Leseprobe "Blue Like Jazz: Unfromme Gedanken über christliche Spiritualität"

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Empfehlungen für

Blue Like Jazz „Man findet nur schwer Leute, die aus einer Haltung der Hingabe heraus über Gott schreiben, sich aber trotzdem menschlich und ehrlich anhören, anstatt jedes Wort durch den Filter der religiösen Subkultur zu sieben. Donald Miller ist so jemand. Außerdem schreibt er mit Witz, Flair und obendrein mit einem bewussten Blick auf sich selbst.“ John Ortberg, Autor von Jeder ist normal, bis du ihn kennenlernst

„Ich wüsste kein besseres Buch als Blue Like Jazz, um Leuten, denen das Christentum (als Glaubenssystem) vorkommt wie eine schwierige Mathematikaufgabe oder ein Verkehrsstau, christliche Spiritualität (als Lebensweise) vorzustellen. Donald Millers Schreibstil ist wie ein gut improvisiertes Solo – flüssig, angenehm, überraschend, erhebend und voller Seele und Wut und Freude. Als ich die letzte Seite gelesen hatte, fühlte ich mich angefüllt mit Wärme und Hoffnung und zuversichtlich, dass dieses großartige Buch seine Schönheit im Leben unzähliger Menschen ebenso widerhallen lassen wird, wie es das in meinem getan hat.“ Brian McLaren Pastor (www.crcc.org) Autor von A New Kind of Christian Vertreter der Emergent Church (www.emergentvillage.com)

„Donald Miller hat das erreicht, wofür sich jeder christliche Schriftsteller die Finger wund tippt: geistliche Relevanz. In seinem jüngsten Werk hat er sich rückhaltlos offenbart. Gespickt mit überraschendem Humor, bissigen Einsichten und treffenden Zusammenfassungen, ist Blue Like Jazz eine nachdenklich machende Reise hin zu einem Gott, der nicht nur real, sondern auch erreichbar ist. David Allen HM Magazine


„Wir brauchen mehr Leute wie Donald Miller, die bereit sind, nicht nur die Schrift, sondern auch die Kultur auszulegen.“ Ben Young Moderator der US-Radiosendung The Single Connection und Koautor von The One und Devotions for Dating Couples

„Ehrlich, leidenschaftlich, ungeschönt … echt. Wie Jazzmusik ist Donald Millers Buch ein aus Freiheit geborenes Lied. Wie gute Musik ist Blue Like Jazz mehr als nur wahr – es ist ein bedeutsames Buch. Es handelt von Jesus, von seiner Geschichte und von der Freiheit, die er Ihnen schenken möchte.“ Paul Louis Metzger, Ph. D. Dozent für christliche Theologie und Theologie der Kultur am Multnomah Biblical Seminary

„Donald Miller betrachtet den Glauben, wie ein großer Jazzmusiker eine einfache Melodie betrachtet. Er sieht ihn als etwas, das erkundet werden will, ein Pfad zu einer Schatztruhe noch kostbarerer Melodien, Rhythmen und Harmonien. Danke, Don, für das Wagnis, zu graben und zu forschen. Und danke, dass du uns deine wunderbaren Entdeckungen mitteilst.“ Mark Atteberry Pastor und Autor von The Samson Syndrome

„Gott sei Dank für Jazz! Aus einer improvisierten Mischung aus sarkastischem Humor, nichts verhehlender Seelenschau und provokativen Kommentaren stellt Donald Miller eine literarisch und intellektuell brillante Komposition zusammen. Ebenso wie die Musik ist Blue Like Jazz etwas, das man nicht so sehr liest als vielmehr fühlt – man fühlt es und merkt, wie einen seine betörende melodische Stimme verändert.“ Julie Ann Barnhill Vortragsrednerin, Autorin des Bestsellers Scandalous Grace


Inhalt Vorbemerkung des Autors 1. Anfänge: Gott kommt mir auf einem Feldweg entgegen 2. Probleme: Was ich vom Fernsehen lernte 3. Magie: Das Problem mit Romeo 4. Veränderungen: Der gefundene Groschen 5. Glaube: Der Sex der Pinguine 6. Erlösung: Sexy Möhrchen 7. Gnade: Das Königreich der Bettler 8. Götter: Unsere winzigen unsichtbaren Freunde 9. Veränderung: Neuanfänge mit einem uralten Glauben 10. Glaube: Wie man cool wird 11. Bekenntnis: Heraus aus der Deckung 12. Kirche: Wie ich hingehe, ohne sauer zu werden 13. Romantik: Frauen kennenlernen ist ganz einfach 14. Allein: Dreiundfünfzig Jahre im Weltall 15. Gemeinschaft: Zusammenleben mit Freaks 16. Geld: Gedanken über das Mietezahlen 17. Anbetung: Das mystische Wunder 18. Liebe: Wie man andere Leute wirklich lieben kann 19. Liebe: Wie man sich selbst wirklich lieben kann 20. Jesus: Die Züge seines Gesichts Danksagungen

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Vorbemerkung des Autors

Ich mochte nie Jazz, weil Jazz sich nicht auflöst. Aber eines Abends sah ich vor dem Bagdad Theatre in Portland einen Mann Saxofon spielen. Ich blieb eine Viertelstunde lang stehen, und er machte nicht ein einziges Mal seine Augen auf. Seitdem mag ich Jazz. Manchmal muss man jemandem dabei zusehen, wie er etwas liebt, bevor man es selbst lieben kann. Es ist, als würde der andere einem den Weg zeigen. Früher mochte ich Gott nicht, weil Gott sich nicht auflöste. Aber das war, bevor das alles passierte.

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Die erste Generation in Amerika, die die Sklaverei hinter sich gelassen hatte, erfand die Jazzmusik. Sie ist eine freie Ausdrucksform. Sie kommt aus der Seele, und sie ist wahr.


