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MEHRSPRACHIGKEIT

Ein Kind – vier Sprachen

, e h c a r p s r e t t Mu , Papasprache „Omisch“ und Deutsch

Wenn Kinder eine emotionale Bindung zur Sprache haben – durch Mutter oder Vater, die eine andere Sprache als die Landessprache sprechen – entwickelt sich Mehrsprachigkeit spontan und ohne großen Aufwand. Text: Lilli Schuch, Illustrationen: Kasja Jercic

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MEHRSPRACHIGKEIT

MEHRSPRACHIGKEIT „Kennst du viele Sprachen – hast du viele Schlüssel für ein Schloß.“ Voltaire

Über multilinguale Erziehung gibt es viele Bücher und sogar spezielle Studiengänge. Wir haben uns entschlossen, nicht viel zu theoretisieren, sondern einfach diese wunderbaren, kleinen Polyglotten zu besuchen, die ohne Mühe vier und mehr Sprachen beherrschen. Um zu fragen, wie das geht?

Die Neurologie lehrt uns, dass Kinder, die zwei- oder mehrsprachig aufwachsen, für beide Sprachen nur ein Netzwerk aus Nervenzellen im Gehirn aufbauen. Dieses Netzwerk wird auch benutzt, wenn eine weitere oder mehrere Sprachen erlernt werden. Einsprachige dagegen legen für jede später erlernte Sprache ein völlig neues Netzwerk an. Unsere multilingualen Kinder verfügen aber nicht nur über dieses Netzwerk im Gehirn. Sie haben vor allem Eltern, die schon viele Sprachen sprechen, was einen fruchtbaren Boden für die Mehrsprachigkeit legt. Denn multilinguale Erziehung funktioniert nur dann, wenn das Kind eine emotionale Bindung zu den Sprachen aufbauen kann. Die Kinder, die wir getroffen haben, sprechen mit ihren Müttern die Muttersprache, mit den Papas die „Papasprache“, mit den Opas „Opisch“ und mit den Omis „Omisch“. Deutsch ist überall, in der Sandkiste, den Kigas oder in der Schule. Englisch ist im TV und oft auch zu Hause. Das ergibt in diesen Fällen eine simple Gleichung: 1 Kind = 4 Sprachen. Wir sind begeistert und wissen, dass diese Kinder ein enormes Startkapital für das weitere Lernen & Leben haben, nicht nur, was den weiteren Spracherwerb betrifft,

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sondern auch die Flexibilität und Effizienz beim Lernen. Auch im Bereich der allgemeinen Kommunikation haben sie einen Vorsprung. Sie verfügen, um es mit Voltaire zu sagen, über viele Schlüssel für ein Schloss. Diese spontane Mehrsprachigkeit ist eine Fähigkeit, um die multilinguale Familien oft beneidet werden.

KULTURELLE UND EMOTIONALE BINDUNG ZUR SPRACHE Mehrsprachigkeit setzt Eltern voraus, die sich selbst in mehreren Sprachen bewegen. Dann haben die Kinder einen spontanen Zugang zu den Sprachen zu lernen. Die Erziehungswissenschaftlerin und Expertin für Mehrsprachigkeit Christina Allemann-Ghionda dazu: „Mehrsprachige Erziehung ohne bilingualen Hintergrund der Eltern ist sinnlos, ja abstrus.“ Kinder brauchen eine kulturelle und emotionale Bindung zur Sprache. Für viele Eltern ist mehrsprachiges Erziehen inzwischen zur regelrechten Mode geworden. „Natürlich schadet es den Kindern nicht, wenn sie in der Kita chinesische Lieder singen. Viel bleibt davon aber nicht übrig“ sagt Allemann-Ghionda. Denn ohne kulturelle Praxis bleibt es für Kinder „nicht mehr als ein Spiel.“

