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Dakota Colebourn
12 Jahre, Skateboarderin/Schülerin
„Ich vermisse es, meine Freunde zu treffen und einfach das zu machen, wonach uns gerade ist.
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Seit Covid sehe ich sie nicht mehr so oft, wie ich möchte. Wir verbrachten immer gerne Zeit im Einkaufszentrum, kauften etwas und spazierten rum. Das geht jetzt nicht mehr. Ich sehne mich nach dem Tag, an dem wir wieder so sein können, wie wir früher einmal waren.“
WAS WAR DAS NUR FÜR EIN JAHR, AUF DAS WIR ZURÜCKBLICKEN? UNSER LEBENSUMFELD VERÄNDERTE SICH PRAKTISCH ÜBER NACHT, DIE PANDEMIE BRACHTE VERÄNDERUNGEN, DIE VIELEN VON UNS HEUTE NOCH
ZU SCHAFFEN MACHEN. FÜR DEN KÜNSTLER LUCKY TENNYSON AUS LOS ANGELES WURDE DIE PANDEMIE ANLASS, IN EINEM DER ZAHLREICHEN
WELTWEITEN LOCKDOWNS DIE MENSCHEN NACH IHREN WÜNSCHEN UND SEHNSÜCHTEN ZU FRAGEN. DABEI FOTOGRAFIERTE ER SIE DURCH IHRE FENSTER UND ERFUHR STÜCK FÜR STÜCK, WONACH SICH VIELE VON UNS WIRKLICH SEHNEN.
Was haben Sie inmitten von Lockdown und Social Distancing im letzten Jahr am meisten vermisst?
Schwer zu sagen, um ehrlich zu sein. Reisen, Bars, durchgehend Arbeit und Freunde, das sind die offensichtlichen Dinge, die mir einfallen. Jenseits dieser Verbindungen zur Außenwelt, die uns sowohl erfüllen als auch von der Langeweile ablenken, ist es vermutlich die Vorstellung endloser kreativer Möglichkeiten, die ich am meisten vermisse. Die Distanzregeln im Alltag machen es unmöglich, spontan zu arbeiten. Ich konnte nicht hinausgehen, um mich inspirieren zu lassen. Alles verlangt gerade nach viel mehr Planung und Vorsicht. Einfach durch die Gegend zu laufen, um zu sehen, was passiert, und einfach mit dem zu arbeiten, was sich einem bietet, ist gerade nicht möglich. Ich vermisse den Charme des Unbekannten.
Wie hat Sie das Ihrer Meinung nach verändert?
Ich war es früher gewohnt, privat und beruflich um die Welt zu reisen. Kreativität fand ich an den Orten, an denen ich aß, und in den Menschen, die ich traf und für Projekte fotografierte. Ich musste mich nicht jeden Tag aufs Neue einer Selbstprüfung stellen und mich mit dem wenigen Unbekannten, dem ich begegnete, zufriedengeben. Die Welt da draußen war mir genug. Die aktuellen Veränderungen erzeugen ein Gefühl von Verletzlichkeit, von Angst, aber auch von Mitgefühl. Ich habe gelernt, mit meiner eigenen Verletzlichkeit und der meiner Kunst zu leben. Das öffnete mir das Tor zu einer offenen und ehrlichen Verbindung zu den Menschen, die ich treffe und mit denen ich arbeite. Allein das war für mich eine immense Weiterentwicklung.
Für „Rear Window“ fragten Sie Menschen, wonach sie sich sehnen, während Sie sie zum Mond hinaufblicken ließen und sie fotografierten. Was lernten Sie daraus?
Auf eine bestimmte Art sind wir alle alleine und verbunden. Ich kann nicht erklären, wie und in welchem Ausmaß das überhaupt gleichzeitig möglich ist. Vielleicht sollte ich das erst gar nicht versuchen. Wenn ich meine Erkenntnisse zusammenfassen müsste, würde ich sagen, dass ich lieber zweimal nachdenken sollte, bevor ich von anderen etwas erwarte oder annehme. Ich caste und fotografiere Menschen schon sehr lange und habe dabei gelernt, sehr offen auf jeden zuzugehen. Diese Lektion vergisst man jedoch leicht. Die meisten von uns bringen einfach eine Phase ihres Lebens nach der anderen hinter sich – unser ganzes Leben lang. Genau das führt uns der Lockdown nun vor Augen.
Können Sie uns sagen, wonach sich die Menschen sehnen? Ist es Liebe, Zuversicht, Nähe?
