ALLES FÜR MEIN KIND 02 2020/ GLÜCK IST DORT WO LIEBE IST

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FAMILIE

Glück

ist dort, wo Liebe ist! FÜNFZEHN JAHRE LANG HIELT DER FOTOGRAF UND AUTOR FLORIAN JAENICKE SEINEN DURCH SAUERSTOFFMANGEL BEI DER GEBURT MEHRFACH SCHWERBEHINDERTEN SOHN FRIEDRICH IN BILDERN FEST. IM ZEITmagazin WURDEN DIE FOTOS 2019 ALS FOTO-KOLUMNE VERÖFFENTLICHT. HEUER SIND DIESE KOLUMNEN ALS BUCH MIT DEM TITEL „WER BIST DU?“ IM AUFBAU VERLAG ERSCHIENEN. DIE FOTOKOLUMNEN VON FRIEDRICH WECKTEN BEI DEN LESERiNNEN VIEL AUFMERKSAMKEIT UND INTERESSE UND WURDEN SEHR BELIEBT.

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FAMILIE Vermutlich wäre Friedrich mit der Veröffentlichung einverstanden, weil er als Mensch gezeigt und nicht vorgeführt wird. Es haben mir sogar mehrere Leser geschrieben, die mich bestärkt haben, dass Friedrich mit einer Veröffentlichung einverstanden wäre. Sie haben sich mit Friedrich, wie Sie sagen „fotografisch befasst“, das ist Ihnen sehr gut gelungen, denn Sie haben uns und vor allem sich selbst Ihren Sohn durch die Bilder näher gebracht. War letzteres die primäre Absicht Ihrer Bilder? Jaenicke: Mein tägliches Brot ist es, Menschen zu fotografieren und mir Gedanken zu machen, wie Menschen auf Bildern wirken und wie ein Betrachter diese Menschen wahrnimmt. Das gleiche tue ich bei ihm. Ich habe nur wenige Kanäle, um mit ihm zu kommunizieren, mit den Fotos kann ich den Moment einfrieren, in dem Friedrichs Mimik und Gestik in bestimmten Situationen sichtbar wird, und das ist so schön. Daraus kann man auf seine Gefühle schließen und wie er mit uns kommuniziert. Ich möchte sagen, dass man Friedrich über die Bilder „lesen“ kann. „Während der Schwangerschaft fuhr ich auf einer Reportage nachts mit dem Zug durch Indien und hörte einen kleinen Jungen Mundharmonika spielen. Das war so bezaubernd, dass ich dort eine kaufte und meinem Sohn zum erstem Geburtstag schenkte, weil ich hoffte er würde auch einmal so schön damit spielen können.“ Sie fotografieren Ihren Sohn Friedrich von Geburt an, der weder sprechen, noch mit den Augen kommunizieren kann. Haben Sie das Gefühl, dass er mit dem Porträtieren „einverstanden“ ist?

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Florian Jaenicke: Wir kommunizieren anders, Friedrich spürt unsere Anwesenheit und auch die von anderen, er kann Geräusche und Stimmen auseinanderhalten, meine Frau und ich spüren das. Ob er mit der Veröffentlichung seiner Fotos „einverstanden“ ist, kann man schwer sagen. Er mag aber die Situation, wenn er fotografiert wird.

Ein Bild hat mich besonders beeindruckt, auf dem Friedrich wie ein Kind ohne Behinderung aussieht. Jetzt versuche ich beim Sohn einer Freundin, der einen seltenen Gendefekt hat, die Behinderung „zu übersehen“ und mich auf seine Persönlichkeit zu konzentrieren. Solche Bilder fehlen in in der Öffentlichkeit. Warum? Jaenicke: Für diese Frage bin ich Ihnen sehr dankbar. Mir geht es bei den Fotos von Friedrich, aber auch von seinen Freunden oder einer anderen Serie von Kindern immer darum, die Kinder als Menschen

