechnung der jeweiligen Veränderung der Bewertungsreserve. Das Finanzamt folgte dem Prüfer und erließ, nach Wiederaufnahme der Verfahren, neue Feststellungsbescheide hinsichtlich der Einkünfte in den Streitjahren. Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das BFG die (erhobene) Beschwerde ab. Die Überlassung (von Textilien) als auch deren Reinigung würden jeweils Hauptleistungen darstellen. Sei die von ihr getätigte Überlassung von Textilien – auch – eine Hauptleistung, könne sie aber schon begrifflich keinen „völlig untergeordneten Nebenzweck“ darstellen. Eine Sofortabschreibung sei daher nicht zulässig. Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die außerordentliche Revision.

Erkenntnis Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes. oestz.lexisnexis.at

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Entscheidungsgründe Ausschluss der Sofortabschreibung 17. Die Revision ist zulässig; sie ist auch begründet. 18. Gemäß § 13 EStG 1988 können die Anschaffungs- oder Herstellungskosten von abnutzbaren Anlagegütern als Betriebsausgaben abgesetzt werden, wenn diese Kosten für das einzelne Anlagegut € 400,- nicht übersteigen (geringwertige Wirtschaftsgüter). Wirtschaftsgüter, die aus Teilen bestehen, sind als Einheit aufzufassen, wenn sie nach ihrem wirtschaftlichen Zweck oder nach der Verkehrsauffassung eine Einheit bilden. Hinweis: Gem dem Steuerreformgesetz 2020, BGBl I 2019/103, wurde die Grenze für die Sofortabschreibung von geringwertigen Wirtschaftsgütern ab 2020 auf € 800,- angehoben. 19. Durch Art I Z 8 StRG 1993, BGBl 1993/818, wurde § 13 EStG 1988 mit Wirkung ab der Veranlagung für das Kalenderjahr 1994 ein letzter Satz angefügt, nach dem die Sofortabschreibung für „Wirtschaftsgüter, die zur entgeltlichen Überlassung bestimmt sind“, ausgeschlossen ist. In den Erläuterungen zur RV (1237 BlgNR 18. GP 51) wird dazu ausgeführt: „In letzter Zeit wurden Verlustmodelle entwickelt, bei denen die Verluste aus der Geltendmachung von Sofortabschreibungen nach § 13 für vermietete geringwertige Wirtschaftsgüter (zB Einkaufswagen) resultierten. Da die Vermietung dieser Wirtschaftsgüter im Allgemeinen gleichzeitig den Betriebszweck darstellt und die Wirtschaftsgüter im Verhältnis zum übrigen Betriebsvermögen somit keine ‚Geringwertigkeit' iSd Gesetzeszweckes aufweisen, soll § 13 in Hinkunft nicht für zur Vermietung bestimmte Wirtschaftsgüter anzuwenden sein.“ 20. Im Bericht des Finanzausschusses (1301 BlgNR 18. GP 3) traf dieser zur beabsichtigten Ergänzung des § 13 EStG 1988 folgende Feststellung: „Zu Art I Z 8 (§ 13 EStG 1988) vertritt der Finanzausschuss die Auffassung, dass die Sofortabschreibung entgeltlich überlassener Wirtschaftsgüter in jenen Fällen weiterhin möglich sein wird, in denen die Überlassung als völlig untergeordneter Nebenzweck anzusehen ist. Dies wird etwa für entgeltlich überlassene Gasflaschen gelten, wenn der weitaus überwiegende Hauptzweck die Lieferung von darin befindlichem Gas ist, weiters für die Überlassung von Krankenhaus-Bettwäsche, wenn der weitaus überwiegende Hauptzweck die ständige Reinigung der Krankenwäsche ist.“

Rsp des VwGH 21. § 13 letzter Satz EStG 1988 ist nach dem Erkenntnis des VwGH vom 30. 1. 2014, 2011/15/0084, ÖStZB 2014/178, nicht auf Verlustbeteiligungsmodelle beschränkt. Entscheidend für seine Anwendung ist, dass Anlagevermögen vorliegt, das zur entgeltlichen Überlassung bestimmt ist. Auf die Kostenstruktur, insb darauf, welchen Anteil der Personalaufwand an den Gesamtkosten hat, kommt es ebenso wenig an wie auf die zivilrechtliche Einordnung der Verträge. oestz.lexisnexis.at

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22. Ob – wie dies der Ansicht des Finanzausschusses entspricht (1301 BlgNR 18. GP 3) – die Sofortabschreibung entgeltlich überlassener Wirtschaftsgüter in jenen Fällen weiterhin möglich ist, in denen die Überlassung als völlig untergeordneter Nebenzweck anzusehen ist, hat der VwGH im zitierten Erkenntnis offen gelassen, weil im damaligen Beschwerdefall bereits einerseits die Überlassung der streitgegenständlichen Baugerüste „den Hauptzweck des vorliegenden Leistungspakets“ bildete und andererseits Gerüstteile für den Fassadenbau ohnedies nicht als Einzelteile, sondern als Sachgesamtheit anzusehen sind. Weitere Feststellungen zum Charakter des Leistungspakets waren daher schon aus diesem Grund nicht erforderlich.

Vorbringen der Revision 23. Die Revisionswerberin vertritt in ihrer Revision – im Einklang mit der hg Rsp – die Ansicht, dass es nicht von Bedeutung sei, welche Kostenrelationen das angebotene Leistungspaket aufweise. Dafür spreche auch das vom Finanzausschuss angesprochene Beispiel der Überlassung von Gasflaschen. Laut Internetrecherche betrügen nämlich die Kosten für eine Pfand(gas)flasche € 42,-, während die Kosten für eine Gasfüllung € 22,50 betrügen. Die Kostenrelation einer Pfandgasflasche zum Gesamtkaufpreis liege sohin bei rund 65 %; dennoch solle ihre Sofortabsetzung möglich sein. Die Ausschlussbestimmung gelange daher – gem der Intention des Gesetzgebers – nur dann zur Anwendung, wenn sich der wirtschaftliche Zweck der angebotenen Leistung in der bloßen entgeltlichen (passiven) Überlassung von Wirtschaftsgütern erschöpfe. Sei Hauptzweck des angebotenen Leistungsbündels nicht die entgeltliche Zurverfügungstellung von Wirtschaftsgütern selbst, gelange sie nicht zur Anwendung. Die Feststellung des wirtschaftlichen Zwecks des angebotenen Leistungsspektrums habe dabei nicht anhand der Kostenbestandteile der einzelnen Teilleistungen, sondern in einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise zu erfolgen. 24. Hauptzweck des von der Revisionswerberin angebotenen Leistungspakets sei die Zurverfügungstellung gereinigter Textilien und die Abwicklung der gesamten Logistik für ihre Kunden. Die Überlassung der Textilien stelle dabei nur Mittel zum erwünschten Hauptzweck dar. Die Erbringung der Dienstleistung stehe im Vordergrund. Dies werde durch täglich gereinigte Textilien von 545 Tonnen sowie eine tägliche Kilometerleistung von 30.000 km des 280 Lieferfahrzeuge umfassenden Fuhrparks bestätigt. Die Revisionswerberin sei dabei zudem genau in jenem Geschäftsbereich (Überlassung und ständige Reinigung von Krankenhausbettwäsche) tätig, welcher sich nach Ansicht des Finanzausschusses sowie der hL auch nach dem Steuerreformgesetz 1993 weiterhin auf die Bestimmungen des § 13 EStG 1988 berufen könne.

Kein Ausschluss der Sofortabschreibung 25. Zu Recht weist die Revisionswerberin damit darauf hin, dass der weitaus überwiegende Hauptzweck ihres Leistungspakets – ebenso wie in dem vom Finanzausschuss genannten Beispiel der Überlassung und ständigen Reinigung von Krankenhausbettwä-


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sche – die ständige Reinigung der überlassenen Wäsche und somit die entsprechend ihrem Betriebszweck laufend wiederkehrend erbrachte aktive Dienstleistung ist. 26. Im Lichte der Ausführungen im Bericht des Finanzausschusses zum Regelungszweck der Bestimmung, die im Wortlaut des Gesetzes auch Deckung findet, ist der Ausschluss der Sofortabschreibung in einem solchen Fall nicht anwendbar. 27. Die Wirtschaftsgüter stellen sich diesfalls nicht als bloß „zur entgeltlichen Überlassung bestimmt(e)“ Wirtschaftsgüter iSd § 13 letzter Satz EStG 1988 dar, deren Vermietung an sich bereits einen eigenständigen Betriebszweck bildet. Vielmehr werden sie laufend von ihrer Eigentümerin selbst im eigenen Betrieb eingesetzt, bearbeitet und dann kurzfristig erneut ausgegeben. Damit steht aber nicht eine (längerfristige) passive Überlassungsleistung im Vordergrund der „Bestimmung“ dieser Wirtschaftsgüter, sondern ihr laufender Einsatz im eigenen Betrieb der Revisionswerberin zur laufend wiederkehrenden Erbringung der von ihr angebotenen Dienstleistung.

Bilanzberichtigung – Gewinnzuschlag 28. Im Übrigen hat das BFG im Revisionsfall auch die Voraussetzungen des § 4 Abs 2 EStG 1988 nicht hinreichend geprüft. Sind die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen des § 4 Abs 2 Z 2 EStG 1988 erfüllt, liegt die iZm einer Bilanzberichtigung erfolgende Vornahme von Zu- oder Abschlägen zur Erreichung des richtigen Totalgewinnes im Ermessen der Behörde. Eines der Tatbestandsmerkmale besteht darin, dass „nur“ aufgrund der bereits eingetretenen Verjährung die steuerwirksame Korrektur des Bilanzierungsfehlers nicht mehr im „Wurzeljahr“ erfolgen kann. Wie die ErlRV des AbgÄG 2012, mit welchem § 4 Abs 2 EStG 1988 neu gefasst wurde (1960 BlgNR 24. GP 19), ausführen, kommen die Zu- oder Abschläge nur in Betracht, „wenn ein Verfahrenstitel vorliegt, der es ermöglichen würde, den fehlerhaften Bescheid (des Wurzeljahres) in Durchbrechung der Rechtskraft zu korrigieren und der Einsatz dieses Verfahrenstitels bloß deswegen nicht möglich ist, weil dem die eingetretene Verjährung entgegensteht. Auf diese Weise ist gewährleistet, dass für eine Fehlerberichtigung in Bezug auf verjährte Zeiträume dieselben verfahrensrechtlichen Anforderungen für die Durchbrechung der Rechtskraft gelten wie sie für eine derartige Maßnahme in Bezug auf nicht verjährte Zeiträume besteht.“ Somit ist zu prüfen, ob – bei Ausblendung der eingetretenen Verjährung – die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für die berichtigte Festsetzung der Einkommen- bzw Körperschaftsteuer des Wurzeljahres gegeben sind, insb etwa weil auch im Vergleich zur bisherigen Veranlagung des Wurzeljahrs Tatsachen neu hervorgekommen sind und somit eine Wiederaufnahme des Verfahrens nach § 303 BAO möglich wäre (vgl Doralt et al, EStG17, § 4 Tz 154). Eine gesonderte Prüfung der Durchbrechungsmöglichkeit der Rechtskraft in Bezug auf die (verjährten) Wurzeljahre (unter Ausblendung der Verjährung) ist im gegenständlichen Fall vom Finanzamt im Zuge seiner die Streitjahre ab 2005 betreffenden Wiederaufnahme offenkundig nicht erfolgt und vom BFG nicht erläutert worden, obwohl gerade hinsichtlich des Neuerungs-

tatbestands der jeweilige Wissensstand der wiederaufnehmenden Abgabenbehörde zum Wiederaufnahmegrund in den Abgabenverfahren der Vorjahre (Wurzeljahre) – etwa aufgrund unterschiedlich vorgelegter Informationen seitens der Abgabepflichtigen oder einer in den Vorjahren durchgeführten abgabenbehördlichen Prüfung – unterschiedlich sein kann. 29. § 4 Abs 2 Z 2 EStG 1988 lässt die Vornahme von Zu- und Abschlägen zudem bloß für den ersten im Zeitpunkt der Bescheiderlassung noch nicht verjährten Veranlagungszeitraum zu, also nur für das älteste noch nicht verjährte Veranlagungsjahr. Im Bericht über die Außenprüfung, der mit 27. 5. 2013 datiert ist, setzt der Prüfer für das Wirtschaftsjahr 2004/2005 den Zuschlag (für Bilanzberichtigungen der beiden Vorjahre) an und unterlässt dabei Ausführungen zur Verjährung. Das Finanzamt schloss sich den Prüfungsfeststellungen an und erließ (nach Wiederaufnahme des Verfahrens) einen entsprechenden, auch den Gewinnzuschlag nach § 4 Abs 2 beinhaltenden Feststellungsbescheid nach § 188 BAO für das Jahr 2005, allerdings – wegen besonderer Umstände bei der Bescheidzustellung – erst im Februar 2014. Ob im Zeitraum von der Berichtsverfassung bis zur Bescheiderlassung (Mai 2013 bis Februar 2014) die Verjährungssituation unverändert geblieben ist, führt das Finanzamt nicht aus. Der Bescheid des Finanzamtes wie auch das angefochtene Erkenntnis enthalten sich jeglicher Begründung zur Verjährung. Freilich kann bei einer Mitunternehmerschaft für jeden Mitunternehmer ein anderes Jahr der „erste zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung noch nicht verjährte Veranlagungszeitraum“ sein. Ob die Möglichkeit unterschiedlicher Verjährungssituationen bei den Mitunternehmern zur Folge hat, dass Zu- und Abschläge nach § 4 Abs 2 EStG 1988 überhaupt nicht im Feststellungsbescheid nach § 188 BAO, sondern erst im Einkommen- bzw Körperschaftsteuerverfahren der Mitunternehmer vorgenommen werden dürfen (vgl hiezu Doralt et al, EStG17, § 4 Tz 156), kann im gegenständlichen Fall, weil das angefochtene Erkenntnis ohnedies als inhaltlich rechtswidrig aufzuheben war, dahingestellt bleiben.

Steuerneutrale Einlagenrückzahlungen nach (vorübergehendem) Wegzug in die USA » ÖStZB 2020/2

EStG 1988: § 4 Abs 12, § 27 Abs 3 idF BGBl I 2011/112, § 31 idF vor BGBl I 2010/111 UmgrStG: § 17 Abs 1 idF vor BGBl I 2012/112 DBA-USA: Art 13 Abs 7 idF BGBl III 1998/6 VwGH 20. 11. 2019, Ro 2018/15/0017 Unterinstanz: BFG 7. 5. 2018, RV/1100627/2016 betreffend: ESt 2012 und 2014

Brachte der Vater des StPfl im Jahr 1993 ein von ihm gegründetes Einzelunternehmen gem Art III UmgrStG zu oestz.lexisnexis.at

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Buchwerten in die O GmbH ein, wobei sich – unter Berücksichtigung des bar einbezahlten Stammkapitals – negative Anschaffungskosten der Beteiligung ergaben, und übersiedelte er sodann Ende 2001 als Alleingesellschafter der O GmbH (unter Aufgabe seines österreichischen Wohnsitzes) in die USA, wobei – trotz einer vom BMF eingeholten Rechtsauskunft – (zu Unrecht) keine Wegzugsbesteuerung erfolgte, und hatte er aber (zusammen mit seinem Sohn) ab 2007 wieder einen Wohnsitz in Österreich, welcher unstrittig auch den Mittelpunkt seiner Lebensinteressen bildete, so ist das Besteuerungsrecht der Republik Österreich an den Anteilen der GmbH mit seinem Wegzug in die USA verloren gegangen. Bringt sodann der Sohn (als Rechtsnachfolger des Vaters im Erbweg) mit Einbringungsvertrag vom 26. 7. 2011 seine (im Privatvermögen gehaltenen) Anteile an der O GmbH rückwirkend zum 31. 10. 2010 gem Art III UmgrStG in die O Holding GmbH ein, so sind dieser Einbringung der Gesellschaftsanteile an der O GmbH als Anschaffungskosten der höhere gemeine Wert (zum Zeitpunkt des Zuzugs des Vaters; hier: rund 142,3 Mio €) zugrunde zu legen (und nicht die historischen negativen Anschaffungskosten des Vaters). Nimmt die O Holding GmbH sodann im Jahr 2012 gesellschaftsrechtliche Ausschüttungen vor, die in steuerrechtlicher Hinsicht als Einlagenrückzahlungen deklariert werden, so ist diese Einlagenrückzahlung, die gem § 4 Abs 12 EStG 1988 als Veräußerung einer Beteiligung gilt, nicht zu versteuern, wenn die Einlagenrückgewähr die Höhe der Anschaffungskosten (hier: 142,3 Mio €) nicht übersteigt.

Sachverhalt Der Vater des Mitbeteiligten brachte im Jahr 1993 das von ihm gegründete Einzelunternehmen gem Art III UmgrStG zu Buchwerten in die O GmbH ein. Unter Berücksichtigung des bar einbezahlten Stammkapitals ergaben sich negative Anschaffungskosten der Beteiligung. Ende 2001 übersiedelte der Vater des Mitbeteiligten, der Alleingesellschafter der O GmbH war, unter Aufgabe seines österreichischen Wohnsitzes mit seinem damals noch minderjährigen Sohn, dem nunmehrigen Mitbeteiligten, in die USA. Das Finanzamt wurde im Jänner 2003 vom erfolgten Umzug in die USA und der Aufgabe des Wohnsitzes in Österreich informiert. Eine Wegzugsbesteuerung erfolgte aufgrund der eingeholten Rechtsauskunft des BMF vom 8. 11. 2002, GZ 04 4982/13- IV/4/02, (EAS 2119) nicht. Bis 2007 hatte der Vater des Mitbeteiligten seinen ausschließlichen Wohnsitz in den USA. Ab 2005 begann er mit dem Bau eines Hauses in Österreich, für welches er im Jahr 2007 die Benützungsbewilligung erhielt. Ab diesem Zeitpunkt hatten sowohl der Vater als auch der Mitbeteiligte wieder einen Wohnsitz in Österreich, welcher unstrittig auch den Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen bildete. oestz.lexisnexis.at

ART.-NR.: 2

Im Jahr 2009 kamen der Vater des Mitbeteiligten und seine amerikanische Ehefrau bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. In der Folge übernahmen der Mitbeteiligte und sein Bruder die Anteile an der O GmbH im Erbweg zu jeweils 50 %. Die Einantwortung erfolgte am 21. 6. 2011. Bereits am 7. 5. 2011 hatten die beiden Brüder die O Holding GmbH gegründet. Auch an dieser Gesellschaft waren sie zu jeweils 50 % beteiligt. Mit Einbringungsvertrag vom 26. 7. 2011 brachten die beiden Gesellschafter ihre Anteile an der O GmbH rückwirkend zum 31. 10. 2010 gem Art III UmgrStG in die O Holding GmbH ein. Die Beteiligung der O Holding GmbH an der O GmbH wurde in der Unternehmensbilanz mit dem gemeinen Wert in Höhe von 142,288.000 € angesetzt. Die Gegenbuchung erfolgte in der Kapitalrücklage mit demselben Wert. Von dieser Kapitalrücklage wurden 2011 4,801.101,44 € und der Rest im Jahr 2012 über Bilanzgewinn aufgelöst. Im Jahr 2012 nahm die O Holding GmbH gesellschaftsrechtliche Ausschüttungen in Höhe von 4,803.919 € und 2014 solche in Höhe von 5,380.000 € vor, wovon auf den Mitbeteiligten 2012 2,401.959,50 € und 2014 2,690.000 € entfielen. Die GmbH deklarierte die Ausschüttungen in steuerrechtlicher Hinsicht als Einlagenrückzahlungen. Mit Erkenntnis des BFG vom 8. 4. 2014, RV/7102294/2013, hat das BFG diese Ausschüttungen als steuerneutrale Einlagenrückzahlungen beurteilt und einen Haftungsbescheid betreffend Kapitalertragsteuer für Juli 2012 ersatzlos aufgehoben. Nach Durchführung einer Außenprüfung unterwarf das Finanzamt die Einlagenrückzahlungen, soweit sie die Anschaffungskosten der GmbH-Beteiligungen überstiegen, im Einkommensteuerbescheid 2012 vom 12. 3. 2015 und im Einkommensteuerbescheid 2014 vom 24. 9. 2015 dem besonderen Steuersatz gem § 27a EStG 1988 von 25 %. Die Rechtsansicht des Mitbeteiligten, wonach im Jahr der Rückkehr des Vaters aus den USA eine steuerneutrale Aufwertung auf den gemeinen Wert vorzunehmen sei, könne nicht geteilt werden. Bereits beim Wegzug sei nämlich festgestanden, dass die Wohnsitzverlegung in die USA nur vorübergehender Natur sein werde. Aus diesem Grunde sei im Jahr 2001 keine Wegzugsbesteuerung vorgenommen worden. Gegen beide Bescheide erhob der Mitbeteiligte Beschwerde. Der Mitbeteiligte wies darauf hin, dass bei Erstellung der Steuererklärung für das Jahr 2001 irrtümlich davon ausgegangen worden sei, dass keine Wegzugsbesteuerung vorzunehmen sei. Richtigerweise sei von einem Verlust des österreichischen Besteuerungsrechts auszugehen. Es hätte daher beim Vater zu einer Wegzugsbesteuerung kommen müssen. Mit dem Zuzug des Vaters nach Österreich und dem neuerlichen Eintritt in das Besteuerungsrecht der Republik Österreich sei im Zuzugszeitpunkt eine Aufwertung auf den gemeinen Wert gem § 31 Abs 3 EStG 1988 idF vor dem BBG 2011 bewirkt worden. Dieser habe nach einem dem Finanzamt bereits vorgelegten Fachgutachten der Kammer der Wirtschaftstreuhänder rund 142,3 Mio € betragen. Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das BFG den Beschwerden Folge und änderte die Einkommensteuerbescheide der Jahre 2012 und 2014 ab.


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ART.-NR.: 2

Begründend führte das BFG aus, im Revisionsfall sei primär zu klären, ob der unstrittig im Jahr 2001 erfolgte Wegzug des Rechtsvorgängers des Mitbeteiligten gem § 31 Abs 2 Z 2 erster Satz EStG 1988 in der für dieses Jahr geltenden Fassung zwingend eine Wegzugsbesteuerung zur Folge hätte haben müssen. Diese Bestimmung wertete Maßnahmen des Steuerpflichtigen, die zum Verlust des Besteuerungsrechtes der Republik Österreich im Verhältnis zu anderen Staaten hinsichtlich eines Anteils an einer Körperschaft führten, als Veräußerungsvorgänge mit der Konsequenz einer steuerpflichtigen Realisierung der Wertzuwächse. Ob Besteuerungsrechte verloren gehen, richte sich nach den Vorschriften des EStG und den maßgebenden Normen des anzuwendenden Doppelbesteuerungsabkommens. Art 13 des am 1. 2. 1998 in Kraft getretenen und erstmals bei der Veranlagung 1999 anzuwendenden DBA-USA weise in seinem als Auffang- und Generalnorm dienenden Abs 6 das Besteuerungsrecht für Veräußerungsgewinne insoweit dem Ansässigkeitsstaat des Steuerpflichtigen zu, als nicht die anderen Absätze dieser Norm eigene, davon abweichende Bestimmungen enthielten. In Abweichung von Art 13 Abs 6 DBA-USA sehe Art 13 Abs 7 dieses Abkommens vor, dass bei steuerneutralen Umgründungen durch in den USA ansässige Personen das österreichische Besteuerungsrecht an Gewinnen aus der Veräußerung von Beteiligungen an inländischen Kapitalgesellschaften bis 2010 aufrecht bleibe. Das BMF habe in einer Anfragebeantwortung vom 8. 11. 2002, GZ 04 4982/13- IV/4/02, (EAS 2119) ausgeführt, dass diese Bestimmung nicht explizit verlange, dass der Eigentümer der Anteile an der österreichischen Kapitalgesellschaft im Zeitpunkt der steuerneutralen Umgründung in den USA ansässig sein müsse. Das BFG teile diese vom BMF vertretene Auffassung hingegen nicht, dass nach dem Wortlaut des Art 13 Abs 7 DBA-USA das österreichische Besteuerungsrecht für Gewinne aus Anteilsveräußerungen bis 2010 stets aufrecht bleibe. Nach Ansicht des BFG beschränke sich der Anwendungsbereich des Art 13 Abs 7 DBAUSA daher auf steuerneutrale Umgründungen, die vor Inkrafttreten des „neuen“ DBA-USA mit 1. 2. 1998 erfolgt seien. Aufgrund der Bestimmung des Art 13 Abs 7 DBA-USA habe Österreich ein Besteuerungsrecht für Gewinne aus Anteilsveräußerungen bis 2010 daher nur dann behalten, wenn die vor Inkrafttreten des „neuen“ DBA-USA erfolgte steuerneutrale Umgründung einen Auslandsbezug gehabt habe, der mangels einer Einschränkung des Besteuerungsrechts der Republik Österreich im „alten“ Doppelbesteuerungsabkommen eine Buchwerteinbringung nach Umgründungssteuerrecht ermöglicht habe. Im Revisionsfall sei deshalb mit Wegzug des Rechtsvorgängers des Mitbeteiligten nach Art 13 Abs 6 DBA-USA das österreichische Besteuerungsrecht an Gewinnen aus der Veräußerung von Beteiligungen an inländischen Kapitalgesellschaften verloren gegangen. Aus diesem Grund wäre im Jahr 2001 verpflichtend eine Wegzugsbesteuerung vorzunehmen gewesen, welche wiederum eine Aufwertung gem § 31 Abs 3 EStG 1988 idF BGBl I 2001/2 im Zuzugszeitpunkt zur Folge habe.

Die in den Jahren 2012 und 2014 erfolgten Einlagenrückzahlungen hätten daher zur Gänze in den Anschaffungskosten Deckung gefunden und seien deshalb nicht steuerpflichtig. Eine Revision erklärte das BFG für zulässig, weil keine höchstgerichtliche Rsp zur Frage vorliege, ob aufgrund des Art 13 Abs 7 des am 1. 2. 1998 in Kraft getretenen DBA-USA das österreichische Besteuerungsrecht für Gewinne aus Anteilsveräußerungen bis 2010 stets aufrecht bleibe, wenn diese Anteile durch steuerneutrale Betriebseinbringungen erworben worden seien oder ob die steuerneutrale Umgründung zwingend einen Auslandsbezug verlangt habe. Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision des Finanzamtes.

Erkenntnis Abweisung als unbegründet.

Entscheidungsgründe Anwendbare Rechtsvorschriften 24. Die Einlagenrückzahlung von Körperschaften gilt gem § 4 Abs 12 EStG 1988 als Veräußerung einer Beteiligung. Ein Veräußerungsgewinn iSd § 27 Abs 3 EStG 1988 idF BudBG 2012, BGBl I 2011/112, liegt insoweit vor, als die Einlagenrückgewähr die Höhe der Anschaffungskosten übersteigt (vgl Kirchmayr in Doralt et al, EStG16, § 27 Tz 155). 25. Strittig ist im Revisionsfall die Höhe der Anschaffungskosten. Während die Abgabenbehörde die historischen Anschaffungskosten des Rechtsvorgängers des Mitbeteiligten heranziehen will, ist das BFG mit dem Mitbeteiligten davon ausgegangen, dass der Einbringung der Gesellschaftsanteile an der O GmbH der höhere gemeine Wert (zum Zeitpunkt des Zuzugs des Vaters) zugrunde zu legen sei. 26. Die mitbeteiligte Partei hat die Anteile an der O GmbH unbestritten im Erbwege (Einantwortung 21. 6. 2011) erhalten und mit Einbringungsvertrag vom 26. 7. 2011 nach Art III UmgrStG rückwirkend zum 31. 10. 2010 in die O Holding GmbH eingebracht. 27. Gemäß § 17 Abs 1 UmgrStG idF vor dem AbgÄG 2012, BGBl I 2012/112, hat der Einbringende Kapitalanteile, die nicht zu einem Betriebsvermögen gehören, mit den nach § 31 EStG 1988 maßgebenden Anschaffungskosten anzusetzen. 28. Nach § 31 Abs 3 EStG 1988 idF vor dem BudBG 2011, BGBl I 2010/111, gilt im Falle des Eintritts in das Besteuerungsrecht der Republik Österreich im Verhältnis zu anderen Staaten der gemeine Wert als Anschaffungskosten. Hinweis: Die Wegzugsbesteuerung ist nach aktueller Rechtslage, die hier noch nicht anwendbar ist, nicht mehr in § 31 idF vor BGBl I 2010/111, sondern in § 27 Abs 6 Z 1 EStG 1988 geregelt.

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ART.-NR.: 2

Vorbringen der Amtsrevision

Altes DBA-USA

29. Das revisionswerbende Finanzamt vertritt die Ansicht, dass „in dem Fall, dass keine Veräußerung der GmbH-Anteile in den USA vor dem Jahr 2010 stattfindet und eine Rückkehr nach Österreich noch vor dem Jahr 2010 erfolgt“ (also in der hier vorliegenden Sachverhaltskonstellation), „im Wegzugsjahr eine vorläufige Veranlagung unter Nichteinbeziehung des Veräußerungsgewinnes erfolgen“ könne. Zwar deute der Wortlaut im ersten Satzteil des Art 13 Abs 7 DBA-USA zunächst darauf hin, dass die Ansässigkeit in den USA zum Zeitpunkt der Einbringung Voraussetzung für die Anwendung dieser Bestimmung sei. Nach dem Zweck der Bestimmung sei aber die Ansässigkeit des Anteilsinhabers zum Zeitpunkt der Veräußerung maßgeblich, da dieser Vorgang das Besteuerungsrecht Österreichs auslöse, und es sich andernfalls um einen rein innerstaatlichen Vorgang handeln würde. Da in der Übergangsphase (bis 2010) keine Veräußerung stattgefunden habe, könne es durch den vorübergehenden Wegzug aufgrund des Art 13 Abs 7 DBA-USA erst recht nicht zu einem Verlust des österreichischen Besteuerungsrechts gekommen sein, wenn selbst bei einer Veräußerung das Besteuerungsrecht nicht verloren gehe. Das Besteuerungsrecht wäre lediglich dann verloren gegangen, wenn ab 2011 eine Veräußerung bei einer nicht bis Ende 2010 erfolgten Rückkehr vorgenommen worden wäre, weshalb im vorliegenden Fall die Vornahme einer Wegzugsbesteuerung nicht erforderlich gewesen sei. 30. Im Übrigen argumentiere der Mitbeteiligte inkonsistent, indem er (gemeint der steuerliche Vertreter des Vaters) zunächst eine Rechtsauskunft beim BMF einhole und aufgrund der darin geäußerten vertretbaren Rechtsansicht das Finanzamt veranlasse, von einer Besteuerung anlässlich des Wegzugs in die USA abzusehen, um im Zusammenspiel mit der nunmehr eingetretenen Verjährung des Wegzugsjahres eine doppelte Nichtbesteuerung zu erreichen. Dies widerspreche klar dem Ziel und Zweck des DBA-USA.

32. Bringt eine ausländische, nicht in der EU oder bestimmten anderen Staaten ansässige Person Vermögen gem Art III UmgrStG in eine österreichische Kapitalgesellschaft ein, so ist dies gem § 16 Abs 2 Z 2 UmgrStG nur dann unter Buchwertfortführung und sohin ohne Gewinnrealisierung möglich, wenn das Besteuerungsrecht Österreichs hinsichtlich der in den Gesellschaftsanteilen enthaltenen stillen Reserven nicht eingeschränkt ist. Im alten DBA-USA, BGBl 1957/232, fehlte eine dem Art 13 entsprechende Bestimmung. Wie ein Verständigungsverfahren der Vertragsstaaten ergab, wurde dieser Umstand aus Sicht der Vertragspartner so interpretiert, dass die Vertragsstaaten als Quellenstaaten vertraglich nicht gehindert waren, Gewinne – zB aus der Veräußerung von Kapitalgesellschaftsanteilen – zu besteuern (vgl VO BGBl 1993/878; Loukota, Neues österreichischamerikanisches Doppelbesteuerungsabkommen, SWI 1996, 297). 33. Dies hat bewirkt, dass in den USA ansässige Personen, die inländisches Vermögen (etwa einen österreichischen Betrieb) in österreichische Kapitalgesellschaften gem Art III UmgrStG eingebracht haben, diesen Vorgang steuerneutral bewerkstelligen konnten.

Abkommenstext 31. Art 13 des Abkommens zwischen der Republik Österreich und den Vereinigten Staaten von Amerika zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerumgehung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen, BGBl III 1998/6, lautet auszugsweise: „... (6) Gewinne aus der Veräußerung des in den vorstehenden Absätzen nicht genannten Vermögens dürfen nur in dem Vertragsstaat besteuert werden, in dem der Veräußerer ansässig ist. (7) Wurde Vermögen von einer in den Vereinigten Staaten ansässigen Person in eine in Österreich ansässige Gesellschaft in Form einer Einlage eingebracht und erfolgte in Österreich in Anwendung des Umgründungssteuergesetzes keine Besteuerung eines Veräußerungsgewinnes, so bleibt eine spätere Veräußerung der entsprechenden Anteile an der österreichischen Gesellschaft in Österreich bis zum Jahr 2010 steuerpflichtig.“ oestz.lexisnexis.at

Neues DBA-USA Nach dem neuen Abkommen gilt das OECD-Konzept, demzufolge der Nichtansässigkeitsstaat (Quellenstaat) das Recht verliert, Gewinne aus der Veräußerung von Beteiligungen zu besteuern, sodass ab Wirksamwerden des neuen Abkommens entsprechende Umgründungsvorgänge zur Besteuerung der stillen Reserven führen können. 34. Nach den Erläuterungen zur RV zum DBA (213 BlgNR 20. GP 81) sollen durch Art 13 Abs 7 ungerechtfertigte Steuervorteile in Bezug auf Veräußerungsgewinne aus steuerlich begünstigten Umgründungsvorgängen vermieden werden. Erkennbares Ziel dieser Bestimmung ist also, die nach dem alten DBA im Rahmen der steuerneutralen Einbringung nicht erfassten stillen Reserven im Rahmen einer Übergangsfrist bei Veräußerung der Beteiligung in Österreich zu erfassen. Diesbezüglich hat man sich auf eine einfach zu vollziehende, dafür grob vereinfachende Regelung geeinigt, nämlich auf die Steuerhängigkeit derartiger Beteiligungen bis zum Jahr 2010 (vgl Gröhs, Doppelbesteuerungsabkommen Österreich USA, Art 13 Tz 17 f).

