100 Jahre
Ansichten und Beobachtungen
Te x t e ü b e r A r b e i t , L a n d s c h a f t u n d S t i l l e v o n d e r A l m a - A l p s c h re i b e r i n Lisa Viktoria Niederberger
1 0 0 J a h re A L M A – eine Geschichte mit Zukunft!
Was blieb war eine Konkurrenzsituation zwischen Alma und Rupp, die manche gar als „Feindschaft“ bezeichnen würden und die auch den Bregenzerwald in zwei Gruppen spaltete. Diese dauerte bis in die 90er-Jahre an. Erst dann kam es
Es wäre eine interessante Frage, ob die Gründer der Genos-
langsam zu Annäherungen. 2008 erfolgte die Übernahme der Marke Alma durch
senschaft Alma im Oktober 1921 daran geglaubt haben, dass
die Rupp AG.
die Marke Alma auch 100 Jahre später, im Oktober 2021, noch bestehen wird. Was sie geantwortet hätten, werden wir nie
13 Jahre später, im Jahr 2021, steht die Marke Alma noch immer für Schmelz-
erfahren. Doch heute wissen wir: Ein „Ja“ wäre die richtige
und Naturkäse auf höchstem Niveau. Auch weil sich die Firma Rupp im Zuge der
Antwort gewesen.
Übernahme verpflichtete, sämtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu übernehmen, die Geschäftsfelder von Alma weiterzuführen und auch die Marke Alma weiterhin eigenständig zu führen. Ebenso bekannte sich Rupp zu Verpflichtung, die Partnerschaften mit bestehenden Lieferanten weiterzuführen. Mittlerweile werden auch vier Dorfsennereien unter der Marke Alma betrieben, die ansonsten wohl nicht mehr existieren würden. Damals wie heute steht die Marke Alma für mehr als nur hervorragende Produkte. Als Partner von mehr als der Hälfte der Vorarlberger Alpen ist sie ein wichtiger Baustein im Hinblick auf den Erhalt der Vorarlberger Alpwirtschaft und Käsekultur, Know-how- und Wissenstransfer sichern den hohen Qualitätsanspruch. Und nicht zuletzt sehen wir es auch als Aufgabe der Marke Alma, ein Bewusstsein für die Bedeutung der Alpwirtschaft zu schaffen. Für die Älplerinnen und Älpler ist die Zeit auf der Alpe unglaublich erfüllend und zugleich extrem
Der Grundstein dafür, dass wir im Jahr 2021 das 100-jährige Bestehen der Marke
fordernd. Denn Alpwirtschaft ist weit mehr als nur Käseproduktion. Die gepfleg-
Alma feiern dürfen, wurde bereits einige Jahrzehnte vor 1921 gelegt. Denn die
ten Landschaften sind für die Region von enormer Bedeutung – einerseits zur
Geschichte von Alma ist auch die Geschichte der Bregenzerwälder Bauern und
touristischen Nutzung, andererseits als Erholungsraum für die Einheimischen.
Bäuerinnen sowie Senner und Sennerinnen. Der wohl bekannteste unter ihnen: der Bauer, Dichter und Freigeist Franz Michael Felder. Seine Initiative führte be-
Deshalb haben wir uns entschieden, in unserem Jubiläumsjahr den Bogen von
reits 1860 dazu, dass eine Handvoll entschlossener Bauern den „Landwirtschaft-
Alpwirtschaft als Teil der Vorarlberger Kultur hin zu Kultur im künstlerischen
lichen Käseverein Bezau“ gründeten. Mit genossenschaftlichen Dorfsennereien
Sinne zu spannen. Bereits im April haben wir das Alma-Alpschreiber*innen Sti-
wollten sie das Monopol der sogenannten Käsegrafen brechen. Aus dieser Zu-
pendium ausgeschrieben. Aus über 50 Bewerbungen hat sich eine hochkarätige
sammenarbeit heraus wurde am 1. Oktober 1921 das genossenschaftliche Unter-
Jury rund um Autorin Eva Reisinger für die Linzerin Lisa-Viktoria Niederberger
nehmen Alma gegründet. Bereits im Gründungsjahr erfolgt ein – aus heutiger
entschieden.
Sicht – weiterer Meilenstein: Weil die Naturkäselager voll waren, entschied man sich zur Errichtung einer Schmelzkäserei – die damals erste in Österreich.