Patricks Trick

Der junge Autor Kristo Šagor hat mit „Patricks Trick“ ein raffiniert erzähltes philosophisches Kinder-und Jugend­theaterstück über Sprache und Identität, Erwachsenwerden und Welterfahren geschaffen. „Das Ausgangsthema des Stücks war für mich: Sprache. Das Stück zeigt, Mit skurriler Fantasie, wieviel Mut und Optimismus sprachlicher Finesse und im Reden miteinander feinem Humor bringt das notwendig sind.“ Stück große Fragen zu eiKristo Šagor nem sensiblen Thema für ein Publikum ab 10 Jahren auf die Bühne des Next Liberty. Es geht um den elfjährigen Patrick, der seine Eltern belauscht und dabei erfährt, dass er einen Bruder bekommen wird – eine tolle Sache. Aber was, wenn der vielleicht anders wird, als man es erwartet? Wenn er z. B. etwas mehr Unterstützung braucht, um irgendwann sprechen zu lernen oder das vielleicht nie „richtig“ kann? Was bedeutet das eigentlich, „richtig sprechen“? Wie lernt man denn am besten eine (neue) Sprache? Stimmt es, dass sich zwei Sprachen zu können, anfühlt, wie zwei Köpfe zu haben? Hilft es, wenn man gut zuhört, jemandem etwas vorsingt oder einfach sehr viel redet bzw. fragt? Kann man mit Wörtern jemanden ebenso verletzen, wie wenn man mit ihm boxt? Und: Wo-

her weiß der andere, wie das, was ich ihm zu sagen versuche, in meinem Kopf aussieht? Zu all diesen Überlegungen gelangt Patrick durch Gespräche mit den Menschen in seinem Umfeld (seinem besten Freund Valentin, dem gefährlichen Danijel, dem kroatischen Boxer, der netten Deutschlehrerin, der Gemüsefrau und dem seltsamen „Professor Milch“), die alle auf ihre Art, mit dem, was sie wissen und sind, versuchen, ihm zu helfen. Und schon bald wird klar, wie viel man lernt, wenn die Fragen nur drängend genug sind, und dass es zu „normal“ ziemlich viele Alternativen gibt. www.nextliberty.com

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Eine Familie wie im Film

ten. In Montevideo und Buenos Aires studierte Juan Carlos Klassische- und Jazz-Gitarre, in Erevan (damals Sowjetunion) orientalische Laute und kaukasische Gitarre. Ab 1992 besuchte er die Jazz-Abteilung der Kunst-Uni Graz. Es folgten zahlreiche Konzerte weltweit. Heute unterrichtet Juan Carlos in verschiedenen Musikschulen und tritt fast täglich auf. 2001 heiratete er die Griechin Margarita Vagena, Pianistin an der klassischen Abteilung der Kunst-Uni Graz, die heute halbtags Klavier unterrichtet und wegen der vier gemeinsamen Kinder ihre Karriere etwas zurückschrauben musste. Mit Constantina Mary (15), Valentina (13), Juan Carlos jr. (11) und Andranik (7) spricht die Mutter nur Griechisch, ausnahmslos. Genauso konsequent spricht der Vater mit den Kindern Spanisch. Wenn zufällig eines der Kinder zu faul ist und statt Spanisch Deutsch spricht, wird Juan Carlos ein wenig zornig. „Dann schimpfe ich, halt. Oder ich tue so, als ob ich nicht verstehe, bis das Kind mir dann auf Spanisch sagt, was es vorher auf Deutsch gesagt hat.“ Eigentlich spricht Juan Carlos gar nicht Spanisch, sondern El Lunfardo – weltbekannt als Sprache des Tangos – eine Varietät der spanischen Sprache oder ein Soziolekt, den nur eine kleine Minderheit in Buenos Aires spricht und der heute zu einem Sprachphänomen in ganz Argentinien und auch Uruguay geworden ist.

urlianIn der Familie Sung alles an Barsumian kann m isch, an Sp hören : Griechisch, ch, sis gie Italienisch, Portu e ein – d un El Lunfardo . he ac pr ns lie mi eigene Fa

in wunderbar buntes Bild gibt die Familie Sungurlian-Barsumian ab: vier eigene Kinder, viele Nachbarskinder, viele SchülerInnen, die zum Klavier-Unterricht vorbeikommen. In jedem Raum findet sich eine Gitarre, sogar im Klo. Das Haus ist voll mit Noten, Büchern, Bildern und Patschen – ein vollblütiges, südländisches Leben.

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EINE EIGENE FAMILIENSPRACHE

Wie herrlich. Gesprochen werden hier: Griechisch, Spanisch, Deutsch und Englisch.