Anfragebeantwortung des BMF 35. In der der Revision des Finanzamtes zugrunde liegenden Anfragebeantwortung des BMF vom 8. 11. 2002 wurde die Ansicht vertreten, für den Fall, dass keine Veräußerung der GmbH-Anteile in den USA vor dem Jahr 2010 stattfinde und der Abgabepflichtige noch vor dem Jahr 2010 wieder nach Österreich zurückkehre, könne im Wegzugsjahr eine (vorläufige) Veranlagung unter Nichteinbeziehung des Veräußerungsgewinnes erfolgen. Der Wortlaut des Art 13 Abs 7 DBA-USA stehe dieser Auslegung nicht entgegen.


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ART.-NR.: 3

36. Folgte man dieser Rechtsansicht, wonach Art 13 Abs 7 DBA-USA Österreich ein Besteuerungsrecht an Gesellschaftsanteilen bis zum Jahr 2010 auch für den Fall einräumt, dass eine in Österreich ansässige Person Vermögen in eine österreichische Gesellschaft zu Buchwerten eingebracht hat, erscheint es allerdings unverständlich, das Absehen von einer Wegzugsbesteuerung vom Unterbleiben eines Beteiligungsverkaufs bis 2010 abhängig zu machen. Wäre – nach Ansicht des BMF – doch gerade im Fall eines bis 2010 stattgefundenen Beteiligungsverkaufs das österreichische Besteuerungsrecht zum Tragen gekommen.

Art 13 Abs 7 DBA-USA nicht anwendbar

dass selbst eine diesbezügliche frühere „Vereinbarung“ nicht im Rechtsweg durchsetzbar wäre.

Hüftoperation eines Sängers und Schauspielers als Privatpatient – keine Werbungskosten » ÖStZB 2020/3

EStG 1988: § 16, § 20 Abs 1 Z 2 lit a VwGH 13. 11. 2019, Ra 2019/13/0070

37. Davon abgesehen, ist dem BFG darin zuzustimmen, dass nicht nur – wie bereits oben ausgeführt – Sinn und Zweck der Übergangsbestimmung des Art 13 Abs 7 DBA-USA, sondern bereits dessen Wortlaut der vom Revisionswerber vertretenen Rechtsansicht entgegensteht. Dies wird umso deutlicher, zieht man zur Auslegung des Art 13 Abs 7 DBA-USA die englische Fassung der Bestimmung heran, welche wie folgt lautet: „7. Where property was transferred by a resident of the United States to an Austrian company as a capital contribution and, in application of the Austrian Reorganization Tax Act (Umgründungssteuergesetz), no capital gains taxation took place, a subsequent alienation of the respective shares in the Austrian company shall remain taxable in Austria until the year 2010.“ 38. (Frühere) steuerneutrale Umgründungen von in Österreich ansässigen Personen werden von der Übergangsbestimmung nicht erfasst. Es kann daher nicht als rechtswidrig erkannt werden, wenn das BFG davon ausgegangen ist, dass das Besteuerungsrecht der Republik Österreich an den Anteilen der O GmbH mit dem Wegzug des Rechtsvorgängers des Mitbeteiligten in die USA verloren gegangen ist.

Wiedereintritt in österreichisches Besteuerungsrecht 39. Der im Rahmen der Anfragebeantwortung erkennbar als wesentlich erachtete Umstand, dass mit dem neuerlichen Zuzug des Vaters die Kapitalanteile wiederum dem österreichischen Besteuerungsrecht unterliegen, ändert nichts daran, dass die Anschaffungskosten durch den Wiedereintritt in das österreichische Besteuerungsrecht nach anderen Regeln zu ermitteln sind und – wie der Revisionsfall zeigt – eine gravierende Änderung erfahren können. Dem der Anfrage des früheren steuerlichen Vertreters und der Anfragebeantwortung offenbar zugrunde liegenden Gedanken, im Falle eines nur vorübergehenden Aufenthalts in den USA ohne Veräußerung der Gesellschaftsanteile von einer Wegzugsbesteuerung abzusehen und diesen Wegzug als steuerlich nicht erfolgt zu betrachten – ein Modell, das etwa § 27 Abs 6 Z 1 EStG 1988 in der aktuellen Fassung, für bestimmte Fälle eines (vorübergehenden) Wegzugs (innerhalb der EU und bestimmten EWRStaaten) vorsieht – fehlt es an einer gesetzlichen Grundlage, so-

Unterinstanz: BFG 3. 6. 2019, RV/7100880/2017 betreffend: ESt 2013

Muss sich ein Schauspieler, Sänger und Solist einer Hüftoperation unterziehen und nimmt er hierfür Operationskosten als Privatpatient in einem Privatspital in Kauf, damit er den Operationstermin besser mit seinen Engagements koordinieren und somit seine Einkommenserzielung sichern kann, so kann er die Operationskosten trotzdem nicht als Werbungskosten absetzen. Auch wenn der Steuerpflichtige, hätte er nicht Verdienstentgang vermeiden wollen, eine für ihn kostengünstigere Behandlung (im Rahmen der SV) hätte wählen können, kommen die Vorteile der stattdessen gewählten Behandlung und damit auch der Mehraufwand doch sämtlichen – auch privaten – Lebensbereichen des Steuerpflichtigen zugute. Eine völlige Zurückdrängung der privaten Mitveranlassung liegt in einem derartigen Fall daher nicht vor.

Sachverhalt Der Revisionswerber, ein Sänger und Schauspieler, machte im Rahmen seiner Einkommensteuererklärung für das Jahr 2013 ua Werbungskosten in Höhe von ca € 8.000,- für eine Hüftoperation geltend. Mit Bescheid vom 18. 8. 2015 setzte das Finanzamt die Einkommensteuer für das Jahr 2013 fest. Die Kosten für die Hüftoperation wurden darin nicht als Werbungskosten berücksichtigt. In der Begründung wurde dazu ausgeführt, Aufwendungen für eine Hüftoperation seien keine Werbungskosten, sondern außergewöhnliche Belastungen; sie seien dort in Ansatz gebracht worden, überstiegen aber nicht den Selbstbehalt. Der Revisionswerber erhob gegen diesen Bescheid Beschwerde. Er sei jahrzehntelang als Schauspieler, Sänger und Solist an verschiedenen Bühnen aufgetreten und habe auch Tanzbewegungen zu erbringen gehabt, weil er oft in Operetten und Musicals aufgetreten sei. Diese Tätigkeiten hätten Schäden an der Hüfte verursacht. Um weiterhin in Operetten und Musicals auftreten zu können, habe er sich einer Hüftoperation unterziehen müssen. Nach dieser Operation habe er bei einer Musicaloestz.lexisnexis.at

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Aufführung die Hauptrolle spielen können. Die geltend gemachten Krankheitskosten seien Werbungskosten. Für die normalen Bewegungsabläufe des täglichen Lebens hätte er sich der Operation nicht unterziehen müssen. Er habe eine Privatbehandlung durchführen lassen, da die Wartezeit als „normaler Kassenpatient“ etwa sechs Monate gedauert hätte. In dieser Zeit hätte er Engagements absagen müssen, was mit größter Wahrscheinlichkeit bedeutet hätte, dass er (er sei damals bereits älter als 65 Jahre gewesen) nie mehr wieder ein Engagement bekommen hätte. Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das BFG der Beschwerde „teilweise Folge“ und änderte den Einkommensteuerbescheid – zu Lasten des Revisionswerbers – ab. Der Revisionswerber sei Sänger und Schauspieler. Er habe aus dieser Tätigkeit sowohl Einkünfte aus selbstständiger als auch aus nichtselbstständiger Arbeit bezogen. Im September 2013 habe er sich in einem Privatspital als Privatpatient einer Hüftoperation unterzogen. Strittig sei, ob die dafür angefallenen Kosten in Höhe von ca € 8.000,- als Werbungskosten zu berücksichtigen seien. In diesem Betrag seien auch Sonderklassegebühren und Einbettzimmerzuschläge in Höhe von ca € 2.000,enthalten. Die Kosten für die Operation seien dadurch verursacht worden, dass sich der Revisionswerber einer Privatbehandlung unterzogen habe, um die Wartezeit für ASVG-Versicherte nicht auf sich nehmen zu müssen. Ein nahezu ausschließlicher Zusammenhang zwischen der Abnützung des Hüftgelenks und dem Beruf habe nicht festgestellt werden können. Krankheitskosten seien nur dann als Betriebsausgaben oder Werbungskosten absetzbar, wenn es sich um eine typische Berufskrankheit handle oder der Zusammenhang zwischen der Erkrankung und dem Beruf eindeutig feststehe. Durch den vorgezogenen Operationstermin sei ein Verdienstentgang möglichst hintangehalten worden. Dies allein durchbreche aber den Zusammenhang mit der Privatsphäre des Revisionswerbers nicht. Die (Notwendigkeit der) Erneuerung des Hüftgelenks sei nicht als Berufskrankheit zu beurteilen. Werbungskosten lägen darüber hinaus nur im Ausmaß von Mehraufwendungen im Vergleich zur üblichen Behandlung vor. Soweit die Kosten jedoch eine Behandlung beträfen, die nicht auf die spezifische berufliche Situation des Steuerpflichtigen abgestimmt sei, sondern eine allgemein übliche Behandlung erfolgt sei, lägen keine Werbungskosten vor. Ein als Werbungskosten zu berücksichtigender Mehraufwand sei nicht gegeben. Die Kosten seien daher – wie bereits vom Finanzamt vorgenommen – als außergewöhnliche Belastungen zu berücksichtigen, wobei die geltend gemachten Kosten den Selbstbehalt nicht überstiegen und sich damit nicht steuermindernd auswirkten. Aus in der Revision nicht mehr strittigen Punkten ergebe sich eine Reduktion von anderen vom Revisionswerber geltend gemachten Werbungskosten; weiters seien ausländische Einkünfte im Rahmen des Progressionsvorbehalts zu berücksichtigen. Daraus resultiere eine Abänderung des Einkommensteuerbescheides zu Lasten des Revisionswerbers. Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die Revision. oestz.lexisnexis.at

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Erkenntnis Abweisung als unbegründet.

Entscheidungsgründe Rechtsvorschriften 16. Die Revision ist zulässig, aber nicht begründet. 17. Werbungskosten sind Wertabgaben, die durch die auf die Erzielung außerbetrieblicher Einkünfte ausgerichtete Tätigkeit veranlasst sind (vgl VwGH 29. 7. 2014, 2010/13/0126, ÖStZB 2015/41). 18. Nach § 20 Abs 1 Z 2 lit a EStG 1988 dürfen bei den einzelnen Einkünften Aufwendungen oder Ausgaben für die Lebensführung nicht abgezogen werden, selbst wenn sie die wirtschaftliche oder gesellschaftliche Stellung des Steuerpflichtigen mit sich bringt und sie zur Förderung des Berufes oder der Tätigkeit des Steuerpflichtigen erfolgen.

Gemischt veranlasste Aufwendungen 19. Die Bestimmung des § 20 Abs 1 Z 2 lit a EStG 1988 enthält als wesentliche Aussage ein Verbot des Abzuges gemischt veranlasster Aufwendungen (so genanntes Aufteilungs- und Abzugsverbot; vgl VwGH 24. 11. 2016, Ro 2014/13/0045, ÖStZB 2017/86, mwN). Dieser Ausschluss der Abziehbarkeit gilt dann nicht, wenn eine eindeutige, klar nachvollziehbare Trennung zwischen der privaten Veranlassung einerseits und der betrieblichen bzw beruflichen Veranlassung andererseits gegeben und die betriebliche bzw berufliche Veranlassung nicht bloß völlig untergeordnet ist. Eine Aufteilung kann aber nicht vorgenommen werden, wenn mangels klarer Quantifizierbarkeit der einzelnen Veranlassungskomponenten ein objektiv überprüfbarer Aufteilungsmaßstab nicht besteht und damit ein entsprechendes Vorbringen des Steuerpflichtigen keiner Nachprüfung zugänglich ist. Ist eine derartige objektiv nachvollziehbare und einwandfreie Aufteilung nicht möglich, kommt die Berücksichtigung von Betriebsausgaben bzw Werbungskosten nur in Betracht, wenn der Steuerpflichtige den Nachweis für eine (zumindest beinahe) gänzliche betriebliche bzw berufliche Veranlassung erbringt (vgl VwGH 27. 1. 2011, 2010/15/0197, ÖStZB 2011/380; VwGH 26. 4. 2012, 2009/15/0088, ÖStZB 2013/174).

Krankheitskosten 20. Krankheitskosten gehören grundsätzlich zu den gem § 20 Abs 1 Z 2 lit a EStG 1988 nicht abzugsfähigen Aufwendungen der Lebensführung. Sie sind dann als Betriebsausgaben oder Werbungskosten absetzbar, wenn es sich um eine typische Berufskrankheit handelt oder der Zusammenhang zwischen der Erkrankung und dem Beruf eindeutig feststeht (vgl – teils noch zum EStG 1972 – VwGH


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9. 12. 1992, 91/13/0094; VwGH 15. 11. 1995, 94/13/0142, ÖStZB 1996, 370; VwGH 21. 12. 1999, 96/14/0123, ÖStZB 2000/207; vgl in diesem Sinne auch – bei ähnlicher Rechtslage – deutscher Bundesfinanzhof 21. 9. 2009, GrS 1/06, Rz 122 f; 9. 11. 2015, VI R 36/13). Werbungskosten liegen aber auch dann vor, wenn Mehraufwendungen unmittelbar durch die konkrete berufliche Tätigkeit notwendig sind, wenn und soweit also durch die konkrete berufliche Tätigkeit Mehraufwendungen im Vergleich zur üblichen Behandlung angefallen sind (vgl VwGH 22. 12. 2004, 2002/15/0011, ÖStZB 2005/295; VwGH 24. 9. 2007, 2006/15/0325, ÖStZB 2008/282).

Immobilienertragsteuer – Kursverlust aus der Tilgung eines Fremdwährungsdarlehens keine Werbungskosten » ÖStZB 2020/4

EStG 1988: § 16, § 30 ff, § 98 Abs 1 VwGH 24. 10. 2019, Ra 2018/15/0114 Unterinstanz: BFG 17. 9. 2018, RV/3100614/2018 betreffend: ESt 2017

Private Mitveranlassung 21. Im vorliegenden Fall ist im Verfahren vor dem VwGH nicht mehr strittig, dass weder eine typische Berufskrankheit vorliegt noch ein eindeutiger Zusammenhang zwischen der Krankheit und dem konkret ausgeübten Beruf besteht. Der Revisionswerber macht aber geltend, er habe den Zusatzaufwand als Privatpatient getragen, um seine Einkünfte – insb im Hinblick auf die durch die Privatbehandlung mögliche Terminkoordination und den früheren Operationstermin – zu erhalten. 22. Dass die Art der Behandlung im Hinblick auf die konkrete Berufstätigkeit anders gewesen wäre als bei einer sonst üblichen Hüftoperation, wird vom Revisionswerber nicht geltend gemacht; hiefür liegen auch keine Anhaltspunkte vor. Auch wenn der Revisionswerber, hätte er nicht Verdienstentgang vermeiden wollen, eine für ihn kostengünstigere Behandlung (im Rahmen der SV) hätte wählen können, kommen die Vorteile der stattdessen gewählten Behandlung und damit auch der Mehraufwand doch sämtlichen – auch privaten – Lebensbereichen des Revisionswerbers zugute (vgl in diesem Sinne VwGH 21. 12. 1999, 96/14/0123, ÖStZB 2000/207). Die Veranlassungskomponenten können insoweit nicht quantifiziert und damit aufgeteilt werden. Eine völlige Zurückdrängung der privaten Mitveranlassung liegt in einem derartigen Fall nicht vor (vgl auch VwGH 24. 4. 2014, 2011/15/0187, ÖStZB 2014/196). 23. Damit wurden aber diese Aufwendungen zutreffend nicht als Werbungskosten berücksichtigt.

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Erzielt ein Steuerpflichtiger Einkünfte aus der Veräußerung einer Eigentumswohnung, so kann er realisierte Kursverluste aus einem Fremdwährungskredit, den er seinerzeit zur Anschaffung der Eigentumswohnung aufgenommen hat, nicht als Werbungskosten geltend machen.

Sachverhalt Der Revisionswerber ist in Italien ansässig und erzielte im Jahr 2017 in Österreich Einkünfte aus der Vermietung einer Eigentumswohnung und aus der Veräußerung dieser Eigentumswohnung. Der Revisionswerber beantragte im Rahmen der Veranlagung der Einkommensteuer 2017 die Regelbesteuerung betreffend die Einkünfte aus Grundstücksveräußerungen. Dazu machte er insb realisierte Kursverluste aus einem Fremdwährungskredit einkünftemindernd geltend. Mit Bescheid vom 14. 6. 2018 setzte das Finanzamt die Einkommensteuer – im Rahmen der beschränkten Steuerpflicht (§ 1 Abs 3 EStG 1988) – für das Jahr 2017 fest. Die geltend gemachten Kursverluste wurden dabei nicht berücksichtigt. Die geltend gemachten Kursverluste könnten weder bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung noch bei der Berechnung der Immobilienertragsteuer abgezogen werden. Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das BFG die erhobene Beschwerde als unbegründet ab. Begründend führte das BFG im Wesentlichen aus, ein Werbungskostenabzug für Kursverluste komme nicht in Betracht, da diese – im Gegensatz zu Schuldzinsen – nicht ausdrücklich als abzugsfähige Werbungskosten in der Gruppe der Aufwendungen für Erwerb und Wertminderung von Wirtschaftsgütern genannt würden. Der VwGH (Hinweis auf VwGH 26. 1. 2017, Ro 2015/15/0011, ÖStZB 2017/114) habe klargestellt, dass Kursverluste anlässlich der Tilgung eines Fremdwährungsdarlehens nicht als Werbungskosten bei der Ermittlung außerbetrieblicher Einkünfte aus dem fremdfinanzierten Wirtschaftsgut abzugsfähig seien. Auch bei Einkünften aus privaten Grundstücksveräußerungen könne nichts anderes gelten. Sämtliche im Rahmen der Tilgung des Darlehens geleisteten Zahlungen – also auch die Abdeckung von errechneten Konvertierungs- bzw Kursverlusten – fielen in die private Vermögenssphäre des Abgabepflichtigen und seien nicht als Werbungskosten abzugsfähig. Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die Revision. oestz.lexisnexis.at

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Erkenntnis

ART.-NR.: 4

Abweisung als unbegründet.

beschränkt Steuerpflichtiger Betriebsausgaben oder Werbungskosten nur insoweit berücksichtigt werden, als sie mit diesen Einkünften in wirtschaftlichem Zusammenhang stehen.

Entscheidungsgründe

Rsp des VwGH

Anwendbare Rechtsvorschriften

17. Zunächst ist zu bemerken, dass sich bei Finanzierung des Ankaufs einer Liegenschaft im Wege einer Verbindlichkeit in fremder Währung die Anschaffungskosten dieser Liegenschaft durch die Änderung des Wechselkurses der Fremdwährungsschuld nicht ändern (vgl Doralt/Mayr, EStG13, § 6 Tz 96; vgl weiters – zu Wertsicherungsbeträgen für einen gestundeten oder fremdfinanzierten Kaufpreis – VwGH 13. 5. 1986, 83/14/0089, ÖStZB 1987, 162). 18. Werbungskosten sind bei der Einkunftsart abzuziehen, bei der sie erwachsen sind. Es muss ein wirtschaftlicher Zusammenhang zwischen der auf Einnahmenerzielung gerichteten außerbetrieblichen Tätigkeit und den Aufwendungen gegeben sein (vgl VwGH 29. 1. 2015, 2011/15/0148, ÖStZB 2015/70; vgl auch VwGH 23. 1. 2019, Ra 2018/13/0052, ÖStZB 2019/36, mwN). 19. Der VwGH hat sich wiederholt mit der Frage der steuerlichen Auswirkungen der Konvertierung von Fremdwährungsverbindlichkeiten befasst. Wird ein Fremdwährungsdarlehen aus betrieblichen Gründen aufgenommen und kommt es in der Folge zu einer Änderung des Wechselkursverhältnisses, so ist das positive oder negative Ergebnis aus der Konvertierung im Rahmen der betrieblichen Einkünfte zu berücksichtigen (vgl VwGH 15. 1. 2008, 2006/15/0116, ÖStZB 2008/368; VwGH 27. 8. 2008, 2008/15/0127, ÖStZB 2009/154). Werden Fremdwährungsdarlehen hingegen aus außerbetrieblichen Gründen aufgenommen – etwa iZm der Finanzierung von Gebäuden, die sodann der Vermietung dienen -, so sind die aus einer Konvertierung der Verbindlichkeit resultierenden Einkünfte als Spekulationseinkünfte zu behandeln. Die Konvertierung in die Heimatwährung ist als Veräußerung des mit der vorangegangenen Konvertierung in Fremdwährung erworbenen Wirtschaftsgutes „Fremdwährungskredit“ zu beurteilen. Es handelt sich hiebei um außerhalb der Spekulationsfrist für die Einkommensteuer unbeachtliche Veränderungen des Wertes des Privatvermögens (vgl VwGH 24. 9. 2008, 2006/15/0255, ÖStZB 2009/358; VwGH 4. 6. 2009, 2004/13/0083, ÖStZB 2009/552). 20. Der Gesetzgeber hat bei Spekulationsgeschäften (§ 30 EStG 1988 idF vor dem 1. Stabilitätsgesetz 2012, BGBl I 2012/22) eine gewisse Angleichung der Ermittlung der Einkünfte an die Regelung im betrieblichen Bereich herbeigeführt. Das Abflussprinzip (§ 19 Abs 2 EStG 1988) wurde durch § 30 Abs 4 EStG 1988 (idF vor BGBl I 2012/22; ähnlich nunmehr § 30 Abs 3 EStG 1988) insoweit durchbrochen, als alle Aufwendungen, die dem Steuerpflichtigen aus der Anschaffung des Spekulationsobjektes und seiner Erhaltung bis zur Veräußerung erwachsen, in einer Art Vermögensvergleich dem Veräußerungserlös gegenübergestellt werden und solcherart der Überschuss bzw Verlust aus dem Spekulationsgeschäft ermittelt wird (vgl VwGH 25. 4. 2018, Ra 2016/13/0012, ÖStZB 2018/142, mwN). Insbe-

12. Die Revision ist zulässig, aber nicht begründet. 13. Gemäß § 98 Abs 1 EStG 1988 unterliegen der beschränkten Steuerpflicht ua Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung (§ 28 EStG 1988), wenn das unbewegliche Vermögen im Inland gelegen ist (Z 6); sowie Einkünfte aus privaten Grundstücksveräußerungen iSd § 30 EStG 1988, soweit es sich um inländische Grundstücke handelt (Z 7). Nach § 98 Abs 4 EStG 1988 sind für Einkünfte ua iSd Abs 1 Z 7 EStG 1988 die §§ 30a bis 30c EStG 1988 entsprechend anzuwenden. 14. Gemäß § 30 Abs 3 EStG 1988 (in der hier anwendbaren Fassung des Steuerreformgesetzes 2015/2016, BGBl I 2015/118; vgl § 124b Z 276 EStG 1988) ist als Einkünfte aus privaten Grundstücksveräußerungen der Unterschiedsbetrag zwischen dem Veräußerungserlös und den Anschaffungskosten anzusetzen. Die Anschaffungskosten sind um die Herstellungsaufwendungen und Instandsetzungsaufwendungen zu erhöhen, soweit diese nicht bei der Ermittlung von Einkünften zu berücksichtigen waren. Die Anschaffungskosten sind um Absetzungen für Abnutzungen, soweit diese bei der Ermittlung von Einkünften abzogen worden sind, sowie um die in § 28 Abs 6 EStG 1988 genannten steuerfreien Beträge zu vermindern. Weiters sind näher aufgezählte Kosten und Minderbeträge zu berücksichtigen. 15. Nach § 20 Abs 2 EStG 1988 (idF des 1. Stabilitätsgesetzes 2012, BGBl I 2012/22) durften ua bei der Ermittlung der Einkünfte Aufwendungen und Ausgaben nicht abgezogen werden, soweit sie mit Einkünften, auf die der besondere Steuersatz gem § 30a Abs 1 EStG 1988 „anwendbar“ ist, in unmittelbarem wirtschaftlichem Zusammenhang stehen. Diese Bestimmung wurde mit dem Steuerreformgesetz 2015/2016 dahin abgeändert, dass dieses Abzugsverbot nur gilt, soweit der besondere Steuersatz gem § 30a Abs 1 EStG 1988 „angewendet wird“. Damit sollte erreicht werden, dass – anders als bisher – künftig bei Immobilienveräußerungen der Abzug von Werbungskosten oder Betriebsausgaben bei Ausübung der Regelbesteuerungsoption nicht durch § 20 Abs 2 EStG 1988 ausgeschlossen wird (vgl die Erläuterungen zur RV zum StRefG 2015/2016, 684 BlgNR 25. GP 16). 16. Gemäß § 16 Abs 1 EStG 1988 sind die Aufwendungen oder Ausgaben zur Erwerbung, Sicherung oder Erhaltung der Einnahmen Werbungskosten. Aufwendungen oder Ausgaben für den Erwerb oder Wertminderungen von Wirtschaftsgütern sind nur insoweit abzugsfähig, als dies in den folgenden Bestimmungen ausdrücklich zugelassen ist. Werbungskosten sind bei der Einkunftsart abzuziehen, bei der sie erwachsen sind. Werbungskosten sind ua auch Schuldzinsen, soweit sie mit einer Einkunftsart in wirtschaftlichem Zusammenhang stehen (§ 16 Abs 1 Z 1 EStG 1988). Nach § 102 Abs 2 Z 1 EStG 1988 dürfen bei der Veranlagung oestz.lexisnexis.at


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sondere sind demnach im Rahmen der Ermittlung von Einkünften aus Spekulationsgeschäften auch in den Vorjahren angefallene Finanzierungskosten im Jahr der Veräußerung als abzugsfähige Werbungskosten zu berücksichtigen (vgl VwGH 16. 11. 1993, 93/14/0124, ÖStZB 1994, 416; VwGH 16. 11. 1993, 93/14/0125, ÖStZB 1994, 405), soweit sie nicht bereits früher bei einer anderen Einkunftsquelle – etwa bei Einkünften aus Vermietung und Verpachtung – zu berücksichtigen waren und sie auch nicht privaten Wohnzwecken iSd § 20 Abs 1 Z 1 EStG 1988 zuzuordnen sind (vgl VwGH 28. 1. 1997, 96/14/0165, ÖStZB 1997, 542; vgl auch VfGH 30. 11. 2017, G 183/2017, ÖStZB 2018/211, Rz 34).

Keine Abzugsfähigkeit 21. Die Einführung der Immobilienertragsbesteuerung mit dem 1. Stabilitätsgesetz 2012 diente dazu, Wertänderungen von Grundstücken im betrieblichen Bereich auch bei der Gewinnermittlung nach § 4 Abs 1 und 3 EStG 1988 zu erfassen. Im außerbetrieblichen Bereich entfiel die bisherige Frist von 10 Jahren ab Anschaffung (vgl 1680 BlgNR 24. GP 7). Betreffend die Frage, ob das Ergebnis aus der Konvertierung von Fremdwährungsverbindlichkeiten in wirtschaftlichem Zusammenhang mit den Einkünften aus der Veräußerung eines Grundstückes steht, hat sich dadurch aber nichts geändert. 22. Wenn auch nunmehr (idF BGBl I 2015/118) im Rahmen der Immobilienertragsbesteuerung bei Ausübung der Regelbesteuerungsoption Werbungskosten – über die in § 30 Abs 3 EStG 1988 aufgezählten Kosten und Minderbeträge hinaus – zu berücksichtigen sind, so können aber Ergebnisse aus der Konvertierung von Fremdwährungsverbindlichkeiten weiterhin nicht abgezogen werden, da diese in keinem wirtschaftlichen Zusammenhang mit den Einkünften aus der Veräußerung des Grundstückes stehen (vgl auch VfGH 29. 11. 2014, G 137/2014 ua, ÖStZB 2016/45, Rz 15 f). Die Ergebnisse aus der Konvertierung sind im außerbetrieblichen Bereich weiterhin als Spekulationseinkünfte zu behandeln. 23. Im vorliegenden Fall ist auch nach dem Vorbringen des Revisionswerbers die Spekulationsfrist von einem Jahr (§ 31 Abs 1 EStG 1988) bereits verstrichen. Verluste aus Spekulationsgeschäften sind überdies nicht ausgleichsfähig (§ 31 Abs 4 EStG 1988). Schließlich unterliegen Einkünfte aus Spekulationsgeschäften nicht der beschränkten Einkommensteuerpflicht (§ 98 Abs 1 EStG 1988). 24. Dass Kursverluste, die iZm einem Fremdwährungskredit anfallen, der für die Anschaffung einer der Erzielung von Einkünften aus Vermietung und Verpachtung dienenden Liegenschaft aufgenommen wurde, nicht in (unmittelbarem) Zusammenhang mit diesen Einkünften stehen, hat der VwGH bereits ausgesprochen (vgl VwGH 26. 1. 2017, Ro 2015/15/0011, ÖStZB 2017/114). Anlass, von dieser Rsp abzugehen, besteht nicht. Der Konvertierungsverlust kann sohin auch nicht iZm den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung als Werbungskosten berücksichtigt werden.

25. Schließlich ist darauf zu verweisen, dass die Konvertierung von Fremdwährungsverbindlichkeiten auch nicht zu (negativen) Einkünften aus Kapitalvermögen iSd § 27 Abs 3 EStG 1988 führt (vgl VwGH 18. 12. 2017, Ro 2016/15/0026, ÖStZB 2018/22).

Immobilienertragsteuer – erster Hauptwohnsitzbefreiungstatbestand » ÖStZB 2020/5

EStG 1988: § 30 Abs 2 Z 1 lit a idF BGBl I 2012/22 VwGH 24. 10. 2019, Ra 2018/15/0115 Unterinstanz: BFG 4. 6. 2018, RV/2101652/2015 betreffend: ESt 2012

Gemäß § 30 Abs 2 Z 1 lit a EStG idF des 1. StabG 2012, BGBl I 2012/22, sind Einkünfte aus der Veräußerung von Eigenheimen oder Eigentumswohnungen samt Grund und Boden von der Besteuerung ausgenommen, wenn sie dem Veräußerer ab der Anschaffung bis zur Veräußerung für mindestens zwei Jahre durchgehend als Hauptwohnsitz gedient haben und der Hauptwohnsitz aufgegeben wird. Dieser Befreiungsbestimmung ist die Bedeutung beizumessen, dass bei Aufgabe des Hauptwohnsitzes die Absicht, das Eigenheim bzw die Eigentumswohnung zu veräußern, vorliegen und in einem zeitlichen Zusammenhang mit der Aufgabe des Hauptwohnsitzes in die Tat umgesetzt werden muss, wofür dem Veräußerer eine den Umständen des Einzelfalls nach angemessene Frist zukommt. Hat ein Steuerpflichtiger am 1. 6. 2005 eine Wohnung angeschafft, die ihm vom 14. 12. 2005 bis zum 29. 5. 2009 als Hauptwohnsitz diente, und verkauft er die Wohnung sodann erst am 23. 10. 2012 (und damit drei Jahre und fünf Monate nach Aufgabe des Hauptwohnsitzes), so kommt die Hauptwohnsitzbefreiung nach § 30 Abs 2 Z 1 lit a EStG nicht zum Tragen.