Im Sommer hat Lisa drei Wochen auf der Alpe Andlisbrongen verbracht und dabei an Texten zu den Themen „Landschaft“, „Arbeit“ und „Stille“ gearbeitet.
Auch die Firma Rupp setzte 1933 erste Schritte, um in die Schmelzkäseproduk-
Es sind Themen, die das Leben auf der Alpe prägen. Interpretiert durch einen
tion einzusteigen. Eine ehemalige Seifenfabrik in Lochau wurde zur Produktions-
Blick von außen.
stätte umgebaut. Zur Eröffnung des Werkes sollte es jedoch nicht kommen: Nach
Wir wünschen viel Freude beim Lesen.
dem Anschluss Österreichs an das Dritte Reich wurde Josef Rupp I. enteignet, der damalige Konkurrent Alma zog in das Werk ein. Im Zuge eines Rückstellungs-
Josef Rupp & Daniel Marte,
prozesses nach dem Krieg wurde Josef Rupp I. wieder zum Eigentümer des Werkes.
Vorstand RUPP AG
G e r n e ü b e r K ü h e re d e n Schon den siebten Sommer leben u n d a r b e i t e n A n n a u n d Le o n h a rd Sutterlüty auf der Alpe Andlisbrongen im Bregenzerwald. Dort, wo Käse n o c h h a n d g e s c h ö p f t w i rd u n d g ro ß e We i d e f l ä c h e n b e t re u t w e rd e n , s i n d 14-Stunden-Arbeitstage keine Seltenheit. „Das musst du mit Herz machen, oder du machst es nicht“, sagen die Älpler*innen. Ein Besuch.
durch die mit Käsekulturen versetzte und erwärmte Rohmilch zu ziehen. Den Käse also nicht mehr handzuschöpfen, sondern mit Haken. „Aber gleichzeitig soll ich einen traditionellen Käse machen. Wie soll das gehen, wenn alles verändert und modernisiert wird?“ Unbeantwortet bleibt die Frage im Raum der weißgefliesten, luftigen und warmen Sennerei stehen. Leonhard Sutterlüty widmet sich wieder dem Käse, wendet den Laib und presst ihn, drückt die Restmolke raus. Eine Kraftarbeit. Ein Laib Alpkäse, wie er ihn macht, wiegt 20 Kilo. Alpsennerei ist gelebte Tradition, ein Kulturgut. Und das ist manchmal schwer zu vereinen mit modernen Standards und EU-Richtlinien. Leonhard seufzt: „Es ist so mühsam und frustrierend, wenn irgendwelche Leute daherkommen und dir deinen Job erklären wollen. Da macht das alles keinen Spaß mehr.“ Ist die Arbeit in der Sennerei erledigt, hängen die gewaschenen Käsetücher draußen zwischen der typisch geschindelten Hauswand und der Sandkiste der Kinder zum Trocknen.
In Schetteregg rechts den Berg hinauf. Bei Andlisbrongen endet
Die Alpe riecht gut. Neben der Sennerei herb, speziell. Beson-
die Straße, wobei Straße eine lieb gemeinte Bezeichnung ist
ders duftet es, wenn der Rauch der Fichtenscheite, mit denen
für den Schotterweg, der aus dem Tal heraufführt. Im Winter ist
die Milch im Kupferkessel erhitzt wird, dazukommt. Im ersten
hier Skigebiet, gleich neben dem Haus geht die Luchspiste run-
Stock, wo nur eine Tür den Wohn- bzw. Schlafbereich vom Stadl
ter. Im Sommer sind Anna und Leonhard Sutterlüty da, haben
trennt, riecht es nach Heu. Bis fast unters Dach stapeln sich die
Andlisbrongen seit 2015 gepachtet. Sie ist eine der knapp 500
Ballen, es war eine gute Mahd. Im Heu ein dicker, schwarz-weiß
bewirtschafteten Alpen, die es in Vorarlberg gibt. „Der Leo lebt
gefleckter Kater. „Der Felix hat da letzte Woche einen jungen
für die Alpe. Er hat als Teenager schon hier ausgeholfen“, sagt
Hasen zerlegt“, erzählt Anna und schließt die Dachluke, um das
Anna grinsend über ihren Mann. Weiße Gummistiefel, weiße
kostbare Heu vor dem nahenden Regen zu schützen. Es ist ihr
Schürze, weißes Kapperl und braun gebrannt von der Heuarbeit
letzter Tag auf Andlisbrongen. „Fällt es dir schwer, wieder zu
der letzten Tage steht dieser am Sennkessel und rührt mit
fahren?“, frage ich und sie nickt. Weit ist es nicht bis nach Hau-
einem Gerät, wie ein großer Quirl aus Holz, die gelbe Flüssig-
se nach Stuttgart, etwas länger als zwei Stunden mit dem Auto.