1 Anfänge Gott kommt mir auf einem Feldweg entgegen

I m F er n sehe n h ö rte ich ei n mal ei n e n I n der sagen, Gott sei im Wind und im Wasser, und ich staunte darüber, was für ein schöner Gedanke das war, denn das bedeutete, dass man in ihm schwimmen oder ihn sich wie eine Brise ins Gesicht wehen lassen konnte. Ich stehe noch am Anfang meiner Geschichte, aber ich glaube, dass ich mich ausdehnen werde bis in die Ewigkeit, und im Himmel werde ich dann einmal an diese frühen Tage zurückdenken; diese Tage, als es mir schien, als wäre Gott auf einem Feldweg und ginge mir entgegen. Vor Jahren war er nur ein tanzender kleiner Fleck in der Ferne; jetzt ist er schon so nah, dass ich seinen Gesang hören kann. Bald werde ich seine Gesichtszüge erkennen können. Mein Vater verließ mein Zuhause, als ich noch klein war. Als ich dann später zum ersten Mal mit dem Gedanken in Berührung kam, Gott sei der Vater, stellte ich ihn mir als einen steifen, schmierigen Mann vor, der bei uns einziehen und mit meiner Mutter das Bett teilen wollte. In meiner Erinnerung war das eine schreckliche und bedrohliche Vorstellung. Wir waren eine arme Familie, die in eine wohlhabende Gemeinde ging; also stellte ich mir Gott als einen Mann vor, der einen Haufen Geld hatte und ein dickes Auto fuhr. In der Gemeinde wurde uns gesagt, wir wären Kinder Gottes, aber ich wusste, dass Gottes Familie besser war als meine, 1


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dass er eine Tochter hatte, die als Cheerleader auftrat, und einen Sohn, der Football spielte. Da ich mit einer zu kleinen Blase auf die Welt gekommen bin, habe ich ins Bett gemacht, bis ich zehn war, und war später völlig verschossen in die Ballkönigin, die auf eine politische Art nett zu mir war, was sie vermutlich von ihrem Vater gelernt hatte, der Vorstand einer Bank war. Aber ich kam nicht wirklich an sie ran. Und so war die Kluft, die mich von Gott trennte, von Anfang an so tief wie der Wohlstand und so breit wie die Mode. In Houston, wo ich aufwuchs, änderte sich nur einmal im Jahr das Wetter; Ende Oktober, wenn die Kältewelle von Kanada herunterkommt. Dann riefen immer die Wetterfrösche in Dallas bei den Wetterfröschen in Houston an, damit sie den Leuten sagen konnten, sie sollten ihre Pflanzen hereinholen und auf ihre Hunde aufpassen. Die Kälte kam den Interstate Highway herunter, hoch und blau, rief Reflexionen auf den verspiegelten Fenstern der Hochhäuser hervor und zog über den Golf von Mexiko hinweg, als wollte sie beweisen, dass der Himmel mächtiger ist als das Wasser. In Houston laufen im Oktober alle Leute mit einer gewissen Energie herum, so als würden sie am nächsten Tag zum Präsidenten gewählt werden, oder als wären sie im Begriff zu heiraten. Im Winter fiel es mir leichter, an Gott zu glauben, und ich vermute, das hatte mit dem anderen Wetter zu tun, mit der Farbe der Blätter, die sich an die Bäume klammerten, mit dem Rauch aus den Schornsteinen großer Häuser in wohlhabenden Wohngegenden, die ich mit dem Fahrrad durchstreifte. Fast war ich überzeugt, wenn Gott in einer dieser Gegenden wohnte, würde er mich einladen, hereinzukommen, mir eine heiße Schokolade machen und sich mit mir unterhalten, während seine Kinder Nintendo spielen und mir über die Schulter dreckige Blicke zuwerfen würden. In diesen Wohngegenden radelte ich herum, bis mir die Nase gefror; dann fuhr ich wieder nach Hause, wo ich mich in meinem Zimmer einschloss, eine Al-Green-Platte auflegte 2


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und die Fenster aufriss, um die Kälte zu spüren. Stundenlang streckte ich mich auf meinem Bett aus und stellte mir vor, wie es wäre, in einem großen Haus zu wohnen und Besuch von wichtigen Freunden zu bekommen, die nagelneue Fahrräder fuhren, deren Väter teure Haarschnitte hatten und in den Nachrichten interviewt wurden. Mit meinem eigenen Vater war ich nur dreimal zusammen. Alle diese Besuche fanden in meiner Kindheit statt, und draußen war es dabei jedes Mal kalt. Er war Basketball-Coach, und warum er meine Mutter verließ, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass er groß und gut aussehend war und nach Bier roch; sein Kragen roch nach Bier, seine Hände nach Bier, und sein raues, unrasiertes Gesicht roch nach Bier. Ich selber trinke nicht viel Bier, aber die Würze dieses Geruchs hat mich nie verlassen. Mein Freund Tony der Beatdichter trinkt ab und zu ein Bier im Horse Brass Pub, und der Geruch entrückt mich jedes Mal an einen angenehmen Ort, der nur in meinen Kindheitserinnerungen existiert. Mein Vater war ein großer, kräftiger Mann, größer als die meisten anderen, glaube ich; hochgewachsen und stark wie ein Fluss bei Hochwasser. Während meines zweiten Besuchs bei meinem Vater sah ich ihn einen Football quer durch eine Turnhalle schleudern, in einer unaufhaltsamen Schraube durch den gegnerischen Ring und dann gegen das Brett dahinter, dass es wackelte. Es gab keine Handlung, die mein Vater vollbrachte, in die ich mich nicht vertieft hätte wie in ein Wunderwerk. Ich beobachtete ihn, wie er sich rasierte und die Zähne putzte, seine Socken und Schuhe anzog, mit Bewegungen, die mehr Kraft als Eleganz hatten, und ich stand dabei in seiner Schlafzimmertür und hoffte, er würde mein betretenes Starren nicht bemerken. Bewusst schaute ich hin, wenn er sich ein Bier aufmachte und die winzige Dose in seiner großen Hand fast verschwand, wenn das Bier über den Dosenrand schäumte und seine roten Lippen ihn abschlürften und seine Zunge die prickelnden Tropfen aus seinem Schnurrbart leckte. Er war eine fantastische Maschine von einem Mann. 3


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Wenn meine Schwester und ich meinen Vater besuchten, aßen wir jeden Abend vom Grill, was wir zu Hause bei meiner Mutter nie taten. Mein Vater mischte immer zerkrümelte Cracker in das Fleisch und fügte Salz und Soßen hinzu, und ich dachte, er wäre vielleicht so etwas wie ein Starkoch, jemand, der eigentlich Bücher darüber schreiben sollte, wie man Fleisch zubereitet. Später fuhr er dann mit meiner Schwester und mir in den Supermarkt, und jeder von uns durfte sich ein Spielzeug aussuchen. Dann gingen wir durch den langen Gang voller funkelnder Schätze, voller Spielzeuglaster und Barbies und Pistolen und Spielen. In der Schlange vor der Kasse klammerte ich mich still und schweigsam an die glänzende, glatte Schachtel. Auf der Heimfahrt durften wir abwechselnd auf seinem Schoß sitzen, damit wir fahren konnten, und derjenige, der nicht steuerte, durfte den Ganghebel bedienen, und derjenige, der am Lenkrad saß, durfte aus der Bierdose meines Vaters trinken. Niemand könnte je einen Menschen mehr bewundern, als ich diesen Mann bewunderte. Von jenen drei Besuchen bei ihm kenne ich jenes Gemisch aus Liebe und Furcht, das nur in dem Bild eines Jungen von seinem Vater zu finden ist. Zwischen seinen Anrufen lagen Jahre. Immer war meine Mutter am Telefon, und ich merkte an der Art, wie sie schweigend in der Küche stand, dass er es war. Ein paar Tage später kam er dann zu Besuch, jedes Mal verändert, älter geworden – mit neuen Falten, graueren Haaren, dickerer Haut um die Augen – und binnen weniger Tage fuhren wir übers Wochenende zu ihm in die Wohnung. Etwa um die Zeit, als ich in die Mittelschule kam, verschwand er völlig. o