Sachverhalt Mit Bescheid vom 24. 6. 2014 setzte das Finanzamt gegenüber der Revisionswerberin Einkommensteuer für das Jahr 2012 fest. Die Revisionswerberin habe am 1. 6. 2005 Hälfteeigentum an einer in Österreich gelegenen Wohnung erworben, die am 23. 10. 2012 um insgesamt € 225.000,- verkauft worden sei. Der Anteil der Revisionswerberin am Verkaufspreis habe € 112.500,- betragen. Die Wohnung habe der Revisionswerberin laut Melderegister vom 14. 12. 2005 bis zum 29. 5. 2009 (drei Jahre und fünf Monate) als Hauptwohnsitz gedient. Für die Hauptwohnsitzbefreiung nach § 30 Abs 2 Z 1 lit a EStG 1988 sei erforderlich, dass das Gebäude von der Anschaffung bis zur Veräußerung durchgehend als Hauptwohnsitz gedient habe, aber mindestens zwei Jahre. Die Wohnung sei nicht von der Anschaffung bis zur Veräußerung der oestz.lexisnexis.at

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Hauptwohnsitz der Revisionswerberin gewesen. Auch die Toleranzfrist von einem Jahr zwischen der Aufgabe des Hauptwohnsitzes und dem tatsächlichem Verkauf sei weit überschritten. Der Befreiungstatbestand des § 30 Abs 2 Z 1 lit a EStG 1988 komme daher nicht zum Tragen. Es sei daher die festgesetzte Einkommensteuer (Immobilienertragsteuer von 25 %) zu entrichten. Die Revisionswerberin brachte gegen den Einkommensteuerbescheid Beschwerde ein und führte zur Begründung ua aus, es liege der Befreiungstatbestand des § 30 Abs 2 Z 1 lit a EStG 1988 (Hauptwohnsitzbefreiung) vor, weil sie durchgehend länger als zwei Jahre in dem veräußerten Objekt gewohnt habe. Die Wohnung sei aufgrund eines „Krankheits- und Scheidungsszenariums“ verkauft worden. Infolge der Beeinträchtigung des Immobilienmarktes durch die Wirtschaftskrise sei es in der Zeitspanne zwischen Aufgabe des Hauptwohnsitzes und tatsächlichem Verkauf insgesamt schwierig gewesen, eine Wohnung zu veräußern. Die eingeräumte Toleranzfrist von nur einem Jahr liege damit außerhalb der normalen Lebenserfahrung. Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das BFG der Beschwerde keine Folge. Das BFG führte im Wesentlichen aus, der Gesetzgeber habe mit der Neuregelung des § 30 EStG 1988 eine generelle Steuerpflicht für Veräußerungserlöse aus privaten Grundstücksverkäufen (Immobilienertragsteuer) geschaffen und dabei in bestimmten Fällen eine Steuerbefreiung vorgesehen. So seien Einkünfte aus der Veräußerung von Eigenheimen oder Eigentumswohnungen, die dem Veräußerer als Hauptwohnsitz gedient hätten, steuerfrei. Die Voraussetzungen für die Anwendbarkeit dieser Befreiungsbestimmung seien in zwei Tatbeständen (§ 30 Abs 2 Z 1 lit a und lit b EStG 1988) präzisiert und enthielten insb gewisse Nutzungszeiträume. Die erste Tatbestandsvariante der Hauptwohnsitzbefreiung (lit a) habe zur Voraussetzung, dass das Eigenheim oder die Eigentumswohnung dem Veräußerer ab der Anschaffung bis zur Veräußerung für mindestens zwei Jahre durchgehend als Hauptwohnsitz gedient habe. Die Voraussetzungen entsprächen weitgehend jenen der Hauptwohnsitzbefreiung im Bereich der Spekulationsgeschäfte nach § 30 Abs 2 Z 1 EStG 1988 idF vor dem 1. StabG 2012 (Hinweis auf Bodis/Hammerl in Doralt et al, EStG17, § 30 Rz 154). Das Eigenheim müsse also durchgehend bis zur Veräußerung als Hauptwohnsitz gedient haben. Eine Aufgabe des Hauptwohnsitzes vor der Veräußerung stehe der Hauptwohnsitzbefreiung nach lit a entgegen. Diese Rechtsansicht werde vom BFG in stRsp vertreten und basiere auf der Judikatur des VwGH zur vor 2012 geltenden, insoweit gleichlautenden Hauptwohnsitzbefreiung bei Veräußerungen innerhalb der Spekulationsfrist, wonach die Wohnung dem Steuerpflichtigen unmittelbar vor der Veräußerung oder jedenfalls vor der unmittelbaren Vorbereitung der Veräußerung als Hauptwohnsitz habe dienen müssen (Hinweis auf VwGH 24. 1. 2007, 2003/13/0118, ÖStZB 2007/283). Auch in der Literatur werde die Auffassung vertreten, dass die Nutzung als Hauptwohnsitz während der vorgesehenen Fristen durchgehend erfolgt sein müsse. Eine Unterbrechung der Nutzung oder eine Aufgabe des Hauptwohnsitzes vor der Veräußeoestz.lexisnexis.at

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rung würden daher die Anwendbarkeit der ersten Tatbestandsvariante ausschließen (Hinweis auf Bodis/Hammerl in Doralt et al, EStG17, § 30 Rz 144 und 161; sowie Jakom/Kanduth-Kristen EStG 2014, § 30 Rz 29 ff ). Der Gesetzeswortlaut verlange eine durchgehende (mindestens zweijährige) Nutzung einer Eigentumswohnung bzw eines Eigenheimes als Hauptwohnsitz und zwar von der Anschaffung bis zur Veräußerung und keinesfalls lediglich eine durchgehende zweijährige Nutzung innerhalb eines beliebigen Zeitraumes vor der Veräußerung. Die Revisionswerberin habe ihren Hauptwohnsitz in der streitgegenständlichen Wohnung im Jahr 2009 aufgegeben bzw nach Portugal verlegt. Die Veräußerung der Wohnung sei im Jahr 2012 erfolgt. Damit stehe fest, dass die Voraussetzungen des ersten Befreiungstatbestandes (§ 30 Abs 2 Z 1 lit a EStG 1988) nicht erfüllt seien. Die Wohnung sei von der Revisionswerberin lediglich etwas mehr als drei Jahre als Hauptwohnsitz genutzt worden, weshalb auch die Voraussetzungen für den Befreiungstatbestand des § 30 Abs 2 Z 1 lit b EStG 1988 nicht erfüllt seien. Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die Revision.

Erkenntnis Abweisung als unbegründet.

Entscheidungsgründe Keine Feststellung des Sachverhalts 17. Die Revision ist wegen der Frage, was unter den in § 30 Abs 2 Z 1 lit a EStG 1988 verwendeten Begriffen „ab der Anschaffung“ und „für mindestens zwei Jahre durchgehend“ zu verstehen ist, zulässig. Sie ist aber nicht begründet. 18. Der entscheidungswesentliche Sachverhalt, wonach am 1. 6. 2005 eine Wohnung angeschafft worden ist, die der Revisionswerberin vom 14. 12. 2005 bis zum 29. 5. 2009 als Hauptwohnsitz gedient hat und am 23. 10. 2012 wieder verkauft worden ist, wird in der im Erkenntnis des BFG wiedergegebenen Beschwerdevorentscheidung des Finanzamts dargestellt. Die Revisionswerberin hat der als Vorhalt geltenden Sachverhaltsdarstellung in der Beschwerdevorentscheidung nicht widersprochen und im Vorlageantrag außer Streit gestellt, dass sie die Wohnung „zwischen 14. 12. 2005 bis 29. 5. 2009 (das sind 3 Jahre und 5 Monate) als Hauptwohnsitz“ genutzt hat. Bei dieser Verfahrenslage stellt es keine relevante Verletzung von Verfahrensvorschriften dar, wenn das BFG in seiner Entscheidung diese Umstände nicht gesondert als festgestellten Sachverhalt dargestellt hat. Auch die Rüge, das BFG sei aufgrund unzureichender Feststellungen des Finanzamts vom Vorliegen des Hauptwohnsitzes in der gegenständlichen Wohnung im Zeitraum 14. 12. 2005 bis 29. 5. 2009 ausgegangen, ist im Hinblick auf die Ausführungen im Vorlageantrag der Revisionswerberin, die ausdrücklich diesen Zeitraum anführt, nicht berechtigt.


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19. Das Vorbringen, wonach der Verkaufspreis für die Liegenschaft € 220.000,- betragen habe, weshalb nicht verständlich sei, wie das BFG auf einen anteiligen Veräußerungserlös der Revisionswerberin in Höhe von € 112.500,- komme und dementsprechend die Steuervorschreibung des Finanzamtes bestätigen könne, steht im Widerspruch zum in den Verwaltungsakten einliegenden Kaufvertrag vom 23. 10. 2012. Laut Kaufvertrag hat der Kaufpreis für die Liegenschaft € 225.000,- betragen. Im Übrigen ist auf die Beschwerdevorentscheidung des Finanzamts zu verweisen, in der – von der Revisionswerberin wiederum unwidersprochen – dargelegt wird, wie die Bemessungsgrundlage und die Steuer ermittelt wurden.

Anwendbarer Gesetzestext 20. Soweit die Revisionswerberin wie im Verwaltungsverfahren den Standpunkt vertritt, der Befreiungstatbestand des § 30 Abs 2 Z 1 lit a EStG 1988 setze lediglich eine durchgehende zweijährige Nutzung innerhalb eines beliebigen Zeitraumes vor der Veräußerung voraus, ist sie ebenfalls nicht im Recht: 21. § 30 EStG 1988 idF des 1. Stabilitätsgesetzes 2012 (1. StabG 2012), BGBl I 2012/22, lautet auszugsweise: „§ 30. (1) Private Grundstücksveräußerungen sind Veräußerungsgeschäfte von Grundstücken, soweit sie keinem Betriebsvermögen angehören. (...) (2) Von der Besteuerung ausgenommen sind die Einkünfte: 1. Aus der Veräußerung von Eigenheimen oder Eigentumswohnungen samt Grund und Boden (§ 18 Abs 1 Z 3 lit b), wenn sie dem Veräußerer a) ab der Anschaffung bis zur Veräußerung für mindestens zwei Jahre durchgehend als Hauptwohnsitz gedient haben und der Hauptwohnsitz aufgegeben wird oder b) innerhalb der letzten zehn Jahre vor der Veräußerung mindestens fünf Jahre durchgehend als Hauptwohnsitz gedient haben und der Hauptwohnsitz aufgegeben wird. (...)“

Erläuterungen 22. In den ErlRV zum 1. StabG 2012 (1680 BlgNR 24. GP, 8) wird zu den Befreiungstatbeständen des § 30 Abs 2 Z 1 lit a und lit b EStG 1988 ausgeführt: „Von der Besteuerung ausgenommen sind wie bisher Eigenheime und Eigentumswohnungen samt Grund und Boden (§ 18 Abs 1 Z 3 lit b), die zwischen Anschaffung und Veräußerung durchgehend für mindestens zwei Jahre den Hauptwohnsitz des Veräußerers darstellen. Ergänzend soll aber die Veräußerung auch dann befreit sein, wenn das Objekt dem Veräußerer innerhalb der letzten 10 Jahre für mindestens 5 Jahre durchgehend als Hauptwohnsitz gedient hat. Diese Ergänzung ist insb deshalb erforderlich, weil eine ununterbrochene Aufrechterhaltung des Hauptwohnsitzes bei einer unbegrenzten Steuerhängigkeit als unverhältnismäßige Anforderung für eine Steuerbefreiung erscheint. Daher soll die Hauptwohnsitzbefreiung auch dann greifen, wenn der Hauptwohnsitz

zumindest für einen erheblichen Zeitraum vor der Veräußerung bestanden hat.“

Erster Hauptwohnsitzbefreiungstatbestand 23. Der VwGH hat im Erkenntnis vom 24. 1. 2007, 2003/13/0118, ÖStZB 2007/283, zu Recht erkannt, die Befreiungsbestimmung des § 30 Abs 2 Z 1 EStG 1988 idF vor dem 1. StabG 2012 erfordert, dass die Wohnung „seit der Anschaffung“ und mindestens „seit zwei Jahren durchgehend“ als Hauptwohnsitz gedient hat. Diesem Erfordernis wird – so der VwGH weiter – dadurch Rechnung getragen, dass die Wohnung unmittelbar vor der Veräußerung oder jedenfalls vor der unmittelbaren Vorbereitung der Veräußerung dem Abgabepflichtigen noch immer als Hauptwohnsitz gedient hat. 24. Der Revisionswerberin ist zuzustimmen, dass der Wortlaut der Befreiungsbestimmung des § 30 Abs 2 Z 1 EStG 1988 idF vor dem 1. StabG 2012 und jener des § 30 Abs 2 Z 1 lit a EStG 1988 idF des 1. StabG 2012 nicht völlig übereinstimmen. 25. Für die Interpretation des § 30 Abs 2 Z 1 lit a EStG 1988 idF des 1. StabG 2012 ist zunächst auf die Erläuterungen zur RV zum 1. StabG 2012 zu verweisen, wonach Eigenheime und Eigentumswohnungen (§ 18 Abs 1 Z 3 lit b), die zwischen Anschaffung und Veräußerung durchgehend für mindestens zwei Jahre den Hauptwohnsitz des Veräußerers darstellen, „wie bisher“ von der Besteuerung ausgenommen sein sollen. Nach § 30 Abs 2 Z 1 EStG 1988 idF vor dem 1. StabG 2012 und der dazu ergangenen Judikatur des VwGH, war es erforderlich, dass die Wohnung unmittelbar vor der Veräußerung oder jedenfalls vor der unmittelbaren Vorbereitung der Veräußerung dem Abgabepflichtigen noch immer als Hauptwohnsitz gedient hat.

Zweiter Hauptwohnsitzbefreiungstatbestand 26. Entscheidend ist aber, dass mit dem 1. StabG 2012 auch ein zweiter Hauptwohnsitzbefreiungstatbestand geschaffen worden ist (§ 30 Abs 2 Z 1 lit b EStG 1988), sodass im Rahmen einer systematischen Interpretation auf das Verhältnis dieser beiden Tatbestände Bedacht zu nehmen ist: Der zweite Tatbestand (§ 30 Abs 2 Z 1 lit b EStG 1988) verlangt, dass das Objekt innerhalb der letzten zehn Jahre vor der Veräußerung mindestens fünf Jahre durchgehend als Hauptwohnsitz gedient hat, er verlangt aber – im Gegensatz zum ersten Tatbestand (§ 30 Abs 2 Z 1 lit a EStG 1988) – gerade nicht, dass das Objekt „ab der Anschaffung“ und „bis zur Veräußerung“ den Hauptwohnsitz gebildet hat. Die Bedeutung der in Rede stehenden Tatbestandsmerkmale des § 30 Abs 2 Z 1 lit a EStG 1988 zeigt gerade die Gegenüberstellung der beiden Befreiungstatbestände auf. Mit § 30 Abs 2 Z 1 lit a EStG 1988 wollte der Gesetzgeber auf den Fall eines (zumindest zweijährigen) Hauptwohnsitzes, der grundsätzlich mit der Anschaffung des Objektes beginnt und grundsätzlich bis zu dessen Veräußerung aufrecht ist, abstellen. Für die Konstellation, dass dieser Zusammenhang zwischen Anschaffung und Hauptwohnsitzbegründung einerseits sowie Veroestz.lexisnexis.at

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äußerung und Hauptwohnsitzbeendigung andererseits nicht erfüllt ist, hat der Gesetzgeber den Befreiungstatbestand des § 30 Abs 2 Z 1 lit b EStG 1988 geschaffen, verlangt dabei aber eine nicht bloß zweijährige, sondern eine fünfjährige (durchgehende) Dauer des Hauptwohnsitzes. Würde den Tatbestandsmerkmalen „ab der Anschaffung“ und „bis zur Veräußerung“ der Befreiungsbestimmung nach § 30 Abs 2 Z 1 lit a EStG 1988 nicht die entsprechende Bedeutung beigemessen, bedürfte es der Befreiungsbestimmung nach § 30 Abs 2 Z 1 lit b EStG 1988 gar nicht.

Keine Hauptwohnsitzbefreiung 27. Solcherart ist der Befreiungsbestimmung nach § 30 Abs 2 Z 1 lit a EStG 1988 idF des 1. StabG 2012 die Bedeutung beizumessen, dass bei Aufgabe des Hauptwohnsitzes die Absicht, das Eigenheim bzw die Eigentumswohnung zu veräußern, vorliegen und in einem zeitlichen Zusammenhang mit der Aufgabe des Hauptwohnsitzes in die Tat umgesetzt werden muss, wofür dem Veräußerer eine den Umständen des Einzelfalls nach angemessene Frist zukommt (vgl auch Bodis/Hammerl in Doralt at al, EStG17, § 30 Rz 144 und 161; sowie Jakom/Kanduth-Kristen EStG 2019, § 30 Rz 29 ff ). 28. Die Revisionswerberin hat am 1. 6. 2005 eine Wohnung angeschafft, die ihr vom 14. 12. 2005 bis zum 29. 5. 2009 als Hauptwohnsitz diente. Am 23. 10. 2012 und damit drei Jahre und fünf Monate nach Aufgabe des Hauptwohnsitzes hat sie die Wohnung verkauft. § 30 Abs 2 Z 1 lit a EStG 1988 kommt im Revisionsfall daher nicht zum Tragen. Dass die Revisionswerberin bereits bei Aufgabe des Hauptwohnsitzes mit der Vorbereitung der Veräußerung begonnen hat, wurde im bisherigen Verfahren nicht vorgebracht und wird auch in der Revision nicht behauptet. 29. Die Revision erweist sich daher als unbegründet, weshalb sie gem § 35 Abs 1 VwGG abzuweisen war.

Private Grundstücksveräußerung – kein Altvermögen wegen gleichzeitigem Abschluss von Optionsund Mietvertrag im Jahr 2001 » ÖStZB 2020/6

EStG 1988: § 30 Abs 4 Z 2 BAO: § 24 Abs 1 lit d VwGH 24. 10. 2019, Ro 2019/15/0177 Unterinstanz: BFG 5. 4. 2019, RV/5100618/2018 betreffend: ESt 2015

Gemäß § 30 Abs 3 EStG 1988 ist als Einkünfte aus privaten Grundstücksveräußerungen der Unterschiedsbetrag zwischen dem Veräußerungserlös und den Anschaffungskosten anzusetzen. Soweit Grundstücke jedoch am 31. 3. 2012 oestz.lexisnexis.at

ART.-NR.: 6

ohne Berücksichtigung von Steuerbefreiungen nicht steuerverfangen waren (Altvermögen), sind die Einkünfte nach § 30 Abs 4 Z 2 EStG 1988 im Allgemeinen mit dem Unterschiedsbetrag zwischen dem Veräußerungserlös und den (mit 86 % des Veräußerungserlöses anzusetzenden) Anschaffungskosten anzusetzen. Nicht steuerverfangen sind Grundstücke dann, wenn die letzte entgeltliche Anschaffung vor dem 31. 3. 2002 erfolgte. Wird im Oktober 2001 ein Optionsvertrag zwischen einer Optionsgeberin und einem Optionsnehmer betreffend ein Seegrundstück geschlossen, in dem vereinbart wird, dass eine Annahme der Kaufoption frühestens nach einem allfälligen Wegfall des intabulierten Veräußerungs- und Belastungsverbotes erfolgen könne, und wird gleichzeitig (zwischen denselben Vertragsparteien) auch ein Mietvertrag über diese Liegenschaft abgeschlossen, in dem die Vermieterin auf eine Aufkündigung des Mietvertrages bis zum Wegfall des Veräußerungs- und Belastungsverbotes verzichtet, so ist dieser Mietvertrag samt Optionsvertrag nicht jene Vereinbarung, die die Übertragung (zumindest) des wirtschaftlichen Eigentums an der Liegenschaft bewirkt. Die Berechtigung zur Ausübung („Annahme“) der Option besteht nämlich nicht bereits ab Abschluss der Optionsvereinbarung, sondern erst ab dem – zum Zeitpunkt des Abschlusses dieser Vereinbarung noch unsicheren – Zeitpunkt des Wegfalles des Veräußerungsund Belastungsverbotes. Übt der Optionsnehmer die Option sodann (nach dem Wegfall des Veräußerungs- und Belastungsverbotes) mit Schreiben vom 11. 7. 2002 aus und erwirbt er das Grundstück erst mit Kaufvertrag vom 6. 11. 2002, so ist (beim Verkauf des Grundstücks im Jahr 2015) daher nicht von Altvermögen iSd § 30 EStG 1988 auszugehen und die pauschale Einkünfteermittlung nach § 30 Abs 4 EStG 1988 kann daher nicht angewendet werden.

Sachverhalt Mit Bescheid vom 1. 6. 2017 setzte das Finanzamt die Einkommensteuer für das Jahr 2015 fest. Dabei berücksichtigte es auch Einkünfte aus Grundstücksveräußerungen (besonderer Steuersatz 25 %). Begründend führte das Finanzamt hiezu im Wesentlichen aus, der Revisionswerber habe ein näher genanntes Grundstück durch Ausübung einer Option am 6. 11. 2002 erworben, sodass es sich um „Neuvermögen“ handle. Die Immobilienertragsteuer bemesse sich daher nach der Differenz zwischen Anschaffungskosten und Veräußerungserlös. Der Revisionswerber erhob gegen diesen Bescheid Beschwerde. Er machte geltend, es liege „Altvermögen“ vor, sodass die Pauschalierungsregelungen iSd § 30 EStG 1988 anzuwenden seien. Durch Abschluss eines Mietvertrages (mit Kündigungsverzicht der Vermieterin) und einer „Optionsvereinbarung“ am 4. 10. 2001 sei bereits wirtschaftliches Eigentum übertragen worden.


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Mit dem angefochtenen Erkenntnis änderte das BFG den Bescheid des Finanzamtes ab. Am 4. 10. 2001 sei ein Optionsvertrag zwischen Frau R (Optionsgeberin) und dem Revisionswerber und seiner Ehefrau (Optionsnehmer) betreffend ein Seegrundstück geschlossen worden; ein Kaufvertrag habe aufgrund eines bestehenden Veräußerungs- und Belastungsverbotes (zugunsten einer im Jahr 1921 geborenen Person) nicht abgeschlossen werden können. In Punkt 2 des Optionsvertrages sei vereinbart worden, dass die „Annahme“ der Option durch einen der Optionsnehmer frühestens nach Wegfall des intabulierten Veräußerungs- und Belastungsverbotes erfolgen könne. Die Optionsgeberin habe sich verpflichtet, die Optionsnehmer vom Wegfall dieses Veräußerungs- und Belastungsverbotes unverzüglich zu informieren. Die Optionsnehmer seien sodann zur „Annahme“ der Option bis sechs Monate nach erfolgter Verständigung berechtigt. Sollte diese Option nicht innerhalb dieser Frist „angenommen“ werden, erlösche sie zur Gänze. Weiters sei vereinbart worden, dass die Optionsnehmer berechtigt seien, den bis zur Optionsannahme bezahlten Mietzins vom vereinbarten Optionskaufpreis in Abzug zu bringen. Gleichzeitig sei zwischen denselben Vertragsparteien ein Mietvertrag über diese Liegenschaft abgeschlossen worden. Die Vermieterin habe auf eine Aufkündigung des Mietvertrages vor Mitteilung des Wegfalls des Veräußerungs- und Belastungsverbotes bis zu einem Zeitpunkt sechs Monate danach ausdrücklich verzichtet. Auch vor Ablauf dieser Frist sei der Vermieterin aber ein sofortiges Kündigungsrecht zugestanden, wenn die Mieter ihrer Zinszahlungspflicht trotz Fälligkeit und qualifizierter Mahnung unter Setzung einer angemessenen Nachfrist von 14 Tagen nicht nachgekommen wären oder wenn ein sonstiger gesetzlicher Auflösungsgrund vorgelegen wäre. Die Ausübung der Option durch den Revisionswerber sei mit Schreiben vom 11. 7. 2002 erfolgt. Der Revisionswerber habe das Grundstück mit Kaufvertrag vom 6. 11. 2002 erworben. Mit Kaufvertrag vom 23. 7. 2015 habe er dieses Grundstück verkauft. Strittig sei, ob von Altvermögen iSd § 30 EStG 1988 auszugehen sei. Hiefür sei der Zeitpunkt des Verpflichtungsgeschäftes ausschlaggebend. Auf den Zeitpunkt des förmlichen Kaufvertragsabschlusses komme es aber nicht an, wenn die Vertragsparteien bereits vorher eine bindende Vereinbarung geschlossen hätten, aufgrund derer das wirtschaftliche Eigentum übergehe bzw dem Berechtigten die wirtschaftliche Stellung eines Käufers verschafft werde. Der Revisionswerber habe mit Abschluss des Optionsvertrages und des Mietvertrages vom 4. 10. 2001 über das Seegrundstück keinesfalls eine Herrschaft ausüben können, die wirtschaftlich der Stellung nahekomme, die einem privatrechtlichen Eigentümer zustehe. Er habe zwar das Grundstück gebrauchen können, die weiteren positiven Befugnisse der Veränderung, Belastung und Veräußerung habe er aber nicht ausüben können. Die Tragung der Lasten sei laut Kaufvertrag erst mit 1. 8. 2002 auf den Revisionswerber als Erwerber übergegangen.

Würde der Optionsvertrag iVm dem Mietvertrag tatsächlich einen Übereignungsanspruch begründen, wären im Übrigen beide Ehepartner als vertragliche Optionsnehmer und Mieter gemeinsam Eigentümer des Grundstückes geworden. Warum dann nur der Revisionswerber die alleinige wirtschaftliche Stellung eines Käufers gehabt habe, werde von ihm nicht begründet. Die Option sei nur vom Revisionswerber alleine ausgeübt worden, was der Optionsvertrag auch ermöglicht habe. Der Revisionswerber sei sodann Alleineigentümer geworden. Das relevante Verpflichtungsgeschäft könne daher erst mit der Ausübung der Option zustande gekommen sein, also erst am 11. 7. 2002. Das Grundstück gelte daher als am 31. 3. 2012 steuerverfangen, da an diesem Tag die Spekulationsfrist von 10 Jahren noch nicht abgelaufen gewesen sei. Es sei somit „Neuvermögen“ veräußert worden. Im Hinblick auf (geringfügige) Korrekturen betreffend die Anschaffungskosten (Berücksichtigung eines auf den Kaufpreis anrechenbaren Jahresmietzinses; Erhöhung um die vereinbarte Wertsicherung) ergebe sich eine etwas geringere Bemessungsgrundlage für die Immobilienertragsteuer, sodass der Bescheid abzuändern gewesen sei. Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die Revision.

Erkenntnis Abweisung als unbegründet.

Entscheidungsgründe Altvermögen 19. Gemäß § 30 Abs 3 EStG 1988 ist als Einkünfte aus privaten Grundstücksveräußerungen der Unterschiedsbetrag zwischen dem Veräußerungserlös und den Anschaffungskosten anzusetzen. 20. Soweit Grundstücke am 31. 3. 2012 ohne Berücksichtigung von Steuerbefreiungen nicht steuerverfangen waren, sind die Einkünfte nach § 30 Abs 4 Z 2 EStG 1988 hingegen im Allgemeinen mit dem Unterschiedsbetrag zwischen dem Veräußerungserlös und den mit 86 % des Veräußerungserlöses anzusetzenden Anschaffungskosten anzusetzen. 21. Ein Grundstück gilt als am 31. 3. 2012 nicht steuerverfangen iSd § 30 Abs 4 EStG 1988, wenn an diesem Tag die Spekulationsfrist iSd § 30 Abs 1 Z 1 lit a EStG 1988 idF vor dem 1. StabG 2012, BGBl I 2012/22, abgelaufen war (vgl VwGH 18. 10. 2018, Ro 2016/15/0013, ÖStZB 2019/4, mwN). Diese Spekulationsfrist betrug bei Grundstücken im Allgemeinen zehn Jahre ab Anschaffung.

Anschaff ung/Veräußerung iSd § 30 EStG 22. Unter Anschaffung und Veräußerung iSd § 30 EStG 1988 (idF vor dem 1. StabG 2012) sind bei der privaten Grundstücksveräußerung die schuldrechtlichen, auf die Eigentumsübertragung ausgerichteten Rechtsgeschäfte zu verstehen. Für die Berechoestz.lexisnexis.at

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nung der Spekulationsfrist ist daher der Zeitpunkt des Zustandekommens dieser schuldrechtlichen Rechtsgeschäfte – insb Kaufverträge – maßgeblich. Allerdings kommt es ausnahmsweise nicht auf den Zeitpunkt eines solchen Rechtsgeschäftes an, wenn die Vertragsparteien bereits vorher eine Vereinbarung geschlossen haben, aufgrund derer das wirtschaftliche Eigentum übergegangen ist. Hiezu bedarf es einer beide Vertragsparteien bindenden, einen spätere Kaufvertrag wirtschaftlich vorwegnehmenden Vereinbarung. Ein (auch unwiderrufliches) Kaufanbot oder eine bloße Kaufoption sind hiefür nicht ausreichend (vgl VwGH 20. 11. 1997, 96/15/0256, ÖStZB 1998, 484, mwN; vgl weiters – die Bindung beider Parteien betonend – VwGH 7. 4. 1981, 3294/80, ÖStZB 1982, 6; VwGH 8. 2. 1989, 88/13/0049; vgl weiters VwGH 23. 1. 2019, Ra 2018/13/0052, mwN; zur Rechtslage nach dem 1. StabG 2012 vgl VwGH 3. 4. 2019, Ra 2017/15/0098).

Mietvertrag mit Kaufoption 23. Die Option ist ein Vertrag, durch den eine Partei das Recht erhält, ein inhaltlich vorausbestimmtes Schuldverhältnis in Geltung zu setzen. Sie gewährt also ein Gestaltungsrecht, durch einseitige Erklärung das schon inhaltlich festgelegte Schuldverhältnis in Geltung zu setzen. Zur abgabenrechtlichen Einordnung von Miet- oder Leasingverträgen mit Kaufoption ist entscheidend, ob der Mieter oder Leasingnehmer mit der Überlassung des Mietgegenstandes oder Leasinggutes bereits dessen wirtschaftlicher Eigentümer iSd § 24 Abs 1 lit d BAO wird. Hiefür ist es insb von Bedeutung, wer die Chance von Wertsteigerungen und das Risiko von Wertminderungen trägt. Auch ist zu prüfen, ob die Optionsausübung die einzige wirtschaftlich rationale Möglichkeit für den Mieter oder Leasingnehmer darstellt (vgl VwGH 30. 4. 2019, Ra 2017/15/0071, mwN; vgl auch VwGH 13. 9. 2018, Ra 2018/15/0055).

Vorliegen von Neuvermögen 24. Nach der hier zu beurteilenden Vertragslage war nur die Vermieterin und Optionsgeberin gebunden; der Revisionswerber als Mieter und Optionsnehmer konnte hingegen frei entscheiden, ob er die ihm eingeräumte Option ausüben werde oder nicht. Die Berechtigung zur Ausübung („Annahme“) der Option bestand nicht bereits ab Abschluss der Optionsvereinbarung, sondern erst ab dem – zum Zeitpunkt des Abschlusses dieser Vereinbarung noch unsicheren – Zeitpunkt des Wegfalles des Veräußerungs- und Belastungsverbotes. Den Mietvertrag konnte der Revisionswerber – unter Einhaltung einer Frist von 6 Monaten zum 31. 7. jeden Jahres – aufkündigen. Dass die Ausübung der Option die einzige wirtschaftlich rationale Möglichkeit gewesen wäre, ist nicht erkennbar. 25. Der Revisionswerber konnte das Objekt zu dem bereits im Optionsvertrag vereinbarten Kaufpreis erwerben; damit kamen die Chancen der Wertsteigerung ihm zu. Da er aber die Option nicht ausüben musste, trug er nicht das Risiko der Wertminderung. oestz.lexisnexis.at

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Schließlich war aufgrund der Optionsvereinbarung (und des Mietvertrages) auch nicht festgelegt, wer die Liegenschaft erwerben würde, konnte die Option doch von beiden Optionsnehmern oder auch nur von einem „angenommen“ (also ausgeübt) werden. Damit stand aber auch insoweit nicht fest, in wessen Vermögen es zu einer Wertsteigerung (oder allenfalls Wertminderung) kommen würde. 26. Es ist somit offenkundig, dass der Mietvertrag samt Optionsvertrag (vom Oktober 2001) nicht jene Vereinbarung ist, die die Übertragung (zumindest) des wirtschaftlichen Eigentums an der Liegenschaft bewirkte. Damit war diese Liegenschaft am 31. 3. 2012 steuerverfangen.

Private Grundstücksveräußerung – auf Einbauküchen, Wandverbauten, Außenanlagen und Außenpools entfallender Veräußerungspreis » ÖStZB 2020/7

EStG 1988: § 30 VwGH 13. 11. 2019, Ro 2019/13/0033 Unterinstanz: BFG 7. 5. 2019, RV/7103541/2018 betreffend: ESt 2016

Entsprechend der – mit dem Wortlaut des Gesetzes vereinbaren – Absicht des Gesetzgebers sollen nur Grund und Boden, Gebäude und grundstücksgleiche Rechte der Besteuerung nach § 30 EStG 1988 unterliegen. Dinge, die steuerlich als selbstständige Wirtschaftsgüter anzusehen sind, fallen hingegen nicht in den Anwendungsbereich des § 30 EStG 1988, auch wenn sie zivilrechtlich als Zugehör von Grund und Boden zu beurteilen sind. Bei der Frage, ob jener Teil des Überschusses aus der Liegenschaftsveräußerung, der auf das „zivilrechtliche Zugehör“ (Einbauküche, Decken- und Wandverbau, Terrasse – Granitplatten, Kopfsteinpflaster im Einfahrts- und Eingangsbereich, überdachter Freisitz mit Kamin, Außenpool inklusive Technikeinrichtung) entfällt, als Einkünfte aus privaten Grundstücksveräußerungen iSd § 30 EStG 1988 zu berücksichtigen ist, ist entscheidend, ob den einzelnen Gegenständen der Außenanlagen bzw des „Zubehörs“ bei einer allfälligen Veräußerung eine besonders ins Gewicht fallende Selbständigkeit zukommt.