keit um. Während er Käsebruch schöpft und in Form bringt,
Sonst studiert Anna Mechatronik in Göttingen, hier auf der Alpe
erzählt der 31-Jährige, wie sich die Alpsennerei und damit seine
ist sie Pfisterin, eine Hilfskraft. Acht Wochen ist die 23-Jährige
Arbeitsabläufe in den letzten Jahren verändert haben. „Die Kä-
hier gewesen, hat für Kost und Logis gearbeitet, aber vor allem:
seformen etwa. Die haben wir jetzt von Holz umstellen müssen
„Für die Erfahrung. Das alles vergesse ich nie.“
auf Plastik“, sagt er und verdreht die Augen. „Wegen der Hygiene.“ Er wiegt Vor- und Nachteile gegeneinander ab: „Leichter zum Putzen sind sie ja. Aber das Holz hat die Wärme vom Käse besser aufgenommen.“ Gerade bei Temperaturschwankungen ist Käse sehr empfindlich. Den Käsekellerboden aus Kies hat Leonhard Sutterlüty zubetonieren müssen. Außerdem ist ihm empfohlen worden, das Käsenetz nicht mehr mit der Hand
Das Wetter ist wechselhaft geworden. Es ist Ende Juli, und
Wo d i e A l p e n r o s e n s t ö r e n
doch herbstelt es hier oben. Wo gerade noch vor dem Fenster die Kühe pittoresk gegrast haben, zehn Minuten später:
Sattgrüne feuchte Wiesen, ein Tautropfen im Frauenmantelblatt
Nebelwand. An regnerischen und kühlen Tagen wie diesem
am Wegrand und knalllila Petunien in Kästen vor den Schlafzim-
beschlagen die Sprossenfenster in der Küche, wenn Älplerin
merfenstern. Im Hochbeet wuchern Kohlrabi und Weiße Rüben.
Anna Gnocchi al Forno auf den Tisch stellt und alle ordent-
Das Gebäude Vollholz, ein offener Dachstuhl. Abends der Blick
lich zulangen. Bis zum Mittagessen um 12:00 sind auf der Alpe
auf die Hänge auf der anderen Talseite: Nadelbaumwälder mit
Andlisbrongen schon über fünf Arbeitsstunden vergangen. Die
einem leicht rosa Anstrich. Wildromantisch, wunderschön.
Kühe sind gemolken, der Stall ist für den Abend fertig gemacht,
Erholsam, ein Urlaub sind die knapp vier Monate auf der Alpe
die Schweine sind versorgt. Leonhard hat Butter und Käse ge-
nicht. Eine Vorstellung, die nicht nur Tourist*innen haben, son-
macht, gepresst, gesalzen und gelagert. Statt Mittagsgeläut
dern auch manche unten im Tal. Das nervt besonders Leonhard,
klingeln hier Kuhglocken. Ganz nahe am Haus ist die Kuhherde
der im Winter zusätzlich zur Milchwirtschaft als Schlosser
heute so nahe, dass man von der Küchenbank aus die dicken
arbeitet. „Wenn Kollegen witzeln, dass ich ‚Urlaub‘ oben mache,
Adern, die zum Euter führen, sieht.
dann sage ich, sie sollen mich mal besuchen kommen und einen Tag mitarbeiten.“ Natürlich kommt niemand. Überhaupt kommt
„Für die Kühe ist das der ideale Sommer“, erklärt der Ä l p l e r. „ V i e l R e g e n , w e n i g Insekten. Kaum Bremsen u n d F l i e g e n h e u e r. “
nicht oft jemand. Wanderende, die ans Küchenfenster klopfen, haben sich verlaufen. Fragen dann, wie sie zurück auf den Pfad Richtung Tristenkopf und Winterstaude kommen. Jene Berge an deren Fuß sich die Alpe in eine Senke schmiegt. Traditionelle Alpwirtschaft in Vorarlberg funktioniert üblicherweise in einem Drei-Stufen-System: Älpler*innen und Tiere überwintern im Tal. Die Menschen gehen anderen Berufen nach, oft in der Landwirtschaft, in handwerklichen Betrieben, oder sind Skilehrer*innen.