In diesem Projekt erzählen die Modelle in ihren eigenen Worten, wonach sie sich „sehnen“. Ich gab Parameter und Stil vor, die eigentliche Arbeit machten aber die Menschen in den Bildern. Sie teilten ihre persönlichen Erfahrungen. Sieht man sich die Gemeinsamkeiten an, würde ich sagen, dass sich die meisten ein Gefühl der Sicherheit wünschen: in der Liebe, in Sachen Gesundheit, in Gedanken und so weiter.
30 Jahre, selbstständig
José Hernandez
„ICH SEHNE MICH DANACH, DASS MEINE MUTTER MEINE BEZIEHUNG AKZEPTIERT. MEINE MUM UND ICH HABEN SCHON GROSSE FORTSCHRITTE GEMACHT, ABER SIE KENNT MEINEN PARTNER IMMER NOCH NICHT.
ICH HABE MICH MIT 20 VOR MEINEN ELTERN GEOUTET. ICH HATTE ANGST DAVOR, WAS MEIN DAD SAGEN UND WIE ER REAGIEREN WÜRDE, UND HÄTTE NIE GEDACHT, DASS ER DER TOLERANTE IST. ES WAR MEINE MUM, DIE SICH SCHWERTAT. ICH HABE MICH DAMALS SOFORT VON IHR ZURÜCKGEZOGEN UND WIR HATTEN KAUM EINE BEZIEHUNG ZUEINANDER, OBWOHL ICH IMMER NOCH ZUHAUSE WOHNTE.
AM ENDE BIN ICH EINIGE JAHRE AUSGEZOGEN UND DANN WIEDER EIN. SEITDEM HAT SICH DIE BEZIEHUNG ZU MEINER MUM SEHR VERBESSERT. UNSERE BEZIEHUNG IST GROSSARTIG UND WIRD MIT JEDEM TAG BESSER UND STÄRKER. DAS SPÜRE ICH. SIE SAGT NATÜRLICH, DASS SIE MICH AKZEPTIERT, ABER ES FÄLLT IHR SCHWER, ZU AKZEPTIEREN, DASS ICH MEINEN PARTNER SEHE UND MIT IHM AUSGEHE. DAS TREFFEN ZWISCHEN MEINEM PARTNER UND MEINER MUM IST EINE ERFAHRUNG, DIE ICH ERST MACHEN MUSS.“
*Nach Abschluss des Projekts traf Josés Mutter seinen Partner und es lief „supergut“! Glauben Sie, dass sich die Dinge, nach denen wir uns sehnen, während der Pandemie verändert haben oder wünschten wir uns die Dinge nur sehnlicher, um nicht zu sagen verzweifelter?
Ich glaube, es gibt hier zwei Aspekte. Erstens besteht kein Zweifel daran, dass die meisten von uns vermissen, wie die Dinge mal waren, und die Welt unbedingt wieder dorthin bringen möchten. Zweitens zwang man uns, gründlich zu hinterfragen, was wir im Leben wollen, nicht nur als Einzelperson, sondern auch als Gemeinschaft. Familien wurden auseinandergerissen, Regierungen versinken weltweit im Chaos und Ungerechtigkeiten stechen immer mehr ins Auge, da wir den ganzen Tag zu Hause auf unsere Handys schauen. Die dahinterliegenden Probleme sind nicht neu, aber vielen konnte man früher aus dem Weg gehen. Das geht jetzt nicht mehr. Und daraus kann man viel lernen. Wir haben nun die Chance, uns nicht nur selbst zu bessern, sondern auch unser Verhalten untereinander. Dass das schwer ist, spüren wir gerade alle am eigenen Leib.
Wie schaffen wir es, uns in einer Welt, in der wir Abstand halten müssen, weiterhin verbunden zu fühlen?
Ich frage meinen Vater selten um Rat. Er ist ein heiterer, aber auch strenger und stoischer Mensch. Vor ein paar Monaten habe ich ihn angerufen und war ein wenig weinerlich. Er sagte nur: „Sohn, wenn es wirklich dunkel ist, geh einfach weiter. Die Wende kommt dann schon von selbst.“ Wir können uns weiterhin verbunden fühlen, indem wir uns auf das Unbekannte, das jeden Tag auf uns wartet, einlassen und daran glauben, dass es besser wird. Wir können unsere Mutter oder unseren Vater anrufen oder einen alten Schulfreund, oder etwas tun, was wir normalerweise nicht tun würden. Wir können jemandem, zu dem wir früher aufsahen, eine EMail schreiben und ihm sagen, wie sehr er uns inspiriert hat. Und wenn wir etwas brauchen, sollten wir darum bitten. Wir sollten, wenn möglich, jeden Tag etwas verändern, damit das Feuer des Lebens nicht erlischt.