Sachverhalt Mit Bescheid vom 30. 11. 2017 setzte das Finanzamt die Einkommensteuer 2016 fest. Darin berücksichtigte das Finanzamt ua Einkünfte aus Grundstücksveräußerungen. Das Finanzamt führte hiezu aus, der von der Mitbeteiligten geltend gemachte


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Befreiungstatbestand (Hauptwohnsitz) treffe nicht zu, da die Mitbeteiligte innerhalb der letzten zehn Jahre nicht fünf Jahre ihren Hauptwohnsitz an der betreffenden Liegenschaft gehabt habe. Der anteilige Veräußerungserlös sei abzüglich der mit 86 % des Veräußerungserlöses anzusetzenden Anschaffungskosten mit dem besonderen Steuersatz von 30 % zu besteuern. Die Mitbeteiligte erhob gegen diesen Bescheid Beschwerde. Mit dem angefochtenen Erkenntnis änderte das BFG den Bescheid des Finanzamtes ab. Die Mitbeteiligte habe gemeinsam mit ihrem 2003 verstorbenen Ehemann (je zur Hälfte) die Liegenschaft in X mit Kaufvertrag im Jahr 1989 unbebaut erworben und sodann bebaut. Aufgrund der Einantwortung nach dem Tod ihres Ehemanns habe sie ein weiteres Sechstel der Liegenschaft erworben. Mit Kaufvertrag vom 10. 5. 2016 habe die Mitbeteiligte ihren Anteil veräußert. Damit sei die Liegenschaft samt Wohnhaus, Garage und Freischwimmbad übereignet worden. Nicht vertragsgegenständlich sei Inventar gewesen; alle fixen Einbauten seien aber im Haus verblieben. Gegenstände, die die Verkäufer im Haus im Zuge der Räumung zurückgelassen hätten, seien ersatzlos auf den Käufer übergegangen. Nur Grund und Boden sowie Gebäude seien in die Besteuerung einzubeziehen, nicht aber als „Zubehör“ oder „Außenanlagen“ genannte Wirtschaftsgüter (Küche, Decken- und Wandverbau, Terrasse – Granitplatten, Kopfsteinpflaster im Einfahrts- und Eingangsbereich, überdachter Freisitz mit Kamin und Außenpool). Der Gesamtveräußerungspreis weiche im vorliegenden Fall gravierend vom Verkehrswert ab. Der Gesamtveräußerungspreis sei daher entsprechend dem Verhältnis der Verkehrswerte aufzuteilen: Auf Grund und Boden entfielen demnach etwa 88,93 % (steuerpflichtig); auf Gebäude etwa 9,41 % (hievon 50 % gem § 30 Abs 2 Z 2 EStG 1988 von der Besteuerung ausgenommen); und auf Außenanlagen und Einbauten 1,66 % (nicht steuerbar). Im Hinblick auf die Herstellerbefreiung und den nicht steuerbaren Anteil betreffend Außenanlagen und Einbauten ergebe sich demnach eine Reduktion der Bemessungsgrundlage betreffend private Grundstücksveräußerungen. Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die Revision des Finanzamts. Das Erkenntnis des BFG wird (nur) insoweit angefochten, als jener Teil des Überschusses aus der Liegenschaftsveräußerung, der auf das „zivilrechtliche Zugehör“ (Einbauküche, Decken- und Wandverbau, Terrasse – Granitplatten, Kopfsteinpflaster im Einfahrts- und Eingangsbereich, überdachter Freisitz mit Kamin, Außenpool inklusive Technikeinrichtung) entfällt, nicht als Einkünfte aus privaten Grundstücksveräußerungen iSd § 30 EStG 1988 berücksichtigt worden sei. Das Finanzamt verweist insb darauf, dass es in einer Vielzahl von Grundstücksveräußerungen zwangsläufig zu einer Mitveräußerung von unselbstständigen Bestandteilen komme.

Erkenntnis Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften.

Entscheidungsgründe Rechtsvorschriften 14. Gemäß § 30 Abs 1 EStG 1988 sind private Grundstücksveräußerungen Veräußerungsgeschäfte von Grundstücken, soweit sie keinem Betriebsvermögen angehören. Der Begriff des Grundstückes umfasst – nach Satz 2 dieser Bestimmung – Grund und Boden, Gebäude und Rechte, die den Vorschriften des bürgerlichen Rechts über Grundstücke unterliegen (grundstücksgleiche Rechte). 15. In den Erläuterungen zur RV zum 1. Stabilitätsgesetz 2012, BGBl I 2012/22, 1680 BlgNR 24. GP 7, wurde hiezu ausgeführt: „In § 30 Abs 1 soll auch der steuerliche Begriff des Grundstücks definiert werden. Unter einem Grundstück sind für ertragsteuerliche Belange der Grund und Boden samt Gebäude und grundstücksgleiche Rechte zu verstehen. Als (Teil-)Grundstück gelten diese Wirtschaftsgüter aber jeweils auch für sich, wenn sie isoliert veräußert werden. Andere Dinge, die steuerlich als selbstständige Wirtschaftsgüter anzusehen sind, sind dagegen, auch wenn sie zivilrechtlich Zugehör von Grund und Boden darstellen, vom Begriff des Grundstückes nicht erfasst und fallen daher nicht in den Anwendungsbereich des § 30. Dies gilt gem § 4 Abs 3a auch für den betrieblichen Bereich; daher unterliegt insb die Veräußerung von stehendem Holz, der stehenden Ernte und des Feldinventars nicht dem Besteuerungsregime für Grundstücke.“

Ins Gewicht fallende Selbstständigkeit entscheidend 16. Entsprechend der – mit dem Wortlaut des Gesetzes vereinbaren – Absicht des Gesetzgebers sollen demnach nur Grund und Boden, Gebäude und grundstücksgleiche Rechte der Besteuerung nach § 30 EStG 1988 unterliegen; Dinge, die steuerlich als selbstständige Wirtschaftsgüter anzusehen sind, fallen hingegen nicht in den Anwendungsbereich des § 30 EStG 1988, auch wenn sie zivilrechtlich als Zugehör von Grund und Boden zu beurteilen sind. 17. Wirtschaftsgüter sind alle im wirtschaftlichen Verkehr nach der Verkehrsauffassung selbstständig bewertbaren Güter jeder Art. Ob ein Wirtschaftsgut vorliegt, ist nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten und nicht nach zivilrechtlichen Merkmalen zu beurteilen. So ist die zivilrechtliche Selbständigkeit des Gutes nicht entscheidend für die Wirtschaftsguteigenschaft, allerdings wird ihr Indizwirkung zukommen. Entscheidend ist die wirtschaftlich zu beurteilende Selbständigkeit (vgl VwGH 23. 2. 2010, 2008/15/0027, ÖStZB 2010/334, mwN). 18. Was ein eigenständiges Wirtschaftsgut und was Teil eines Wirtschaftsgutes ist, entscheidet sich nach der Verkehrsauffassung. Ein wirtschaftlicher und funktioneller (technischer) Zusammenhang zwischen Wirtschaftsgütern bzw Teilen von solchen spricht nach der Verkehrsauffassung bisweilen für ein einheitliches Wirtschaftsgut. Dies ist aber nicht immer der Fall. Ausschlaggebend ist im Zweifel, ob dem einzelnen Teil bei einer allfälligen Veräußerung eine besonders ins Gewicht faloestz.lexisnexis.at

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lende Selbständigkeit zugebilligt würde (vgl VwGH 15. 2. 1983, 82/14/0067, ÖStZB 1983, 354; VwGH 9. 6. 1986, 84/15/0128). Gebäudeeinbauten, die typische Gebäudeteile sind, rechnen auch dann zum Gebäude, wenn sie nur lose mit diesem verbunden sind. Alle nach der Verkehrsauffassung typischen Gebäudeteile gelten als nicht selbstständig bewertbar, auch wenn sie ohne Verletzung ihrer Substanz und mit geringen Kosten aus der Verbindung mit dem Gebäude gelöst werden können (vgl VwGH 24. 5. 2012, 2009/15/0171, ÖStZB 2013/157; VwGH 5. 9.2012, 2010/15/0002, ÖStZB 2014/55).

Begründungsmangel 19. Die Revision verweist zutreffend darauf, dass im angefochtenen Erkenntnis nicht begründet wurde, ob den einzelnen Gegenständen der Außenanlagen bzw des „Zubehörs“ eine besonders ins Gewicht fallende Selbständigkeit zukomme; diese Frage wurde – nach den vorgelegten Verfahrensakten – auch nicht mit den Parteien erörtert. Zu bemerken wäre hiezu, dass im vorliegenden Kaufvertrag lediglich auf das Wohnhaus „samt Garage und Freischwimmbad“ verwiesen wurde, woraus sich jedenfalls aus subjektiver Sicht der Vertragsparteien eine besondere Selbständigkeit anderer Gegenstände nicht ergeben würde. Auch wurde im Kaufvertrag festgehalten, dass sämtliche Gegenstände, die die Verkäuferin zurücklasse, ersatzlos in das Eigentum des Käufers übergingen; auch dies würde – aus subjektiver Sicht der Vertragsparteien – eine besondere Selbständigkeit nicht nahelegen. Die Mitbeteiligte verweist in ihrer Revisionsbeantwortung auch auf den geringen anteiligen Wert des Zubehörs und der Außenanlagen, was – wie aus dem in den vorgelegten Akten befindlichen Gutachten eines Sachverständigen hervorgeht – insb auch für die Terrasse (Granitplatten) oder das Kopfsteinpflaster im Einfahrtsbzw Eingangsbereich gilt (anders wohl für den – auch im Kaufvertrag gesondert erwähnten – Außenpool samt Technikeinrichtung); mit der Herstellung einer Forststraße oder eines landwirtschaftlichen Güterwegs oder auch mit „Platzbefestigungen“ iZm einem Lagerplatz (vgl hiezu VwGH 20. 5. 2010, 2006/15/0238; zu einer – großflächigen – Gartenanlage samt Parkplätzen vgl VwGH 23. 2. 2010, 2008/15/0027, ÖStZB 2010/334) erscheint ein derartiger Einfahrts- und Eingangsbereich nicht vergleichbar. Mangels konkreter Darlegungen des BFG kann aber vom VwGH nicht abschließend beurteilt werden, ob diesen Gegenständen (objektiv) jeweils eine besonders ins Gewicht fallende Selbständigkeit zuzubilligen wäre. 20. Das angefochtene Erkenntnis war daher gem § 42 Abs 2 Z 3 VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

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Kein primärer Anspruch der rumänischen Großmutter auf Differenzzahlungen nach dem FLAG » ÖStZB 2020/8

FLAG: § 2 Abs 2 VwGH 12. 11. 2019, Ra 2019/16/0133 Unterinstanz: BFG 23. 4. 2019, RV/5101186/2017 betreffend: Differenzzahlungen nach dem FLAG für April 2015 bis November 2016

Kommen in Österreich erwerbstätige Kindeseltern rumänischer Staatsangehörigkeit für den Unterhalt ihrer in Rumänien bei der mütterlichen Großmutter lebenden Kinder auf, so hat die Großmutter, deren Haushalt die Kinder zugehören, keinen primären Anspruch auf Differenzzahlungen nach dem FLAG. Aus dem Urteil des EuGH vom 22. 10. 2015, C-378/14, Tomislaw Trapkowski, kann nicht die Schlussfolgerung gezogen werden, dass gem § 2 Abs 2 erster Satz FLAG primär der den Haushalt, dem die einen Anspruch begründenden Kinder zugehören, führenden Großmutter ein Anspruch zustehe. § 2 Abs 2 letzter Halbsatz FLAG wird nämlich durch Art 60 Abs 1 Satz 3 der Verordnung Nr 987/2009 verdrängt, aus dem hervorgeht, dass dann, wenn eine Person, die berechtigt ist, Anspruch auf Familienleistungen zu erheben, dieses Recht nicht wahrnimmt, der „andere Elternteil“ zu den Personen und Institutionen gehört, die einen Antrag auf Gewährung dieser Leistungen stellen können.

Sachverhalt Die Mitbeteiligte, eine rumänische Staatsangehörige, hat seit 9. 2. 2015 ihren Hauptwohnsitz in Österreich. Die Mitbeteiligte beantragte am 31. 5. 2016 für den Zeitraum „April 2015 bis 2016 “ die Gewährung einer Differenzzahlung für 3 ihrer Kinder. Die Kinder würden am Familienwohnort in Rumänien wohnen; das ältere Kind besuche dort eine Schule, die beiden jüngeren den Kindergarten. Der Ehegatte der Mitbeteiligten gab auf dem Formblatt die Erklärung ab, auf die ihm vorrangig zustehende „Ausgleichszahlung“ zugunsten der Antragstellerin zu verzichten. Mit Bescheid vom 14. 11. 2016 wies das Finanzamt den Antrag für die drei Kinder für den Zeitraum April 2015 bis November 2016 unter Verweis auf § 2 Abs 2 FLAG ab, wogegen die Mitbeteiligte Beschwerde erhob. Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das BFG der erhobenen Beschwerde statt und hob den angefochtenen Bescheid – ersatzlos – auf. Weiters sprach das Gericht aus, dass gegen dieses Erkenntnis eine Revision an den VwGH nach Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig sei.


ÖStZB 1-2/2020 VwGH

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Begründend führte das Gericht aus, „in freier Würdigung der vom Finanzamt aufgenommenen Beweise und durchgeführten Erhebungen geht das BFG von folgendem Sachverhalt als erwiesen aus: Die (Mitbeteiligte) und ihr nunmehriger Ehemann waren im beschwerdegegenständlichen Zeitraum mit Hauptwohnsitz in Österreich gemeldet und auch hier aufhältig. Der Ehemann der (Mitbeteiligten) war in diesem Zeitraum durchgehend bei der Fa. H nichtselbstständig erwerbstätig. Die (Mitbeteiligte) war im Zeitraum April 2015 bis 9. 9. 2015 ebenfalls als Arbeiterin bei der Fa. H GmbH beschäftigt. Für den Zeitraum 10. 9. 2015 bis 9. 10. 2016 bezog sie pauschales Kinderbetreuungsgeld. Im Zeitraum 10. 10. 2016 bis November 2016 (und darüber hinaus bis 29. 12. 2017) war die (Mitbeteiligte) bei der Fa. A GmbH & Co KG beschäftigt. Die drei verfahrensgegenständlichen Kinder der (Mitbeteiligten) wohnten im Beschwerdezeitraum bei deren Großmutter in Rumänien. Der finanzielle Unterhalt für die Kinder wurde von der in Österreich erwerbstätigen (Mitbeteiligten) und ihrem ebenfalls hier arbeitenden Ehemann geleistet. Welchen Anteil dabei die (Mitbeteiligte) trug und welchen ihr Ehemann, ist dabei im vorliegenden Fall nicht entscheidungsrelevant (siehe dazu die unten die rechtlichen Erwägungen). Die Angaben der (Mitbeteiligten) sind schlüssig und es entspricht auch der allgemeinen Lebenserfahrung, dass in Österreich erwerbstätige Kindeseltern rumänischer Staatsangehörigkeit für den Unterhalt ihrer in Rumänien bei der mütterlichen Großmutter lebenden Kinder aufkommen. Ebenso entspricht es der allgemeinen Erfahrung, dass im Familienkreis Geld für den täglichen Bedarf der Kinder in bar an die betreuende Person übergeben werden. Schließlich ist es auch nicht ungewöhnlich, dass dabei gute Bekannte, Arbeitskollegen und Freunde als ‚Geldboten‘ dienen, wenn diese in das Heimatland reisen und am oder in der Nähe des Aufenthaltsortes der Kinder wohnhaft sind. Die Ansicht, dass Unterhaltszahlungen für Kinder nur dann anerkannt werden könnten, wenn diese durch Banküberweisungsbelege nachgewiesen werden können, wäre völlig lebensfremd. Die Angaben der (Mitbeteiligten), dass ihre Mutter keinen finanziellen Unterhalt für die Kinder leistete, sind aufgrund deren geringer Pension glaubwürdig. Der leibliche Kindesvater des ältesten Kindes leistet nach den Angaben der (Mitbeteiligten) für dieses Kind keinen Unterhalt und hat zu diesem auch keinen Kontakt; gegenteilige Feststellungen wurden vom Finanzamt nicht getroffen. Der Ehegatte der (Mitbeteiligten) hat keinen Antrag auf Gewährung von Differenzzahlungen gestellt und am Formblatt Beih38 die oben erwähnte Verzichtserklärung abgegeben.“ In rechtlicher Hinsicht folgerte das Gericht: „Die in Österreich erwerbstätige (Mitbeteiligte) und ihr gleichfalls hier beschäftigter Ehemann unterliegen gem Art 11 Abs 3 lit a der Verordnung Nr 883/2004 den österreichischen Rechtsvorschriften. Die in Rumänien lebende und dort eine Pension beziehende Mutter der (Mitbeteiligten) unterliegt den rumänischen Rechtsvorschriften, sodass dieser nach § 2 Abs 2 erster Satz FLAG die Familienbeihilfe oder eine Differenzzahlung nicht zusteht (vgl VwGH 22. 11. 2016, Ro 2014/16/0067, Rz 19 erster Satz).

Da die (Mitbeteiligte) und ihr Ehemann zufolge ihrer Beschäftigung den österreichischen Rechtsvorschriften unterliegen, kann ein Anspruch auf Familienbeihilfe gem § 2 Abs 2 zweiter Satz FLAG bestehen. Nach dieser Bestimmung hat eine Person, zu deren Haushalt das Kind nicht gehört, die jedoch die Unterhaltskosten für das Kind überwiegend trägt, dann Anspruch auf Familienbeihilfe, wenn keine andere Person nach § 2 Abs 2 erster Satz FLAG anspruchsberechtigt ist (vgl VwGH 22. 11. 2016, Ro 2014/16/0067, Rz 19 zweiter und dritter Satz mit Hinweis auf VwGH 23. 2. 2010, 2009/15/0205, ÖStZB 2010/356). Ob im vorliegenden Fall die (Mitbeteiligte) oder ihr Ehemann den Unterhalt für die Kinder überwiegend trägt, kann dahingestellt bleiben. Hat die (Mitbeteiligte) die Unterhaltskosten überwiegend getragen, besteht ein eigenständiger Anspruch der (Mitbeteiligten). Hat dagegen ihr Ehemann diese Kosten überwiegend getragen, besteht aufgrund der von diesem (am Formblatt Beih 38) abgegebenen Verzichtserklärung ein vom Anspruch des Ehegatten abgeleiteter Anspruch der (Mitbeteiligten), den diese gem Art 60 Abs 1 Durchführungsverordnung Nr 987/2009 geltend machen kann, da er vom Ehegatten (aufgrund seiner Verzichtserklärung) nicht begehrt wird (vgl neuerlich VwGH 22. 11. 2016, Ro 2014/16/0067, Rz 21). Ein allenfalls abgeleiteter Anspruch der Mutter der (Mitbeteiligten) scheidet schon deswegen aus, weil der Anspruch von der (Mitbeteiligten) begehrt wird und daher für die Großmutter der Kinder die Voraussetzungen des Art 60 Abs 1 der Durchführungsverordnung Nr 987/2009 nicht vorliegen. Da somit der (Mitbeteiligten) im verfahrensgegenständlichen Zeitraum ein Anspruch auf Familienbeihilfe bzw Differenzzahlungen zusteht, erweist sich der angefochtene Abweisungsbescheid als rechtswidrig und war daher aufzuheben und somit spruchgemäß zu entscheiden. Die Gewährung der Familienbeihilfe erfolgt ebenso wie die Gewährung einer Differenzzahlung mit Mitteilung iSd § 12 FLAG, zu deren Erlassung aber allein das Finanzamt zuständig ist. Wenn das BFG einer Beschwerde stattgegeben hat, sind die Verwaltungsbehörden gem § 25 Abs 1 BFGG verpflichtet, in dem betreffenden Fall mit den ihnen zu Gebote stehenden rechtlichen Mitteln unverzüglich den der Rechtsanschauung des BFG entsprechenden Rechtszustand herzustellen.“ Gegen dieses Erkenntnis wurde eine außerordentliche Amtsrevision des Finanzamtes erhoben.

Erkenntnis Abweisung als unbegründet.

Entscheidungsgründe Vorbringen der Amtsrevision 8. Die Amtsrevision erblickt die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Erkenntnisses in der – ihrer Ansicht nach unrichtig beantworteten – grundsätzlichen Rechtsfrage eines Anspruches der Großoestz.lexisnexis.at

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mutter der Kinder gem § 2 Abs 2 erster Satz FLAG, deren Haushalt die Kinder zugehörten. Der EuGH habe im Urteil vom 22. 10. 2015, C-378/14, Tomislaw Trapkowski, zu einer vergleichbaren Konstellation (der Vater habe in Deutschland gewohnt und zeitweise Arbeitslosengeld bezogen, die Mutter mit dem Kind jedoch in Polen) entschieden, dass der Anspruch auf Familienbeihilfe auch einer Person, die nicht im Mitgliedstaat der Antragstellung wohne, zustehen könne. Im Revisionsfall sei nach der widerlegbaren Vermutung des § 2a Abs 1 zweiter Satz FLAG die Großmutter als überwiegend haushaltsführender Großelternteil anzusehen. Die Großmutter habe im Zeitraum April 2015 bis November 2016 die persönlichen Voraussetzungen für einen Anspruch auf Familienbeihilfe für die drei Kinder gem § 2 Abs 3 lit a FLAG erfüllt. Sie habe ihren Wohnsitz sowie den Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen nicht in Österreich, sondern in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union. Ein (Groß-)Elternteil, der in einem anderen als dem zur Gewährung dieser Leistungen verpflichteten Mitgliedstaat wohne, könne diejenige Person sein, die, sofern im Übrigen alle anderen durch das nationale Recht vorgeschriebenen Voraussetzungen erfüllt seien, zum Bezug der Familienleistungen berechtigt sei. Nach Art 67 der Verordnung 883/2004 iVm Art 60 Abs 1 der Verordnung 987/2009 bestehe ein von der Erwerbstätigkeit der Mitbeteiligten in Österreich abgeleiteter grundsätzlicher und zufolge Haushaltsführung primärer Anspruch der Großmutter auf Differenzzahlung in Österreich. Der Anspruch der haushaltszugehörigen Großmutter gehe gem § 2 Abs 2 erster Satz FLAG jenem der nicht haushaltszugehörigen Mutter vor. Da die Großmutter bisher am Verfahren nicht beteiligt gewesen sei, sei schon deswegen eine sofortige Entscheidung in der Sache zugunsten der Großmutter nicht möglich gewesen.

Verweis auf frühere Erkenntnisse 9. Zur Darstellung der im Revisionsfall maßgebenden Rechtslage wird gem § 43 Abs 2 VwGG auf die Erkenntnisse vom 27. 9. 2012, 2012/16/0066, ÖStZB 2014/86, und VwGH 22. 11. 2016, Ro 2014/16/0067, verwiesen. 10. Im jüngeren Erkenntnis sprach der VwGH aus, dass die auf Wohnortklauseln beruhenden Bestimmungen des § 2 Abs 1 FLAG, welche den Familienbeihilfenbezug auf den Wohnort im Bundesgebiet abstellen, des § 2 Abs 8 FLAG, welcher auf den wesentlich durch den Wohnort bestimmten Mittelpunkt der Lebensinteressen im Bundesgebiet abstelle, und des § 5 Abs 3 FLAG, das einen vom Wohnort abhängigen Ausschluss der Familienbeihilfe bei ständigem Aufenthalt des Kindes im Ausland vorsehe, zufolge des Art 7 der Verordnung Nr 883/2004 und dessen Anwendungsvorrangs insoweit keine Anwendung finde. Zufolge des in Art 4 der Verordnung Nr 883/2004 normierten Gleichbehandlungsgrundsatzes für Personen, für die diese Verordnung gelte, fänden die durch den Anwendungsvorrang dieser Bestimmung verdrängten Bestimmungen des § 3 Abs 1 und 2 FLAG mit besonderen Voraussetzungen für Personen, die nicht österreichische Staatsbürger seien, keine Anwendung. oestz.lexisnexis.at

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11. Weiters führte der VwGH in diesem Erkenntnis aus, nach dem Familienlastenausgleichsgesetz könne ein Anspruch auf Familienbeihilfe gem § 2 Abs 2 zweiter Satz leg cit bestehen; nach dieser Bestimmung habe eine Person, zu deren Haushalt das Kind nicht gehöre, die jedoch die Unterhaltskosten für das Kind überwiegend trage dann Anspruch auf Familienbeihilfe, wenn keine andere Person nach § 2 Abs 2 erster Satz FLAG anspruchsberechtigt sei.

EuGH-Urteil 12. In dem von der Amtsrevision ins Treffen geführten Urteil vom 22. 10. 2015, C-378/14, Tomislaw Trapkowski, führte der EuGH ua aus: „Vorbemerkungen ... 32. Zur Anwendbarkeit der Prioritätsregeln, die in Art 68 Abs 1 der Verordnung Nr 883/2004 für den Fall des Zusammentreffens von Ansprüchen vorgesehen sind, ist darauf hinzuweisen, dass es nach stRsp des Gerichtshofs für die Annahme, dass in einem bestimmten Fall eine solche Kumulierung vorliegt, nicht genügt, dass Leistungen in dem Mitgliedstaat, in dem das betreffende Kind wohnt, geschuldet werden und zugleich in einem anderen Mitgliedstaat, in dem ein Elternteil dieses Kindes arbeitet, lediglich potenziell gezahlt werden können (Urteil Schwemmer, C-16/09, EU:C:2010:605, RN 52 und die dort angeführte Rsp). ... 34. Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art 60 Abs 1 Satz 2 der Verordnung Nr 987/2009 dahin auszulegen ist, dass die in dieser Bestimmung vorgesehene Fiktion dazu führen könnte, dass der Anspruch auf Familienleistungen einer Person zusteht, die nicht in dem Mitgliedstaat wohnt, der für die Gewährung dieser Leistungen zuständig ist. 35. Zur Beantwortung dieser Frage ist erstens darauf hinzuweisen, dass die in Art 67 der Verordnung Nr 883/2004 vorgesehene Fiktion zur Folge hat, dass eine Person Anspruch auf Familienleistungen für Familienangehörige, die in einem anderen als dem für die Gewährung dieser Leistungen zuständigen Mitgliedstaat wohnen, so erheben kann, als würden sie in dem zuständigen Mitgliedstaat wohnen. 36. Zweitens sieht Art 60 Abs 1 Satz 2 der Verordnung Nr 987/2009 vor, dass bei der Anwendung ua der Verordnung Nr 883/2004, insb was das Recht einer Person zur Erhebung eines Anspruchs auf Familienleistungen anbelangt, die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen ist, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fallen und dort wohnen. 37. Drittens geht aus Art 60 Abs 1 Satz 3 der Verordnung Nr 987/2009 hervor, dass dann, wenn eine Person, die berechtigt ist, Anspruch auf Familienleistungen zu erheben, dieses Recht nicht wahrnimmt, der ‚andere Elternteil‚ zu den Personen und Institutionen gehört, die einen Antrag auf Gewährung dieser Leistungen stellen können. 38. Aus Art 67 der Verordnung Nr 883/2004 iVm Art 60 Abs 1 der Verordnung Nr 987/2009 ergibt sich zum einen, dass eine Person


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Anspruch auf Familienleistungen auch für Familienangehörige erheben kann, die in einem anderen als dem für ihre Gewährung zuständigen Mitgliedstaat wohnen, und zum anderen, dass die Möglichkeit, Familienleistungen zu beantragen, nicht nur den Personen zuerkannt ist, die in dem zu ihrer Gewährung verpflichteten Mitgliedstaat wohnen, sondern auch allen ‚beteiligten Personen‘, die berechtigt sind, Anspruch auf diese Leistungen zu erheben, zu denen die Eltern des Kindes gehören, für das die Leistungen beantragt werden. 39. Folglich lässt sich, da die Eltern des Kindes, für das die Familienleistungen beantragt werden, unter den Begriff der zur Beantragung dieser Leistung berechtigten ‚beteiligten Personen‘ iS von Art 60 Abs 1 der Verordnung Nr 987/2009 fallen, nicht ausschließen, dass ein Elternteil, der in einem anderen als dem zur Gewährung dieser Leistungen verpflichteten Mitgliedstaat wohnt, diejenige Person ist, die, sofern im Übrigen alle anderen durch das nationale Recht vorgeschriebenen Voraussetzungen erfüllt sind, zum Bezug dieser Leistungen berechtigt ist. 40. Es obliegt jedoch der zuständigen nationalen Behörde, zu bestimmen, welche Personen nach nationalem Recht Anspruch auf Familienleistungen haben. 41. Nach alledem ist Art 60 Abs 1 Satz 2 der Verordnung Nr 987/2009 dahin auszulegen, dass die in dieser Bestimmung vorgesehene Fiktion dazu führen kann, dass der Anspruch auf Familienleistungen einer Person zusteht, die nicht in dem Mitgliedstaat wohnt, der für die Gewährung dieser Leistungen zuständig ist, sofern alle anderen durch das nationale Recht vorgeschriebenen Voraussetzungen für die Gewährung erfüllt sind, was von dem vorlegenden Gericht zu prüfen ist. ...“

aus Art 60 Abs 1 Satz 3 der Verordnung Nr 987/2009 hervorgeht, dass dann, wenn eine Person, die berechtigt ist, Anspruch auf Familienleistungen zu erheben, dieses Recht nicht wahrnimmt, der „andere Elternteil“ zu den Personen und Institutionen gehört, die einen Antrag auf Gewährung dieser Leistungen stellen können. Damit unterschied der EuGH ausdrücklich zwischen Satz 2 und Satz 3 von Art 60 Abs 1 Verordnung Nr 987/2009: von der im dortigen Fall primär zu beantwortenden Frage, wem aller ein Anspruch zustehen kann, ist die im vorliegenden Revisionsfall wesentliche Frage zu unterscheiden, wer dieses Recht wahrnehmen kann. Nimmt eine Person, die berechtigt ist, Anspruch auf Leistungen zu erheben, dieses Recht nicht wahr, ist nach Art 60 Abs 1 Satz 3 der Verordnung Nr 987/2009 auch ein Antrag der dort genannten anderen Personen zu berücksichtigen. Es ist daher ohne Bedeutung, welcher Elternteil den entsprechenden Antrag stellt (vgl Csaszar in Csaszar/Lenneis/Wanke, Kommentar zum FLAG, Rz 208 zu § 53 FLAG mwN). 14. Entgegen der Wortwahl der Amtsrevision ist daher die Rsp des VwGH, wie sie ua im Erkenntnis vom 22. 11. 2016, Ro 2014/16/0067, zum Ausdruck gelangte, durch das Urteil des EuGH vom 22. 10. 2015, C-378/14, nicht „überholt“, zumal den Entscheidungen jeweils verschiedene Sachverhalte zugrunde lagen. Soweit die Amtsrevision aus dem zitierten Urteil des EuGH die Schlussfolgerung zieht, dass gem § 2 Abs 2 erster Satz FLAG primär der den Haushalt, dem die einen Anspruch begründenden Kinder zugehören, führenden Großmutter ein Anspruch zustehe, übersieht sie Art 60 Abs 1 Satz 3 der Verordnung Nr 987/2009, der ebenfalls Anwendungsvorrang beansprucht und hiedurch § 2 Abs 2 letzter Halbsatz FLAG verdrängt. 15. Die Amtsrevision ist daher als unbegründet abzuweisen.

Kein primärer Anspruch der Großmutter 13. Damit verdeutlichte der EuGH fallbezogen, dass die in Art 67 der Verordnung Nr 883/2004 vorgesehene Fiktion zur Folge hat, dass eine Person Anspruch auf Familienleistungen für Familienangehörige, die in einem anderen als dem für die Gewährung dieser Leistungen zuständigen Mitgliedstaat wohnen, so erheben kann, als würden sie in dem zuständigen Mitgliedstaat wohnen, bei der Anwendung ua der Verordnung Nr 883/2004, insb was das Recht einer Person zur Erhebung eines Anspruchs auf Familienleistungen anbelangt, die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen ist, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fallen und dort wohnen, Art 60 Abs 1 Satz 2 der Verordnung Nr 987/2009 dahin auszulegen ist, dass die in dieser Bestimmung vorgesehene Fiktion dazu führen kann, dass der Anspruch auf Familienleistungen einer Person zusteht, die nicht in dem Mitgliedstaat wohnt, der für die Gewährung dieser Leistungen zuständig ist, sofern alle anderen durch das nationale Recht vorgeschriebenen Voraussetzungen für die Gewährung erfüllt sind, was von dem vorlegenden Gericht zu prüfen ist,

Doppel- oder Überzahlungen – umsatzsteuerliche Behandlung / Abschreibung von Mieterinvestition » ÖStZB 2020/9

UStG 1994: § 4, § 16 EStG 1988: § 8 Abs 4 VwGH 24. 10. 2019, Ro 2018/15/0013 Unterinstanz: BFG 19. 4. 2018, RV/6100140/2014, RV/6100049/2017, RV/6100054/2017, ÖStZB 2019/288 betreffend: USt 2009 bis 2014

1) Anders als bei einer echten Fehlüberweisung ist bei einer Doppel- oder Überzahlung der unmittelbare Zusammenhang zwischen Entgeltzahlung und Leistung noch gegeben, weil der Kunde – wenn auch irrtümlich – seine vermeintliche Kaufpreisschuld tilgen will und die Doppel- oder Überzahlung iZm einem tatsächlichen Leistungsaustausch steht. Die Doppel- oder Überzahlungen können oestz.lexisnexis.at

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daher als Teil des Entgelts angesehen und der Umsatzsteuer unterworfen werden. 2) Aufwendungen des Mieters auf den Bestandsgegenstand, die nicht bloß Erhaltungsmaßnahmen (Instandhaltung, Instandsetzung) sind, können nicht sofort als Betriebsausgaben des Mieters abgesetzt werden. Sie führen vielmehr zu so genannten „Mieterinvestitionen“, die nach der Rsp des VwGH wie Wirtschaftsgüter im wirtschaftlichen Eigentum des Mieters nach den Grundsätzen der §§ 7 und 8 EStG 1988 abgeschrieben werden müssen. Besteht ein aufrechtes Mietverhältnis (auf unbestimmte Dauer), so führt der bloße Plan des Mieters, künftighin das Mietverhältnis vorzeitig zu beenden, noch nicht zu einer außergewöhnlichen wirtschaftlichen Abnutzung der Mieterinvestitionen, zumal diese bis zur tatsächlichen Beendigung des Mietverhältnisses uneingeschränkt nutzbar sind. Subjektive Einstellungen und Planungen des Mieters als solche mindern die betriebsgewöhnliche Nutzungsdauer nicht. Eine Abschreibung der Mieterinvestitionen wegen außergewöhnlicher wirtschaftlicher Abnutzung ist daher zu versagen.

