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Breyers EM-Reportage

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Ahnengalerie

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Stilechte Stadttour: Ex-Schalker Youri Mulder (l.) und Jochen Breyer erkunden Amsterdam aud dem Fahrrad. Fotos: ZDF, Nadine Rupp

HOLLANDRÄDER UND SOUR-CREAM-CHIPS

Jochen Breyer besuchte für seine EM-Reportage im ZDF vier der elf Austragungsorte des Turniers. Dabei fing der Journalist ganz unterschiedliche Stimmungslagen in Amsterdam, Bilbao und Budapest ein.

Die Wochen vor dieser Europameisterschaft waren für mich – gemessen an den Pandemiemonaten zuvor – fast schon spektakulär: Ich bin mit Youri Mulder auf dem Hollandrad durch Amsterdam gefahren. Habe mich tagelang von SourCream-Chips ernährt. Und wurde in Budapest von einem Hooligan zum Schnapstrinken aufgefordert. Wie es dazu kam? Dafür muss ich etwas ausholen.

Ende April bin ich mit meinem Kamerateam auf eine Europa-Reportage-Tour aufgebrochen. Wir wollten vier Ausrichterstädte dieser EM bereisen, um zu erfahren, was die Menschen eigentlich von dieser speziellen Europameisterschaft in Pandemiezeiten halten. Mit dem Kofferraum voller

Unser Autor

Jochen Breyer ist TV-Moderator und Journalist. Seit 2016 dreht er gesellschaftspolitische Reportagen für das ZDF. Die EM-Reportage des RND-Kolumnisten ist in der ZDF-Mediathek abrufbar.

FFP2-Masken, Schnelltests und Sour-Cream-Chips, die mein Team fatalerweise zum Haupternährungsmittel dieser Reise erklärt hatte, ging’s los. Unsere Route: München–Amsterdam–Bilbao–Rom–Budapest–München. Knapp 6000 Kilometer. Rückblickend lässt sich sagen: Es war fast so aufregend wie damals, nach dem Abi, als ich mit Freunden in meinem alten Opel Kadett nach Lloret de Mar gefahren bin. Aber das ist eine andere Geschichte.

DAS NETTESTE ERLEBNIS

In Amsterdam sind wir mit Youri Mulder verabredet, dem Schalker Eurofighter-Helden, der mich gleich mal zwingt, für den Dreh auf ein Hollandrad zu steigen. „Youri, das ist ein viel zu krasses Klischee“, protestiere ich. „Das macht man hier aber so“, sagt Youri und erzählt mir auch gleich, dass die Zahl der Radunfälle in der Krise drastisch zurückgegangen sei: Normalerweise würden sich die Touristinnen und Touristen in den Coffeeshops zudröhnen und dann aufs Rad steigen. Nicht wenige dieser Irrfahrten endeten früher oder später in einer Gracht. Jetzt gehört die Stadt wieder den Einheimischen – und die können ihre Fahrtauglichkeit erfahrungsgemäß besser einschätzen.

Youri und ich mieten uns also Räder und radeln durch Amsterdam. Youri erzählt mir von 1988, als die Europameistermannschaft der Niederlande zu-

rück in die Heimat kam und auf Booten durch die Grachten von Amsterdam fuhr. Hunderttausende standen jubelnd an den Ufern. Ich frage Youri: „Was ist wahrscheinlicher: Dass Holland Europameister wird oder dass Schalke wieder auf die Beine kommt?“ Youris Antwort überrascht mich: „Dass Schalke wieder hochkommt.“ Glaubt er so wenig an seine Nationalelf? „Nein, ich glaube einfach an die Kraft von meinen Schalkern.“ Und wer wird Europameister? Youris Tipp: Belgien.

DAS ÜBERRASCHENDSTE ERLEBNIS

In den Niederlanden freuen sich die Menschen auf die EM, das war überall spürbar. Ganz anders sieht es in Bilbao aus. Bilbao war ja als Ausrichterstadt fest eingeplant, doch dann verlegte die Uefa die Spiele Ende April kurzerhand nach Sevilla. Offizielle Begründung: weil die Behörden vor Ort nicht garantieren konnten, Zuschauer im Stadion zuzulassen. Wie das wohl bei den Menschen in Bilbao angekommen ist?

In der Bar Athletic, der bekanntesten Fankneipe der Stadt, treffen wir Andoni, Gründer eines Athletic-Bilbao-Fanklubs, und drei seiner Freunde. Es ist 10 Uhr morgens. Auf der Theke stehen frisch gezapfte Biere. Andoni sagt lachend: „Nicht unsere ersten.“ Ich frage sie, was sie davon halten, dass nun doch keine EM-Spiele in ihrer Stadt ausgetragen werden. Sie antworten quasi im Chor: „Finden wir gut.“ Gut? Wirklich? „Ja“, sagt Andoni, „denn hier hätte ja die spanische Nationalelf gespielt, und das hätten wir eh nicht gewollt. Wir sind Basken, keine Spanier.“ Alle anderen nicken. Andoni versichert mir: Hätten die Spanier hier in Bilbao gespielt, hätte das ganze Stadion die Hymne ausgepfiffen.