Haben Sie sich im vergangenen Jahr irgendwann isoliert gefühlt?
In diesem Jahr habe ich mich definitiv isoliert gefühlt, aber das Gefühl war mir nicht neu. Ich wuchs in einer amerikanischen Kleinstadt namens Julian auf. Sie hatte damals knapp 1.000 Einwohner und liegt 35 Kilometer von der nächsten Stadt entfernt. Unser Apfelkuchen war berühmt und es gab eine Main Street entlang eines Häuserblocks – mehr nicht. Da ich dort kaum Kontakt zu unterschiedlichen Kulturen oder Zugang zu kreativen Ventilen hatte, fühlte ich mich ziemlich isoliert. Mir war vor meinem Studium durchaus klar, was ich alles verpasste. In gewisser Weise brachte mich das vergangene Jahr meinem jüngeren Ich wieder näher, denn die Einschränkungen, die ich erfahre, sind sehr ähnlich. Heute habe ich mehr Verständnis für mein jüngeres Selbst.
42 Jahre, Sängerin/Künstlerin
Cat Pierce
Was half Ihnen, mit der Isolation klarzukommen?
Allen voran meine Therapie. Mit der hätte ich schon vor Jahren anfangen sollen. Heute sind Therapien nicht mehr so ein Tabu, aber in meiner Jugend waren sie für mich ein Zeichen von Schwäche. Die Psychotherapie ist ein brillantes System: eine wöchentliche Katharsis, ein flüchtiger Freund, der nicht urteilt und einem regelmäßig seine Schulter zum Anlehnen hinhält. Danach kommen meine Familie, deren Türen immer offenstanden, wenn ich mal raus musste, meine Freunde, mein Partner und mein Hund. Ich kenne einige Menschen, die allein leben und weder Partner noch Familie haben, auf die sie sich verlassen können. Sie haben nur wenig physischen Kontakt mit der Welt außerhalb ihrer Wohnungen und ich versuche, mich so oft wie möglich bei ihnen zu melden – das ist enorm wichtig.
Gelang es Ihnen, die Einsamkeit zu besiegen?
Die Einsamkeit ist nicht wirklich weg, nein. Solange das Leben stillsteht, sind wir alle in der Schwebe und müssen einfach weitermachen. Ich war immer ein „Macher“ und jetzt fällt es mir schwer, nicht zum „WassollichnurMacher“ zu werden. Ein Teil dieses Projekts ist ein Film, in dem ich das Voiceover aus der Sicht meines Bruders Jason sprach. Damit weiche ich von den direkten Aussagen meiner Modelle ab. Jason starb kurz vor dem Lockdown und für mich war der Film eine Möglichkeit, mich selbst durch seine Augen zu sehen und ihn durch meine – es war persönlich. In einem Teil des Films setze ich/setzt er die Zeit in der Dusche mit Glück gleich (je länger die Dusche, desto schlechter fühlen wir uns). Nur so viel: Ich verbrachte im vergangenen Jahr rund 30 Minuten pro Tag unter der Dusche.
Sie sagten, dass es eine „deprimierende, introspektive und doch aufmunternde Erfahrung“ war, für dieses Projekt die Straßen von Los Angeles abzufahren. Beschreiben Sie uns doch bitte diese „Reise“. Wie fühlten Sie sich dabei?
Ich bin nicht aus Los Angeles, lebe aber schon seit knapp sechs Jahren hier. Es ist mein Zuhause und das Klischee stimmt: Man verbringt hier viel ZuhauseZeit im Stau auf der Autobahn. In den ersten Monaten des Lockdowns war das jedoch nicht so. Die Straßen waren leer.