Auch die Trinkwasserversorgung der Tiere ist in diesem nassen
Die Tiere fressen in jener Jahreszeit das Gras der Hänge im Tal
Sommer leicht zu bewerkstelligen. Gut zweihundert Liter Was-
und das Heu des letzten Sommers. Wenn diese Vorräte aufge-
ser braucht eine Kuh täglich, und durch den vielen Regen sind
braucht sind, führt der Weg im Spätfrühling nach oben, dahin,
alle Brunnen, Tränken und Regentonnen der Alpe gut gefüllt.
was je nach Region entweder Maisäss oder Vorsäss genannt
„Letztes Jahr habe ich den 1000-Liter-Kanister hinten am Tre-
wird. Die Maisäss ist eine Vorstufe zur tatsächlichen Alpe,
cker oben gehabt. Mit dem bin ich dann nach dem Käsemachen
auf der für 1–2 Wochen Zwischenstation eingelegt wird. Sie
immer rauf, die Tränken füllen, gefahren“, erzählt Leonhard und
liegt auf einer Höhe von 1000–1600 m. Sind dort Mitte Juni die
ist sichtlich froh, dass er sich diese Arbeit jetzt sparen kann. Es
Weideflächen abgegrast, wird nach oben gezogen, wo die Kühe
gibt auch so genug zu tun, und das an sieben Tagen die Woche.
den Sommer auf den Bergwiesen verbringen. Da Andlisbrongen
Ein 14-Stunden-Arbeitstag ist keine Seltenheit, besonders an
„nur“ auf 1200 m liegt, sparen die Sutterlütys sich die Vorsäss
den Tagen, wo geheut werden muss. „Ohne Eltern, Schwieger-
und kommen Ende Mai direkt auf die Alpe. Für Kuh und Käse ist
eltern und die Pfister ginge das alles nicht“, sagt Anna Sutterlü-
das kein Problem. „Ein guter Käse beginnt bei guter Milch und
ty. Hausarbeit, Stallarbeit, Melken, Sennen, die Schweine, Käse
die wiederum bei dem, was die Kuh frisst“, sagen die Älpler*in-
verpacken, Mähen, Zäune reparieren, Landschaftspflege – „du
nen. Darum ist er Artenreichtum der Wiesen so wichtig. Rund
machst zwar jeden Tag die gleichen Sachen, aber es ist doch
um Andlisbrongen ist der so zufriedenstellend, dass die Familie
immer wieder ein bisschen was anderes. Es wird nie fad und ich
2019 in der Kategorie Alpbetrieb mit einem Wiesenmeister-
könnte gar nicht sagen, was ich hier oben am liebsten mache“,
schaftspreis ausgezeichnet worden ist. „Für drei Meter Wiese
erklärt Pfisterin Anna.
anschauen haben die Gutachter zwei Stunden gebraucht.
So viel Unterschiedliches wächst da“, erzählt die Mutter des
keller geht. „Man muss sie oft mitnehmen und immer im Auge
Älplers, Hildegard Sutterlüty, eines Abends belustigt, aber nicht
haben“, sagt Mutter Anna. Die Familie verbringt den ganzen Tag
ohne Stolz beim „Schwätza“ während des Marillenmarmelade-
zusammen. „Däta“ Leonhard hat in den Arbeitspausen oft ein
kochens.
Kind am Arm und die Küche, wo Anna viel Zeit verbringt, ist der Lebensmittelpunkt der Kinder. „Die lernen hier viel“, sagt sie.