DIE SPRACHE DES TANGOS Die Geschichte dieser Familie liest sich wie ein Drehbuch: Die Vorfahren des Vaters Juan Carlos sind Armenier aus dem Osmanischen Reich, die 1915 nach Uruguay auswander-

Fotos: Lunatico

E

sumian Familie Sungurlian-Bar

Über mehrsprachige Erziehung haben Margarita und Carlos nie nachgedacht. Sie haben einfach mit den Kindern ihre Muttersprachen gesprochen. Automatisch haben die Kinder diese übernommen, und weil das offenbar einen großen Spaß macht, haben die Sungurlian-Barmusians eine eigene „Familiensprache“ entwickelt. Sie ist angeblich nicht schwer, eine

Kombination aus Deutsch und Spanisch. Man nimmt ein Deutsches Wort und statt der richtigen Endung nimmt man einfach eine spanische. Dann entsteht z. B. der anmeldere. Das ist jemand, der sich irgendwo anmelden muss. Ich glaube, nach dem Besuch bei dieser lustigen Künstlerfamilie muss ich mich gleich in einem Spanischkurs anmeldere.

MUSIK, MUSIK, MUSIK Ausnahmslos sind hier alle musikalisch begabt. Besonders Tochter Valentina, die seit ihrem vierten Lebensjahr die Musik-Uni besucht. Sie ist schon eine bekannte, junge Pianistin, die viele Preise gewonnen hat. Gitarrespielen hat sie sich als Autodidaktin beigebracht. Juan Calos Junior spielt Schlagzeug und Gitarre, der kleine Andranik Gitarre. Constatina Mary spielt auch sehr gut Gitarre, hat sich aber für die Malerei entschieden und besucht mit Begeisterung die Ortweinschule in Graz. Wie schaffen sie es, so viel Musik zu machen, in Fußballvereinen zu spielen, zu zeichnen und noch so viele Freunde zu haben? Laut dem Familienvater haben alle einfach viel Energie, und da sei es auch kein Problem, Deutsch, Griechisch und Spanisch in einem Satz zu mischen. Übrigens: Papa Juan Carlos spricht Spanisch, Französisch, Englisch, Armenisch, Deutsch, Türkisch, Portugiesisch, Griechisch und Italienisch. Aber das sei keine große Kunst, betont er. Jeder, der spanisch kann und drei Wochen in Italien war, spricht danach Italienisch. Er hat es von seinen italienischen Freunden in Graz gelernt, und die Freunde von ihm Spanisch. Das alles klingt wie ein Tango-Märchen. Wer ein Juan Carlos-Konzert besucht, taucht in eine eigene Welt ein. Es wird dort nicht nur musiziert, sondern auch gesprochen – natürlich in mehreren Sprachen.

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Come on! ! n e g n a f y a l p o g ’s t Le

Eine internationale BabelMediathek wie ein i den Turm stapelt sich be die Kinder Dalbokovs. Damit n den noch besser zwische nnen. kö n Sprachen wechsel

W

enn man Adrian (8) und Alan (6) trifft, muss man zuerst fragen: Welche Sprache sprechen wir heute? In der letzten Zeit fällt ihre Wahl meistens auf Deutsch, da beide durch Schule und Kindergarten doch immer mehr Deutsch sprechen. Mit Freunden sprechen sie Deutsch, unter sich Englisch. Sie haben noch eine süße kleine Schwester, Nadja (4), und bei ihr bevorzugen sie auch Englisch, genau so wie mit ihrer Mama Leila. Mit ihrem Papa Sava unterhalten sie sich Bulgarisch und mit der Oma aus Kroatien Kroatisch.

Familie Dalbokov 10 02/2016 ALLES FÜR MEIN KIND

Fotos: Katja Jercic

EINE FAMILIE ZIEHT UM DEN GLOBUS Um dieses herrliche Sprachen-Wirrwarr zu verstehen, muss man die Familie Dalbokov besser kennen. Mama Leila wurde in Teheran geboren. Ihre Mutter ist Kroatin aus Zagreb, der Vater stammt aus Tuzla in Bosnien. Bis zu ihrem sechsten Lebensjahr lebte Leila Pasic in Teheran, dann zog die Familie nach Wien. Mit 18 ging sie in die USA und studierte Volkswirtschaft am Haverford College in Pennsylvania. Vater Sava Dalbokov wurde in Sofia geboren, dort ging er auf das Englische Gymnasium und auf die russische Mittelschule. Später übersiedelte er zum Studium der Finanzwissenschaft und Volkswirtschaft nach Boston. Dort lernte er Leila im MBAStudium kennen, und die beiden heirateten.