Sachverhalt Unternehmensgegenstand der Revisionswerberin, einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung, die Gruppenträger einer Unternehmensgruppe iSd § 9 KStG 1988 ist, ist der Buch-, Kunstund Musikalienhandel, der Buch-, Kunst- und Musikalienverlag, der Handel mit Waren aller Art und das Betreiben einer Werbeagentur. Im Rahmen einer Außenprüfung stellte die Prüferin fest, dass es im Prüfungszeitraum zu Doppel- oder Überzahlungen von Kunden gekommen sei, die nach zwölf Monaten über das „Ertragskonto 0 %“ ausgebucht worden seien. Die von Kunden getätigten Doppel- oder Überzahlungen (Kunden hatten Rechnungsbeträge oder Teile davon irrtümlich doppelt an die Revisionswerberin bezahlt) stünden in einem Kausalzusammenhang mit steuerbaren Lieferungen. Damit seien sie als Teil des Entgeltes iSd § 4 Abs 1 UStG 1994 anzusehen, sofern es nicht zu einer Rückzahlung und damit zu einer Änderung der Bemessungsgrundlage komme (Hinweis auf BFH 19. 7. 2007, V R 11/05). Eine Zuordnung der ausgebuchten Doppel- oder Überzahlungen zu den Ursprungsbelegen sei nicht möglich, weshalb die Aufteilung auf die 10 bzw 20 %igen Umsätze im Verhältnis der Erlöse des Vorjahres erfolge. Die Prüferin führte weiters aus, die Revisionswerberin habe mitgeteilt, dass ihre Geschäftsführung im Wirtschaftsjahr 2011 (19. 4. 2011) beschlossen habe, ihre Filiale in X im Wirtschaftsjahr 2012 zu schließen. Die Kündigung des Mietvertrages für die Filiale sei dem Vermieter mit Schreiben vom 14. 6. 2012 mit dem Ersuchen, die Kündigung vorerst vertraulich zu behandeln, bekanntgegeben worden. Das Unternehmen schreibe Mieterinvestitionen generell auf acht Jahre ab. Daher habe die Revisionswerberin die Mieterinvestitionen betreffend die Filiale in X oestz.lexisnexis.at

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auf die Restnutzungsdauer von zwei Jahren verteilt und im Wirtschaftsjahr 2011 eine „Sonder-AfA“ von € 49.960,39 geltend gemacht. Mieterinvestitionen seien auf die betriebsgewöhnliche Nutzungsdauer abzuschreiben. Ende das Mietverhältnis und damit die Nutzungsmöglichkeit vor dem Ablauf der Nutzungsdauer, könne im Jahr der Beendigung eine „AfA-Abschreibung“ vorgenommen oder der Restbuchwert ausgeschieden werden. Die im Wirtschaftsjahr 2011 geltend gemachte „Sonder-AfA“ sei somit nicht zulässig. Das Finanzamt folgte der Prüferin, verfügte die Wiederaufnahme der Verfahren und erließ entsprechende Bescheide. Die Revisionswerberin brachte gegen die angeführten Bescheide Beschwerden ein. Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das BFG den Beschwerden keine Folge. Zu den Doppel- oder Überzahlungen führte das BFG aus, dass das Entgelt iSd österreichischen Umsatzsteuerrechts dem Entgelt iSd des deutschen Umsatzsteuerrechts entspreche, sodass die – im angefochtenen Erkenntnis näher dargestellte – Rsp des BFH auch für den Revisionsfall Aussagekraft besitze. Aus dieser Rsp ergebe sich, dass die von den Kunden geleisteten Doppel- oder Überzahlungen der Umsatzsteuer zu unterziehen seien. Die Zahlungen stünden in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der von der Revisionswerberin erbrachten Leistung. Die Kunden tilgten eine vermeintliche Kaufpreisschuld, die Doppel- oder Überzahlung beruhe lediglich auf einem Motivirrtum. Würden die Doppel- oder Überzahlungen zurückgezahlt, läge eine Minderung der Bemessungsgrundlage nach § 16 UStG 1994 vor. In Bezug auf die Mieterinvestitionen stellte das BFG fest, die Revisionswerberin habe am 7. 8. 2007 einen unbefristeten Mietvertrag betreffend die Geschäftsräumlichkeiten der Filiale in X abgeschlossen. Am 19. 4. 2011 habe die Geschäftsführung der Revisionswerberin beschlossen, den Mietvertrag per 30. 6. 2012 aufzukündigen und das Mietverhältnis mit 30. 9. 2012 zu beenden. Am 15. 9. 2012 habe in der Filiale der letzte Verkaufstag stattgefunden, und am 30. 9. 2012 sei das Geschäftslokal an den Vermieter übergeben worden. § 8 Abs 4 EStG 1988 erkläre eine Absetzung für außergewöhnliche technische oder wirtschaftliche Abnutzung für zulässig. Wie der VwGH dargetan habe, liege eine außergewöhnliche wirtschaftliche Abnutzung vor, wenn durch außergewöhnliche Umstände die Verwendungsmöglichkeit eines Wirtschaftsgutes ende oder gemindert werde. In Bezug auf eine Mieterinvestition könne eine vorzeitige Beendigung des Mietverhältnisses zu einer außergewöhnlichen wirtschaftlichen Abnutzung führen, wenn eine weitere (andere) Verwendungsmöglichkeit durch den Mieter nicht gegeben sei. Die Absetzung für außergewöhnliche technische oder wirtschaftliche Abnutzung könne laut VwGH nur in dem Jahr geltend gemacht werden, in dem die Gründe hierfür eingetreten seien bzw hätten auffallen müssen (Hinweis auf VwGH 31. 3. 2011, 2008/15/0150, ÖStZB 2011/449). Laut Revisionswerberin bestehe die außergewöhnliche wirtschaftliche Abnutzung der Mieterinvestitionen darin, dass diese


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mit Beendigung des Mietverhältnisses entsorgt werden müssten. Die Revisionswerberin räume selbst ein, dass das Ende der Verwendungsmöglichkeit erst mit Beendigung des Mietverhältnisses eintrete. Das Mietverhältnis habe mit 30. 9. 2012 geendet, weshalb eine Absetzung für außergewöhnliche wirtschaftliche Abnutzung im Wirtschaftsjahr 2011 nicht in Betracht komme. Beim Beschluss vom 19. 4. 2011 handle es sich lediglich um die Absicht, das Mietverhältnis zum ehest möglichen Zeitpunkt (30. 6. 2012) aufzukündigen, damit es zum ehest möglichen Zeitpunkt (30. 9. 2012) ende (Hinweis auf VwGH 18. 12. 1990, 89/14/0091, ÖStZB 1991, 230, wonach eine bloße Absicht noch nicht ausreichend sei, um eine Änderung der bisherigen AfA vorzunehmen). Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision.

Erkenntnis Abweisung als unbegründet.

Entscheidungsgründe Vorbringen der Revision 26. Die Revision wendet sich gegen die umsatzsteuerliche Erfassung der in den Streitjahren vereinnahmten Doppel- bzw Überzahlungen und führt auf das Wesentlichen zusammengefasst aus, dass sich der österreichische Entgeltbegriff entgegen der Rechtsauffassung des BFG dadurch von der deutschen Rechtslage unterscheide, dass das vom EuGH entwickelte do-ut-des Prinzip im österreichischen UStG explizit auch für freiwillige Zahlungen gesetzlich verankert sei. Auch aus unionsrechtlichen Überlegungen ergebe sich, dass unter Beachtung des do-ut-des Prinzips sowie des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität nur jene Zahlungen Entgeltbestandteil sein könnten, die der Leistungsempfänger (nicht bloß irrtümlich) zur Erlangung einer anderen Leistung tätige. Schließlich sprächen auch teleologische Erwägungen gegen den vom BFG vertretenen Entgeltbegriff. Eine Unterscheidung zwischen rechtsgrundlosen Zahlungen rein anhand des Zahlungsmotivs, das für den Zahlungsempfänger regelmäßig nicht erkennbar und in einer Vielzahl von Fällen auch nicht ermittelbar sei, könne vom Gesetzgeber nicht intendiert sein. 27. Mit diesem Vorbringen wird keine Rechtswidrigkeit des angefochtenen Erkenntnisses aufgezeigt.

Unionsrecht 28. Art 73 der RL 2006/112/EG des Rates vom 28. 11. 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem lautet: „Bei der Lieferung von Gegenständen und Dienstleistungen, die nicht unter die Art 74 bis 77 fallen, umfasst die Steuerbemessungsgrundlage alles, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Lieferer oder Dienstleistungserbringer für diese Umsätze vom Erwerber oder Dienstleistungsempfänger oder einem Dritten erhält

oder erhalten soll, einschließlich der unmittelbar mit dem Preis dieser Umsätze zusammenhängenden Subventionen.“

Nationales Recht 29. § 4 UStG 1994 in der für den Revisionsfall maßgeblichen Fassung lautet auszugsweise: „§ 4. (1) Der Umsatz wird im Falle des § 1 Abs 1 Z 1 nach dem Entgelt bemessen. Entgelt ist alles, was der Empfänger einer Lieferung oder sonstigen Leistung aufzuwenden hat, um die Lieferung oder sonstige Leistung zu erhalten (Solleinnahmen); (...) (2) Zum Entgelt gehört auch, 1. was der Empfänger einer Lieferung oder sonstigen Leistung freiwillig aufwendet, um die Lieferung oder sonstige Leistung zu erhalten, (...)“ 30. § 16 UStG 1994 in der für den Revisionsfall maßgeblichen Fassung lautet auszugsweise: „§ 16. (1) Hat sich die Bemessungsgrundlage für einen steuerpflichtigen Umsatz iSd § 1 Abs 1 Z 1 und 2 geändert, so haben 1. der Unternehmer, der diesen Umsatz ausgeführt hat, den dafür geschuldeten Steuerbetrag, und 2. der Unternehmer, an den dieser Umsatz ausgeführt worden ist, den dafür in Anspruch genommenen Vorsteuerabzug entsprechend zu berichtigen. Die Berichtigungen sind für den Veranlagungszeitraum vorzunehmen, in dem die Änderung des Entgeltes eingetreten ist. (...) (3) Abs 1 gilt sinngemäß, wenn 1. das Entgelt für eine steuerpflichtige Lieferung oder Leistung uneinbringlich geworden ist. Wird das Entgelt nachträglich vereinnahmt, so sind Steuerbetrag und Vorsteuerabzug erneut zu berichtigen; (...)“

Entgeltlichkeitszusammenhang 31. Für die Anknüpfung des Entgeltes an die tatsächlich erhaltene Gegenleistung spricht der Wortlaut von Art 73 der RL 2006/112/ EG. Danach gehört zur Bemessungsgrundlage alles, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Lieferer oder Dienstleistungserbringer für diese Umsätze vom Erwerber oder Dienstleistungsempfänger oder von einem Dritten „erhält oder erhalten soll“ (zuvor Art 11 Teil A Abs 1 Buchst a der Sechsten RL des Rates vom 17. 5. 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG). 32. Gemäß § 4 UStG 1994 zählen Leistungen des Leistungsempfängers zum Entgelt, soweit sie aufgewendet werden, um die Leistung des Unternehmers zu erhalten. Nur das ist Entgelt, was in einer Zweckbindung zur Erlangung der Lieferung oder sonstigen Leistung steht (Entgeltlichkeitszusammenhang). Im Falle einer Differenz zwischen vereinbartem und tatsächlich geleistetem Entgelt ist maßgebend, was wirtschaftlich tatsächlich zugeflossen, also endgültig gezahlt wurde (vgl Ruppe/Achatz, UStG5, § 4 Tz 10, mit Hinweisen auf die hg Rsp). oestz.lexisnexis.at

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Fehlüberweisung 33. Der VwGH hat mit Erkenntnis vom 27. 5. 1999, 97/15/0067, ÖStZB 1999, 747, über einem Fall entschieden, in dem eine Tochtergesellschaft Waren der Muttergesellschaft zu wesentlichen überhöhten Preisen erwarb. Der Mehrbetrag wurde nicht geleistet, um die Ware zu erhalten, sondern um in verdeckter Form Gewinne auszuschütten. Der VwGH sprach in diesem Erkenntnis aus, dass insoweit kein Entgeltlichkeitszusammenhang besteht. Gleiches muss bei Vorliegen einer echten Fehlüberweisung gelten, weil es in diesem Fall an einer Leistungsbeziehung zwischen dem Überweisenden und dem Überweisungsempfänger fehlt.

Doppel- oder Überzahlung 34. Anders als bei einer echten Fehlüberweisung ist bei einer Doppel- oder Überzahlung der unmittelbare Zusammenhang zwischen Entgeltzahlung und Leistung noch gegeben, weil der Kunde – wenn auch irrtümlich – seine vermeintliche Kaufpreisschuld tilgen will und die Doppel- oder Überzahlung iZm einem tatsächlichen Leistungsaustausch steht. Es stößt daher auf keine vom VwGH aufzugreifenden Bedenken, wenn das BFG die in Rede stehenden Doppel- oder Überzahlungen als Teil des Entgelts angesehen und wie zuvor das Finanzamt der Umsatzsteuer unterworfen hat (vgl idS auch Ruppe/Achatz, UStG5, § 4 Tz 16/1).

Abschreibung von Mieterinvestitionen 35. Soweit die Revisionswerberin den Standpunkt vertritt, dass ihr im Wirtschaftsjahr 2011 eine Absetzung für außergewöhnliche Abnutzung iSd § 8 Abs 4 EStG 1988 zustehe, ist ihr zu entgegnen: 36. Aufwendungen des Mieters auf den Bestandsgegenstand, die nicht bloß Erhaltungsmaßnahmen (Instandhaltung, Instandsetzung) sind, werden nicht sofort als Betriebsausgaben des Mieters abgesetzt. Sie führen zu so genannten „Mieterinvestitionen“, die nach der Rsp des VwGH wie Wirtschaftsgüter im wirtschaftlichen Eigentum des Mieters nach den Grundsätzen der §§ 7 und 8 EStG 1988 abgeschrieben werden. Dies gilt jedenfalls dann, wenn dem Mieter – durch Gesetz oder durch Vereinbarung – das Recht auf Entschädigung in Höhe des Restwertes der Einbauten bei Beendigung des Bestandverhältnisses oder auf Entfernung der Investitionen eingeräumt ist (vgl VwGH 20. 3. 2014, 2011/15/0120, ÖStZB 2014/165; VwGH 31. 5. 2011, 2008/15/0153, ÖStZB 2012/67; VwGH 25. 10. 2006, 2006/15/0152, ÖStZB 2007/108; VwGH 24. 2. 2004, 99/14/0250, ÖStZB 2004/354). 37. Die Funktion der Abschreibung besteht in der Verteilung der Aufwendungen auf die Nutzungsdauer. Die betriebsgewöhnliche Nutzungsdauer bestimmt sich nach den objektiven Möglichkeiten einer Nutzung, wobei den subjektiven Verwendungsabsichten des Steuerpflichtigen (wie etwa der geplanten Dauer der betrieblichen Tätigkeit) keine Bedeutung beizumessen ist (vgl VwGH 27. 1. 1994, 92/15/0127, ÖStZB 1994, 457; VwGH 7. 9. 1993, 93/14/0081; VwGH 23. 5. 2007, 2004/13/0052, ÖStZB 2008/75). oestz.lexisnexis.at

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Keine Abschreibung wegen außergewöhnlicher Abnutzung 38. § 8 Abs 4 EStG 1988 erlaubt eine Absetzung für außergewöhnliche technische oder wirtschaftliche Abnutzung. Eine außergewöhnliche wirtschaftliche Abnutzung liegt vor, wenn durch außergewöhnliche Umstände die Verwendungsmöglichkeit endet oder gemindert wird. In Bezug auf eine Mieterinvestition kann eine vorzeitige Beendigung des Mietverhältnisses zur Abschreibung nach den Regeln einer außergewöhnlichen wirtschaftlichen Abnutzung führen, soweit eine weitere (andere) Verwendungsmöglichkeit durch den Mieter nicht gegeben ist (vgl VwGH 31. 3. 2011, 2008/15/0150, ÖStZB 2011/449). 39. Im gegenständlichen Fall hat im abweichenden Wirtschaftsjahr 2011 noch ein aufrechtes Mietverhältnis (auf unbestimmte Dauer) bestanden. Der Plan des Mieters, künftighin das Mietverhältnis vorzeitig zu beenden, führt nicht zu einer außergewöhnlichen wirtschaftlichen Abnutzung der Mieterinvestitionen, zumal diese bis zur tatsächlichen Beendigung des Mietverhältnisses uneingeschränkt nutzbar waren. Subjektive Einstellungen und Planungen des Mieters als solche mindern die betriebsgewöhnliche Nutzungsdauer nicht. Daher hat das BFG der Revisionswerberin zu Recht die Abschreibung wegen außergewöhnlicher wirtschaftlicher Abnutzung im Streitjahr 2011 versagt. 40. Gegenstand des Verfahrens vor dem Finanzamt und dem BFG war das auf die behauptete Minderung der Nutzungsdauer gestützte Begehren auf Absetzung für außergewöhnliche wirtschaftliche Abnutzung gem § 8 Abs 4 EStG 1988. Schon im Hinblick auf das im Verfahren vor dem VwGH bestehende Neuerungsverbot war daher nicht auf das eine allfällige Teilwertminderung behauptende Revisionsvorbringen einzugehen. 41. In Bezug auf Feststellung Gruppenträger 2009 und 2010 sowie Körperschaftsteuer 2009 und 2010 enthält die Revision kein Vorbringen und zeigt somit diesbezüglich von vornherein keine Rechtsverletzung auf.

Landwirt – Wechsel von Regelbesteuerung auf Pauschalierung » ÖStZB 2020/10

UStG 1994: § 17 Abs 4, § 22 VwGH 24. 10. 2019, Ro 2018/15/0021 Unterinstanz: BFG 2. 7. 2018, RV/5100138/2015 betreffend: USt-Festsetzung für Jänner 2014

Die Pauschalierung nach § 22 UStG 1994 für land- und forstwirtschaftliche Betriebe ist dem Grunde nach eine Besteuerung nach vereinbarten Entgelten (Sollbesteuerung), weil sie auf die im Besteuerungszeitraum „bewirkten“ Umsätze abstellt, womit die Erbringung der Lieferung oder sonstigen Leistung gemeint ist.


ÖStZB 1-2/2020 VwGH

ART.-NR.: 10

Unterliegt ein Landwirt – aufgrund einer Optionserklärung gem § 22 Abs 6 UStG 1994 – von 2009 bis 2013 mit den Umsätzen seiner Landwirtschaft der Regelbesteuerung und ab 2014 – aufgrund des Widerrufs der Optionserklärung – wieder der Pauschalbesteuerung nach § 22 UStG 1994, so ist somit mit Beginn 2014 ein Übergang von der Besteuerung nach vereinnahmten Entgelten (Istbesteuerung) auf die (wenn auch pauschalierte) Besteuerung nach vereinbarten Entgelten (Sollbesteuerung) eingetreten. Beim Wechsel der Besteuerungsart dürfen Umsätze aber nicht doppelt erfasst werden oder unversteuert bleiben. Gem § 17 Abs 4 UStG 1994 hat der Landwirt daher bereits früher (hier: vor 2014) bewirkte Umsätze, für die ein Entgelt noch nicht vereinnahmt wurde, als Umsatz für den ersten Voranmeldungszeitraum nach dem Übergang (hier: Jänner 2014) zu versteuern. Umsätze, die in Zeiträumen ausgeführt wurden, für welche der Landwirt zur Regelbesteuerung optiert hatte, fallen nämlich nicht unter die Pauschalbesteuerung.

Sachverhalt Der Mitbeteiligte unterlag aufgrund einer Optionserklärung gem § 22 Abs 6 UStG 1994 von 1. 1. 2009 bis 31. 12. 2013 mit den Umsätzen seiner Landwirtschaft der Regelbesteuerung und ab 2014 aufgrund des Widerrufs der Optionserklärung wieder der Pauschalbesteuerung nach § 22 UStG 1994. Mit Bescheid vom 12. 11. 2014 setzte das Finanzamt die Umsatzsteuer für Jänner 2014 mit € 3.044,73 fest. Es berücksichtigte dabei die im Jahr 2013 erfolgten Milchlieferungen (Gesamtbetrag der steuerpflichtigen Lieferungen € 6.727,26), deren Entgelt der Mitbeteiligte im Jänner 2014 vereinnahmt hatte. Weiters nahm es aufgrund von Feststellungen einer Außenprüfung eine Berichtigung der Vorsteuer gem § 12 Abs 10 und Abs 11 UStG 1994 in Höhe von € 2.372,- vor. In seiner dagegen erhobenen Beschwerde trat der Mitbeteiligte beiden Punkten entgegen. Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis änderte das BFG die Umsatzsteuerfestsetzung für Jänner 2014 insoweit ab, als es die Milchlieferungen nicht mehr der Besteuerung unterzog und lediglich die Berichtigung der Vorsteuer bestätigte. Zu dem stattgebenden Teil der Entscheidung wird begründend ausgeführt, für eine analoge Anwendung des § 17 Abs 4 UStG 1994 bleibe beim Wechsel zwischen Regelbesteuerung und Pauschalierung kein Raum. Nach dem Einleitungssatz dieser Bestimmung solle durch diese Bestimmung eine Doppeloder Nichtbesteuerung vermieden werden, wie sie zB stattfände, wenn während der Istbesteuerungs-Phase die Leistungserbringung, aber noch kein Zufluss stattgefunden habe und es so letztlich zu keiner Besteuerung kommen würde. Zu dieser Doppeloder Nichtbesteuerung komme es im Fall der durchgehenden Istbesteuerung beim Wechsel von der Regelbesteuerung zur Pauschalierung und umgekehrt nicht. Der Steueranspruch entstehe jeweils am Ende des Monats des Zuflusses und die Entrich-

tung erfolge für diesen Veranlagungszeitraum entweder in Form der Regelbesteuerung oder in pauschalierter Form. Folge man den unionsrechtlichen Vorgaben und deren innerstaatlichen Umsetzungen müsse im Fall der durchgehend anwendbaren Istbesteuerung für das Entstehen des Steueranspruchs immer auf das Ende des Monats des Zuflusses des Entgelts abgestellt werden. Je nach anzuwendender Erhebungsform erfolge die Abfuhr der sich ergebenden Umsatzsteuer im Wege der Regelbesteuerung oder der Pauschalierung. Da im vorliegenden Fall im Veranlagungszeitraum des Zuflusses des Milchentgelts für Dezember 2013 bereits wieder die pauschale Besteuerung wirksam geworden sei, gelte auch die Umsatzsteuer für diesen Zufluss als pauschaliert entrichtet und könne nicht gesondert vorgeschrieben werden. Insoweit sei der Beschwerde zu folgen und der Bescheid des Finanzamtes abzuändern. Die Revision des Finanzamtes wendet sich ausschließlich gegen den der Beschwerde stattgebenden Teil des Erkenntnisses. Das BFG habe für die noch im Jahr 2013 erfolgten Milchlieferungen zu Unrecht die Pauschalbesteuerung nach § 22 UStG 1994 angewandt. Vom BFG sei dadurch in Kauf genommen worden, dass es zu einer mit der MwSt-RL 2006/112/EG nicht zu vereinbarenden doppelten Berücksichtigung des iZm der Milcherzeugung stehenden Vorsteuerabzuges kommen könne.

Erkenntnis Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes.

Entscheidungsgründe Pauschalierung für Landwirte 10. § 22 UStG 1994 enthält eine Vereinfachungsregelung für die Besteuerung von land- und forstwirtschaftlichen Umsätzen. Danach wird bei nichtbuchführungspflichtigen Unternehmern, die Umsätze im Rahmen eines land- und forstwirtschaftlichen Betriebes ausführen, die Steuer für diese Umsätze mit 10 % bzw 12 % der Bemessungsgrundlage festgesetzt. Die diesen Umsätzen zuzurechnenden Vorsteuerbeträge werden jeweils in gleicher Höhe festgesetzt (§ 22 Abs 1 UStG 1994). 11. Die unionsrechtliche Grundlage fand § 22 UStG 1994 ursprünglich in Art 25 der Sechsten RL 77/388/EWG des Rates vom 17. 5. 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuer – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage und beruht nunmehr auf Art 295 bis 305 der RL 2006/112/ EG des Rates über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (im Folgenden: MwStSystRL). Dort ist eine Pauschalregelung in Bezug auf den Vorsteuerabzug vorgesehen. Die Pauschalregelung gilt nur für die Lieferung landwirtschaftlicher Erzeugnisse und die Erbringung landwirtschaftlicher Dienstleistungen, wie sie (nunmehr) in Art 295 der MwStSystRL iVm den Anhängen VII und VIII festgelegt sind. Die anderen Umsätze von Landwirten unterliegen den allgemeinen Regelungen des Mehrwertsteuerrechts oestz.lexisnexis.at

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ART.-NR.: 10

(vgl – mit Hinweisen auf die Rsp des EuGH 15. 7. 2004, C-321/02, Harbs, ÖStZB 2005/23, und EuGH 26. 5. 2005, C-43/04, Stadt Sundern, ÖStZB 2006/31 – VwGH 25. 2. 2015, 2010/13/0189, ÖStZB 2015/102; VwGH 31. 1. 2019, Ro 2017/15/0013, ÖStZB 2019/39).

Milchlieferungen 2013 – keine Pauschalbesteuerung 12. Das Finanzamt bringt ua vor, dass die Rechtsansicht des BFG Unionsrecht widerspreche, weil sie zur Folge habe, dass es bei einem Wechsel von der Regelbesteuerung zur Pauschalbesteuerung zu einer doppelten Berücksichtigung des Vorsteuerabzugs kommen könne, einmal aufgrund der Rechnung im Regelbesteuerungszeitraum und einmal aufgrund des Pauschalausgleichs bei Anwendung der Pauschalbesteuerung auf die spätere Zahlung im Zeitraum der Pauschalbesteuerung. 13. § 22 Abs 1 UStG 1994 spricht von im Rahmen eines land- und forstwirtschaftlichen Betriebes ausgeführten Umsätzen, für die die Umsatzsteuer mit 10 % (bzw 12 %) der Bemessungsgrundlage festgesetzt wird und ordnet diesen Umsätzen Vorsteuerbeträge in gleicher Höhe zu. Bereits aus dem klaren Wortlaut des § 22 Abs 1 UStG 1994 ergibt sich, dass nur die im Pauschalierungszeitraum bewirkten („ausgeführten“) Umsätze der Pauschalbesteuerung unterliegen. § 22 Abs 1 UStG 1994 knüpft nicht an die im Pauschalbesteuerungszeitraum vereinnahmten Entgelte an. Entgegen den Ausführungen des BFG kann daher auch keine Rede davon sein, dass die Pauschalbesteuerung eine „Istbesteuerung“ darstelle. Umsätze, die in Zeiträumen ausgeführt wurden, für welche der Landwirt zur Regelbesteuerung optiert hatte, fallen demzufolge auch dann nicht unter die Pauschalbesteuerung, wenn das Entgelt hiefür nach Übergang zur Pauschalbesteuerung vereinnahmt wurde. 14. Wenn das BFG der Beschwerde daher mit der Begründung Folge gegeben hat, dass die mitbeteiligte Partei „mit Wirkung Anfang des Jahres 2014 (...) wieder der pauschalierten Erhebungsform der Umsatzsteuer“ unterliege und „sich aus diesen Vorgängen keine Umsatzsteuerschuld ergeben“ könne, hat es die Rechtslage verkannt.

Übergang auf Sollbesteuerung 15. Die Pauschalierung nach § 22 UStG 1994 ist dem Grunde nach eine Besteuerung nach vereinbarten Entgelten, weil sie auf die im Besteuerungszeitraum „bewirkten“ Umsätze abstellt, womit die Erbringung der Lieferung oder sonstigen Leistung gemeint ist.

Es ist somit mit Beginn 2014 ein Übergang von der Besteuerung nach vereinnahmten Entgelten auf die (wenn auch pauschalierte) Besteuerung nach vereinbarten Entgelten eingetreten. Solcherart sind auf der Grundlage der Bestimmung des § 17 Abs 4 UStG 1994 die streitgegenständlichen – wie oben dargestellt nicht in der Pauschalierung erfassten – Milchlieferungen im Umsatzsteuerbescheid für das Jahr 2014 steuerlich zu erfassen (wie dies im Umsatzsteuerfestsetzungsbescheid des Finanzamtes vom 12. 11. 2014 betreffend Jänner 2014 erfolgt ist).

Option zur Regelbesteuerung im Jahr 2009 16. Zu Recht weist die mitbeteiligte Partei in ihrer Revisionsbeantwortung darauf hin, dass sich dieselbe Abgrenzungsfrage auch bei Beginn der Option zur Regelbesteuerung, somit im Revisionsfall im Jänner 2009 gestellt habe. 17. Schon im Erkenntnis VwGH 22. 4. 2009, 2007/15/0143, ÖStZB 2009/465, hat der VwGH ausgesprochen, dass bei Übergang von der Pauschalbesteuerung zur Regelbesteuerung die Besteuerung der vor dem Übergang bewirkten Umsätze als abgeschlossen zu betrachten ist. Beim Übergang von der Pauschalbesteuerung zur Regelbesteuerung nach vereinnahmten Entgelten ist daher sicher zu stellen, dass es nicht zu einer doppelten Erfassung derselben Umsätze kommt. Wenn dies im Fall der mitbeteiligten Partei – wie in der Revisionsbeantwortung vorgebracht wird – nicht beachtet wurde und das Milchgeld für den Leistungszeitraum Dezember 2008 (Übergang von der Pauschalbesteuerung auf die Regelbesteuerung im Jänner 2009) im Jänner 2009 nochmals besteuert worden sein sollte, hätte dieser Umstand mit Aussicht auf Erfolg nur gegen den Umsatzsteuerbescheid des Jahres 2009, nicht aber im nunmehrigen Verfahren eingewendet werden können.

Vorsteuerberichtigung 18. Soweit sich die mitbeteiligte Partei im Rahmen der Revisionsbeantwortung auch gegen die vom BFG bestätigte Vorsteuerberichtigung wendet, ist darauf hinzuweisen, dass die Vorsteuerberichtigung nicht von der Anfechtungserklärung des Finanzamtes umfasst und daher nicht revisionsgegenständlich ist. 19. Das angefochtene Erkenntnis erweist sich nach dem Gesagten als mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes belastet, weshalb es gem § 42 Abs 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.

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ÖStZB 1-2/2020 ART.-NR.: 11

bearbeitet von Mag. Andrea Ebner Bundesfinanzgericht

Erkenntnisse des EuGH Die Festsetzung von Verzugszinsen für nichtabgeführte Quellensteuer bis zum Nachweis der Anwendbarkeit eines DBA bei Gesellschaften, die nach dem DBA keine Quellensteuer schulden, steht der Dienstleistungsfreiheit entgegen » ÖStZB 2020/11

Internationales Steuerrecht AEUV: Art 56 KStG 1988: § 21 EStG 1988: § 99 EuGH 25.7.2018, C-553/16, „TTL“ EOOD gegen Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachnoosiguritelna praktika“ – Sofia ECLI:EU:C:2018:604

Nach bulgarischem Recht unterliegen die von ausländischen juristischen Personen erzielten Einkünfte inländischen Ursprungs, soweit sie nicht über eine feste Niederlassung im bulgarischen Hoheitsgebiet vereinnahmt worden sind, einer Quellensteuer, mit deren Entrichtung die Steuerschuld endgültig abgegolten ist. Weiters muss eine gebietsansässige Gesellschaft, von der eine gebietsfremde Person Einkünfte bezieht, auf die gesamte, grundsätzlich an der Quelle einzubehaltende Steuer der gebietsfremden Person, wenn sie nicht entrichtet wurde, Verzugszinsen zahlen, und zwar ab dem Ablauf der nach bulgarischem Recht für die Entrichtung dieser Steuer geltenden Frist bis zu dem Tag, an dem die gebietsfremde Person nachweist, dass die Voraussetzungen für die Anwendung des zwischen der Republik Bulgarien und dem Mitgliedstaat der Niederlassung dieser Person geschlossenen Doppelbesteuerungsabkommens erfüllt sind, und zwar auch dann, wenn diese Person nach dem Doppelbesteuerungsabkommen in Bulgarien keine Steuer oder einen niedrigeren Steuerbetrag schuldet, als dies nach dem bulgarischen Steuerrecht normalerweise der Fall wäre. Eine solche nationale Regelung stellt grundsätzlich eine nach Art 56 AEUV verbotene Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs dar. Gerechtfertigt erscheint eine solche Regelung durch die Notwendigkeit, bei grenzüberschreitenden Sachverhalten die Beitreibung der Quellensteuer zu gewährleisten und die Wirksamkeit der Steuerkontrollen sicherzustellen. Eine nationale Regelung, die die Sanktion in Form von nicht

erstattungsfähigen Zinsen vorsieht, die anhand des Betrags der nach dem nationalen Recht geschuldeten Quellensteuer berechneten werden und für den Zeitraum ab Eintritt der Fälligkeit bis zu dem Tag anfallen, an dem den Steuerbehörden der Nachweis für die Anwendbarkeit des Doppelbesteuerungsabkommens erbracht werden, ist für die Erreichung dieses Ziels jedoch nicht geeignet.