Aber die Pflanzenvielfalt rund um die Alpe hat auch ihre Schat-
Schon der Kleine hilft beim Umfüllen der Molke in den Schwei-
tenseiten. „Da sind sie letztens wieder mit dem Heli drüber,
nefutterkübel. Als etwas daneben geht, weiß er ganz genau, wo
haben einen Brief geschickt, gesagt: da wächst zu viel Farn“,
der Schlauch zum Sauberspritzen des Stallbodens liegt. Dass
erzählt Leonhard. Subventionen gibt es nur für Weidefläche,
die Lernmöglichkeiten auf der Alpe vielfältig sind, hat auch
„Unkrautbewuchs“ ist da nicht gern gesehen. „Ich kann aber
Pfisterin Anna erfahren. Eine ihrer Aufgaben ist es, nach dem
den Farn nicht mähen. Da stehen die Kühe und fressen das, was
Abendessen um sechs die Kühe einzutreiben. In blauer Arbeits-
zwischen dem Farn wächst“, ärgert er sich. Aus der Hauptstadt
latzhose, schweren Wanderstiefeln und mit einem Stock ist sie
ist der Brief gekommen. „Was erklärt mir einer aus Wien mit
auf der Weide nahe dran an den Tieren. In den lauten Lockruf
einer Luftaufnahme meine Arbeit?“ Der Älpler kann nur den
– er geht so: „Hoooooi, hoi, hoi, hoi“ – stimmen auch die Kinder
Kopf schütteln über dieses System. Und der Farn? Wächst wei-
aus sicherer Distanz ein. Wenn Anna ruft, hallt es über den gan-
ter. Leonhard hat sich bei der Landwirtschaftskammer in Bre-
zen Hang. Echo inklusive. Manche Kühe haben vor dem Niesel-
genz über diese Schikanen beschwert. Ihnen erklärt, gekürzte
regen Schutz in einem Wäldchen gesucht, die brauchen eine
Förderungen würden bedeuten, dass er Weidefläche reduzieren
Extraaufforderung. Im Herbst werden viele Kühe dieser Herde
müsste, Parzellen verbuschen lassen oder gleich Fichten pflan-
kalben, einige davon mit Zwillingen. Man sieht ihnen die Träch-
zen. „Da haben die schnell eingelenkt. Wegen der Skipisten, die
tigkeit an, möchte meinen, dass sie besonders vorsichtig sind,
erhalten bleiben sollen.“ Solche Interessenskonflikte sind kein
wenn die sie rutschigen Hänge nach unten steigen. Trotzdem
Einzelfall. Weiter oben wachsen Alpenrosen. Die Kühe lassen
trittsicherer sind, als man es bei so einem massiven Tier vermu-
sie stehen, so kann es auch da schnell zu Verbuschung kom-
ten würde. Mehr oder weniger brav wandern die Kühe in einer
men. Auch für Weiden, auf denen die Alpenrosen blühen, gibt es
Reihe zum Melken in den Stall. Ob Anna keine Angst hat, vor
daher weniger Subventionen. Sie dürfen aber nur mit Sonderge-
der Zeit auf der Alpe schon Erfahrung mit Großvieh sammeln
nehmigung gemäht werden, denn sie stehen unter Naturschutz.
konnte? „Nein, aber Respekt,“ sagt sie. „Den verdienen auch die
„Da passt so vieles einfach nicht zusammen.“
Kühe.“ Vierzehn der 34 Kühe hier gehören den Sutterlütys. Die übrigen werden ihnen von anderen Bauern im Tal mit nach oben
Schaukeln im Stall
gegeben. Manche davon sind behornt, eine Seltenheit mittlerweile. „Ich finde es auch schöner so, so würde es halt gehören“, sagt Älplerin Anna und fügt etwas zögernd hinzu. „Wohler fühle
Ausverhandeln, Kompromisse finden. Miteinander statt
ich mich aber ohne. Der Leo hat heuer schon zwei Mal ein Horn
gegeneinander. Das wünscht sich Leonhard Sutterlüty für die
in den Rücken bekommen.“
Alpwirtschaft. Auf der Alpe gehen Leben und Arbeiten nahtlos ineinander über. Und gibt es wie bei Anna und Leonhard Kinder, dann müssen auch die in der Organisation des Arbeitstages mitgedacht werden. So kamen die Kinderbücher und Schaukeln in den Stall. Noch eine Schaukel hängt vor der Butterkammer. Neben den weißen Gummistiefeln der Erwachsenen stehen in der Sennerei auch kleine, buntgestreifte für die Kinder. Ein Gitter verhindert, dass Tobi, der Zweijährige, allein in den Käse-
M i l c h i s t s c h w e re r a l s W a s s e r
erklärt Leonhard, während er die Mischung durch seine Finger rieseln lässt: Getreidekleie, Mais, Mineralstoffe. Kein Soja. Ein
Ein bisschen sieht es aus, als ob die Kuh Infusionen bekommen
Kilo pro Tag pro Kuh. „Rohfasern braucht die Kuh für den Säu-
würde, wenn die Melkmaschine angeschlossen wird. Dabei gibt
regehalt im Pansen. Davon kriegen sie durch das zarte Kraut
sie, statt zu nehmen. Jede Kuh ist verschieden. Unterschiedlich
hier nicht genug.“ Übers Kraftfutter scheiden sich die Geister:
ist auch ihre Milchleistung, die von mehreren Faktoren abhän-
Während sein Einsatz in der Vermarktung der Alpmilchprodukte
gig ist: Milchfluss, Trächtigkeit, Ernährung. Erstkalbende Kühe
gerne unerwähnt bleibt, kennt Leo viele Bauern, die es in weit-
geben weniger Milch als jene, die schon zwei oder drei Kälber
aus größeren Mengen füttern als er. Er findet, dass ein guter
geboren haben. Abends ist der Ertrag höher als morgens und
Milchbauer eine umfassende Expertise braucht: „Ein halber
gegen Ende des Sommers, wenn die Wiesen abgegrast sind,
Tierarzt sollte er sein, ein halber Ernährungsexperte fürs Vieh.