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Heute frage ich mich, wieso Gott sich überhaupt als „Vater“ bezeichnet. Mir scheint das im Licht des irdischen Erscheinungsbildes dieser Rolle ein Marketingfehler zu sein. Warum sollte Gott sich Vater nennen wollen, wenn doch so viele Väter ihre Kinder im Stich lassen? 4


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Für mich als Kind bot der Titel Gottvater ein vages, vernebeltes Gegenüber. Davon, was einen Vater ausmachte, verstand ich etwa so viel wie von der Aufgabe eines Hirten. Das ganze Vokabular über Gott schien mir aus der Antike zu stammen, aus einer Zeit vor Computerspielen, PDAs und dem Internet. Hätte man mich gefragt, so hätte ich vermutlich gesagt, dass es einen Gott gibt, aber ich hätte nicht aus persönlicher Erfahrung eine konkrete Definition formulieren können. Vielleicht lag es daran, dass meine Sonntagsschule sich sehr darum bemühte, uns beim Auswendiglernen von Geboten zu helfen, aber weniger darum, uns zu zeigen, wer Gott war und wie wir ihm begegnen konnten; oder vielleicht bemühte man sich auch darum, und ich hörte nur nicht zu. Trotzdem, mit meinem unpersönlichen Gott kam ich prima zurecht, da ich nach dem echten keinerlei Bedürfnis hatte. Ich brauchte keine Gottheit, die ihre Hand aus dem Himmel herabstreckte und mir die Nase abwischte, sodass all das für mich eigentlich keine Rolle spielte. Falls Gott mir damals schon auf einem Feldweg entgegenkam, dann war er noch jenseits einer Hügelkuppe, und ich hatte sowieso noch nicht angefangen, nach ihm Ausschau zu halten. o

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Ich fing an zu sündigen, als ich ungefähr zehn war. Ich glaube jedenfalls, dass es mit zehn Jahren war; es könnte auch früher gewesen sein, aber da zehn etwa das Alter ist, in dem ein Junge anfängt zu sündigen, bin ich ziemlich sicher, dass das ungefähr hinkommt. Mädchen fangen erst mit dreiundzwanzig oder so an zu sündigen, aber die gehen ja auch von Natur aus das Leben viel sanfter an und müssen nicht alles so überstürzen. Anfangs sündigte ich nur ein bisschen – kleine Lügen, nicht ganz ehrliche Ausflüchte gegenüber Lehrern, was die Hausaufgaben betraf, und so weiter. Ich eignete mir eine beträchtliche Kunstfertigkeit darin an, sah nie meinem Lehrer 5


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in die Augen, sprach immer schnell, aus dem Zwerchfell heraus, um mir bei Täuschungsmanövern nie eine Unsicherheit anmerken zu lassen. „Wo sind deine Hausaufgaben?“, fragte mein Lehrer. „Ich habe sie verlegt.“ „Du hast sie gestern schon verlegt. Letzte Woche auch schon.“ „Ich bin so schrecklich unordentlich und verlege dauernd Sachen. Ich muss dringend lernen, besser Ordnung zu halten.“ (Immer schön sich selber tadeln.) „Was soll ich nur mit dir machen, Donald?“ „Ich bin dankbar, dass Sie so geduldig mit mir sind.“ (Immer schön dankbar sein.) „Ich sollte mal mit deiner Mutter telefonieren.“ „Die ist taub. Bootsunfall. Piranhas.“ (Immer schön dramatisch sein. Gestik einsetzen.) Außerdem gab ich jede Menge Flüche von mir. Nicht etwa Flüche von der kirchenfeinen Sorte – verflixt und zugenäht, Donnerwetter und Scheibenkleister – sondern richtig robuste Flüche, für die ein Film FSK 16 bekommen würde; die Sorte, die nur Jungs untereinander verwenden. Flüche sind der reine Wahnsinn, wenn man zwölf ist, sie prickeln im Mund wie eine Batterie an der Zunge. Mein bester Freund damals, Roy, und ich gingen immer von der Schule nach Hause und machten am Spielplatz bei der Methodistenkirche halt, um Travis Massie und seine große Schwester Patty zu beschimpfen. Travis machte sich immer lustig über Roy, weil der mit Nachnamen Niswanger hieß. Ich brauchte zwei Jahre, bis ich dahinter kam, was an dem Namen Niswanger so lustig war. Ehe das Jahr zu Ende war, wurden aus Worten Handgreiflichkeiten, und mit dreizehn bekam ich meinen ersten Faustschlag ab. Voll ins Gesicht. Es war Tim Mitchell, ein kleiner blonder Junge, der in meine Gemeinde ging, und die ganze Zeit, während wir uns gegenseitig umkreisten, tönte er, er werde mir eine dicke Lippe verpassen, während ich ihm Flüche in unvollständigen Sätzen zubrüllte; richtig 6


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beängstigende Flüche. Dann schlug er mir ins Gesicht, und ich ging zu Boden unter einem Himmel, leuchtend blau wie Jazzmusik; Kinder lachten, und Patty Massie deutete mit dem Finger auf mich, und Roy war die ganze Sache furchtbar peinlich. Danach gab es eine Menge Geschrei, und Tim kniff den Schwanz ein, als Roy sagte, er werde Tim eine dicke Lippe verpassen. Unterdessen sang Travis die ganze Zeit: „Nice-wanger, Nice-wanger, Nice-wanger.“ Obwohl, schon bevor das alles passierte, als ich noch im Kindergarten war, musste ich einmal zum Leiter, weil ich während der Mittagsschlafzeit einem Mädchen unter den Rock geguckt hatte, was ich wohl auch tatsächlich getan hatte, wenn auch nicht aus dem Motiv, das mir sofort unterstellt wurde. Viel wahrscheinlicher ist, dass ihr offener Rock mir den Blick auf etwas anderes versperrte, was ich eigentlich anschauen wollte, denn ich erinnere mich noch recht gut an dieses Alter und weiß, dass ich nicht das leiseste Interesse daran hatte, was auch immer sich unter dem Rock eines Mädchens verbergen mochte. Mr Golden, der gerade mal über seinen Schreibtisch hinweggucken konnte, mit seinem Zeigefinger wedeln konnte wie ein Hund mit seinem Schwanz und einen Krawattenknoten trug, so groß wie ein Kropf, hielt mir eine gewaltige Gardinenpredigt darüber, wie wichtig es doch sei, mich wie ein Gentleman zu benehmen. Genauso gut hätte er mir etwas über Physik oder Politik erzählen können, weil das, worauf ich angeblich scharf gewesen war, mich in Wirklichkeit sowieso nicht interessierte. Aber das änderte sich schlagartig im Sommer meines zwölften Lebensjahres. Auf der anderen Straßenseite gegenüber von Roys Haus lag ein großes, leeres Feld, über das Eisenbahngleise verliefen, und dort war es, dass ich mich zum ersten Mal mit dem Adam identifizierte, von dem am Anfang der Bibel die Rede ist, denn dort sah ich zum ersten Mal eine nackte Frau. Als wir eines Tages mit unseren Rädern dort herumtobten, stieß Roy auf eine Zeitschrift, deren Seiten grellbunt mit farbigen Schlagzeilen und schlechter Reklame gefüllt waren. Roy nahte 7