Dass viele Basken gern unabhängig von Spanien wären, ist bekannt. Auch, dass der Fußball im Baskenland hochpolitisch ist. Dass aber fast alle, mit denen wir in Bilbao sprechen, froh darüber sind, dass die spani-

6000

Kilometer reiste Jochen Breyer für seine EM-Reportage durch Europa. Vier Fußballfans in Bilbao (großes Bild) sind nicht traurig, dass die Uefa der Stadt die EM-Spiele entzogen hat. In Ungarn sollen die Fans ohne Kapazitätsbegrenzung EM-Spiele besuchen dürfen. Auch Ferencváros-Hooligans wollen Spiele in Budapest besuchen. Fotos: ZDF (2)

sche „Selección“ nicht in ihrem „heiligen“ San-Mamés-Stadion spielt, das überrascht mich dann doch. Und mir schwant, dass es stimmen könnte, was sie hier sagen: dass Bilbao genau deshalb die Spiele weggenommen wurden. Weil man Angst davor bekam, im eigenen Land vor den Augen der Welt ausgepfiffen zu werden.

DAS BEFREMDLICHSTE ERLEBNIS

Auch in Ungarn ist der Fußball hochpolitisch. Wenn am 15. Juni Ungarn gegen Portugal spielt, wird ganz Europa gespannt nach Budapest schauen: Denn die Puskás Aréna wird ausverkauft sein. Mehr als 60 000 Fans. Trotz Pandemie. Viktor Orbán macht’s möglich. Was uns ein Journalistenkollege in Budapest erzählt: Der Ministerpräsident will damit der Welt zeigen, dass er das Virus am besten von allen bekämpft habe.

Orbán nutzt den Fußball ohnehin sehr stark, um den Nationalstolz in Ungarn zu befeuern. In gewissen Kreisen kommt das gut an. Zum Beispiel bei den Hooligans. Der Hauptstadtklub Ferencváros Budapest ist berüchtigt für seine Hooliganszene. Wir haben uns für unsere Reportage mit einigen von ihnen verabredet, um Einblicke zu erhalten und zu erfahren, was sie für die EM planen. Überraschenderweise haben sie einem Interview zugestimmt – obwohl

sie Presseleute eigentlich nicht leiden können. Treffpunkt: eine Fankneipe gleich hinter dem Stadion. Wir sind sehr gespannt. Betreten die Kneipe und sehen fünf durchtrainierte, muskulöse Kerle Mitte dreißig am Tisch sitzen. Vor ihnen: Bier- und Schnapsgläser. Ihr Anführer heißt Tamas. Er begrüßt uns freundlich. Auf seinem T-Shirt steht in großen Buchstaben „Hooligan“.

Mir wird in diesem Moment etwas unwohl und ich frage mich, ob wir diesen Typen wirklich eine Plattform geben sollten. Andererseits: Aufgabe von uns Journalisten ist es, die Realität abzubilden. Auch die, die uns nicht gefällt. Das Interview dauert nur wenige Minuten, weil Tamas zu den meisten Themen nichts sagen will. Ich frage ihn, was „Hooligan“ für ihn bedeute, er sagt: „Ein Lebensstil.“ Ich frage ihn, ob die Gewalt von Hooligans den Werten des Fußballs nicht fundmental widerspreche. Tamas sagt: „Ich kann bestätigen, dass für uns Gewalt dazugehört. Mehr will ich vor der Kamera nicht sagen.“ Und er erzählt mir später, als die Kameras aus sind, dass er und seine Gruppe die EM-Spiele besuchen werden. Ich fürchte: nicht nur, um Sport zu sehen.

Am Ende will Tamas, dass wir in der Kneipe bleiben und mit ihnen Schnaps trinken. Wir trinken eine Runde mit, aus Sorge, dass sonst die Stimmung kippen könnte. Dann sagen wir, dass wir dringend noch Filmaufnahmen des Stadions machen müssten, und gehen.

Die ganze Rückfahrt von Budapest nach München über diskutieren wir, ob wir das Interview senden können oder nicht. Am Ende entscheiden wir uns dafür, einige Ausschnitte zu senden – mit kritischer Einordnung. Aber ich gebe zu: Die Entscheidung ist uns nicht leichtgefallen.

Was bleibt nun von dieser Europareise vor der EM? Drei sehr unterschiedliche Eindrücke. Erstens, dass der Fußball auch im Jahr 2021 an vielen Orten zur Bühne politischer und gesellschaftlicher Konflikte gemacht wird. Zweitens, dass die Vorfreude auf diese EM in Europa erstaunlich groß ist, trotz der Pandemie, ob in Amsterdam oder in Rom. Und drittens: dass ich nie wieder in meinem Leben Sour-Cream-Chips essen werde.

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