sinkt die Milchleistung deutlich. Auf Andlisbrongen dauert eine
Und gut melken muss er natürlich auch können.“ Ob er das alles
„Mahlzeit“, wie man den Melkvorgang im Fachjargon nennt,
in der Landwirtschaftsschule gelernt hat? „Das meiste vom
je nach Kuh sechs bis zehn Minuten. Über Rohre an der Wand
Vater. Und durchs Einfach-Machen.“
wird die Milch in den Nebenraum, den Schwellenbereich, der Stall und Sennerei verbindet, gebracht. Die Maschine brummt und pfeift, einem Blasebalg ähnlich, die Kühe muhen und auch
We g v o n d e r We l t
hier schellen ihre Glocken. Ein Stall ist ein lauter Ort. Nach der Mahlzeit legen sich die Kühe hin. Bis alle gemolken sind,
„Ich freu mich im Frühling immer, raufzukommen. Und wenn der
vergeht über eine Stunde. Rot glänzen die Zitzen der Kühe im
Herbst da ist, wir wieder zusammenpacken, passt es für mich
halbdunklen Stall: eine Jodlösung, die aufgetragen wird, um
auch“, sagt Älplerin Anna, die während des Alpsommers einmal
Entzündungen der Milchkanäle zu verhindern. Sind alle Kühe
die Woche ins Tal fährt, um einzukaufen und Käse zu liefern.
dran gewesen, wird der Gesamtertrag des Tages ausgerechnet.
Der Direktvertrieb rentiert sich mehr als der Umweg über einen
Derzeit sind das auf Andlisbrongen gut 400 Kilo.
Großhändler. Den meisten Käse kauft die Fima Rupp. Wobei rentieren relativ ist. „Stundenlohn rechnen brauchst nicht an-
D i e M i l c h m e n g e w i rd n i c h t in Liter angegeben, denn: „ M i l c h i s t s c h w e re r a l s W a s s e r “ , s a g t Le o n h a rd u n d f ü g t hinzu: „Hochleistungskühe sind die nicht.“ Aber gut geht es ihnen. Geht’s den Kühen gut, geht’s mir auch gut.“ Den Sutterlütys sind die Tiere wichtig. Schon die Nachwuchsälplerin Chiara, die im Herbst in den Kindergarten kommt, kennt die Namen der Kühe: Flamme, Flora, Zenzi, Emma, Greta, Sonne. Und Leonhard redet gerne über Kühe. „Über die kannst du mich alles fragen“, sagt er lachend, während er sauber macht und Kraftfutter an die Tiere verteilt. Kraftfutter? „Es ist nicht so schlecht wie sein Ruf, sondern wichtig“,
fangen“, sagt Leonhard. Die Alpwirtschaft lohnt sich wirtschaftlich nicht. Sie ist Liebhaberei, Kulturgut, Landschaftspflege, alles in einem. „Die Kinder dürfen laut sein, Kind sein. Die kann ich hier im Sommer mal in der Unterhose spielen lassen, ohne dass irgendwelche Nachbar*innen reden. Und wir haben unsere Ruhe“, ergänzt Anna.