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sich der Zeitschrift mit einem Stöckchen in der Hand, und ich stand hinter ihm, während er aus der Entfernung einer Zweiglänge die Seiten umblätterte. Uns war, als hätten wir eine Pforte in eine Welt voller Magie und Wunder gefunden, in der Geschöpfe voller Schönheit in ihrer reinsten Form existierten. Ich sage, wir hatten eine Pforte gefunden, aber es war noch mehr als das; es war, als wären wir durch die Pforte hindurchgeführt worden, denn ich spürte in meiner Brust an der Geschwindigkeit, mit der mein Herz pochte, dass ich gerade ein Abenteuer erlebte. Ich fühlte mich so, wie sich vielleicht ein Bankräuber fühlt, wenn er im Schalterraum die Pistole zieht. Schließlich traute sich Roy, das Magazin mit bloßen Händen anzufassen, und nahm sich gründlich eine Seite nach der anderen vor. Nachdem wir uns tiefer in den Wald zurückgezogen hatten, abseits der Pfade, die uns und unseren Fahrrädern vertraut waren, reichte er es mir weiter. Wir redeten nicht, sondern blätterten nur und huldigten den wundersamen Formen, der Schönheit, der unter allen Gebirgen und Gewässern nichts gleichkommt. Mir war, als würde ich in ein Geheimnis eingeweiht, ein Geheimnis, das alle anderen Menschen auf der Welt schon immer gekannt und mir verheimlicht hatten. Stundenlang blieben wir dort, bis die Sonne sank; dann versteckten wir unseren Schatz unter Stämmen und Ästen und schworen einander, niemandem von unserem Fund zu erzählen. Als ich an jenem Abend im Bett lag, liefen die Bilder in meinem Geist an mir vorbei wie ein Film, und ich spürte die nervöse Energie eines wilden Flusses durch meine unteren Eingeweide strömen und in Wellen gegen die graue Masse meines Verstandes anbranden, dass es mich in eine Art Ekstase versetzte, aus der ich nie wieder zurückzukehren glaubte. Diese neue Information schien das Gras erst richtig grün und den Himmel erst richtig blau zu machen, und noch ehe ich je um einen Grund zu leben gebeten hatte, wurde mir nun einer geboten: nackte Frauen. 8


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All dies wurde verdrängt durch meine erste Begegnung mit dem Schuldgefühl, einer Empfindung, die mir bis heute vollkommen unergründlich ist, so wie Funksprüche von Außerirdischen auf einem anderen Planeten, die mir sagen, es gebe im Universum so etwas wie richtig und falsch. Und nicht nur sexuelle Sünde rief diese Schuldgefühle hervor, sondern auch Lügen, gehässige Gedanken und die Steine, die ich mit Roy nach Autos warf. Aus meinem Leben war etwas geworden, das es zu verstecken galt; es gab Geheimnisse darin. Meine Gedanken waren heimliche Gedanken, meine Lügen waren Barrieren, die meine Gedanken schützten, meine scharfe Zunge eine Waffe, um mein hässliches Ich zu verteidigen. Eingeschlossen in meinem Zimmer isolierte ich mich von meiner Schwester und meiner Mutter; meistens nicht, um irgendwelche Sünden zu begehen, sondern einfach nur, weil aus mir eine merkwürdig heimlichtuerische Kreatur geworden war. An diesem Punkt kamen meine frühen Vorstellungen von Religion ins Spiel. Meine in der Sonntagsschule erlernten Vorstellungen von Sünde und davon, dass wir sie lassen sollten, machten mir schwer zu schaffen. Es kam mir so vor, als müsste ich etwas abbüßen, so wie ein Kind sich fühlt, wenn es sich endlich entschließt, sein Zimmer aufzuräumen. Mein fleischliches Denken hatte meinen Kopf völlig durcheinandergebracht, und ich fühlte mich, als stünde ich im Eingang zu meinem Verstand, ratlos, wo ich anfangen, wie ich meine Gedanken sortieren sollte, damit sie nicht mehr so außer Kontrolle waren. Da merkte ich, dass es mir mithilfe der Religion vielleicht gelingen könnte, die Sache ein wenig abzukühlen, mich wieder auf Normalpuls zu bringen, sodass ich meinen Spaß haben könnte, ohne mich schuldig zu fühlen oder so etwas. Über diesen Sündenkram wollte ich einfach nicht mehr nachdenken müssen. 9


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Allerdings stand für mich eine gedankliche Mauer zwischen Religion und Gott. Ich konnte mich in der Religion ergehen und nie auf irgendeiner emotionalen Ebene begreifen, dass Gott eine Person war, ein wirkliches Wesen mit Gedanken und Gefühlen und dergleichen. Für mich war Gott eher ein Gedanke. Er war so etwas wie ein Spielautomat mit sich drehenden Rädern voller Bilder, der je nach dem Verhalten, vielleicht auch nach dem Zufall, Preise ausschüttete. Dieser Spielautomaten-Gott verschaffte mir Erleichterung von dem stechenden Schuldgefühl und die Hoffnung, dass mein Leben sich auf einen Sinn und Zweck hin ordnen würde. Leider war ich zu dämlich, um zu überprüfen, ob dieser Spielautomatengedanke etwas taugte. Ich fing einfach an, um Vergebung zu bitten, und dachte, dann würden vielleicht drei Kirschen nebeneinander erscheinen, die Lichter oben am Automaten würden blinken, und unten würden glänzende Münzen günstigen Geschicks in den Schacht klimpern. Was ich da machte, hatte mehr mit Aberglauben zu tun als mit Spiritualität. Aber es funktionierte. Wenn mir etwas Gutes widerfuhr, schrieb ich es Gott zu, und wenn nicht, dann ging ich zurück zum Spielautomaten, kniete zum Gebet nieder und zog noch ein paar Mal am Hebel. Dieser Gott gefiel mir sehr, weil man kaum mit ihm reden konnte und Antwort gab er nie. Aber alles Schöne hat einmal ein Ende. An Heiligabend, als ich dreizehn war, löste sich mein Spielautomaten-Gott in Luft auf. In Gedanken nenne ich bis heute jenen Abend die „Auflösung des Nebels“, und er ist eine der wenigen Gelegenheiten, von denen ich kategorisch behaupten kann, Gott begegnet zu sein. Obwohl ich fast sicher bin, dass solche Begegnungen eigentlich Routine sind, fühlen sie sich meist einfach nicht so metaphysisch an wie die Ereignisse jenes Abends. Es war ganz banal, aber es war eine jener tiefen Offenbarungen, die nur Gott hervorrufen kann. Sie bestand darin, dass ich merkte, dass ich nicht allein in meiner Umgebung war. Ich spreche nicht von Geistern oder Engeln oder dergleichen; ich meine andere Leute. So 10