Für dieses Projekt fuhr ich mit einem Kameramann, mit dem ich die gesamte Zeit über in Quarantäne blieb, in einem alten Ford Ranger aus den 1980ern herum. Unsere gedämpften gelben Scheinwerfer fielen auf nichts anderes als den schwarzen Asphalt und die weißen Straßenmarkierungen, während wir die weitläufigen Viertel von Los Angeles abfuhren, um unsere Modelle zu treffen. Die Szenen waren apokalyptisch, wie eine Erinnerung an eine Stadt, die einem bekannt und doch fremd scheint. Es hatte etwas Reizvolles und Befreiendes, führte uns aber auch vor Augen, was aus der Welt geworden war. Bei jedem Termin trugen wir Handschuhe und Masken und kommunizierten durch ein Fenster. Wir desinfizierten unsere Ausrüstung und reichten Lampen durch Fenster und über Zäune, immer im Dunkeln. Es war interessant, ein Foto durch ein viereinhalb Meter hohes Fenster zu machen, während unsere Leiter nur halb so hoch war. Für Nachbarn, die uns beobachteten, muss das Ganze zumindest komisch ausgesehen haben. Vielleicht überlegten einige, die Polizei zu rufen. Komisch eigentlich, dass das nie passiert ist.
42 Jahre, Kameramann
Dominic Haydn Rawle
„ALS KIND WURDE MIR HAUTNAH
VOR AUGEN GEFÜHRT, DASS MAN WEGGEHEN UND FORTBLEIBEN,
LÄNDER UND STÄDTE ERKUNDEN UND VERÄNDERN KANN. MEIN DAD ZOG MIT UNS ALLEN IM SCHLEPPTAU VON ENGLAND NACH AUSTRALIEN,
ALS ICH DREIEINHALB WAR UND ICH DACHTE IN MEINER KINDHEIT,
DASS ICH MICH IN AUSTRALIEN GUT EINFÜGTE. DAS TAT ICH ABER
NICHT. ICH SAH MEINEM VATER ZU, WIE ER ENGLAND VERLIESS, WEITER NACH SINGAPUR FUHR UND SPÄTER IN DIE SCHWEIZ. SO WURDE DIESES SIEGEL VON „ZUHAUSE“ IMMER WIEDER IN SEINER BEDEUTUNG GEBROCHEN.
ICH VERLIESS SYDNEY, ALS ICH 23 WAR. HEUTE BIN ICH EIN VERLORENES KIND DER WELT, ZU LANGE WEG, VIELE ORTE, AN DENEN ICH EIN- UND AUSGEHEN KANN. DAS STELLE ICH FEST, ICH BESCHWERE MICH NICHT. ICH LIEBE MEIN LEBEN UND ALLES, WAS ICH GESEHEN HABE UND ERLEBEN DURFTE. ES IST JEDOCH EINE GANZ BESTIMMTE ART VON BETT, DAS ICH MIR GERICHTET HABE, UND DIESES BETT LÄSST MANCHMAL BLUTIGE TRÄNEN FLIESSEN. ICH SEHNE MICH NACH ZUHAUSE, NACH EINER UMARMUNG VON MEINER MUMMA UND EINEM GEMEINSAMEN BIER MIT MEINEM DAD.“ Was haben Sie über sich selbst gelernt?
An dem Spruch „Dont let the bastards get you down“ (Deutsch: „Lass dich von den Mistkerlen nicht kleinkriegen“, Anm. der Redaktion) festzuhalten. Ich habe gelernt, dass, wenn man trotz aller Umstände weitermacht, etwas Bedeutungsvolles erschaffen kann. Ein Monat vor diesem Projekt hatte ich mit DBFIFTYTHREE mein eigenes Unternehmen gegründet und dafür einen guten Job gekündigt. Mein Partner und ich hatten drei Kunden in der Tasche und legten mit voller Kraft los. Wir verloren fast alles über Nacht und ich dachte, es wäre vorbei. Das Ganze hat uns wirklich hart getroffen. Dann, eines Nachts, saß ich in meiner Küche und mir kam die Idee zu „Rear Window“. Ich machte mir einen Drink und schrieb ein Konzept. Innerhalb einer Woche besorgte ich mir eine 16mmFilmkamera und fand heraus, wie ich trotz geschlossener Geschäfte an Filme für mein StilllebenSet kam und Modelle ohne Risiko casten konnte. Ich musste mich noch einer Million anderer Probleme stellen, aber nach drei Wochen war das Projekt im Kasten. Da war für mich klar: Wenn man etwas wirklich will, kann man es auch erreichen, selbst wenn die Chancen alles andere als gut stehen.
Was glauben Sie, bringt die Menschen zusammen?
Das können Millionen von Dingen sein, aber ich glaube, die Sehnsucht eint uns. Wir alle sehnen uns nach etwas und das verbindet uns als Individuen, selbst wenn wir unsere Sehnsucht nicht mit jemand anderem persönlich teilen können.
Gibt es ein Gefühl von Einsamkeit und Verlust, das uns in Zeiten wie diesen näherbringt?