darzustellen, mit ihren Eigenschaften und Charakteren. Es gibt wenige Fotos von behinderte Menschen in der Öffentlichkeit, und wenn, dann wird in den Medien heute immer alles zugespitzt und es werden Klischees und Vorurteile bedient. Es gibt keine Sensibilität mehr, und für Subtilität ist kein Raum. Immer geht es um Helden oder tragische Figuren. Immer um Befund oder Schicksal. Behinderte Menschen wollen aber als ganz normale Menschen gesehen werden und wir als Familie mit einem behinderten Sohn ebenso. Wir sind keine Helden. Mit meiner Foto-Kolumne wollte ich dem entgegenwirken. Wenn Kinder klein sind, werden sie als lieb und süß wahrgenommen, wenn behinderte Menschen größer werden, verlieren sie den Nestschutz, auch den Eltern begegnet man oft mit Unverständnis, nicht selten kommt die Frage, warum man das Kind nicht ins Heim gibt. Meine Frau und ich antworten dann: weil wir ihn liebhaben und weil man andere Fünfzehnjährige auch nicht ins Heim steckt. Ist Friedrich, wie sein Name sagt, ein friedlicher Junge, oder zeigt er manchmal auch Zorn oder Wut? Auf den Bildern scheint er fast immer im Einklang mit sich selbst. Jaenicke: Wenn er Schmerzen hat, Lärm ausgesetzt ist oder Musik hört, die er nicht mag, kann er seinen Unmut zeigen und selber lauter werden. Davon abgesehen kann man viel von behinderte Menschen lernen, z. B. wie sie das Leben mit fast buddhistischer Gelassenheit akzeptieren. Ich weiß nicht ob es der Hinduismus oder der Buddhismus ist, in dem Menschen mit Behinderungen nah am Nirwana sind, gleichsam der Erleuchtung näher. Es gibt ein schönes Lied von Paul McCartney –

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FAMILIE Fool on the Hill – mit einem bemerkenswerten Text. Darin sitzt ein Narr auf einem Hügel, weit weg von den Menschen, und in seinen Augen kann man sehen, wie die Welt sich dreht. In einem Interview erzählten Sie, dass Friedrich Musik liebt und jeden Abend „Le ciel dans une chambre“ von Carla Bruni hört. Jaenicke: Carla Brunis Lied ist ein Wiegenlied, das Friedrich vor dem Einschlafen zu entspannen hilft, wenn er noch Spasmen hat, es ist ein Abendritual. Musik entspannt ihn generell, und er liebt Sonaten von Beethoven, Chopin und anderen. Liebt Friedrich Tiere? Jaenicke: Kann man nicht so sagen, er ist ihnen gegenüber eher gleichgültig. Er hat Erfahrung mit Therapiehunden und Pferden, aber es hat ihn kaum beeindruckt. Er ist immer neugierig und wach und bekommt alles mit, aber Tieren gegenüber wenig interessiert. Friedrich ist jetzt 15. Ist er schon in der Pubertät? Jaenicke: Ja, er ist groß und auch seine Stimme ist tiefer geworden. Wäre er körperlich intakt, würde er mit dem Moped die Gegend unsicher machen und den Mädchen nachschauen. Ein Mädchen in seiner Klasse hat es ihm angetan und er fühlt sich offensichtlich zu ihr hingezogen. Ihre Frau ist mehr mit Friedrichs Pflege und Therapien beschäftigt als Sie. Haben Sie je von ihr gehört: Ich kann nicht mehr. Jaenicke: Das habe ich nach zehn Jahren

einmal von ihr gehört, eigentlich sehr spät. Es ist gut, dass meine Frau jetzt wieder halbtags arbeitet und hinaus aus der Wohnung kommt. Ich habe mein Büro teilweise nachhause verlegt, um mehr mithelfen zu können. Der Alltag ist nicht leicht und es lässt sich nichts planen, weil das Kind immer epileptische Anfälle oder Krämpfe haben kann. Ein Vater mit einem behinderten Kind hat gesagt, dass es mit einem behinderten Kind so ist wie mit einem gesunden Baby in den ersten zwei, drei Jahren, wenn es intensive Pflege braucht und man ständig Schlafmangel hat. Bei einem behinderten Kind hat man das immer. Friedrich muss in die Förderschule und hat viele Therapietermine. Die Eltern müssen aufpassen, dass sie sich selbst nicht überfordern, denn das ist für das Kind nicht gut und für sie natürlich auch nicht. Vor kurzem las ich in Social Media, wie eine Mutter, die einen Blog über das Leben mit ihrer behinderten Tochter schreibt, wütend wurde. Eine Leserin hatte sie bemitleidet, „weil sie so ein großes Leid in ihrem Leben hat“. „Ich habe kein Leid, ich habe ein Kind“, antwortete die Mutter. Was würden Sie dieser Leserin antworten? Jaenicke: Ich verstehe den Groll dieser Frau. Ich verstehe aber auch, dass andere sich von so einer Situation überfordert fühlen oder sich das nicht vorstellen können. Aber jeder, der sein Kind liebt, würde tun, was wir tun. Wir sind nicht bedauernswert und wir sind auch keine Heldenfamilie. Das Einzige, was hilft, ist Annäherung, damit Menschen erfahren und verstehen, was uns antreibt. Nicht wenige Menschen berührt eine Annäherung und löst in ihnen eine Veränderung