Gelbe Flecken
„Das ist falsch, falsch ist das doch“, murmelt Alina vor sich hin und denkt dabei, dass das schön ist. Man am Berg wenigstens Selbstgespräche führen kann, wenn schon nicht klar ist, wo man hingehen muss. „Nicht hierhin“, sagt sie, aber geht weiter geradeaus. Nicht gehen. Stapfen. Tapsen. Vorsichtig. Dass die Erde so braun ist, so lehmig, so hoch oben auf einem Berg. Savannenerde ist das. Toskanaerde. Dass die Erde rutscht, es feucht ist. Wo bleibt die Sonne? Schattig sind die Grate, Kluften, Senken, Fichten rundherum. Und Schafe. Ganz schwarze Schafe und weiße Schafe mit braunen Köpfen. Alle haben sie gelbe Markerl in die Ohren gestanzt, auch die Lämmer. Dunkelgrün und gatschig ist ihre Scheiße, dampfende Fladen, und Alina sagt: „Dass ich mir nicht das Gnack breche wegen deinem Dreck“, zu dem Schaf, das ihr zusieht, als sie vor einer schrägen, rutschig aussehenden Steinplatte in die Knie geht und die Hände zum Queren dazunimmt. Gelbe Augen, die Pupillen liegende Rechtecke. Schafsaugen sind gruselig. Das Schaf määht. Schafszähne sind gruselig, sehen zu menschlich aus, denkt Alina, wie Kinderzähne. Gruselig auch, findet Alina, dass hier auf dem Plateau niemand ist außer ihr. Nicht alles mit Wandernden überlaufen ist. Alina hält sich an der Latschenkiefer fest, deren tiefe Äste über den Weg wachsen. „Ein Weg, genau“, sagt Alina laut und flüstert dazu: „Dann dreh halt um.“ Aber sie dreht nicht um, macht stattdessen erst den Brust- und dann den Bauchgurt auf. Sucht Stabilität auf der schiefen Bergweide und lässt den Rucksack vorsichtig von der Schulter. Das Handy ist in der linken Seitentasche und hat besseren Empfang als vermutet. Alina macht die Wetterkarte auf. Zuletzt aufgerufen heute um 7:32, sagt Google und Alina sieht: ein bewölkter Himmel über ganz Vorarlberg, aber kein Regen irgendwo. Eine Gewitterzelle kommt abends, prognostiziert der Wetterdienst. Alles in Ordnung, alles genau wie vor einer Stunde, als sie zuletzt gecheckt hat. „Warum ist hier niemand?“, fragt Alina in die Weite des Hochplateaus. Hört als Antwort von oben einen Vogel schreien, hinter ihr die Glöckchen. Wie ein Windspiel klingen die Schafe.
Wie das Christkind. Wie die Glocke, mit der der Vater getan
sen, auf dem eine Markierung wäre, denkt Alina. Prädestiniert
hat, als wäre er das Christkind. Und die Paragleiter. Es sollte
für die weiß-rot-weißen Balken, die den Weg anzeigen.
Paragleiter hier geben. Alina hat sie die letzten Tage immer gesehen, wenn sie nach dem Mittagessen auf der Sonnenbank
Vorarlberg ist anders: Da sagen die Menschen nicht Haus, da
den Kaffee getrunken hat. Geschindelte Hauswand im Rücken,
heißt es Hüs. Da wächst Gras bis auf die Gipfel und man grüßt
Berg im Blick. Die grüne Wand hinter der Alpe. Grasberg heißt
sich mit Hoi. In Vorarlberg, weiß Alina, fehlt die Diphthongie-
das, sagt der Reiseführer, wenn Wiese bis rauf auf die Gipfel
rung. Fehlt eine Veränderung von Zwielauten im Mittelalter.
wächst. Rund um den Grasberg Himmel, im Himmel Paragleiter.
Fehlt eine Instanz, die die Grasberge abgeht und Felsen auf
Bunte Tupfer aus Fallschirmseide, immer größer werden sie und
Markierungen kontrolliert. Fehlende Markierungen in Auftrag
landen hinter dem Wald. Heute keine Paragleiter da. Nur Schafe
gibt. Keine Markierung da. Alina setzt sich auf den Felsen.