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albern es sich anhört, spät an jenem Abend wurde mir klar, dass andere Menschen Gefühle und Ängste hatten und dass die Art, wie ich ihnen begegnete, wirklich Bedeutung hatte, dass ich sie froh oder traurig machen konnte, je nachdem, wie ich mit ihnen umging. Nicht nur, dass ich sie froh oder traurig machen konnte, ich war auch verantwortlich für die Art und Weise, wie ich ihnen begegnete. Jedenfalls fühlte ich mich plötzlich verantwortlich. Es war meine Aufgabe, sie froh zu machen. Es war nicht meine Aufgabe, sie traurig zu machen. Wie gesagt, es hört sich sehr banal an, aber wenn man das wirklich zum ersten Mal kapiert, trifft es einen wie ein Hammer. Mich haute es um. Dieser Hammer traf mich folgendermaßen: Meiner Mutter hatte ich in jenem Jahr ein schäbiges Weihnachtsgeschenk gekauft – ein Buch, für dessen Inhalt sie sich niemals interessieren würde. Ich hatte einen gewissen Geldbetrag zur Verfügung gehabt, um davon Geschenke zu kaufen, und den größten Teil davon hatte ich für Angelzeug ausgegeben, da Roy und ich angefangen hatten, in dem Flüsschen hinter dem Wal-Mart zu angeln. Meine erweiterte Familie feiert die Bescherung an Heiligabend, während die engere Familie ihre Geschenke am nächsten Morgen auspackt, und so häuften sich an jenem Abend in meinem Zimmer die schönsten Geschenke – Spielzeug, Spiele, Süßigkeiten und Kleider – und als ich im Bett lag, zählte und klassifizierte ich sie im Mondlicht, wobei den batteriebetriebenen Spielzeugen die höchste Bedeutung zukam, während die Unterwäsche völlig irrelevant war. So lag ich da im Mondlicht und döste unruhig vor mich hin, als ich plötzlich hochfuhr und mir der Gedanke kam, dass ich das Geschenk für meine Mutter von dem Wechselgeld gekauft hatte, das noch übrig war, nachdem ich mir meine eigenen Wünsche erfüllt hatte. Mir wurde klar, dass ich die Freude meiner Mutter hinter meine eigenen materiellen Wünsche zurückgestellt hatte. 11


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Das war eine ganz andere Art von Schuldgefühl als alles, was ich bisher erlebt hatte. Es war ein schweres Schuldgefühl, eine Sorte, gegen die ich nichts machen konnte. Das Gefühl war quälend, eine Empfindung, wie man sie hat, wenn man sich fragt, ob man vielleicht zwei Persönlichkeiten hat und die andere, die fremde Persönlichkeit Dinge tut, die man sich nicht erklären kann, böse und schreckliche Dinge. Dieses Schuldgefühl lastete so schwer auf mir, dass ich aus dem Bett auf die Knie fiel und nicht den Spielautomaten-Gott, sondern einen lebendigen, fühlenden Gott anflehte, er möge machen, dass der Schmerz aufhörte. Ich kroch aus meinem Zimmer hinaus auf den Flur vor die Tür meiner Mutter, wo ich eine Stunde lang oder so liegen blieb, die Ellbogen und das Gesicht auf dem Boden, wobei ich ab und zu eindöste, bis schließlich die Last von mir wich und ich in mein Zimmer zurückkehren konnte. Am nächsten Morgen machten wir unsere restlichen Geschenke auf, und ich freute mich über die Sachen, die ich bekam; doch als Mutter ihr blödes Buch auspackte, bat ich sie um Verzeihung und sagte ihr, wie sehr ich mir wünschte, ich hätte mehr getan. Natürlich tat sie so, als freute sie sich über das Geschenk, und behauptete, über das Thema hätte sie schon immer mehr wissen wollen. Ich fühlte mich immer noch grauenhaft, als sich die Familie am Abend um den Esstisch versammelte, der so mit Köstlichkeiten beladen war, dass ein ganzes Königreich sich daran hätte laben können. Zusammengesunken saß ich auf meinem Stuhl, auf Augenhöhe mit den Schüsseln voller Kartoffeln und Mais, und ließ mir von zehn unentwegt redenden Frauen, die alle froh waren, dass der Feiertag seinem Ende entgegenging, die Haare glatt streichen. Und während sie aßen und redeten und wieder einmal ein Weihnachtsfest verplauderten, schämte ich mich in Grund und Boden und fragte mich im Stillen, ob die überhaupt ahnten, dass sie mit Hitler persönlich am Tisch saßen.