Sachverhalt Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art 49, 54 und 63 sowie des Art 65 Abs 1 und 3 AEUV und von Art 5 Abs 4 und Art 12 Buchst b EUV. Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen „TTL“ EOOD und dem Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“ – Sofia (Direktor der Direktion „Rechtsbehelfe sowie Steuer- und Sozialversicherungspraxis“ in Sofia, Bulgarien) (im Folgenden: beklagte Verwaltung) wegen der Zahlung nicht erstattungsfähiger Verzugszinsen, die von TTL zu entrichten sind, weil sie nicht ihrer Verpflichtung nachgekommen ist, eine Quellensteuer auf Zahlungen an in einem anderen Mitgliedstaat als der Republik Bulgarien ansässige, nicht mit ihr verbundene Unternehmen einzubehalten, die bei diesen Unternehmen grenzüberschreitende Einkünfte darstellen.

Ausgangsverfahren TTL, eine in Bulgarien eingetragene und ansässige Gesellschaft, schloss in den Jahren 2007 bis 2010 mit der in den Niederlanden eingetragenen GATX Dutch Holding, der in Österreich eingetragenen VTG Austria GmbH und der in Polen eingetragenen GATX Reil Poland sp. z o.o. (im Folgenden: die drei ausländischen Gesellschaften) Verträge über die Vermietung von Kesselwaggons und leistete an diese Gesellschaften als Gegenleistung für die Vermietung Zahlungen, die bei diesen Gesellschaften Einkünfte darstellten. Diese Gesellschaften waren nicht mit TTL verbunden. Die Zahlungen, die die Gesellschaften GATX Dutch Holding und GATX Reil Poland im Zeitraum von 2007 bis 2010 aus Bulgarien erhielten, überstiegen den Betrag von 100 000 BGN pro Jahr nicht, wohingegen VTG Austria Zahlungen erhielt, die über diesem Betrag lagen. Da diese Zahlungen nach Auffassung von TTL unter die Doppelbesteuerungsabkommen fielen, die Bulgarien mit den jeweils betroffenen Mitgliedstaaten, also dem Königreich der Niederlande, der Republik Österreich und der Republik Polen, geschlossen hatte, behielt sie keine Quellensteuer ein. Die drei ausländischen Gesellschaften beantragten keine Entscheidung über die Anwendbarkeit der Doppelbesteuerungsabkommen, legten TTL aber die Nachweise dafür vor, dass die Voraussetzungen für die Anwendung dieser Abkommen erfüllt waren. Nachdem oestz.lexisnexis.at

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diese Nachweise an TTL ein bis vier Jahre nach Leistung der entsprechenden Zahlungen vorgelegt waren, für die polnische Gesellschaft am 21. März 2011, für die österreichische Gesellschaft am 28. März 2011 und für die niederländische Gesellschaft am 24. August 2011, konnte TTL bestätigen, dass die Voraussetzungen für die Anwendung der für sie jeweils relevanten Doppelbesteuerungsabkommen erfüllt seien. Bei TTL wurde eine mit Entscheidung vom 26. Mai 2011 angeordnete Steuerprüfung durchgeführt. Die Teritorialna direktia na Nationalna agentsia za prihodite – Sofia (Gebietsdirektion der Nationalen Agentur für Steuereinnahmen in Sofia, Bulgarien) erließ am 22. Oktober 2013 einen Steuerprüfungsbescheid. Mit diesem Bescheid wird das Bestehen einer Steuerschuld im Sinne von Art 195 ZKPO betreffend Körperschaftsteuer für das Steuerjahr 2010 zuzüglich Zinsen festgestellt. TTL erhob gegen den Steuerprüfungsbescheid Klage beim Administrativen sad Sofiagrad (Verwaltungsgericht Sofia, Bulgarien), die mit Urteil vom 3. Dezember 2014 abgewiesen wurde. TTL legte beim vorlegenden Gericht, dem Varhoven administrativen sad (Oberster Verwaltungsgerichtshof, Bulgarien) Rechtsmittel gegen dieses Urteil ein.

Urteil Art 56 AEUV ist dahin auszulegen, dass er der Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren fraglichen, in deren Rahmen die Zahlungen einer gebietsansässigen Gesellschaft an eine in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Gesellschaft, die bei dieser Einkünfte darstellen, grundsätzlich, sofern in dem zwischen diesen beiden Mitgliedstaaten geschlossenen Doppelbesteuerungsabkommen nichts anderes bestimmt ist, einer Quellensteuer unterliegen, entgegenstehen, wenn nach dieser Regelung die gebietsansässige Gesellschaft, die die Quellensteuer nicht einbehält oder nicht an die Steuerbehörde des ersten Mitgliedstaats abführt, für den Zeitraum zwischen dem Ablauf der Frist für die Entrichtung der Steuer auf die Einkünfte bis zu dem Tag, an dem die gebietsfremde Gesellschaft den Nachweis dafür erbringt, dass die Voraussetzungen für die Anwendung des Doppelbesteuerungsabkommens erfüllt sind, zur Zahlung nicht erstattungsfähiger Verzugszinsen verpflichtet ist, obwohl nach diesem Abkommen von der gebietsfremden Gesellschaft im ersten Mitgliedstaat keine Steuer oder ein niedrigerer Steuerbetrag geschuldet wird, als dies nach dem Steuerrecht dieses Mitgliedstaats normalerweise der Fall wäre.

Begründung Zur ersten Frage 30. Mit der ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art 5 Abs 4 und Art 12 Buchst b EUV dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, wonach eine gebietsansässige Gesellschaft, die an eine in einem anderen Mitgliedstaat oestz.lexisnexis.at

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ansässige Gesellschaft Zahlungen leistet, die, soweit in dem zwischen den beiden Mitgliedstaaten geschlossenen Doppelbesteuerungsabkommen nichts anderes bestimmt ist, der Quellensteuer unterliegen, für den Zeitraum zwischen dem Ablauf der Frist für die Entrichtung der Steuer auf diese Einkünfte und dem Tag, an dem die gebietsfremde Gesellschaft nachweist, dass die Voraussetzungen für die Anwendung des Doppelbesteuerungsabkommens erfüllt sind, Zinsen zu entrichten hat, und zwar auch dann, wenn nach dem Doppelbesteuerungsabkommen im ersten Mitgliedstaat keine Steuer oder ein niedrigerer Steuerbetrag geschuldet wird als dies nach dem Steuerrecht dieses Mitgliedstaats normalerweise der Fall wäre. [31.-34.] 35. Folglich ist die erste Frage nach der Auslegung von Art 5 Abs 4 und Art 12 Buchst b EUV nicht zu beantworten, da diese Bestimmungen keine Anwendung auf einen Sachverhalt wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden finden.

Zur zweiten Frage Vorbemerkungen 36. TTL, die im Ausgangsverfahren beklagte Verwaltung, die bulgarische Regierung und die Europäische Kommission tragen vor, dass die Vorschriften über die Niederlassungsfreiheit und den freien Kapitalverkehr, die in den vom vorlegenden Gericht in seiner zweiten Frage genannten Art 49, 54, 63 sowie in 65 Abs 1 und 3 AEUV enthalten sind, in Anbetracht des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens nicht einschlägig und in der vorliegenden Rechtssache nicht anwendbar seien. 37. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung mit der Niederlassungsfreiheit für die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaften, die ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Union haben, das Recht verbunden ist, ihre Tätigkeit in anderen Mitgliedstaaten durch eine Tochtergesellschaft, eine Zweigniederlassung oder eine Agentur auszuüben (Urteile vom 18. Juni 2009, Aberdeen Property Fininvest Alpha, C-303/07, EU:C:2009:377, RN 37, und vom 21. Mai 2015, Verder LabTec, C-657/13, EU:C:2015:331, RN 32). 38. Wie insbesondere die bulgarische Regierung im Hinblick auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens ausführt, macht TTL nicht von der Niederlassungsfreiheit Gebrauch, da sie keine Tätigkeit durch eine Tochtergesellschaft, eine Zweigniederlassung oder eine Agentur im Königreich der Niederlande, der Republik Polen oder der Republik Österreich ausübt. Was die drei ausländischen Gesellschaften betrifft, so üben sie in Bulgarien keine Tätigkeit durch eine Tochtergesellschaft, eine Zweigniederlassung oder eine Agentur aus. Darüber hinaus wird in der Vorlageentscheidung darauf hingewiesen, dass die drei ausländischen Gesellschaften nicht mit TTL verbunden sind. 39. Außerdem hat der Gerichtshof in Bezug auf den durch Art 63 Abs 1 AEUV gewährleisteten freien Kapitalverkehr entschieden, dass zu den nach dieser Bestimmung verbotenen Be-


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schränkungen des Kapitalverkehrs Maßnahmen gehören, die geeignet sind, Gebietsfremde von Investitionen in einem Mitgliedstaat oder die dort Ansässigen von Investitionen in anderen Staaten abzuhalten (Urteile vom 10. Februar 2011, Haribo Lakritzen Hans Riegel und Österreichische Salinen, C-436/08 und C-437/08, EU:C:2011:61, RN 50, sowie vom 17. September 2015, Miljoen ua, C-10/14, C-14/14 und C-17/14, EU:C:2015:608, RN 44). 40. Dergleichen ist in der vorliegenden Rechtssache aber nicht geltend gemacht worden. Das Ausgangsverfahren betrifft die Verpflichtung zur Zahlung einer Quellensteuer und zur Begleichung von Verzugszinsen, die auf diese nicht einbehaltene oder nicht fristgerecht abgeführte Steuer geschuldet wird. Die Steuerschuld entstand infolge von zwischen einer steuerlich in Bulgarien ansässigen Person und ausländischen Personen geschlossenen geschäftlichen Verträgen, aufgrund deren die in Bulgarien ansässige Person Zahlungen an diese ausländischen Personen geleistet hat, die somit Einkünfte erzielt haben. 41. Nach ständiger Rechtsprechung ist der Gerichtshof jedoch, auch wenn das vorlegende Gericht den Wortlaut seiner Fragen auf die Auslegung bestimmter Vorschriften des Unionsrechts beschränkt hat, dadurch nicht gehindert, diesem Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die ihm bei der Entscheidung des bei ihm anhängigen Verfahrens von Nutzen sein können (vgl in diesem Sinne Urteile vom 14. November 2017, Lounes, C-165/16, EU:C:2017:862, RN 28, sowie vom 30. Januar 2018, X und Visser, C-360/15 und C-31/16, EU:C:2018:44, RN 55). 42. Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den Angaben in der Vorlageentscheidung, dass es sich bei dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Umsatz um die Vermietung von Kesselwaggons handelt. Da die Vermietung von Fahrzeugen eine Dienstleistung im Sinne von Art 57 AEUV darstellt (Urteile vom 21. März 2002, Cura Anlagen, C-451/99, EU:C:2002:195, RN 19, und vom 4. Dezember 2008, Jobra, C-330/07, EU:C:2008:685, RN 22), hat die Prüfung im Ausgangsverfahren unter dem Aspekt der Dienstleistungsfreiheit zu erfolgen. 43. Es ist daher davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner zweiten Frage wissen möchte, ob Art 56 AEUV, der den freien Dienstleistungsverkehr gewährleistet, dahin auszulegen ist, dass er der Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren fraglichen, in deren Rahmen Zahlungen einer gebietsansässigen Gesellschaft an eine in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Gesellschaft, die bei dieser Einkünfte darstellen, grundsätzlich, sofern in dem zwischen diesen beiden Mitgliedstaaten geschlossenen Doppelbesteuerungsabkommen nichts anderes bestimmt ist, einer Quellensteuer unterliegen, entgegenstehen, wenn nach dieser Regelung die gebietsansässige Gesellschaft, die die Quellensteuer nicht einbehält oder nicht an die Steuerbehörde des ersten Mitgliedstaats abführt, für den Zeitraum zwischen dem Ablauf der Frist für die Entrichtung der Steuer auf die Einkünfte bis zu dem Tag, an dem die gebietsfremde Gesellschaft den Nachweis dafür erbringt, dass die Voraussetzungen für die Anwendung des Doppelbesteuerungsabkommens erfüllt sind, zur Zahlung nicht erstattungsfähiger Ver-

zugszinsen verpflichtet ist, obwohl nach diesem Abkommen von der gebietsfremden Gesellschaft im ersten Mitgliedstaat keine Steuer oder ein niedrigerer Steuerbetrag geschuldet wird, als dies nach dem Steuerrecht dieses Mitgliedstaats normalerweise der Fall wäre.

Zum Bestehen einer Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs 44. Nach ständiger Rechtsprechung müssen die Mitgliedstaaten ihre Befugnisse im Bereich der direkten Steuern unter Wahrung des Unionsrechts und insbesondere der vom AEU-Vertrag gewährleisteten Grundfreiheiten ausüben (Urteile vom 23. Februar 2016, Kommission/Ungarn, C-179/14, EU:C:2016:108, RN 171, und vom 2. März 2017, Eschenbrenner, C-496/15, EU:C:2017:152, RN 45). 45. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art 56 AEUV der Anwendung jeder nationalen Regelung entgegensteht, die die Leistung von Diensten zwischen Mitgliedstaaten im Ergebnis gegenüber der Leistung von Diensten im Inneren eines Mitgliedstaats erschwert. Art 56 AEUV verlangt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Aufhebung aller Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs, die darauf beruhen, dass der Dienstleistungserbringer in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen niedergelassen ist, in dem die Leistung erbracht wird (vgl ua Urteil vom 18. Oktober 2012, X, C-498/10, EU:C:2012:635, RN 20 und 21 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 46. Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs sind solche nationalen Maßnahmen, die die Ausübung dieser Freiheit verbieten, behindern oder weniger attraktiv machen (Urteile vom 4. Dezember 2008, Jobra, C-330/07, EU:C:2008:685, RN 19, sowie vom 18. Januar 2018, Wind 1014 und Daell, C-249/15, EU:C:2018:21, RN 21). 47. Im vorliegenden Fall unterliegen zum einen nach Art 195 Abs 1 ZKPO die von ausländischen juristischen Personen erzielten Einkünfte inländischen Ursprungs, soweit sie nicht über eine feste Niederlassung im bulgarischen Hoheitsgebiet vereinnahmt worden sind, einer Quellensteuer, mit deren Entrichtung die Steuerschuld endgültig abgegolten ist. Zum anderen muss nach Art 175 Abs 2 Nr 3 DOPK eine gebietsansässige Gesellschaft, von der eine gebietsfremde Person Einkünfte bezieht, auf die gesamte, grundsätzlich an der Quelle einzubehaltende Steuer der gebietsfremden Person, wenn sie nicht entrichtet wurde, Verzugszinsen zahlen, und zwar ab dem Ablauf der nach bulgarischem Recht für die Entrichtung dieser Steuer geltenden Frist bis zu dem Tag, an dem die gebietsfremde Person nachweist, dass die Voraussetzungen für die Anwendung des zwischen der Republik Bulgarien und dem Mitgliedstaat der Niederlassung dieser Person geschlossenen Doppelbesteuerungsabkommens erfüllt sind, und zwar auch dann, wenn diese Person nach dem Doppelbesteuerungsabkommen in Bulgarien keine Steuer oder einen niedrigeren Steuerbetrag schuldet, als dies nach dem bulgarischen Steuerrecht normalerweise der Fall wäre. 48. Aus der Vorlageentscheidung sowie aus den Erklärungen der bulgarischen Regierung in der mündlichen Verhandlung geht oestz.lexisnexis.at

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hervor, dass diese Verzugszinsen nur im Fall grenzüberschreitender Umsätze zu zahlen sind und dass sie nicht erstattet werden können. 49. Im bulgarischen Recht wird also bei der Behandlung gebietsansässiger Gesellschaften, die als Gegenleistung für eine Dienstleistung wie, im vorliegenden Fall, die Vermietung von Kesselwaggons Zahlungen leisten, danach unterschieden, ob es sich bei der Gesellschaft, die die Einkünfte vereinnahmt, um eine in Bulgarien oder eine in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassene Gesellschaft handelt. Ein grenzüberschreitender Sachverhalt, bei dem eine gebietsansässige Gesellschaft vom freien Dienstleistungsverkehr nach Art 56 AEUV Gebrauch macht, erfährt also eine weniger günstige Behandlung als ein inländischer Sachverhalt. 50. Eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende ist geeignet, gebietsansässige Gesellschaften davon abzuhalten, Vermietungsleistungen von in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Gesellschaften in Anspruch zu nehmen, und kann folglich ein Hindernis für den freien Dienstleistungsverkehr darstellen. 51. Aufgrund der vorstehenden Erwägungen ist festzustellen, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende eine nach Art 56 AEUV grundsätzlich verbotene Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs darstellt. Daher ist zu prüfen, ob eine solche Beschränkung objektiv gerechtfertigt sein kann.

Zur möglichen Rechtfertigung der Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs 52. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs nur zulässig, wenn mit ihr ein berechtigtes und mit dem AEU-Vertrag zu vereinbarendes Ziel verfolgt wird und wenn sie durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist, soweit sie in einem solchen Fall geeignet ist, die Erreichung des verfolgten Ziels zu gewährleisten, und nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (Urteile vom 18. Dezember 2007, Laval un Partneri, C-341/05, EU:C:2007:809, RN 101, vom 4. Dezember 2008, Jobra, C-330/07, EU:C:2008:685, RN 27, und vom 26 Mai 2016, NN [L] International, C-48/15, EU:C:2016:356, RN 58). 53. In diesem Zusammenhang machen die bulgarische Regierung und die im Ausgangsverfahren beklagte Verwaltung geltend, dass die sich aus Art 175 Abs 2 Nr 3 DOPK ergebende Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs gerechtfertigt sei. Die bulgarische Regierung beruft sich auf die Notwendigkeit, die Beitreibung der Steuer zu gewährleisten, und die Notwendigkeit, die Wirksamkeit der Steuerkontrollen sicherzustellen, was zwingende Gründe des Allgemeininteresses seien, durch die eine Beschränkung der Ausübung der vom Vertrag gewährleisteten Grundfreiheiten gerechtfertigt sein könne (vgl ua Urteile vom 30. Juni 2011, Meilicke ua, C-262/09, EU:C:2011:438, RN 41, vom 9. Oktober 2014, van Caster, C-326/12, EU:C:2014:2269, RN 46 und oestz.lexisnexis.at

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die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 26. Mai 2016, NN [L] International, C-48/15, EU:C:2016:356, RN 59). 54. In diesem Zusammenhang haben die bulgarische Regierung und die im Ausgangsverfahren beklagte Verwaltung an die Ziele und Aufgaben der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung erinnert. Nach dem Wortlaut des Art 202 Abs 2 ZKPO habe die gebietsansässige Gesellschaft, die nach Art 195 ZKPO einer Quellensteuer unterliegende Zahlungen leistet, die geschuldete Steuer binnen drei Monaten ab Beginn des Monats abzuführen, der auf den Monat folge, in dem die Zahlung geleistet wurde, sofern es sich beim Empfänger dieser Zahlungen um eine Person handele, die in einem Mitgliedstaat ansässig sei, der mit der Republik Bulgarien ein Doppelbesteuerungsabkommen geschlossen habe. Nach Ablauf dieser Frist befinde sich die Gesellschaft, die die Zahlung geleistet habe und die Quellensteuer nicht einbehalte und abführe, in Zahlungsverzug. Nach Art 203 ZKPO hafte diese Gesellschaft dann auch gesamtschuldnerisch für die Zahlung der Quellensteuer. Bis zum Nachweis der Anwendbarkeit des Doppelbesteuerungsabkommens gelte die Steuer nach bulgarischem Recht als geschuldet. 55. Nach Auffassung der im Ausgangsverfahren beklagten Verwaltung hat die gebietsansässige Gesellschaft, wenn sie die geschuldete Steuer nicht fristgerecht abführe, Zinsen im Sinne von Art 175 Abs 2 Nr 3 DOPK zu zahlen. Diese Zinsen seien unabhängig davon zu zahlen, dass die Einkünfte nach dem betreffenden Doppelbesteuerungsabkommen in Bulgarien nicht der Steuer unterlägen. Mit der Zinszahlung werde geahndet, dass der Nachweis für die Anwendbarkeit des Doppelbesteuerungsabkommens, das die Anwendung des bulgarischen Rechts ausschließe, nicht rechtzeitig erbracht worden sei. 56. Nach Ansicht der bulgarischen Regierung ermöglicht eine Bestimmung wie Art 175 Abs 2 Nr 3 DOPK die Erreichung des mit dem nationalen Recht verfolgten Ziels, die Steuern fristgerecht von den Steuerpflichtigen einzuziehen, und beeinträchtige dabei nicht die Ziele und Grundsätze des Unionsrechts. Durch diese Vorschrift solle die Steuerbehörde Planungssicherheit bekommen und im Voraus wissen, mit welchen Einnahmen aus der Körperschaftsteuer zu rechnen sei, um so eine wirksame Erhebung der Steuern zu gewährleisten. Außerdem stelle Art 175 Abs 2 Nr 3 DOPK für die Steuerpflichtigen einen Anreiz dar, fristgerecht nachzuweisen, dass die Voraussetzungen für die Anwendung des betreffenden Doppelbesteuerungsabkommens erfüllt seien, wenn nach diesem Abkommen keine Steuer oder ein niedrigerer Steuerbetrag geschuldet würden, als dies nach dem bulgarischen Steuerrecht normalerweise der Fall wäre. 57. Was die zur Rechtfertigung der Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs vorgebrachten Gründe anbelangt, hat der Gerichtshof, wie in RN 53 des vorliegenden Urteils dargelegt, bereits entschieden, dass die Notwendigkeit, die Beitreibung der Steuer zu gewährleisten und die Wirksamkeit der Steuerkontrollen sicherzustellen, zwingende Gründe des Allgemeininteresses sein können, die geeignet sind, eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs zu rechtfertigen. Außerdem hat der Gerichtshof entschieden, dass die Verhängung von Sanktionen ein-


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schließlich solcher strafrechtlicher Art als erforderlich anzusehen sein kann, um die wirksame Einhaltung einer nationalen Regelung zu gewährleisten, allerdings unter der Voraussetzung, dass Art und Höhe der verhängten Sanktion gemessen an der Schwere der mit ihr geahndeten Zuwiderhandlung in jedem Einzelfall verhältnismäßig sind (vgl in diesem Sinne Urteil vom 26. Mai 2016, NN [L] International, C-48/15, EU:C:2016:356, RN 59 und die dort angeführte Rechtsprechung). 58. Im vorliegenden Fall scheint die Notwendigkeit, bei grenzüberschreitenden Sachverhalten wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden die Beitreibung der Quellensteuer zu gewährleisten und die Wirksamkeit der Steuerkontrollen sicherzustellen, es zu rechtfertigen, dass gegen die Gesellschaften, die Steuern nicht fristgerecht abführen und die Belege dafür, dass sie sich auf eine Befreiung von der Pflicht zur Zahlung der Quellensteuer berufen können, verspätet vorlegen, Sanktionen verhängt werden. 59. Eine nationale Regelung, die eine Sanktion in Form von nicht erstattungsfähigen Zinsen vorsieht, die anhand des Betrags der nach dem nationalen Recht geschuldeten Quellensteuer berechnet werden und für den Zeitraum ab Eintritt der Fälligkeit bis zu dem Tag anfallen, an dem den Steuerbehörden die Belege dafür vorgelegt werden, dass das Doppelbesteuerungsabkommen Anwendung findet, ist nicht geeignet, die Erreichung der in der vorstehenden Randnummer genannten Ziele in dem Fall zu gewährleisten, in dem feststeht, dass die Steuer nach dem betreffenden Abkommen nicht geschuldet wird. In einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden besteht kein Zusammenhang zwischen dem Betrag der verlangten Zinsen auf der einen Seite, und dem Betrag der geschuldeten Steuer, den es nicht gibt, oder dem Ausmaß der Verspätung, mit der die Belege den Steuerbehörden vorgelegt werden, auf der anderen Seite. 60. Außerdem geht eine solche Sanktion über das hinaus, was zur Erreichung dieser Ziele erforderlich ist, da sich die Höhe der anfallenden Zinsen im Verhältnis zum geschuldeten Steuerbetrag als übermäßig erweisen könnte und keine Möglichkeit einer Erstattung der Zinsen besteht. 61. Wie die Kommission ausgeführt hat, wäre der Betrag der für die rückständige Entrichtung der Steuer verlangten Zinsen nämlich unabhängig davon derselbe, ob die Steuer letztlich nicht fällig ist oder ob die Quellensteuer fällig ist, aber nicht rechtzeitig abgeführt wurde. In der letztgenannten Fallgestaltung, die sich von der im Ausgangsverfahren unterscheidet, entgehen der bulgarischen Staatskasse in der Zeit, in der die Steuer nicht abgeführt wird, Einnahmen. Dagegen wird im Ausgangsverfahren lediglich die verspätete Vorlage von Nachweisen sanktioniert. 62. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass es andere Möglichkeiten gibt, um dieselben Ziele zu erreichen. So könnte die Rückzahlung der wegen des Zahlungsverzugs entrichteten Zinsen an die gebietsansässige Gesellschaft in dem Fall vorgesehen werden, dass die Steuerschuld neu berechnet und dabei festgestellt wird, dass in Bulgarien im Rahmen der an die gebietsfremde Gesellschaft geleisteten Zahlungen keine Steuer anfällt. 63. Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art 56 AEUV dahin auszulegen ist, dass er der Regelung eines Mit-

gliedstaats wie der im Ausgangsverfahren fraglichen, in deren Rahmen Zahlungen einer gebietsansässigen Gesellschaft an eine in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Gesellschaft, die bei dieser Einkünfte darstellen, grundsätzlich, sofern in dem zwischen diesen beiden Mitgliedstaaten geschlossenen Doppelbesteuerungsabkommen nichts anderes bestimmt ist, einer Quellensteuer unterliegen, entgegenstehen, wenn nach dieser Regelung die gebietsansässige Gesellschaft, die die Quellensteuer nicht einbehält oder nicht an die Steuerbehörde des ersten Mitgliedstaats abführt, für den Zeitraum zwischen dem Ablauf der Frist für die Entrichtung der Steuer auf die Einkünfte bis zu dem Tag, an dem die gebietsfremde Gesellschaft den Nachweis dafür erbringt, dass die Voraussetzungen für die Anwendung des Doppelbesteuerungsabkommens erfüllt sind, zur Zahlung nicht erstattungsfähiger Verzugszinsen verpflichtet ist, obwohl nach diesem Abkommen von der gebietsfremden Gesellschaft im ersten Mitgliedstaat keine Steuer oder ein niedrigerer Steuerbetrag geschuldet wird, als dies nach dem Steuerrecht dieses Mitgliedstaats normalerweise der Fall wäre.

Zahlungen für den Erwerb von „Guthabenpunkten“ für die Teilnahme an einer Online-Auktion stellen ein Entgelt für die Teilnahme dar » ÖStZB 2020/12

Mehrwertsteuer Mehrwertsteuerrichtlinie: Art 2 Abs 1, Art 14, Art 24, Art 62, Art 63, Art 65 und Art 73 sowie von Art 79 Buchst b UStG 1994: § 3 und § 4 EuGH 5.7.2018, C-544/16, Marcandi Ltd, handelnd unter der Firma Madbid gegen Commissioners for Her Majesty’s Revenue & Customs ECLI:EU:C:2018:540

Im Ausgangsverfahren ermöglichen ausschließlich „Guthabenpunkte“ im Rahmen von Online-Auktionen der Madbid mitzubieten. Diese „Guthabenpunkte“ eignen sich nicht als Zahlungsart für den Erwerb er im Online-Shop veräußerten Artikeln. Diese „Guthabenpunkte“ stellen daher ab ihrem Erwerb ein Entgelt für die den Nutzern gewährte Möglichkeit des Kaufs von Gegenständen zu unter ihrem Marktwert liegenden Preisen dar. Da die für die Teilnahme an einer Aktion eingelösten „Guthabenpunkte“ nicht auf den am Ende einer Auktion festgelegten Kaufpreis angerechnet werden, kann ihre Ausgabe nicht als „Zwischenschritt“ zur Lieferung eines Gegenstands eingestuft werden. Infolgedessen stellt die von Madbid für die von ihr ausgegebenen „Guthabenpunkte“ erhaltene Zahlung die tatsächliche Gegenleistung für die Leistung dar, die in der Gewährung der Berechtigung zur Teilnahme an oestz.lexisnexis.at

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den von ihr veranstalteten Auktionen besteht und sich von der Lieferung eines auf ihrer Website erworbenen Gegenstands unterscheidet. Die Ausgabe von „Gutscheinpunkten“ und die Lieferung von Gegenständigen können nicht als einheitlicher Umsatz und auch nicht als Nebenleistung im jeweiligen Verhältnis zueinander angesehen werden. Der Wert der für die Abgabe von Geboten eingelösten „Guthabenpunkte“ ist auch nicht in der Gegenleistung enthalten, die der Steuerpflichtige als Entgelt für die Lieferungen von Gegenständen erhält, die er für die Nutzer, die bei einer von ihm veranstalteten Auktion den Zuschlag erhalten haben oder die ihren Kauf mittels der „Buy-Now“- oder der „Earned-Discount“-Funktion getätigt haben, bewirkt.

Sachverhalt Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art 2 Abs 1, der Art 14, 24, 62, 63, 65 und 73 sowie von Art 79 Buchst b der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl 2006, L 347, S 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie). Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Marcandi Ltd, handelnd unter der Firma Madbid, und den Commissioners for Her Majesty’s Revenue and Customs (Steuer- und Zollverwaltung, Vereinigtes Königreich, im Folgenden: Steuerverwaltung) über die Mehrwertsteuerregelung, die auf den Verkauf von „Guthabenpunkten“ für die Teilnahme an Online-Auktionen zur Anwendung kommt.

Ausgangsverfahren Marcandi ist eine Gesellschaft mit Sitz im Vereinigten Königreich, die unter der Firma Madbid einen Online-Handel betreibt (im Folgenden: Madbid). Beim Großteil der von Madbid verkauften Artikel handelt es sich um sogenannte „Hightech“-Produkte wie Mobiltelefone, Tablets, Computer und Fernsehgeräte. Madbid vertreibt gelegentlich höherwertige Artikel wie ua Auto. 12. Auf der Website von Madbid können ihre Nutzer von ihr vertriebene Artikel entweder zu einem bestimmten Preis im Online-Shop oder im Rahmen von Internetauktionen erwerben. Während des für den Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens maßgeblichen Zeitraums war Madbid im Vereinigten Königreich sowie in mehreren anderen Mitgliedstaaten, ua in Deutschland, als mehrwertsteuerpflichtig registriert. Nach der Klausel 1.2 ihrer AGB „betreibt“ Madbid „eine Online-Auktionsplattform, die für die Bieter kostenpflichtig ist (Pay-to-Bid)“. Die Nutzer, die an den von Madbid veranstalteten Auktionen teilnehmen möchten, müssen bei ihr gegen Bezahlung „Guthabenpunkte“ („credits“) erwerben, die zur Abgabe eines Gebots erforderlich sind und zu keinen anderen Zwecken verwendet werden können. Insbesondere können diese „Guthabenpunkte“ nicht verwendet werden, um die im Online-Shop vertriebenen Artikel zu kaufen. Sie können auch nicht in Geld umgewandelt werden. Auf jeder Seite der Website von Madbid befindet sich eine Schaltfläche, über die der Nutzer auf oestz.lexisnexis.at

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eine Seite gelangen kann, auf der „Guthabenpunkte“ verkauft werden. Nach dem Erwerb werden sie auf dem Nutzerkonto gutgeschrieben. Jeder „Guthabenpunkt“ ist durch einen Code eindeutig identifizierbar und erhält einen Geldwert in Höhe des vom Nutzer gezahlten Betrags. Bisweilen erhalten Nutzer „Gratis-Guthabenpunkte“. Sie haben einen Wert von 0,00 GBP und ermöglichen den Nutzern lediglich die Teilnahme an den von Madbid veranstalteten Auktionen. Diese „Gratis-Guthabenpunkte“ verfallen nach 30 Tagen, während die bezahlten „Guthabenpunkte“ 180 Tage gültig sind. Jede Auktion beginnt damit, dass der Preis, zu dem ein Artikel aufgerufen wird, auf 0,00 GBP festgesetzt und die Uhr auf das für die Abgabe eines Gebots zugewiesene Zeitlimit, das im Allgemeinen eine Minute beträgt, eingestellt wird. Bei jeder Abgabe eines höheren Gebots beginnt die Uhr wieder für dieselbe Zeitspanne zu laufen, die ursprünglich festgelegt worden war. Für jede Auktion ist eine bestimmte Zahl von „Guthabenpunkten“ (zwischen 1 und 8 Punkten) erforderlich, um Gebote abzugeben, und der Nutzer setzt seine „Guthabenpunkte“ in entsprechender Höhe durch Anklicken der „Bid“-Schaltfläche ein. Das in dieser Weise vom Nutzer abgegebene Gebot ist um 0,01 GBP höher als das vorherige Gebot und wird zum Höchstgebot für die betreffende Auktion. Der angezeigte Auktionspreis des Artikels erhöht sich ebenfalls um 0,01 GBP. Der Nutzer, der in einer Auktion den Zuschlag erhält, hat das Recht, den Artikel zum Zuschlagspreis, zuzüglich Versandkosten und Bearbeitungsgebühr, zu erwerben. Der Wert der bei dieser Auktion für die Abgabe von Geboten eingesetzten „Guthabenpunkte“ verfällt und wird daher nicht auf den Preis des Artikels, für den der Zuschlag erteilt wurde, angerechnet. Solange der Artikel nicht an den Nutzer versandt wurde, hat er das Recht, seine Bestellung zu annullieren. Gegebenenfalls wird ihm der Preis, zu dem er den Zuschlag erhielt, erstattet. Außerdem ermöglicht eine „Buy-Now“Funktion dem Nutzer, einen Artikel, der mit dem in der Auktion, an der er teilnimmt, versteigerten identisch ist, zu einem Preis zu kaufen, der sich im Laufe der Auktion um den Gegenwert der von ihm zur Abgabe von Geboten im Rahmen der Auktion eingesetzten „Guthabenpunkte“ vermindert. Der Nutzer, der einen Artikel mittels der „Buy-Now“-Funktion im Laufe einer Auktion erwirbt, kann in dieser Auktion kein Gebot mehr abgeben. Schließlich ermöglicht die „Earned-Discount“-Funktion es dem Nutzer, dem der Zuschlag nicht erteilt wurde und der auch nicht die „BuyNow“-Funktion genutzt hat, einen Rabatt zu erlangen, den er später beim Kauf eines im Online-Shop von Madbid erhältlichen Artikels einlösen kann. Ein „Earned Discount“, dessen Höhe dem Gegenwert der „Guthabenpunkte“ entspricht, die es dem Nutzer ermöglichen, im Rahmen der Auktion zu bieten, verfällt nach 365 Tagen. Annulliert der Nutzer, der mittels der „Earned-Discount“oder der „Buy-Now“-Funktion einen Kauf getätigt hat, seine Bestellung, wird ihm der Betrag erstattet, den er für die fraglichen Artikel gezahlt hat, nicht aber der Gegenwert der „Guthabenpunkte“, die auf den Endpreis, zu dem ihm die Artikel verkauft wurden, angerechnet wurden. Die Steuerverwaltung ging in einem Bescheid vom 9. Dezember 2013 davon aus, dass der von den Kunden von Madbid für


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„Guthabenpunkte“ gezahlte Betrag das Entgelt für eine im Vereinigten Königreich erbrachte Dienstleistung sei. Madbid erhob gegen diesen Bescheid Klage beim vorlegenden First-tier Tribunal (Tax Chamber) (Gericht erster Instanz [Steuerkammer], Vereinigtes Königreich).