Ich glaube, wir rücken in Zeiten wie diesen alle näher zusammen, denn unser früherer Lebensstil schuf eine Kluft zwischen uns. Es ist eine Zwickmühle. In vielerlei Hinsicht ist es die Einsamkeit, doch nicht in jeder. Cat zum Beispiel fand ihren Frieden mit dem Alter.
26 Jahre, Schauspielerin/Frischgebackene Mutter
Juliette Labelle
„ICH SEHNE MICH DANACH, IN EINER WELT ZU LEBEN, IN DER MEINE TOCHTER
SICHER IST. EINE WELT, IN DER EIN RAUM GESCHAFFEN WURDE, IN DEM SIE SEIN KANN, WER SIE MÖCHTE, FREI VON KRITIK ODER URTEIL.
EINE WELT, IN DER SIE SELBSTSICHER DIE STRASSE ENTLANG GEHEN UND OHNE ANGST SAGEN UND TRAGEN KANN, WAS SIE MÖCHTE, DA DIESE
ANGST NICHT MEHR ALS NORMAL ANGESEHEN WIRD, DIE BLICKE, DAS PFEIFEN ALTER MÄNNER AUSGELÖSCHT WURDEN. ICH TRÄUME DAVON, IN EINER WELT ZU LEBEN, IN DER SIE SAUBERE LUFT ATMEN UND IN EINEM PLASTIKFREIEN MEER SCHWIMMEN KANN, OHNE JEMALS DARÜBER REDEN
ZU MÜSSEN, „WIE ES FRÜHER EINMAL WAR“. VOR ALLEM SEHNE ICH MICH DANACH, EIN TEIL EINER WELT ZU SEIN, IN DER MEINE TOCHTER RESPEKTIERT WIRD. NICHT ALS FRAU ODER ALS MANN, SONDERN ALS MENSCH.“
Als wir sie für „Rear Window“ fotografierten, machte sie das glücklich und sie fühlte sich näher bei sich selbst. Ich denke, das hat viel für sich. Wenn wir jetzt lernen, gut zu uns selbst zu sein, gelingt es uns vielleicht auch, besser miteinander umzugehen, sobald sich die Welt wieder öffnet. Oft stehen wir uns selbst im Weg und können daher auch nicht positiv auf andere zugehen. Ich hoffe, dass uns die viele Zeit mit uns selbst genau das lehrt.
Sie haben vor Kurzem Ihren Bruder verloren. Mein Beileid. Wir gingen Sie mit diesem Verlust um?
Das beschäftigt mich immer noch. Als ich vier Jahre alt war, versagte meine Leber – eine lange Geschichte und es gibt einen kitschigen Film, in dem meine Familie über all das spricht. Kurz gesagt, spendete mir mein Bruder einen Teil seiner Leber und rettete mir damit das Leben. Wir waren unter den Ersten, bei denen solch eine Lebendspende durchgeführt wurde, und meine Mum musste uns beide nebeneinander am OPTisch sehen. Das hat uns zusammengeschweißt und ein Teil von ihm lebt heute im wahrsten Sinne des Wortes in mir weiter. Abgesehen davon kannte ich ihn nicht allzu gut. Wir waren aus anderem Holz geschnitzt und er starb sehr jung an seiner Sucht. Zu lernen, mit solch einem großen Verlust umzugehen, ohne wirklich zu wissen, wer er war, ist eine große Herausforderung für mich. Dadurch, dass ich dieses Jahr ihn und so viele andere Dinge verloren habe, begann ich auch einige der Herausforderungen, vor denen er stand, zu verstehen. In gewisser Weise fühle ich mich ihm dadurch näher, als wir es zu Lebzeiten je waren. Das macht mich dankbar und brachte mir ein wenig Frieden.
Was hat das Gefühl des Verlusts mit Ihnen gemacht? Glauben Sie, dass die Menschen, die wir verlieren, Narben auf unserer Seele hinterlassen?
Ich habe eine Narbe auf meinem Bauch, die mich jeden Tag an ihn erinnert. Es gibt in meinem Fall also Narben im wortwörtlichen Sinn. Ich sage immer, dass meine wie ein verkehrter Smiley aussieht, denn es wäre ziemlich verkorkst, zu sagen, sie schaue böse drein. Als ich ein Kind war, hielt mein Bruder mich oft verkehrt herum, um zu beweisen, dass die Narbe wie ein Lächeln aussieht. Aber ja, jemanden wie ihn zu verlieren, tut weh und es gibt kein Zurück. Man trägt das mit sich. Das Schwierigste ist das Wissen, dass einen etwas Geliebtes bzw. jemand Geliebter verlassen hat. Denn das bedeutet, dass dich auch alle anderen Menschen und Dinge in deinem Leben einmal verlassen könnten. Nicht so zu denken, ist schwer, aber es ist wichtig, es so weit wie möglich zu versuchen.