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7 Gnade Das Königreich der Bettler

I ch war einmal ein christlicher F undamentalist. Das hielt einen Sommer lang an. Es war in derselben Zeit, in der ich versuchte, mich so zu „benehmen“, als ob ich das Licht liebte, statt mich so zu „benehmen“, als ob ich die Dunkelheit liebte. In der Zeit ärgerte ich mich immer fürchterlich, wenn Prediger zu viel über Gnade redeten, weil sie mich damit in Versuchung brachten, nicht mehr so diszipliniert zu sein. Was die Leute meiner Meinung nach brauchten, war ein Tritt in den Hintern, und wenn meine Frömmigkeit zu wünschen übrig ließ, dann deshalb, weil die anderen um mich her sich nicht genug Mühe gaben. Ich dachte, wenn sich das mit der Gnade herumsprach, würde sich die ganze Gemeinde in ein Bordell verwandeln. Ich war ein ziemlicher Trottel, glaube ich. Ihren Höhepunkt erreichte meine Selbstgerechtigkeit, als ich in einem christlich-fundamentalistischen Lager in Colorado mitarbeitete. Dort bewohnte ich mit ungefähr sieben anderen Männern eine Hütte in den Rocky Mountains, und wir alle verfielen in dieses militante Christentum, das sagt, man solle so leben wie ein Navy SEAL für Jesus. Ich werde jetzt noch rot, wenn ich das zugebe. Wir fasteten dauernd, beteten jeden Tag zweimal zusammen, lernten Bibelverse auswendig und hauten uns gegenseitig auf die Schultern und so. Der Sommer ging zu Ende, 87


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und wir waren mächtig stolz auf uns, weil wir unheimlich viel in der Bibel gelesen und niemanden geschwängert hatten. Freilich machten wir uns Sorgen, was aus uns werden würde, wenn wir uns nun trennten, denn wir dachten, wenn wir uns gegenseitig nicht mehr hätten, würden wir klein beigeben und anfangen, Drogen an Kinder zu verkaufen. Einer von uns, wahrscheinlich war ich das wohl, beschloss, einen Vertrag aufzusetzen, in dem lauter Dinge aufgelistet waren, die wir ein ganzes Jahr lang nicht tun würden, zum Beispiel Fernsehen oder Pfeife rauchen oder Musik hören. Das war so etwas wie die Verfassung unserer individualistischen Selbstgerechtigkeit. In dem Vertrag stand, wir würden jeden Tag in der Bibel lesen, beten und bestimmte lange Abschnitte der Bibel auswendig lernen. An einem Abend saßen wir alle mit Stift und Papier herum und brachten Opfer dar, wobei jeder von uns die anderen zu übertrumpfen versuchte, indem er noch größere und weißere Lämmer zur Schlachtbank führte. Wir waren das genaue Gegenteil eines Verbindungshauses: Statt unser Testosteron in Trinkgelage oder wilde Partys zu kanalisieren, versuchten wir uns zu Jesus aufzuraffen, uns Brust gegen Brust mit ihm zu rempeln sozusagen, wie Bibelverkäufer auf Anabolika. Ich fand eine Mitfahrgelegenheit zurück nach Oregon und suchte mir eine Vorortwohnung, wo ich niemanden kannte und niemand mich kannte. Um den Hals trug ich so eine Kette, eine Perlenschnur, und jede Perle stand für einen der Männer, die an dem Vertrag beteiligt waren. In der Mitte hing ein Kreuz, als Erinnerung, dass wir uns alle über diese Sache einig geworden waren und ein Jahr lang als Mönche leben würden. Anfangs ging das auch ganz einfach, da ich ja eine neue Wohnung und so hatte, in einer neuen Stadt, aber nach einer Weile fing diese Halskette an, mir die Kehle zuzuschnüren. Die erste Heldentat, die auf der Strecke blieb, war die Bibel. Nicht dass ich sie nicht hätte lesen wollen oder nicht mit ihr einverstanden gewesen wäre, aber ich vergaß sie einfach. 88


Gnade

Sie lag neben meinem Bett auf dem Fußboden, unter einem Haufen schmutziger Wäsche. Aus den Augen, aus dem Sinn. Ich dachte einen Monat lang überhaupt nicht mehr an sie, bis ich irgendwann mein Zimmer aufräumte, einen Haufen schmutziger Wäsche hochhob, und siehe da, da lag ja meine Bibel und starrte mir entgegen wie ein totes Haustier. Eines Abends lief ich auf dem Pioneer Square in der Innenstadt von Portland herum, als mir gegenüber auf der anderen Straßenseite ein Pfeifen- und Tabaksladen auffiel. Ich beschloss, mal kurz hineinzugehen und mich umzuschauen. Heraus kam ich mit einer nagelneuen Pfeife, von der ich mir schwor, sie nicht zu rauchen, bis das Jahr vorüber wäre. Es war ein gutes Angebot gewesen, wissen Sie, nur um die fünfzehn Dollar oder so. Den Tabak im Sonderangebot konnte ich auch nicht auslassen, obwohl er mir vergammeln würde, ehe der Vertrag auslief. Dann setzte ich mich auf den Pioneer Square zu den Skateboardfahrern und Musikern, Schachspielern und Kaffeetrinkern. Stopfen konnte ich mir meine Pfeife ja immerhin mal, nur um auszuprobieren, wie sie sich anfühlte. Ich steckte sie mir in den Mund, um mir dieses Gefühl in Erinnerung zu rufen, wie das war, das Mundstück zwischen den Zähnen zu haben. Dann zündete ich sie mir an. Dann rauchte ich sie. Nachdem das mit der Bibel und mit der Pfeife nicht geklappt hatte, beschloss ich, es mit dem Fernsehaspekt des Vertrages nicht ganz so eng zu sehen. In meiner Straße, ein paar Querstraßen von meiner Wohnung, gab es so eine Pizzeria, „Escape from New York Pizza“ oder so ähnlich, in der ein Großbildfernseher hing. Da ging ich Montag abends immer hin, um Football zu gucken, was eine doppelte Sünde war, da wir montags eigentlich fasten sollten. Ich dachte mir aber, die anderen Jungs hätten bestimmt nichts dagegen, wenn ich den Fastentag auf den Mittwoch verlegte; das war ja nur eine zeitliche Umstellung. Dann aber stellte ich so viele Fastentage zeitlich um, dass ich nach drei Monaten einen Rückstand

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von zwölf Tagen ohne Essen vor mir herschob. Ich glaube, in dem Jahr habe ich zweimal gefastet. Vielleicht. Ich fand das ganze Jahr entsetzlich. Ich hasste es. Jeden Morgen fühlte ich mich wie ein Versager. Ich hasste es, in den Spiegel zu schauen, weil ich eine Pflaume war. Und ich wurde sauer auf alle anderen, die sich ihres Lebens erfreuten. Wenn ich von der Pizzeria nach Hause ging, fühlte ich mich wegen meiner Vergehen wie ein Schwerverbrecher, einer, der nicht das Zeug dazu hat, Christ zu sein, und fragte mich, welche Strafe mich wohl dafür ereilen würde, dass ich Gott ungehorsam gewesen war. Alles ging schief. Dann bekam ich auch noch Briefe von den anderen Jungs, von denen einige sehr gut zurechtkamen. Ich antwortete gar nicht erst darauf. Ich ließ nicht nur Gott im Stich, ich ließ auch meine fundamentalistischen Brüder im Stich! o