Urteil 1. Art 2 Abs 1 Buchst c der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass die Ausgabe von „Guthabenpunkten“ wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die es den Kunden eines Wirtschaftsteilnehmers ermöglichen, in den von ihm veranstalteten Auktionen Gebote abzugeben, eine Dienstleistung gegen Entgelt darstellt, deren Gegenleistung der für die „Guthabenpunkte“ gezahlte Betrag ist. 2. Art 73 der Richtlinie 2006/112 ist dahin auszulegen, dass unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens der Wert der für die Abgabe von Geboten eingelösten „Guthabenpunkte“ nicht in der Gegenleistung enthalten ist, die der Steuerpflichtige als Entgelt für die Lieferungen von Gegenständen erhält, die er für die Nutzer, die bei einer von ihm veranstalteten Auktion den Zuschlag erhalten haben oder die ihren Kauf mittels der „BuyNow“- oder der „Earned-Discount“-Funktion getätigt haben, bewirkt. 3. Stellen die Gerichte eines Mitgliedstaats bei der Auslegung der einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts und des nationalen Rechts fest, dass ein und derselbe Umsatz in einem anderen Mitgliedstaat mehrwertsteuerrechtlich anders behandelt wird, sind sie in Abhängigkeit davon, ob ihre Entscheidungen selbst noch mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können oder nicht, berechtigt oder gar verpflichtet, den Gerichtshof der Europäischen Union um Vorabentscheidung zu ersuchen.

Begründung Zur ersten Frage 26. Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Ausgabe von „Guthabenpunkten“ wie den im Ausgangsverfahren fraglichen gegen Bezahlung eine „Erbringung von Dienstleistungen gegen Entgelt“ im Sinne von Art 2 Abs 1 Buchst c der Mehrwertsteuerrichtlinie ist oder ob sie als „Zwischenschritt“ zur Lieferung von Gegenständen im Sinne des Urteils vom 16. Dezember 2010, MacDonald Resorts (C-270/09, EU:C:2010:780, RN 24), anzusehen ist. 27. Es ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof in diesem Urteil entschieden hat, dass der Erwerb von als „Punkte-Rechte“ bezeichneten vertraglichen Rechten, mit denen man Punkte erhalten kann, die ua in das Recht zur vorübergehenden Nutzung einer Wohnung in den Ferienanlagen des Dienstleisters umgewandelt werden können, kein mehrwertsteuerpflichtiger Umsatz, sondern ein Zwischenschritt sei, der getätigt wurde, um ein

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Recht auf vorübergehende Nutzung einer Wohnanlage, auf Gewährung von Unterkunft in einem Hotel oder auf eine andere Dienstleistung in Anspruch nehmen zu können. Der Gerichtshof ging nämlich davon aus, dass der Kauf von „Punkte-Rechten“ für den Kunden kein eigenständiges Ziel darstelle, da der Kunde den Ausgangsvertrag nicht in der Absicht schließe, Punkte zu sammeln, sondern im Hinblick auf die vorübergehende Nutzung einer Wohnanlage oder den Erhalt anderer, später auszuwählender Dienstleistungen (Urteil vom 16. Dezember 2010, MacDonald Resorts, C-270/09, EU:C:2010:780, RN 24 und 32). 28. Er folgerte daraus, dass die tatsächliche Leistung, derentwegen die „Punkte-Rechte“ erworben würden, die Dienstleistung sei, die darin bestehe, den Teilnehmern dieses Programms die verschiedenen möglichen Gegenleistungen zur Verfügung zu stellen, die sie aufgrund der sich aus diesen Rechten ergebenden Punkte erhalten könnten (Urteil vom 16. Dezember 2010, MacDonald Resorts, C-270/09, EU:C:2010:780, RN 27). 29. Im Ausgangsverfahren ist unstreitig, dass die „Guthabenpunkte“ es ausschließlich ermöglichen, im Rahmen der OnlineAuktionen von Madbid mitzubieten. Folglich erwirbt ein Nutzer „Guthabenpunkte“ zwangsläufig in der Absicht, an den Auktionen teilzunehmen. 30. An dieser Dienstleistung haben die Nutzer ein vom Erwerb von Artikeln im Online-Shop von Madbid gesondertes Interesse (vgl in diesem Sinne Urteil vom 2. Dezember 2010, Everything Everywhere, C-276/09, EU:C:2010:730, RN 27). Wie nämlich der Generalanwalt in Nr 39 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, erhalten die Nutzer durch die Teilnahme an Madbid-Auktionen die Chance, Gegenstände zu einem unter ihrem Marktwert liegenden Preis zu erwerben. 31. Da jedoch die von Madbid ausgegebenen „Guthabenpunkte“ nicht als Zahlungsart für den Erwerb von in ihrem Online-Shop veräußerten Artikeln dienen können, da diese „Guthabenpunkte“, wie RN 30 des vorliegenden Urteils zu entnehmen ist, ab ihrem Erwerb als Entgelt für die den Nutzern gewährte Möglichkeit des Kaufs von Gegenständen zu unter ihrem Marktwert liegenden Preisen angesehen werden und da die für die Teilnahme an einer Aktion eingelösten „Guthabenpunkte“ nicht auf den am Ende einer Auktion festgelegten Kaufpreis angerechnet werden, kann ihre Ausgabe nicht als „Zwischenschritt“ zur Lieferung eines Gegenstands im Sinne von RN 24 des Urteils vom 16. Dezember 2010, MacDonald Resorts (C-270/09, EU:C:2010:780), eingestuft werden. 32. Folglich stellt das den Nutzern, die diese „Guthabenpunkte“ erworben haben, zuerkannte Recht, an den Auktionen von Madbid teilzunehmen, für sich genommen eine vollständige Dienstleistung dar, die nicht mit der nach den Auktionen gegebenenfalls erfolgenden Lieferung von Gegenständen verwechselt werden darf. 33. Diese Schlussfolgerung drängt sich umso mehr auf, wenn der Einlöser von „Guthabenpunkten“ einen Gegenstand erwirbt, indem er die „Buy-Now“- oder die „Earned-Discount“-Option nutzt, da, wenn er die Dienstleistung, die ihm die erworbenen „Guthabenpunkte“ ermöglichen, in Anspruch genommen hat, oestz.lexisnexis.at

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der durch die Nutzung dieser Optionen getätigte Kauf einen Umsatz darstellt, der von der als Gegenleistung für den Erwerb von „Guthabenpunkten“ erbrachten Dienstleistung unabhängig ist. 34. Madbid macht jedoch geltend, dass auch dann, wenn die Ausgabe von „Guthabenpunkten“ als Dienstleistung anzusehen sein sollte, diese nicht gegen Entgelt erbracht werde. 35. Insoweit ist zu beachten, dass nach Art 2 Abs 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt erbringt, der Mehrwertsteuer unterliegen. 36. Nach ständiger Rechtsprechung wird eine Dienstleistung nur dann im Sinne dieser Bestimmung „gegen Entgelt“ erbracht, wenn zwischen dem Leistenden und dem Leistungsempfänger ein Rechtsverhältnis besteht, in dessen Rahmen gegenseitige Leistungen ausgetauscht werden, wobei die vom Leistenden empfangene Vergütung den tatsächlichen Gegenwert für die dem Leistungsempfänger erbrachte Dienstleistung bildet (Urteile vom 16. Dezember 2010, MacDonald Resorts, C-270/09, EU:C:2010:780, RN 16 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 20. Juni 2013, Newey, C-653/11, EU:C:2013:409, RN 40). 37. Der Gerichtshof hat entschieden, dass dies der Fall ist, wenn es zwischen der erbrachten Leistung und dem erhaltenen Entgelt einen unmittelbaren Zusammenhang gibt, wobei die gezahlten Beträge die tatsächliche Gegenleistung für eine bestimmbare Leistung darstellen, die im Rahmen eines solchen Rechtsverhältnisses erbracht wurde (Urteile vom 3. März 1994, Tolsma, C-16/93, EU:C:1994:80, RN 13 und 14, vom 16. Dezember 2010, Macdonald Resorts, C-270/09, EU:C:2010:780, RN 16 und 26, sowie vom 10. November 2016, Baštová, C-432/15, EU:C:2016:855, RN 28). 38. Im Ausgangsverfahren ist der Klausel 1.2 der AGB von Madbid zu entnehmen, dass diese „eine Online-Auktionsplattform betreibt, die für die Bieter kostenpflichtig ist“. 39. Die Nutzer, die an den Auktionen von Madbid teilnehmen möchten, müssen nämlich bei ihr gegen Bezahlung „Guthabenpunkte“ erwerben. Diese „Guthabenpunkte“ sind für die Abgabe von Geboten erforderlich und können keinen anderen Zwecken dienen. Die Zahl der „Guthabenpunkte“, die für die Abgabe von Geboten erforderlich ist, variiert je nach Auktion. Wenn ein Nutzer ein Gebot abgibt, werden seine „Guthabenpunkte“ in Höhe dieser Zahl verbraucht und der Preis des versteigerten Gegenstands erhöht sich um 0,01 GBP. Der Nutzer, der in einer Auktion den Zuschlag erhält, hat das Recht, den Gegenstand zum Zuschlagspreis, zuzüglich Versandkosten und Bearbeitungsgebühr, zu erwerben. Der Wert der für die Abgabe von Geboten im Laufe der Auktion eingelösten „Guthabenpunkte“ ist jedoch erschöpft. Schließlich wird dem Nutzer, der bei der Auktion den Zuschlag erhalten hat, den versteigerten Gegenstand kauft und dann seinen Kauf annulliert, nur der Zuschlagspreis für diesen Gegenstand erstattet, nicht aber der Wert der für die Abgabe von Geboten eingelösten „Guthabenpunkte“. 40. Dies deutet darauf hin, dass die Zahlung, die Madbid für die von ihr ausgegebenen „Guthabenpunkte“ erhält, die tatsächliche Gegenleistung für die Dienstleistung darstellt, die sie ihren oestz.lexisnexis.at

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Nutzern erbringt und die in der Gewährung der Berechtigung zur Teilnahme an den von ihr veranstalteten Auktionen besteht. 41. An dieser Schlussfolgerung ändert sich nichts dadurch, dass bei den Nutzern, die in der Auktion nicht den Zuschlag erhalten, aufgrund der „Earned-Discount“-Funktion der Gegenwert ihrer „Guthabenpunkte“ in einen Rabatt umgewandelt wird, der später beim Kauf eines im Online-Shop von Madbid erhältlichen Artikels geltend gemacht werden kann. 42. Ebenso wenig wirkt sich insoweit aus, dass der Nutzer, der die Schaltfläche „Buy-Now“-Button angeklickt hat, die Möglichkeit hat, einen mit dem Artikel, der in der Auktion versteigert wird, identischen Artikel zu einem Preis zu erwerben, der um den Gegenwert der von ihm zur Abgabe von Geboten im Rahmen der betreffenden Auktion eingesetzten „Guthabenpunkte“ vermindert ist. 43. Zum einen kann nämlich nur der Wert der zuvor für die Abgabe von Geboten eingelösten „Guthabenpunkte“ auf den Preis der über die „Buy-Now“- und die „Earned-Discount“-Funktion erworbenen Gegenstände angerechnet werden. 44. Zum anderen wird dem Nutzer, der sich für die Annullierung eines über die „Buy-Now“- oder die „Earned-Discount“Funktion getätigten Kaufs entscheidet, nur der Preis nach Abzug des Rabatts zuzüglich Lieferkosten ersetzt, nicht aber der Gegenwert der „Guthabenpunkte“, die bei der Berechnung des von ihm für die Gegenstände gezahlten Preises berücksichtigt wurden. 45. Daher entspricht das Vorbringen von Madbid, die Ausgabe von „Guthabenpunkten“ bedeute für den Nutzer das Recht, Gegenstände in Höhe des Gegenwerts dieser „Guthabenpunkte“ zu kaufen, nicht der wirtschaftlichen und geschäftlichen Realität, die ein grundlegendes Kriterium für die Anwendung des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems darstellt (Urteil vom 20. Juni 2013, Newey, C-653/11, EU:C:2013:409, RN 42 und die dort angeführte Rechtsprechung). 46. Infolgedessen stellt die von Madbid für die von ihr ausgegebenen „Guthabenpunkte“ erhaltene Zahlung die tatsächliche Gegenleistung für die Leistung dar, die in der Gewährung der Berechtigung zur Teilnahme an den von ihr veranstalteten Auktionen besteht und sich von der Lieferung eines auf ihrer Website erworbenen Gegenstands unterscheidet. 47. Insoweit ist klarzustellen, dass im Ausgangsverfahren die Nutzer beim Kauf von im Online-Shop von Madbid vertriebenen Gegenständen mit Kredit- oder Bankkarte zahlen können, d. h., ohne an den von Madbid veranstalteten Auktionen teilzunehmen. Zudem führt nicht jede Teilnahme an einer Auktion von Madbid zwangsläufig zu einer Lieferung von Gegenständen, sei es weil der Nutzer, der den Zuschlag erhalten hat, beschließt, den ihm zugesprochenen Gegenstand nicht zu kaufen, oder weil der Nutzer, der weder den Zuschlag erhalten noch von der „Buy-Now“-Funktion Gebrauch gemacht hat, einen Rabatt erhält, den er nicht sofort einlöst. 48. Daher können, wie der Generalanwalt in Nr 58 seiner Schlussanträge dargelegt hat, die Ausgabe von „Guthabenpunkten“ und die Lieferung von Gegenständen, soweit sie nicht eine einzige untrennbare wirtschaftliche Leistung darstellen, nicht als einheitlicher Umsatz angesehen werden. Aus denselben Grün-


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den und in Anbetracht des Grundsatzes, dass jeder Umsatz als vom anderen getrennt und unabhängig anzusehen ist, können die Ausgabe von „Guthabenpunkten“ und die Lieferung von Gegenständen auch nicht als Nebenleistung im jeweiligen Verhältnis zueinander eingestuft werden. 49. Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art 2 Abs 1 Buchst c der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass die Ausgabe von „Guthabenpunkten“ wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die es den Kunden eines Wirtschaftsteilnehmers ermöglichen, in den von ihm veranstalteten Auktionen Gebote abzugeben, eine Dienstleistung gegen Entgelt darstellt, deren Gegenleistung der für die „Guthabenpunkte“ gezahlte Betrag ist.

Zur zweiten Frage 50. Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht in Erfahrung bringen, ob Art 73 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass der Wert der für die Abgabe von Geboten eingelösten „Guthabenpunkte“ in der Gegenleistung enthalten ist, die der Steuerpflichtige als Entgelt für die Lieferungen von Gegenständen erhält, die er für die Nutzer, die bei einer von ihm veranstalteten Auktion den Zuschlag erhalten haben oder die mittels der „Buy-Now“- oder der „Earned-Discount“-Funktion einen Gegenstand erworben haben, bewirkt. 51. Nach Art 73 der Mehrwertsteuerrichtlinie umfasst die Steuerbemessungsgrundlage bei der gegen Entgelt bewirkten Lieferung von Gegenständen und den gegen Entgelt erbrachten Dienstleistungen „alles, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Lieferer oder Dienstleistungserbringer für diese Umsätze vom Erwerber oder Dienstleistungsempfänger oder einem Dritten erhält oder erhalten soll“. 52. Insoweit ist vorweg darauf hinzuweisen, dass, wie sich aus der Antwort auf die erste Frage ergibt, die Zahlung, die ein Nutzer für die von Madbid ausgegebenen „Guthabenpunkte“ leistet, die Gegenleistung für die Gewährung der Berechtigung zur Teilnahme an den von ihr veranstalteten Auktionen darstellt. 53. Wie der Generalanwalt in Nr 79 seiner Schlussanträge hervorhebt, kann aber der als Entgelt für einen Umsatz gezahlte Betrag nicht die Gegenleistung für einen anderen Umsatz darstellen, und auch keine Anzahlung auf die Entrichtung der Gegenleistung für einen anderen Umsatz. 54. Folglich ist auf eine Frage des vorlegenden Gerichts darauf hinzuweisen, dass die Zahlung, die ein Nutzer für „Guthabenpunkte“ leistet, nicht als vor der Lieferung von Gegenständen geleistete Anzahlung im Sinne von Art 65 der Mehrwertsteuerrichtlinie eingestuft werden kann. 55. Zudem kann die Gegenleistung für die Lieferung eines Gegenstands, für den bei einer Auktion der Zuschlag erteilt wurde, nicht den Betrag enthalten, der für die Ausgabe von im Rahmen der Auktion eingelösten „Guthabenpunkten“ gezahlt wurde, sondern einzig und allein den Preis, zu dem für den Gegenstand der Zuschlag erteilt wurde, sowie Versandkosten und Bearbeitungsgebühren.

56. Schließlich kann dieser Betrag auch nicht in der Gegenleistung für die spätere Lieferung von Gegenständen enthalten sein, die mittels der „Buy-Now“- oder der „Earned-Discount“Funktion gekauft werden. 57. Wie der Generalanwalt in Nr 92 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist der Wert der für die Abgabe von Geboten verwendeten „Guthabenpunkte“, der auf den ursprünglichen „BuyNow“-Preis bzw auf den Preis im Online-Shop angerechnet wird, als Rabatt auf den Preis der über die „Buy-Now“- oder die „Earned-Discount“-Funktion erworbenen Gegenstände anzusehen. Daher ist der Wert dieser „Guthabenpunkte“ nach Art 79 Buchst b der Mehrwertsteuerrichtlinie nicht Teil der Steuerbemessungsgrundlage für die Lieferung der Gegenstände. 58. Das ist auch dann der Fall, wenn im Rahmen des Kaufs von Gegenständen mittels der „Buy-Now“- oder der „EarnedDiscount“-Funktion der Wert der für die Abgabe von Geboten verbrauchten „Guthabenpunkte“ den ursprünglichen, sich aus der Nutzung der „Buy-Now“- oder der „Earned-Discount“-Funktion ergebenden Preis vollständig abdeckt. 59. Wie nämlich der Generalanwalt in Nr 102 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, können die in einem solchen Fall erworbenen Gegenstände anders als in der Rechtssache, in der das Urteil vom 27. April 1999, Kuwait Petroleum (C-48/97, EU:C:1999:203), ergangen ist, nicht als unentgeltlich abgegeben gelten, da sie im Austausch gegen eine bestimmbare Gegenleistung, nämlich den ursprünglichen Preis, der sich aus der Nutzung der „Buy-Now“-Funktion ergibt, bzw den im Online-Shop ausgewiesenen Preis geliefert werden. 60. Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art 73 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens der Wert der für die Abgabe von Geboten eingelösten „Guthabenpunkte“ nicht in der Gegenleistung enthalten ist, die der Steuerpflichtige als Entgelt für die Lieferungen von Gegenständen erhält, die er für die Nutzer, die bei einer von ihm veranstalteten Auktion den Zuschlag erhalten haben oder die ihren Kauf mittels der „Buy-Now“- oder der „Earned-Discount“-Funktion getätigt haben, bewirkt.

Zur dritten Frage 61. Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob, wenn zwei Mitgliedstaaten ein und denselben Umsatz mehrwertsteuerrechtlich unterschiedlich behandeln, die Gerichte eines dieser Mitgliedstaaten bei der Auslegung der einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts und des nationalen Rechts verpflichtet sind, im Hinblick insbesondere auf den Grundsatz der steuerlichen Neutralität die Notwendigkeit einer Vermeidung von Doppelbesteuerung oder doppelter Nichtbesteuerung des Umsatzes zu berücksichtigen. 62. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass mit Art 267 AEUV ein Vorabentscheidungsmechanismus eingerichtet ist, der gerade unterschiedliche Auslegungen des von den nationalen Gerichten anzuwendenden Unionsrechts verhindern soll (vgl in diesem Sinne Urteil vom 21. Juli 2011, Kelly, C-104/10, EU:C:2011:506, RN 60 und die dort angeführte Rechtsprechung). oestz.lexisnexis.at

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63. Nach Art 267 AEUV sind die nationalen Gerichte zur Vorlage berechtigt und gegebenenfalls verpflichtet, je nachdem, ob ihre Entscheidungen selbst noch mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können oder nicht, wenn sie der Auffassung sind, dass eine bei ihnen anhängige Rechtssache Fragen der Auslegung der unionsrechtlichen Bestimmungen aufwirft, über die diese Gerichte im konkreten Fall entscheiden müssen (vgl in diesem Sinne Urteil vom 21. Juli 2011, Kelly, C-104/10, EU:C:2011:506, RN 61 und die dort angeführte Rechtsprechung). 64. Stellen die Gerichte eines Mitgliedstaats, die mit einem Rechtsstreit befasst sind, der Fragen nach der Auslegung unionsrechtlicher Bestimmungen aufwirft, über die sie zu entscheiden haben, daher fest, dass ein und derselbe Umsatz in einem anderen Mitgliedstaat steuerlich unterschiedlich behandelt wird, sind sie berechtigt oder gar verpflichtet, den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen. 65. Im Übrigen ist klarzustellen, dass, wenn es in einem oder mehreren anderen Mitgliedstaaten Betrachtungsweisen gibt, die sich von der in dem betreffenden Mitgliedstaat vorherrschenden unterscheiden, dies die Gerichte des letztgenannten Staates jedenfalls nicht dazu veranlassen kann, die Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie falsch auszulegen. 66. Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass die Gerichte eines Mitgliedstaats, wenn sie bei der Auslegung der einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts und des nationalen Rechts feststellen, dass ein und derselbe Umsatz in einem anderen Mitgliedstaat mehrwertsteuerrechtlich anders behandelt wird, in Abhängigkeit davon, ob ihre Entscheidungen selbst noch mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können oder nicht, berechtigt oder gar verpflichtet sind, den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen.

Vorsteuerberichtigung für Grundstückserwerb einer Einrichtung öffentlichen Rechts, wenn diese im Erwerbszeitpunkt als Steuerpflichtige handelte » ÖStZB 2020/13

Mehrwertsteuer Mehrwertsteuerrichtlinie: Art 167, Art 168 und Art 184 UStG 1994: § 2 Abs 3, § 12 und § 21 EuGH 25.7.2018, C-140/17, Szef Krajowej Administracji Skarbowej gegen Gmina Ryjewo ECLI:EU:C:2018:595

Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht bei der Lieferung des Gegenstandes. Dieser Grundsatz gilt grundsätzlich auch für Einrichtungen des öffentlichen Rechts, die ein oestz.lexisnexis.at

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Recht auf Berichtigung des Vorsteuerabzuges beanspruchen. Anders verhält es sich, wenn die Einrichtung öffentlichen Rechts kein Steuerpflichtiger ist. In diesem Fall besteht kein Recht zur Vorsteuerberichtigung im Zusammenhang mit diesem Gegenstand, auch wenn dieser später einer besteuerten Tätigkeit zugeordnet wird. Im Ausgangsverfahren hat die Gemeinde erst nach Lieferung des Gebäudes die Absicht erklärt, dieses zu wirtschaftlichen Zwecken vermieten zu wollen. Allerdings hat sie ein Gebäude als Investitionsgut erworben, welches der Art nach sowohl für besteuerte als auch für nicht besteuerte Tätigkeiten verwendet werden kann und besaß bereits die Eigenschaft eines Steuerpflichtigen. Es konnte daher nicht ausgeschlossen werden, dass dieser Gegenstand – auch ohne Absichtserklärung – für eine besteuerte Tätigkeit verwendet werden sollte. Dass der Gegenstand anfänglich für eine nicht besteuerte Tätigkeit verwendet wurde, steht dem nicht entgegen, wenn die öffentliche Einrichtung im Zeitpunkt des Erwerbs als Steuerpflichtige gehandelt hat. Eine Berichtigung der Vorsteuer ist daher in diesem Fall möglich.

Sachverhalt Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art 167, 168 und 184 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl 2006, L 347, S 1) sowie des Grundsatzes der Neutralität der Mehrwertsteuer. Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Szef Krajowej Administracji Skarbowej (Chef der nationalen Steuerverwaltung, Polen) und der Gmina Ryjewo (Gemeinde Ryjewo, Polen, im Folgenden: Gemeinde) wegen einer Entscheidung des Minister Finansów (Finanzminister, Polen, im Folgenden: Minister), mit der die Berichtigung des Vorsteuerabzugs für eine als Investitionsgut erworbene, zunächst für eine befreite und dann eine steuerpflichtige Tätigkeit verwendete Immobilie abgelehnt wurde.

Ausgangsverfahren Die Gemeinde ist seit 2005 als Mehrwertsteuerpflichtige registriert. In den Jahren 2009 und 2010 ließ die Gemeinde ein Kulturhaus bauen. Im Zusammenhang damit wurden ihr Waren geliefert und Dienstleistungen an sie erbracht, für die sie Mehrwertsteuer abführte. Nach Fertigstellung des Kulturhauses wurde es 2010 dem gemeindlichen Kulturzentrum unentgeltlich überlassen. 2014 äußerte die Gemeinde ihre Absicht, dieses Gebäude in ihr Eigentum zu überführen und es unmittelbar selbst zu verwalten. Anschließend wollte sie es sowohl unentgeltlich für die Gemeindebewohner nutzen als auch entgeltlich durch Vermietung zu kommerziellen Zwecken. Für diese entgeltliche Nutzung erklärte die Gemeinde ausdrücklich ihre Absicht, Rechnungen unter Ausweis der Mehrwertsteuer auszustellen. Bisher hat die Gemeinde die für die Bewirkung dieser Investition entrichtete Mehrwertsteuer noch nicht abgezogen.


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Der mit einem Ersuchen der Gemeinde auf Einzelfallauslegung befasste Minister befand in einer Entscheidung vom 28. Mai 2014, dass die Gemeinde kein Recht auf Berichtigung der Vorsteuer habe. Mit Urteil vom 18. November 2014 gab der Wojewódzki Sąd Administracyjny w Gdańsku (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Danzig, Polen) der Klage der Gemeinde gegen die Entscheidung des Ministers vom 28. Mai 2014 statt. Der mit einer Kassationsbeschwerde des Ministers befasste Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht, Polen) legte die Vorlagefragen zur Entscheidung an den EuGH vor.

Urteil Die Art 167, 168 und 184 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem sind dahin auszulegen, dass sie dem nicht entgegenstehen, dass eine Einrichtung des öffentlichen Rechts ein Recht auf Berichtigung der auf eine als Investitionsgut erworbene Immobilie entrichteten Vorsteuer in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden in Anspruch nimmt, in der beim Erwerb dieses Gegenstands dieser zum einen seiner Art nach sowohl für besteuerte als auch für nicht besteuerte Tätigkeiten verwendet werden konnte und zum anderen diese Einrichtung des öffentlichen Rechts ihre Absicht, diesen Gegenstand einer besteuerten Tätigkeit zuzuordnen, nicht ausdrücklich bekundet, aber auch nicht ausgeschlossen hatte, dass er zu einem solchen Zweck verwendet werde, sofern sich aus der Prüfung aller tatsächlichen Gegebenheiten, die vorzunehmen Sache des nationalen Gerichts ist, ergibt, dass die in Art 168 der Richtlinie 2006/112 aufgestellte Voraussetzung, wonach der Steuerpflichtige zum Zeitpunkt der Vornahme dieses Erwerbs in seiner Eigenschaft als Steuerpflichtiger gehandelt haben muss, erfüllt ist.