„Die wahre Heimat ist eigentlich die Sprache.“ Friedrich von Humboldt

DREI KINDER UND NEUN SPRACHEN Als die Dalbokovs wieder nach Europa kamen und das erste Kind da war, überlegten sie: Wie werden wir mit unserem Kind reden? Sogar Fachliteratur zogen sie zu Rate, und da Frau Leila im Englischen sicherer ist als in Kroatisch oder Deutsch, wurde vereinbart: Mama spricht mit den Kindern konsequent Englisch und der Papa Bulgarisch. Unter sich sprechen die Eltern Kroatisch, und wenn die Oma da ist, spricht die ganze Familie Kroatisch. Kompliziert? Nein. Für die Dalbokovs nicht. Die Kinder haben kein Problem mit so vielen Sprachen, im Gegenteil: sie wechseln von einer Sprache in die andere und dabei entstehen die herrlichsten Kombinationen, z.B. Let’s go fangen! Am Samstag besucht Adrian die Bulgarische Schule in Graz, und wenn sie so weiter machen, sprechen sie eines Tages wie ihr Vater neun Sprachen. Nämlich Bulgarisch, Deutsch, Englisch, Kroatisch, Russisch, Ungarisch, Italienisch, Tschechisch und Spanisch. Getreu dem Sprichwort: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.

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h c s i r i e t S „ kann i a“

„Die Vokale sind die Augen, durch die das Wort dich anblickt. Ein Wort, dem der Vokal fehlt, ist blind geworden. Ja, blnd gwrdn.“ Prof. Dr. phil. habil. Rainer Kohlmayer

D

er Plan von Mama Spela und Papa Walter, eine geheime Sprache nur für sich zu haben, ist nicht aufgegangen. Die Absicht war, die Kinder SlowenischDeutsch-Spanisch zu erziehen. In Kiga und Schule lernen sie Deutsch, mit der Mama sprechen sie Slowenisch und mit dem Papa Spanisch. Die Eltern würden unter sich Englisch sprechen, damit sie eine sprachliche Privatzone haben. Nun, es kommt manchmal anders, als die Eltern denken: Die Kinder der Familie Pirc-Pekarek lernten nebenbei und irgendwie Englisch und damit war es mit der Geheimsprache von Mama & Papa vorbei.

, der Ein Satz auf Deutsch oder nächste auf Englisch Fa r milie Slowenisch. Bei de lyglottter po Pirc-Pekarek ist ein al. rm no Alltag ganz

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Familie Pirc-Pekarek

Fotos: Ulrike Rauch

SLOWENISCHE, ARGENTINISCHE, ITALIENISCHE WURZELN Die Familie Pirc-Pekarek lebt seit 1994 in Graz. Kennengelernt haben sich Spela und Walter davor in Ljubljana, bei der Arbeit. Der Sohn Lukas (10) ist dort geboren, die Mädchen Julia (8) und Laura (6) in Graz. Beide Elternteile haben in den USA studiert. Beide studierten Wirtschaft, Spela in Ohio und Walter in South Carolina. Spela ist in Slowenien aufgewachsen, Walter hat in Argentinien seine Kindheit verbracht. Da sein Opa Italiener war, hat Walter schon als Kind Italienisch gelernt. Genauso wie sein Sohn Lukas jetzt. Spanisch hat Vater Walter von der Mutter gelernt – sie ist Argentinierin. Wenn die Kinder ihre „Haussprachen“

auflisten, sagt Laura ganz stolz: „Aber ich kann auch noch eine sechste Sprache. Das ist Steirisch!“

KINDERLIEDER IN VIER SPRACHEN Es wird nichts erzwungen in der Familie Spirc-Pekarek, und die Muttersprache bleibt Slowenisch. Durch die Nähe zu Slowenien und durch viele Besuche bei slowenischen Verwandten ist Slowenisch für die Kinder am einfachsten, obwohl Lukas meint, er hat eigentlich am liebsten Englisch. In der Schule haben alle drei Kinder Slowenisch als Wahlfach und natürlich sehen sie auch das slowenische Kinder-TV. Deutsch war für die drei hübschen Kinder nie ein Problem, weil sie in Graz in den Kindergarten gegangen sind und von klein auf Deutsch gesprochen haben – auch zuhause. Weil der Papa viel arbeitet und wenig zu Hause ist, wird der „Hausunterricht“ in Spanisch und Italienisch durch entsprechende Kinderfilme und Fernsehen unterstützt. Es gibt Kinderlieder, die die Kleinen in vier Sprachen, gehört haben. Besonders beliebt war Pujsa Pepa, Pocoyo und Peppa Pig. Trotz vier Sprachen mischen die Kinder sie nicht. Zumindest nicht in einem Satz. Aber schon der nächste Satz kann bei ihnen in einer anderen Sprache erfolgen. Ein polyglotter Alltag, der bei den Pirc-Pekareks ganz normal ist.

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