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Mein Pastor, der einer meiner besten Freunde ist, machte in der ersten Zeit seines Glaubenslebens ähnliche Gefühle durch. Rick wurde Christ, als er neunzehn war. Bevor er Christ wurde, spielte er Football an der Chico State University, damals die führende Hochschule im Land, was Partys anbelangte. Und Rick ließ keine Party aus. Nach monatelangen Trinkgelagen jedoch fing er an sich zu fragen, ob das Leben nicht noch etwas Erfüllenderes zu bieten hätte als Alkohol und Sex. Er begann sich nach Gott zu sehnen. Also nahm er sich vor, am nächsten Sonntagmorgen nüchtern zu sein, und ging sogar in die nächste Kirche, um den Gottesdienst zu besuchen. Das war das erste Mal, dass Rick seinen Fuß in eine Kirche setzte, und ausgerechnet an diesem Morgen sprach der Pastor dort über Sünde und darüber, dass wir alle Sünder seien, und er sprach über Jesus, der gestorben sei, damit Gott uns unsere Sünde vergeben könne. Am Ende dieses Gottesdienstes sprach Rick ein Gebet und wurde Christ. 90


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Nach ein paar Wochen kamen die Pastoren aus Ricks neuer Gemeinde ihn besuchen, alle mit Schlips und Kragen, und Rick bewirtete sie sie mit Kaffee, und dann saßen sie alle da, schlürften ihren Kaffee und machten in gepflegter Konversation, während über ihren Köpfen der Duft von Marihuana schwebte. Im Nebenzimmer rauchte Ricks Freund nämlich gerade Pot. Rick lacht, wenn er mir erzählt, wie er den Pastoren einen Joint anbot und nicht allzu beleidigt war, als sie dankend ablehnten. Die Pastoren sprachen mit Rick über seine Bekehrung und erklärten ihm, seine Sünden seien ihm vergeben worden, und nun sei es wichtig, dass er versuche, ein rechtschaffenes Leben zu führen. Darin stimmte Rick ihnen völlig zu und merkte an, es sei ja auch viel leichter, sich am Sonntagmorgen eine Predigt anzuhören, wenn man nicht gerade einen Kater habe. So fing Rick an, sich für ein reines Leben zu entscheiden statt für die Sünde, und eine Weile lang ging auch alles gut; doch nach einer Weile merkte er, dass er mit seinen Freunden auf Partys gehen oder mit seiner Freundin schlafen wollte, und manchmal erlahmten seine Bemühungen um ein untadeliges Leben. Das waren, sagt mir Rick, die deprimierendsten Momente seines Lebens, weil er dabei das Gefühl hatte, den Gott im Stich zu lassen, der ihn gerettet hatte. Es quälte meinen Pastor, dass es ihm nicht gelang, seine Begierden zu steuern. Ihm war doch dieses neue Leben geschenkt worden, dachte er, dieser Schlüssel zum Himmel, und doch schaffte er es einfach nicht, im Gegenzug Jesus zu gehorchen. Also ging er eines Abends auf die Knie und sagte Gott, es tue ihm leid. Er sagte Gott, wie sehr er sich wünschte, er könnte gut und gehorsam sein. Dann setzte er sich auf die Bettkante und schluckte genug Muskelrelaxanzien und Schlaftabletten, um drei Leute umzubringen. Er legte sich in Embryohaltung hin und wartete auf den Tod. o

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Im Rückblick, sagt Rick mir, sei er zu stolz gewesen, um die Gnade von Gott als Geschenk anzunehmen. Er wusste nicht, wie man in einem System lebt, in dem niemand irgendjemandem etwas schuldig ist. Und je schwerer es für Rick wurde, Gott zurückzuzahlen, was er ihm schuldete, desto mehr wollte er sich verstecken. Gott war für ihn so etwas wie ein Kredithai. Obwohl er eigentlich begriffen hatte, dass Gott keine Gegenleistung verlangte, schaffte sein Verstand es nicht, diese Tatsache an sein Herz weiterzuleiten, und das machte ihm das Leben zu einer ziemlichen Qual. Lange Zeit konnte ich nicht verstehen, warum es manchen Leute überhaupt keine Mühe macht, die Gnade Gottes anzunehmen, während andere damit die größten Schwierigkeiten haben. Mich selbst rechnete ich zu denen, die damit Probleme haben. Ich hörte von Gnade, las über Gnade und sang sogar über Gnade, aber Gnade anzunehmen war eine Handlung, die mir einfach nicht in den Kopf ging. Es kam mir falsch vor, für meine Sünde nicht bezahlen zu müssen, mich deswegen nicht schuldig fühlen oder selbst kasteien zu müssen. Mehr noch, ich hatte das Gefühl, Gnade sei gar nicht das, wonach ich eigentlich suchte. Sie war zu einfach. Ich wollte das Gefühl haben, ich hätte mir meine Vergebung verdient, als währen Gott und ich zwei Kumpel, die sich gegenseitig einen Gefallen tun. Die Erleuchtung kam mir an einem Ort, an dem ich sie nicht erwartet hätte: in einem Lebensmittelladen. Ich war auf dem Weg über den Mount Hood, um mit ein paar Freunden ein paar Tage in der Wüstenhochebene zu verbringen. Ich fuhr allein und beschloss, an einem Safeway-Supermarkt zu halten, um noch ein paar Vorräte für das Wochenende einzukaufen. Während ich vor der Kasse anstand, holte die Frau vor mir in der Schlange ein paar Lebensmittelmarken hervor, um ihre Lebensmittel zu bezahlen. Ich hatte vorher noch nie Lebensmittelmarken gesehen. Sie waren viel bunter, als ich sie mir vorgestellt hatte, und sahen eher wie Geldscheine aus als wie Marken. Als sie diese Währung hinblätterte, war 92


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es nicht zu übersehen, dass die Situation ihr, mir und dem Mädchen an der Kasse äußerst peinlich war. Ich wünschte, ich hätte irgendetwas tun können. Ich wünschte, ich hätte ihr die Lebensmittel einfach bezahlen können, aber damit hätte ich nur noch eine größere Szene gemacht. Die Kassiererin erledigte rasch ihren Job, unterzeichnete und überprüfte ein paar Dokumente und rechnete dann die Lebensmittel ab. Die Frau hob nicht ein einziges Mal ihren Blick, während sie ihre Tüten packte und in ihren Einkaufswagen stellte. Auf dem Weg von der Kasse zum Ausgang bewegte sie sich mit jener steifen Art, die Leute an sich haben, wenn sie wissen, dass sie beobachtet werden. Auf der Fahrt über das Gebirge an jenem Nachmittag wurde mir klar, dass nicht diese Frau bemitleidenswert war, sondern viel eher ich. Irgendwie war ich auf den Gedanken gekommen, dass ein Mensch, wenn er bedürftig ist, ein Kandidat für Mitleid sei, nicht nur für Nächstenliebe. Der Punkt war ja nicht, dass ich ihr Lebensmittel kaufen wollte; das tat ja schon der Staat. Ich wollte ihr Würde kaufen. Und doch war ich, indem ich über sie urteilte, derjenige, der ihr ihre Würde nahm. Ich frage mich, wie es wohl wäre, einen Monat lang mit Lebensmittelmarken einzukaufen. Was wäre das wohl für ein Gefühl, im Supermarkt in der Schlange zu stehen und die leuchtend bunte Währung der Armut aus meinem Portemonnaie zu holen, während ich die bohrenden Blicke der anderen Kunden spüre, die meine Kleidung und den Inhalt meines Einkaufswagens mustern: Tiefkühlpizza, Milch, Kaffee. Ich würde ihnen wahrscheinlich erklären wollen, dass ich einen guten Job habe und gutes Geld verdiene. Ich bin gern wohltätig, aber ich wäre nicht gern ein Wohltätigkeitsempfänger. Darum macht mir die Gnade wohl solche Mühe. Vor ein paar Jahren machte ich einmal für einen Freund eine Liste mit Gebetsanliegen. Während ich die Liste aufstellte, erwähnte ich viele meiner Freunde und Angehörigen, 93