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Foto Portrait: Frank Bauer

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aus. Das möchte ich erreichen, den Menschen die Menschen mit Beeinträchtigungen näherbringen, deshalb habe ich das Buch geschrieben, und auch, um andere betroffene Eltern zu unterstützen. Es geht gar nicht um Behinderung, sondern um das Ablegen von Vorurteilen und um gegenseitige Hilfe. Darum geht es oft im Leben, z.B. auch Fremden gegenüber. Wir hatten ein schönes Erlebnis in Frankreich, an einer Steilküste, wo wir schwer hochkamen und irische Urlauber uns halfen. Einer sagte: Wir Menschen sind doch da, um uns gegenseitig zu helfen. – Wir waren beeindruckt, denn das ist auch unsere Denkweise. Wir bekommen Erfüllung dadurch, dass wir einander helfen. Was uns betrifft, kann ich sagen, wir sind eine glückliche Familie, weil wir uns haben und lieben. Glück ist dort, wo Liebe ist.

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Florian Jaenicke

WER BIST DU? Unser Leben mit Friedrich Aufbau Verlag, ISBN 978-3-351-03768-0 „‚Wer bist du?‘ ist die schönstmögliche Liebeserklärung, die man seinem Kind machen kann.“ STERN „In den Fotos steckt so viel Liebe, dass es mich manchmal umhaut.“ Thorsten Schmitz, Süddeutsche Zeitung „Ein berührendes Buch über die bedingungslose Liebe zwischen Eltern und Kindern, eingefangen mit großer Sensibilität von dem Autor, Fotografen und Vater Florian Jaenicke.“ Christoph Amend, Zeit Magazin

VON DER WICHTIGKEIT, WAHRGENOMMEN ZU WERDEN Für seine Foto-Kolumne erhielt Florian Jaenicke den „Bobby 2020“, den Preis der deutschen Lebenshilfe sowie den Preis des Art Directors Club (ADC), den wichtigsten deutschsprachigen Kreativpreis. Florian Jaenicke sagte bei der Preisverleihung: „... In einer Zeit, in der weite Teile der Gesellschaft, bedingt durch Corona, zur Vermeidung von Infektionen dazu gezwungen werden, sozial isoliert zu leben, wird vielleicht manchem klar, wie wichtig es ist, von der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden, gesehen zu werden und Teil der Gemeinschaft zu sein ....“

„Würde man mich fragen, ob ich glücklich bin, dann würde ich, trotz der großen Sorgen, die wir haben, und des Kummers, der uns oft gefangen nimmt, trotz der Konflikte, die meine Frau und ich natürlich haben – nicht zuletzt, weil wir beide die meiste Zeit psychisch und physisch am Ende sind –, trotz der Einschränkungen meiner beruflichen Karriere und trotz der Trauer, die wir empfinden, wenn wir an Friedrichs Zukunft denken, die Frage mit ja beantworten. Denn Friedrich geht es gut. Er hat keine Schmerzen und spürt, dass er geliebt wird, dessen sind wir gewiss, er zeigt es uns mit seinem Lächeln. Wir arbeiten jeden Tag hart daran, dass Friedrich es behält, indem wir alles versuchen, ihm Schmerzen zu ersparen und ihn zu fördern. Vor allem meiner Frau, die ihn seit seiner Geburt täglich eine Stunde dehnte und beturnte, jeden Tag, sieben Tage die Woche, ist es zu verdanken, dass es ihm gut geht. Dafür bin ich ihr sehr dankbar. Glück ist da, wo Liebe ist. Alles andere ist häufig schwer, ärgerlich, belastend, unangenehm, überfordernd, frustrierend. Und ja, ich frage mich natürlich, warum wir dies alles durchmachen müssen, warum gerade wir und womit wir das verdient haben. Selbstverständlich gibt es keine Antwort auf diese Frage.“

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