Begründung 27. Mit seinen drei Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art 167, 168 und 184 der Richtlinie 2006/112 sowie der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer dahin auszulegen sind, dass sie dem entgegenstehen, dass eine Einrichtung des öffentlichen Rechts berechtigt ist, im Wege der Berichtigung die auf eine als Investitionsgut erworbene Immobilie entrichtete Mehrwertsteuer in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens abzuziehen, in der dieses Investitionsgut bei seinem Erwerb zum einen nach seiner Art sowohl für besteuerte Tätigkeiten als auch für nicht besteuerte Tätigkeiten verwendet werden konnte, zunächst jedoch für nicht besteuerte Tätigkeiten genutzt wurde, und zum anderen diese Einrichtung des öffentlichen Rechts die Absicht, den fraglichen Gegenstand für eine besteuerte Tätigkeit zu nutzen, nicht ausdrücklich bekundet, aber auch nicht ausgeschlossen hatte, dass er für einen solchen Zweck genutzt werde. 28. Zur Beantwortung dieser Frage ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs das Recht der Steuerpflichtigen, von der von ihnen geschuldeten Mehr-

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wertsteuer die Mehrwertsteuer abzuziehen, die für die von ihnen auf einer vorausgehenden Umsatzstufe erworbenen Gegenstände und empfangenen Dienstleistungen als Vorsteuer geschuldet wird oder entrichtet wurde, ein Grundprinzip des durch das Unionsrecht geschaffenen gemeinsamen Mehrwertsteuersystems ist (vgl ua Urteil vom 21. März 2018, Volkswagen, C-533/16, EU:C:2018:204, RN 37). 29. Durch die Regelung über den Vorsteuerabzug soll der Steuerpflichtige vollständig von der im Rahmen seiner gesamten wirtschaftlichen Tätigkeit geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer entlastet werden. Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem gewährleistet somit die Neutralität hinsichtlich der steuerlichen Belastung aller wirtschaftlichen Tätigkeiten unabhängig von ihrem Zweck und ihrem Ergebnis, sofern diese Tätigkeiten selbst grundsätzlich der Mehrwertsteuer unterliegen (vgl in diesem Sinne Urteil vom 21. März 2018, Volkswagen, C-533/16, EU:C:2018:204, RN 38 und die dort angeführte Rechtsprechung). 30. Wie der Gerichtshof wiederholt hervorgehoben hat, ist das in den Art 167 ff. der Richtlinie 2006/112 geregelte Recht auf Vorsteuerabzug integraler Bestandteil des Mechanismus der Mehrwertsteuer und kann grundsätzlich nicht eingeschränkt werden. Insbesondere kann dieses Recht für die gesamte Steuerbelastung der vorausgehenden Umsatzstufen sofort ausgeübt werden (Urteil vom 21. März 2018, Volkswagen, C-533/16, EU:C:2018:204, RN 39 und die dort angeführte Rechtsprechung). 31. Art 187 der Richtlinie 2006/112 bezieht sich auf Fälle der Berichtigung der Vorsteuerabzüge wie die im Ausgangsverfahren, bei denen ein Investitionsgut, dessen Verwendung kein Abzugsrecht eröffnet, später einer Verwendung zugeordnet wird, die ein solches Recht eröffnet (Beschluss vom 5. Juni 2014, Gmina Międzyzdroje, C-500/13, EU:C:2014:1750, RN 23 und die dort angeführte Rechtsprechung). 32. Die Regelung für die Berichtigung der Abzüge ist ein wesentlicher Bestandteil des durch die Richtlinie 2006/112 eingeführten Systems, indem sie die Richtigkeit der Abzüge und damit die Neutralität der steuerlichen Belastung sichern soll (Beschluss vom 5. Juni 2014, Gmina Międzyzdroje, C-500/13, EU:C:2014:1750, RN 24 und die dort angeführte Rechtsprechung). 33. Das Recht auf Vorsteuerabzug unterliegt jedoch der Einhaltung sowohl materieller als auch formeller Anforderungen und Bedingungen (Urteil vom 21. März 2018, Volkswagen, C-533/16, EU:C:2018:204, RN 40 und die dort angeführte Rechtsprechung). 34. So ergibt sich hinsichtlich dieser materiellen Anforderungen und Bedingungen nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs aus Art 168 der Richtlinie 2006/112, dass nur eine Person, die die Eigenschaft eines Steuerpflichtigen besitzt und zum Zeitpunkt des Erwerbs eines Gegenstands als solcher handelt, berechtigt ist, die geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für diesen Gegenstand abzuziehen, wenn sie den Gegenstand für Zwecke ihrer besteuerten Umsätze verwendet (vgl in diesem Sinne Urteile vom 11. Juli 1991, Lennartz, C-97/90, EU:C:1991:315, RN 8, und vom 22. Oktober 2015, Sveda, C-126/14, EU:C:2015:712, RN 18 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). oestz.lexisnexis.at

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35. Nach den Art 63 und 167 der Richtlinie 2006/112 entsteht das Recht auf Vorsteuerabzug, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht, also bei der Lieferung des Gegenstands (Urteil vom 22. März 2012, Klub, C-153/11, EU:C:2012:163, RN 36 und die dort angeführte Rechtsprechung). 36. Diese Grundsätze finden auch auf eine Situation Anwendung, in der der Betroffene eine Einrichtung des öffentlichen Rechts ist, die ein Recht auf Berichtigung des Vorsteuerabzugs nach den Art 184 ff. der Richtlinie 2006/112 beansprucht (vgl in diesem Sinne Urteil vom 2. Juni 2005, Waterschap Zeeuws Vlaanderen, C-378/02, EU:C:2005:335, RN 39). 37. Handelt somit eine Einrichtung des öffentlichen Rechts wie im vorliegenden Fall die Gemeinde zum Zeitpunkt des Erwerbs des Investitionsguts im Rahmen der öffentlichen Gewalt im Sinne von Art 13 Abs 1 der Richtlinie 2006/112 und demnach nicht als Steuerpflichtiger, so hat sie grundsätzlich kein Recht auf Berichtigung des Vorsteuerabzugs im Zusammenhang mit diesem Gegenstand, auch wenn dieser später einer besteuerten Tätigkeit zugeordnet wird (vgl in diesem Sinne Urteil vom 2. Juni 2005, Waterschap Zeeuws Vlaanderen, C-378/02, EU:C:2005:335, RN 44). 38. Die Frage, ob ein Steuerpflichtiger zu dem Zeitpunkt, zu dem ihm ein Gegenstand geliefert wird, als Steuerpflichtiger gehandelt hat, dh für die Zwecke einer wirtschaftlichen Tätigkeit, ist nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs eine Tatsachenfrage, die unter Berücksichtigung aller Gegebenheiten des Sachverhalts, zu denen die Art des betreffenden Gegenstands und der zwischen seinem Erwerb und seiner Verwendung für Zwecke der wirtschaftlichen Tätigkeit des Steuerpflichtigen liegende Zeitraum gehören, zu beurteilen ist und deren Beurteilung Sache des vorlegenden Gerichts ist (vgl in diesem Sinne ua Urteile vom 11. Juli 1991, Lennartz, C-97/90, EU:C:1991:315, RN 21, und vom 22. Oktober 2015, Sveda, C-126/14, EU:C:2015:712, RN 21). 39. Mit dieser Beurteilung soll geprüft werden, ob der Steuerpflichtige die betreffenden Investitionsgüter in der durch objektive Anhaltspunkte belegten Absicht erworben oder hergestellt hat, eine wirtschaftliche Tätigkeit auszuüben, und daher als Steuerpflichtiger im Sinne von Art 9 Abs 1 der Richtlinie 2006/112 gehandelt hat (vgl in diesem Sinne Urteil vom 22. Oktober 2015, Sveda, C-126/14, EU:C:2015:712, RN 20). 40. Wenn im vorliegenden Fall die im Ausgangsverfahren anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften für als Investitionsgüter erworbene Immobilien einen Berichtigungszeitraum von fünf, ja sogar zehn Jahren ab Beginn der Nutzung des betreffenden Gegenstands vorsehen, so ergibt sich aus den Feststellungen des vorlegenden Gerichts, dass die Gemeinde den Antrag vier Jahre nach dem Beginn der Nutzung der Immobilie durch das gemeindliche Kulturzentrum, dem deren unentgeltliche Verwaltung übertragen wurde, stellte. 41. Außerdem und vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht steht fest, dass die Gemeinde im vorliegenden Fall beim Erwerb der fraglichen Immobilie als Investitionsgut unter den gleichen Bedingungen gehandelt hat wie eine Privatperson, die ein Gebäude errichten lassen möchte, ohne hierzu Vorrechte der öffentlichen Gewalt in Anspruch zu nehmen. Demoestz.lexisnexis.at

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nach hat nach Art 13 Abs 1 der Richtlinie 2006/112 und der diesbezüglichen Rechtsprechung die Gemeinde, als sie die betreffende Immobilie erwarb, nicht im Rahmen der öffentlichen Gewalt gehandelt. 42. Mithin unterscheidet sich die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Situation von der dem Urteil vom 2. Juni 2005, Waterschap Zeeuws Vlaanderen (C-378/02, EU:C:2005:335), zugrunde liegenden, in der die Einrichtung des öffentlichen Rechts das Investitionsgut im Sinne des angeführten Art 13 Abs 1 im Rahmen der öffentlichen Gewalt und folglich als Nichtsteuerpflichtiger erworben hatte. 43. Ein weiterer Gesichtspunkt, der die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Situation von der jenem Urteil zugrunde liegenden unterscheidet, besteht in dem Umstand, dass im vorliegenden Fall die Gemeinde beim Erwerb der als Investitionsgut erworbenen Immobilie im Jahr 2010 bereits seit 2005 als mehrwertsteuerpflichtig registriert war. 44. Des Weiteren unterscheidet sich die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Situation von der dem Urteil vom 30. März 2006, Uudenkaupungin kaupunki (C-184/04, EU:C:2006:214), zugrunde liegenden, in der feststand, dass die betroffene finnische Stadt beim Immobilienerwerb als Steuerpflichtige gehandelt hatte und diese Erwerbsgeschäfte für Zwecke einer wirtschaftlichen Tätigkeit, nämlich die Vermietung der Immobilien, die Gegenstand der Erwerbsgeschäfte waren, erfolgt waren. 45. Die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Situation unterscheidet sich auch von der, in der der Beschluss vom 5. Juni 2014, Gmina Międzyzdroje (C-500/13, EU:C:2014:1750), ergangen ist, da, wie aus RN 11 jenes Beschlusses hervorgeht, die betreffende polnische Gemeinde zum Zeitpunkt der Lieferung der fraglichen Immobilie als Steuerpflichtiger handelte und das vorlegende Gericht darauf hingewiesen hat, dass diese Gemeinde bereits während der Arbeiten zur Errichtung des Gebäudes ausdrücklich erklärt habe, das Gebäude an eine Gesellschaft des Handelsrechts verpachten zu wollen, die ihr dafür einen Pachtzins zahlen werde. 46. Dagegen hat im Ausgangsverfahren die Gemeinde erst nach der Lieferung des fraglichen Gebäudes ihre Absicht bekundet, es zu wirtschaftlichen Zwecken vermieten zu wollen. 47. Auch wenn eine eindeutige und ausdrückliche Bekundung der Absicht, den Gegenstand bei seinem Erwerb einer wirtschaftlichen Verwendung zuzuordnen, ausreichend sein kann, um den Schluss zu ziehen, dass der Gegenstand von dem als solchem handelnden Steuerpflichtigen erworben wurde, schließt doch das Fehlen einer solchen Erklärung nicht aus, dass diese Absicht implizit zum Ausdruck kommen kann. 48. Zwar bestand zum Zeitpunkt der Lieferung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Immobilie die einzige kundgetane Absicht der Gemeinde darin, sie als Kulturhaus einer öffentlichen Nutzung zuzuordnen. Auch wenn sich später diese Absicht dahin konkretisierte, dass dieser Gegenstand dem gemeindlichen Kulturzentrum unentgeltlich zur Verfügung gestellt wurde, schloss diese Zuordnung es doch an sich nicht aus, dass dieser Gegenstand zumindest teilweise auch zu wirtschaftli-


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chen Zwecken genutzt würde, beispielsweise im Rahmen einer Vermietung. 49. In dieser Hinsicht kann die Art des Gegenstands, die gemäß der in RN 38 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs ein zu berücksichtigender Gesichtspunkt ist, wenn es darum geht, festzustellen, ob der Steuerpflichtige zu dem Zeitpunkt, zu dem ihm die Immobilie geliefert wurde, als Steuerpflichtiger gehandelt hat, darauf hinweisen, dass die Gemeinde als Steuerpflichtige handeln wollte. 50. Auch der Umstand, dass die Gemeinde schon lange vor der Lieferung und dem Erwerb der fraglichen Immobilie als mehrwertsteuerpflichtig registriert war, ist ein entsprechendes Indiz. 51. Dagegen ist es für sich gesehen ohne Bedeutung, dass der betreffende Gegenstand nicht unmittelbar für besteuerte Umsätze verwendet worden ist, da die Verwendung des Gegenstands nur den Umfang des Vorsteuerabzugs oder der etwaigen späteren Berichtigung bestimmt, jedoch nicht die Entstehung des Abzugsanspruchs berührt (vgl in diesem Sinne Urteil vom 30. März 2006, Uudenkaupungin kaupunki, C-184/04, EU:C:2006:214, RN 39). 52. Wenn sich somit das vorlegende Gericht im Rahmen seiner ersten Frage auf den Umstand bezieht, dass die anfängliche Verwendung der Immobilie „zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben durch die Gemeinde im Rahmen der ihr zustehenden Hoheitsgewalt“ erfolgte, dann präjudiziert dieser Umstand, falls er sich erweisen ließe, was die Gemeinde bestreitet, nicht die davon zu unterscheidende Frage, ob diese Einrichtung des öffentlichen Rechts zu dem Zeitpunkt, zu dem sie den Gegenstand erwarb, als Steuerpflichtige handelte und ihr deshalb ein Abzugsrecht im Zusammenhang mit diesem Gegenstand eröffnet war; vielmehr stellt er ein Indiz dafür dar, dass die Gemeinde nicht als Steuerpflichtige handelte. 53. In einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, in der beim Erwerb einer als Investitionsgut erworbenen Immobilie, die der Art nach sowohl für besteuerte als auch für nicht besteuerte Tätigkeiten verwendet werden kann, eine Einrichtung des öffentlichen Rechts, die bereits die Eigenschaft eines Steuerpflichtigen besitzt, nicht ausdrücklich die Absicht bekundet hat, diesen Gegenstand für eine besteuerte Tätigkeit nutzen zu wollen, aber auch nicht ausgeschlossen hat, dass dieser Gegenstand zu einem solchen Zweck genutzt werde, steht eine anfängliche Verwendung dieses Gegenstands für nicht besteuerte Tätigkeiten dem nicht entgegen, dass nach einer Prüfung sämtlicher Umstände, die vorzunehmen, wie in RN 38 des vorliegenden Urteils ausgeführt, Sache des vorlegenden Gerichts ist, der Schluss gezogen wird, dass die in Art 168 der Richtlinie 2006/112 aufgestellte Voraussetzung erfüllt ist, wonach der Steuerpflichtige zu dem Zeitpunkt, zu dem er den fraglichen Gegenstand erworben hat, als Steuerpflichtiger gehandelt haben muss. 54. Insoweit muss, wie auch die Generalanwältin in Nr 55 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, die Prüfung, ob diese Voraussetzung erfüllt ist, in jedem Einzelfall anhand eines weiten Verständnisses des Begriffs eines Erwerbs „als Steuerpflichtiger“ erfolgen. 55. Die Weite dieses Verständnisses ist nämlich angesichts der Zielsetzung der Abzugsregelung und somit der Berichtigun-

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gen geboten, die, wie in den RN 29 bis 31 des vorliegenden Urteils in Erinnerung gerufen wurde, darin besteht, die Neutralität der steuerlichen Belastung aller wirtschaftlichen Tätigkeiten zu gewährleisten; dies ist ein Grundsatz, aus dem generell abzuleiten ist, dass jeder Wirtschaftsteilnehmer unmittelbar sein Recht auf Vorsteuerabzug für sämtliche Steuern, die auf vorgelagerten Umsatzstufen getätigte Umsätze belastet haben, ausüben können muss, wobei die Genauigkeit der Abzüge gegebenenfalls später durch eine Berichtigung sichergestellt werden kann. 56. Letztlich wirkt es sich nicht auf die Prüfung der in Art 168 der Richtlinie 2006/112 aufgestellten Voraussetzung, dass der Steuerpflichtige zum Zeitpunkt des Erwerbs eines Gegenstands als solcher gehandelt haben muss, aus, dass die Aufteilung der konkreten Investitionsausgaben auf besteuerte Umsätze und nicht besteuerte Umsätze schwierig oder gar unmöglich ist. 57. Diese Aufteilung wird speziell durch die Vorschriften über den Pro-rata-Satz des Vorsteuerabzugs in den Art 173 bis 175 der Richtlinie 2006/112 geregelt. Die Berechnung eines Pro-rata-Satzes des Vorsteuerabzugs zur Ermittlung des Betrags der abziehbaren Vorsteuer erfolgt grundsätzlich nur bei Gegenständen und Dienstleistungen, die von einem Steuerpflichtigen sowohl für wirtschaftliche Tätigkeiten, für die ein Recht auf Vorsteuerabzug besteht, als auch für wirtschaftliche Tätigkeiten, für die dieses Recht nicht besteht, verwendet werden (vgl ua Urteil vom 14. Dezember 2016, Mercedes Benz Italia, C-378/15, EU:C:2016:950, RN 34). 58. Darüber hinaus steht die Festlegung der Methoden und Kriterien zur Aufteilung der Vorsteuerbeträge zwischen wirtschaftlichen und nicht wirtschaftlichen Tätigkeiten im Ermessen der Mitgliedstaaten, die bei der Ausübung ihres Ermessens Zweck und Systematik dieser Richtlinie berücksichtigen und daher eine Berechnungsweise vorsehen müssen, die objektiv widerspiegelt, welcher Teil der Eingangsaufwendungen jeder dieser beiden Tätigkeiten tatsächlich zuzurechnen ist (Urteil vom 6. September 2012, Portugal Telecom, C-496/11, EU:C:2012:557, RN 42). 59. Folglich ist auf die vorgelegten Fragen zu antworten, dass die Art 167, 168 und 184 der Richtlinie 2006/112 sowie der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer dahin auszulegen sind, dass sie dem nicht entgegenstehen, dass eine Einrichtung des öffentlichen Rechts ein Recht auf Berichtigung der auf eine als Investitionsgut erworbene Immobilie entrichteten Vorsteuer in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden in Anspruch nimmt, in der beim Erwerb dieses Gegenstands dieser zum einen seiner Art nach sowohl für besteuerte als auch für nicht besteuerte Tätigkeiten verwendet werden konnte und zum anderen diese Einrichtung des öffentlichen Rechts ihre Absicht, diesen Gegenstand einer besteuerten Tätigkeit zuzuordnen, nicht ausdrücklich bekundet, aber auch nicht ausgeschlossen hatte, dass er zu einem solchen Zweck verwendet werde, sofern sich aus der Prüfung aller tatsächlichen Gegebenheiten, die vorzunehmen Sache des nationalen Gerichts ist, ergibt, dass die in Art 168 der Richtlinie 2006/112 aufgestellte Voraussetzung, wonach der Steuerpflichtige zum Zeitpunkt der Vornahme dieses Erwerbs in seiner Eigenschaft als Steuerpflichtiger gehandelt haben muss, erfüllt ist. oestz.lexisnexis.at

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Gegenstände, die aus Edelsteinen und Edelmetallen bestehen, sind keine Gebrauchsgegenstände, wenn sich ihre Funktion auf jene der Steine und Metalle reduziert » ÖStZB 2020/14

Mehrwertsteuer Mehrwertsteuerrichtlinie: Art 311 Abs 1 Nr 1 UStG 1994: Anlage Art 24 EuGH 11.7.2018, C-154/17, SIA „E LATS“ gegen Valsts ieņēmumu dienests ECLI:EU:C:2018:560

Ein Gebrauchtgegenstand iSd Mehrwertsteuerrichtlinie muss folgende Voraussetzungen erfüllen: Es muss ein beweglicher körperlicher Gegenstand sein, er muss in seinem derzeitigen Zustand oder nach Instandsetzung erneut verwendbar sein, und er darf weder in die Kategorie der Kunstgegenstände, Sammlungsstücke oder Antiquitäten noch in die der Edelmetalle oder Edelsteine fallen. Ein aus Edelmetallen oder Edelsteinen gefertigter Gegenstand kann nur dann in die Kategorie „Gebrauchsgegenstände“ fallen, wenn er eine andere Funktion hatte, als sie den Materialien innewohnt, aus denen er besteht, ihm diese Funktion zukommt und er in seinem derzeitigen Zustand oder nach Instandsetzung erneut verwendbar ist. Gegenstände, die diese ursprüngliche Funktion nicht mehr erfüllen und nur die diesen Metallen und Steinen innewohnenden Funktionen behalten haben, fallen im Umkehrschluss nicht unter die Kategorie „Gebrauchsgegenstände“.

Sachverhalt Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art 311 Abs 1 Nr 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl 2006, L 347, S 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie). Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen SIA „E LATS“ (im Folgenden: E LATS) und der Valsts ieņēmumu dienests (Finanzverwaltung Lettland) wegen der Zahlung der Mehrwertsteuer und insbesondere der Anwendbarkeit der Regelung über die Differenzbesteuerung auf den Verkauf von Gegenständen, die ua aus Gold, Silber und Edelsteinen gefertigt sind.

Ausgangsverfahren E LATS ist eine mehrwertsteuerpflichtige Gesellschaft. Sie gewährt nicht mehrwertsteuerpflichtigen Privatpersonen Darlehen, die sie sich durch Pfandgegenstände aus Edelmetallen und aus Gold und/oder Silber enthaltenden Waren wie Halsketten, Anhänger, Ringe, Eheringe, Essbesteck oder zahnärztliches oestz.lexisnexis.at

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Material besichern lässt. E LATS verkaufte die nicht ausgelösten Pfandgegenstände, sortiert nach ihrer Art und ihrem Reinheitsgrad, an andere, mehrwertsteuerpflichtige Händler weiter. Sie wandte auf diese Geschäfte eine Mehrwertsteuer-Sonderregelung an und beglich die Mehrwertsteuer nur auf die Differenz zwischen dem An- und dem Verkaufspreis der Edelmetallartikel. Die Finanzverwaltung führte bei E LATS eine Mehrwertsteuerprüfung durch und kam zu dem Ergebnis, dass diese die Edelmetallartikel als Schrott und nicht als Gebrauchtgegenstände wiederverkaufe. Da unter diesen Umständen die in Art 138 des Gesetzes über die Mehrwertsteuer vorgesehene Mehrwertsteuer-Sonderregelung nicht anwendbar sei, entschied die Finanzverwaltung, E LATS die Zahlung eines zusätzlichen Mehrwertsteuerbetrags aufzuerlegen. Die von E LATS gegen diese Entscheidung erhobene Klage wurde vom Administratīvā apgabaltiesa (Regionales Verwaltungsgericht, Lettland) zurückgewiesen. E LATS erhob eine Kassationsbeschwerde beim vorlegenden Augstākā tiesa (Oberster Gerichtshof, Lettland).

Urteil Art 311 Abs 1 Nr 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass der Begriff „Gebrauchtgegenstände“ gebrauchte Gegenstände, die Edelmetalle oder Edelsteine enthalten, nicht erfasst, wenn diese Gegenstände ihre ursprüngliche Funktion nicht mehr erfüllen können und nur die diesen Metallen und Steinen innewohnenden Funktionen behalten haben, was das nationale Gericht unter Berücksichtigung aller objektiven maßgeblichen Umstände des Einzelfalls zu prüfen hat.

Begründung 17. Mit seinen beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art 311 Abs 1 Nr 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass der Begriff „Gebrauchtgegenstände“ gebrauchte Gegenstände erfasst, die Edelmetalle oder Edelsteine enthalten und wiederverkauft werden, um diese Metalle oder Steine herauszulösen. 18. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind bei der Auslegung einer unionsrechtlichen Vorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Kontext und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden, insbesondere deren Entstehungsgeschichte (Urteil vom 17. April 2018, Egenberger, C-414/16, EU:C:2018:257, RN 44). 19. Was erstens den Wortlaut von Art 311 Abs 1 Nr 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie angeht, ist darauf hinzuweisen, dass nach dieser Bestimmung „Gebrauchtgegenstände“ die „bewegliche[n] körperliche[n] Gegenstände [sind], die keine Kunstgegenstände, Sammlungsstücke oder Antiquitäten und keine Edelmetalle oder Edelsteine im Sinne der Definition der Mitgliedstaaten sind und die in ihrem derzeitigen Zustand oder nach Instandsetzung erneut verwendbar sind“.


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20. Daraus folgt, dass ein Gegenstand, um als Gebrauchtgegenstand im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden zu können, mehrere Voraussetzungen erfüllen muss: Es muss ein beweglicher körperlicher Gegenstand sein, er muss in seinem derzeitigen Zustand oder nach Instandsetzung erneut verwendbar sein, und er darf weder in die Kategorie der Kunstgegenstände, Sammlungsstücke oder Antiquitäten noch in die der Edelmetalle oder Edelsteine fallen. 21. In Bezug auf die ersten beiden Voraussetzungen ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass der Begriff „Gebrauchtgegenstände“ im Sinne von Art 311 Abs 1 Nr 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie bewegliche körperliche Gegenstände, die in ihrem derzeitigen Zustand oder nach Instandsetzung erneut verwendbar sind, nicht ausschließt, wenn sie von einem anderen Gegenstand stammen, dessen Bestandteile sie waren, und dass für die Einordnung als „Gebrauchtgegenstand“ nur erforderlich ist, dass dem gebrauchten Gegenstand unverändert die Funktionen zukommen, die er im Neuzustand hatte, und dass er daher in seinem derzeitigen Zustand oder nach Instandsetzung erneut verwendbar ist (vgl in diesem Sinne Urteil vom 18. Januar 2017, Sjelle Autogenbrug, C-471/15, EU:C:2017:20, RN 31 und 32). 22. Im Hinblick auf die dritte Voraussetzung ist darauf hinzuweisen, dass nach Art 311 Abs 1 Nr 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie Kunstgegenstände, Sammlungsstücke oder Antiquitäten zwar nicht als „Gebrauchtgegenstände“ eingestuft werden können, diese Gegenstände aber im Unterschied zu Edelmetallen und Edelsteinen dennoch unter die Regelung zur Besteuerung der Handelsspanne des steuerpflichtigen Wiederverkäufers fallen können, die eine von der allgemeinen Regelung der Mehrwertsteuerrichtlinie abweichende Regelung darstellt (vgl in diesem Sinne Urteil vom 18. Mai 2017, Litdana, C-624/15, EU:C:2017:389, RN 24). 23. Außerdem ist festzustellen, dass Art 311 Abs 1 Nr 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie Edelmetalle und Edelsteine als solche ausdrücklich erwähnt, aber keine ausdrückliche Bezugnahme auf Gegenstände enthält, die Edelmetalle oder Edelsteine enthalten und die „erneut verwendbar“ im Sinne dieser Bestimmung in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof sind. 24. Was zweitens den Kontext betrifft, in dem Art 311 Abs 1 Nr 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie steht, ist darauf hinzuweisen, dass dieser Art 311 den einzigen Artikel des Kapitels 4 Abschnitt 1 („Begriffsbestimmungen“) der Mehrwertsteuerrichtlinie darstellt, das den Sonderregelungen für Gebrauchtgegenstände, Kunstgegenstände, Sammlungsstücke und Antiquitäten gewidmet ist, wobei diese Sonderregelungen von der allgemeinen Mehrwertsteuerregelung abweichen und daher nur in dem für die Erreichung ihres Ziels notwendigen Maß angewandt werden sollen (vgl in diesem Sinne Urteil vom 8. Dezember 2005, Jyske Finans, C-280/04, EU:C:2005:753, RN 35). 25. Da aber keine Bestimmung in Kapitel 4 Edelmetalle oder Edelsteine oder Gegenstände betrifft, die solche Metalle oder solche Steine enthalten, lässt sich keine Schlussfolgerung aus dem Kontext ziehen, in dem Art 311 Abs 1 Nr 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie steht, um zu ermitteln, in welchem Ausmaß aus Edelmetallen und/oder Edelsteinen gefertigte Gegenstände unter

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den Begriff „Gebrauchtgegenstände“ im Sinne dieser Bestimmung fallen können. 26. Daher ist drittens auf das mit Art 311 Abs 1 Nr 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie verfolgte Ziel abzustellen. 27. Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmung die auf die Differenzbesteuerung anwendbaren Begriffsbestimmungen enthält und dass aus dem 51. Erwägungsgrund der Mehrwertsteuerrichtlinie hervorgeht, dass das Ziel der Differenzbesteuerung ist, Doppelbesteuerungen und Wettbewerbsverzerrungen zwischen Steuerpflichtigen für Gebrauchtgegenstände, Kunstgegenstände, Sammlungsstücke und Antiquitäten zu vermeiden (Urteil vom 18. Mai 2017, Litdana, C-624/15, EU:C:2017:389, RN 25). 28. Wie der Generalanwalt sodann in den Nr 49 bis 55 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist die Ausnahme für Edelmetalle und Edelsteine von der Differenzbesteuerung darauf zurückzuführen, dass der Wert, der Edelmetallen und Edelsteinen beizumessen ist, sich nicht nur aus ihrer Verwendung als Rohmaterial für die Herstellung anderer Gegenstände ergibt, sondern im Wesentlichen aus dem gespeicherten Wert, der ihnen beigemessen werden kann. Ohne dass sie in einen Gegenstand mit einer bestimmten Funktion integriert oder umgewandelt werden müssten, kommt diesen Metallen und Steinen somit eine eigene Funktion zu, die darin besteht, einen auf dem Markt für Edelmetalle oder Edelsteine erzielbaren finanziellen Wert einzunehmen. Zudem geht dieser Wert nicht verloren, da diese Metalle und Steine mehrmals wiederverwendet werden können, weil diese Materialien leicht wiederverwertbar sind, leicht verarbeitet werden können und gleichzeitig ihren Wert behalten. 29. Schließlich ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte der Richtlinie 94/5/EG des Rates vom 14. Februar 1994 zur Ergänzung des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems und zur Änderung der Richtlinie 77/388/EWG – Sonderregelung für Gebrauchtgegenstände, Kunstgegenstände, Sammlungsstücke oder Antiquitäten (ABl 1994, L 60, S 16), mit der in die Sechste Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl 1977, L 145, S 1) ein Art 26a eingefügt wurde, dessen Wortlaut mit dem von Art 311 Abs 1 Nr 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie identisch ist, dass der Gesetzgeber bis zu einem gewissem Grad Gegenstände, die Edelmetalle oder Edelsteine enthalten, in den Genuss der Differenzbesteuerung kommen lassen wollte. 30. In ihrem Vorschlag für eine Richtlinie (KOM[88] 846 endg.) hat die Europäische Kommission nämlich vorgeschlagen, „Gegenstände, die aus Gold oder einem anderen Edelmetall gefertigt oder mit Edelsteinen verziert sind, sofern der Wertanteil dieser Materialien 50 % des Verkaufspreises nicht übersteigt“, in die Differenzbesteuerung einzubeziehen und somit eine Unterscheidung zwischen Edelmetallen und Edelsteinen einerseits und aus diesen Materialien gefertigten Gegenständen wie Schmuck andererseits einzuführen. 31. Wie der Generalanwalt in den Nr 45 bis 48 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, fehlt in der Endfassung von Art 26a der Sechsoestz.lexisnexis.at

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ten Richtlinie 77/388 aber jede Bezugnahme auf Gegenstände, die Edelmetalle oder Edelsteine enthalten, und sind von der Differenzbesteuerung nur „Edelmetalle und Edelsteine“ als solche ausgenommen, wobei die Definition, was unter „Edelmetalle oder Edelsteine“ zu verstehen ist, den Mitgliedstaaten obliegt. 32. Zwar hat der Unionsgesetzgeber somit den Mitgliedstaaten die Befugnis überlassen, den Begriff „Edelmetalle oder Edelsteine“ zu definieren; eine solche Definitionsbefugnis ist jedoch nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht nur durch das Verbot begrenzt, der Formulierung der vom Unionsgesetzgeber geschaffenen Ausnahme durch eine so weite Definition zuwiderzuhandeln, dass dem Begriff „Gebrauchtgegenstände“ der Bedeutungsinhalt genommen würde (vgl in diesem Sinne ua Urteile vom 28. Juni 2007, JP Morgan Fleming Claverhouse Investment Trust und The Association of Investment Trust Companies, C-363/05, EU:C:2007:391, RN 21, sowie vom 13. März 2014, ATP PensionService, C-464/12, EU:C:2014:139, RN 41), sondern auch durch die mit der Mehrwertsteuerrichtlinie verfolgten Ziele und den dem gemeinsamen Mehrwertsteuersystem innewohnenden Grundsatz der steuerlichen Neutralität (vgl in diesem Sinne Urteil vom 13. März 2014, ATP PensionService, C-464/12, EU:C:2014:139, RN 42). 33. Daraus folgt, dass ein aus Edelmetallen oder Edelsteinen gefertigter Gegenstand nur dann in die Kategorie „Gebrauchtgegenstände“ im Sinne von Art 311 Abs 1 Nr 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie fallen kann, die der Sonderregelung der Differenzbesteuerung unterliegen können, und nicht in jene der von dieser Regelung ausgenommenen „Edelmetalle oder Edelsteine“, wenn er eine andere Funktion hatte, als sie den Materialien innewohnt, aus denen er besteht, ihm diese unverändert zukommt und er in seinem derzeitigen Zustand oder nach Instandsetzung erneut verwendbar ist. 34. Wie der Generalanwalt in Nr 72 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, kann ein Gegenstand jedoch nicht unter die Sonderregelung der Differenzbesteuerung fallen, wenn er keine andere Funktion hat, als sie den Materialien innewohnt, aus denen er besteht, oder eine solche andere Funktion nicht erfüllen kann. Denn er bleibt nicht in seinem Wirtschaftszyklus und ist nur zur Verarbeitung zu einem neuen Gegenstand von Nutzen, der in einen neuen Wirtschaftszyklus eintritt, so dass die Gefahr einer Doppelbesteuerung, die der Einführung der Differenzbesteuerung zugrunde liegt, entfällt. 35. Zu den Faktoren, die zu berücksichtigen sind, um in einem bestimmten Fall zu ermitteln, ob ein wiederverkaufter Gegen-

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stand in die Kategorie „Gebrauchtgegenstände“ oder in die der „Edelmetalle und Edelsteine“ fällt, gehören alle objektiven Umstände, unter denen ein Wiederveräußerungsgeschäft auftritt. Wie aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervorgeht, haben nämlich die in der Mehrwertsteuerrichtlinie verwendeten Begriffe objektiven Charakter und sind unabhängig von Zweck und Ergebnis der betroffenen Umsätze anwendbar (vgl in diesem Sinne Urteil vom 6. Juli 2006, Kittel und Recolta Recycling, C-439/04 und C-440/04, EU:C:2006:446, RN 41). 36. Daher ist die Berücksichtigung von Faktoren wie der Absicht eines an dem Geschäft beteiligten Steuerpflichtigen, abgesehen von Ausnahmefällen, unvereinbar mit den Zielen des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems, Rechtssicherheit zu gewährleisten und die mit der Anwendung der Mehrwertsteuer verbundenen Maßnahmen dadurch zu erleichtern, dass auf die objektive Natur des betreffenden Umsatzes abgestellt wird (Urteil vom 6. Juli 2006, Kittel und Recolta Recycling, C-439/04 und C-440/04, EU:C:2006:446, RN 42 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 37. Wie der Generalanwalt in den Nr 78 und 82 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, stellen hingegen Faktoren wie die Präsentation der betreffenden Gegenstände, die Methode zur Bewertung dieser Gegenstände und die Abrechnungsmethode, nämlich en gros (Brutto/Gewicht) oder pro Stück, objektive Merkmale dar, die wirksam berücksichtigt werden können. 38. Insoweit ist hinzuzufügen, dass, da sich die Steuerbemessungsgrundlage, die nach der Differenzbesteuerungsregelung bestimmt wurde, aus Aufzeichnungen ergeben muss, die es ermöglichen, zu überprüfen, ob sämtliche Voraussetzungen für die Anwendung dieser Regelung erfüllt sind (Urteil vom 18. Januar 2017, Sjelle Autogenbrug, C-471/15, EU:C:2017:20, RN 43), die Aufzeichnungen des steuerpflichtigen Wiederverkäufers und die damit in Zusammenhang stehenden Rechnungen – abgesehen von Ausnahmefällen – objektive Informationen zu dem betreffenden Umsatz und den verkauften Gegenständen liefern können. 39. Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art 311 Abs 1 Nr 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass der Begriff „Gebrauchtgegenstände“ gebrauchte Gegenstände, die Edelmetalle oder Edelsteine enthalten, nicht erfasst, wenn diese Gegenstände ihre ursprüngliche Funktion nicht mehr erfüllen können und nur die diesen Metallen und Steinen innewohnenden Funktionen behalten haben, was das nationale Gericht unter Berücksichtigung aller objektiven maßgeblichen Umstände des Einzelfalls zu prüfen hat.


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