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erwähnte aber nie irgendeines meiner persönlichen Probleme. Mein Freund bat mich unverblümt, meine eigenen Nöte offenzulegen, aber ich sagte ihm, nein, meine eigenen Probleme wären nicht der Rede wert. Darauf gab mein Freund prompt im Tonfall eines souveränen Lehrers zurück: „Don, du bist nicht über die Wohltätigkeit Gottes erhaben.“ In diesem Moment entlarvte er, dass meine Motive nicht etwa edel, sondern einfach nur hochmütig waren. Es war nicht so, dass ich meine Freunde wichtiger nahm als mich selbst, sondern eher so, dass ich mich über die Gnade Gottes erhaben glaubte. Genau wie Rick bin ich zu stolz, um die Gnade Gottes anzunehmen. Nicht dass ich es mir selbst verdienen will, um Gott etwas geben zu können, aber ich will es mir selbst verdienen, damit ich nicht auf Wohltätigkeit angewiesen bin. Als ich an jenem Nachmittag übers Gebirge fuhr und merkte, dass ich zu stolz war, um Gottes Gnade anzunehmen, fühlte ich mich beschämt. Wer bin ich denn, dass ich mich über Gottes Wohltätigkeit erhaben glaube? Und warum würde ich um meines eigenen stinkenden Egos willen auf den Reichtum der Gerechtigkeit Gottes verzichten wollen? o

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Als er da in seinem Bett lag und auf den Tod wartete, erzählt mir Rick, hörte er Gott zu ihm sagen: „Dein Leben gehört nicht dir, sondern du bist für einen Preis erkauft worden“, und daraufhin empfand er einen gewissen Frieden. Er habe, sagt er, sowohl vom Verstand als auch vom Gefühl her begriffen, dass seine Rolle in seiner Beziehung zu Gott darin bestand, Gottes bedingungslose Liebe demütig anzunehmen. Nun ist mein Pastor natürlich noch am Leben, ein Wunder, für das er keine Erklärung hat. Bevor er sich retten konnte, schlief er ein, aber am nächsten Morgen wachte er ausgeruht und frisch auf, als hätte er die Pillen nie geschluckt. 94


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Nachdem er den Suizidversuch überlebt hatte, ging Rick auf die Bibelschule, heiratete ein Mädchen, das er dort kennenlernte, und inzwischen haben sie vier Kinder. Vor etwas über einem Jahr gründete er eine Gemeinde in der Innenstadt von Portland, die weithin als die Gegend in den Vereinigten Staaten gilt, die allem Kirchlichen am stärksten entfremdet ist. Bei unserem ersten Treffen waren wir nur ungefähr zu acht, und inzwischen ist die Gemeinde auf über fünfhundert Leute angewachsen. Sonntags kommen Dutzende von Nichtgläubigen in unsere Gemeinde, und jede Woche erzählt Rick ihnen von der langmütigen Liebe Gottes. Er spricht über Jesus, als ob er ihn kennen würde, als hätte er erst am Morgen noch mit ihm telefoniert. Rick liebt Gott, weil er zuerst einmal Gottes bedingungslose Liebe annimmt. Auch ich werde Gott lieben, sagt Rick, weil er mich zuerst geliebt hat. Ich werde Gott gehorchen, weil ich Gott liebe. Wenn ich aber Gottes Liebe nicht annehmen kann, dann kann ich ihn auch nicht wiederlieben, und ich kann ihm nicht gehorchen. Selbstdisziplin kann nie dazu führen, dass wir uns rechtschaffen oder rein fühlen; die Annahme der Liebe Gottes schon. Die Fähigkeit, Gottes bedingungslose Gnade und seine ungestüme Liebe anzunehmen, ist der einzige Kraftstoff, den wir brauchen, um im Gegenzug ihm zu gehorchen. Natürlich will der Teufel nicht, dass wir Gottes Freundlichkeit und freigiebige Liebe annehmen. Wenn wir mit unserem inneren Ohr eine Stimme hören, die uns sagt, wir seien Versager, wir seien Loser, wir würden es nie zu etwas bringen, dann ist das die Stimme Satans, der der Braut weiszumachen versucht, der Bräutigam liebe sie nicht. Es ist nicht die Stimme Gottes. Gott umwirbt uns mit Freundlichkeit; er verändert unseren Charakter mit der Leidenschaft seiner Liebe. o

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Wir träumen davon, dass die Liebe Christi zu seiner Braut sich so liest wie Romeo und Julia, wie bei zwei Gleichgestellten, die in überschwänglicher Liebe zueinander entflammt 95


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sind. Ich glaube, es ist eher so wie Lucentios Werben um Bianca in Der Widerspenstigen Zähmung. Das heißt, der Bräutigam umwirbt die streitsüchtige Braut mit Freundlichkeit, Geduld und Liebe. Unser „Benehmen“ wird sich durch Selbstdisziplin nicht langfristig ändern, aber sobald ein Mensch sich verliebt, wird er bewerkstelligen, was er nie für möglich gehalten hätte. Auch der faulste Mann würde durch den Ärmelkanal schwimmen, um die Frau seiner Träume für sich zu gewinnen. Es lohnt sich, noch einmal zu wiederholen, was Rick mir sagte: Indem wir Gottes Liebe zu uns annehmen, fangen wir an, ihn zu lieben, und erst dann habe wir den Treibstoff, den wir brauchen, um gehorsam zu sein. Im Austausch für unsere Demut und Bereitschaft, die Wohltätigkeit Gottes anzunehmen, wird uns ein Königreich geschenkt. Und das Königreich eines Bettlers ist besser als der Wahn eines Stolzen.

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