Verändert das Gefühl von Verlust einen Menschen für immer?
Das kann ich nicht sagen. Mich hat es für immer verändert. 21 Jahre, Musiker/Student/„Community Organiser for Radical Change“
Jephtha
„ICH SEHNE MICH DANACH, DASS SICH JEMAND NACH MIR SEHNT, WEIL ICH JEDEN, DEN ICH TREFFE, GANZ
SELBSTVERSTÄNDLICH LIEBE SCHENKE, ABER NUR SELTEN IM SELBEN AUSMASS LIEBE ZURÜCKBEKOMME.“
LUCKY TENNYSON
ist Künstler, Fotograf und Creative Director in Los Angeles. Das „Rear Window“-Projekt ist eine Hommage an seinen gleichnamigen Lieblingsfilm. Darüber hinaus ist er Mitinhaber des Kreativstudios DBFIFTYTHREE, das sich auf Fotografie, Video und Creative Direction spezialisiert. Wie würden Sie die Zeiten, in denen wir leben, beschreiben?
Es ist eine seltsame Zeit. Wirklich seltsam. Eine Zeit der Veränderung. Wir alle sehen so viele Dinge, da uns nichts anderes übrigbleibt, als die meiste Zeit vor Handy und Computer zu sitzen. Ich glaube, dass sich manche angesichts dieser verrückten Informationsflut und so weniger Aufgaben machtlos fühlen. Positiv ist, dass es wieder andere gibt, die einen dringenden Wunsch nach etwas Neuem und Gutem teilen und ihre Träume in die Tat umsetzen. Sie sind es, die uns motivieren und voranbringen.
Glauben Sie, dass wir in einer Art Übergangsphase leben, in der sich die Dinge zum Besseren (oder Schlechteren) wenden?
Im Moment ist alles offen. Die Dinge waren bisher so schlecht, dass das Potenzial der Welt, viel besser oder viel schlechter zu werden, enorm groß ist. Die Situation in meinem Heimatland, den USA, ist zum Beispiel gerade sehr angespannt. Nach Jahren versteckter Ungerechtigkeiten haben wir uns das in vielerlei Hinsicht verdient. Ich habe noch nie so viel Bereitschaft gesehen, für die Wahrheit und Gleichberechtigung zu kämpfen, aber gleichzeitig auch noch nie so einen starken Willen, Hass zu säen. Wenn es uns gelingt, nicht mehr zu kämpfen und stattdessen auf ein gemeinsames Ziel hinzuarbeiten, wird sich die Welt zum Positiven wandeln. Es kann in beide Richtungen gehen, aber ich hoffe das Beste.
Welche Lehren und positiven Aspekte dieser Pandemie sollten wir in unsere neue Lebenswelt mitnehmen?
Wir müssen, wie gesagt, zu allererst lernen, gut zu uns selbst zu sein. Und dieselbe Haltung, die wir gegenüber uns selbst einnehmen, sollten wir dann auch gegenüber den Menschen um uns herum einnehmen. Jeder braucht im Moment eine helfende Hand.
Was wünschen Sie sich für die Menschheit und die Welt, in der wir leben?
Gleiche Chancen. Und gesunde Sehnsüchte, die sich erfüllen.
Worauf freuen Sie sich am meisten?
Das ist eine Frage, die sich nach innen und nach außen richten kann. Nach außen wünsche ich mir, dass sich Frauen in der Welt sicher fühlen; dass sich People of Color in der Welt sicher fühlen; dass Menschen weniger kämpfen und mehr zusammenarbeiten. Ich habe hinter den gütigen Augen anderer so viel Schmerz und Trauma gesehen, und das macht mich traurig. Schmerz wird es immer geben, aber ich wünsche mir eine Welt, die Traumata wie diese nicht verstärkt. Nach innen wünsche ich mir weniger Denken und mehr Handeln. Ich möchte weiterhin das, was ich „die Angst“ nenne, in mir annehmen und meine eigene Verletzlichkeit nutzen, um in meiner Arbeit die Geschichten von Menschen zu erzählen.