und ein großer Vogel. Links geht’s nach oben, rechts nach unten. Gegenüber ist das nächste Plateau, dazwischen eine Senke. Vom ersten Gipfelkreuz zum nächsten nur 30 Minuten, angeblich. Wo soll der sein überhaupt, der Gipfel, irgendwo links, denkt Alina. Eine Feder am Wegrand. Am Pfadrand. Am Gatschrand. „Dann dreh halt endlich um“, sagt Alina zu sich selbst, als sie sich bückt. Die Feder aufhebt, glatt streicht. Sich die Feder, dunkelbraun, unterarmlang, in das Stirnband steckt. Ein bisschen noch schauen, denkt sie und geht weiter. Folgt den Glöckchen. Denkt, nicht dass das ist wie mit den Irrlichtern in den Geschichten übers Moor. Denkt, nicht blind den Schafen nach. Dass genau das der Fehler gewesen ist. Dieses permanen-
„ We n n d u e s e i n m a l z u r Hütte auf der Schafweide geschafft hast, dann hast du das Schlimmste hinter dir“, hat die Älplerin gesagt. „Dann noch eine halbe Stund e . I s t a b e r e i n g u t e r We g . “ Alina schaut auf den Gatsch, d e n k t : Das ist kein guter Weg.
te Auf-den-Boden-Schauen, den Den-Schafs-dreckshaufenAusweichen. Alle paar Schritte in die Wiese steigen, dass das Profil der Wanderschuhe nicht verpickt. Die Füße im Gras ab-
In keiner Welt, in keiner Variante des Wortes Weg, ist das ein gu-
steifen. Dass sie zu viel auf den Weg geschaut hat und nicht
ter. Bei der Hütte der Schafweide, da ist es noch gut gewesen.
links, nicht rechts. Dass ihr das früher auffallen hätte müssen:
Ein Schluck Schwarztee. Ein Bergsteigerbrot. Ein halber Müsli-
die Abwesenheit von Markierungen. Wegen der Übervorsicht
riegel. Die Socken richten, die Schuhbänder fester schnüren.
ist das. Wegen des Allein-am-Berg-Seins und deswegen noch
Das Stirnband wieder über die Ohren und den Pullover anzie-
vorsichtiger als sonst, weil: wer soll sie denn auffangen, wenn
hen. Bei den staubigen Hüttenfenstern hineinschauen: Zaun,
sie ausrutscht? Oder stützen, wenn der Knöchel dann weh-
Zaunpfähle, Schläuche, Plastikwanne, Liegestuhl. Eine Leiter.
tut? Es darf nix passieren. So lachen würden alle, wenn was
Ski. Ein Selfie machen mit der grauen Holzwand der Hütte im
passiert. Das Stadtkind, allein auf Natururlaub, allein am Berg.
Rücken. Ein Selfie machen mit der Aussicht im Rücken. Den
Das Stadtkind, allein am Berg, das vor lauter Vorsicht, dass
Bodensee nicht sehen, obwohl die Älplerin das gesagt hat: „So
nichts passiert, den Weg verloren hat. Wiese am Berg ist anders
schön, den Bodensee sieht man.“ Nichts sieht man unten, da
als unten, Gras ist dicker. Muss mehr aushalten: Kälte, Wind. Im
sind Wolken dazwischen. Und dann, der Pfeil. Ein Metallpfeil
Gras hüfthoch die Disteln. Bis zu den Knien Alpenrosen. Ganze
auf einem Metallpfosten. Ganz eindeutig in die Richtung, in die
Teppiche Alpenrosen. Alina macht den Brustgurt auf, dann den
sie jetzt geht. „Aber warum rüber und nicht rauf?“, sagt Alina zu
Bauchgurt und stellt den Rucksack auf den Felsen. Fotografiert
dem Schaf, das plötzlich neben ihr aus dem Nebel taucht.
Käfer auf Alpenrosen, grün glänzendes Chitin. Packt die Jacke aus. Da ist eine Feuchte in der Luft. Der Felsen. Das ist ein Fel-
Alina sagt: „Der Gipfel muss doch schräg oben sein und nicht da
einzigen Farbstreifen in einer farbentsättigten, feuchten Welt.
vorne“, und legt die Hand auf den Schafrücken. Fährt durch das
Dichter der Nebel. Dicker der Nebel. Weißer, feuchter der Ne-
feuchte Vlies. Wieso ist dieses Tier nass, denkt Alina, es darf
bel. „Eh gut“, sagt Alina laut. „Ich geh jetzt zu der Hütte. Da sitze
nicht nass sein, Google, der Wetterbericht, sie haben gesagt:
ich das aus. Es wird alles gut.“ Alina sieht sich schon mit dem
Die Gewitterzelle, sie kommt am Abend. Plötzlich Glöckchen
Fingern den Türstock abfahren. Einen Schlüssel suchen. In der
rundherum. So viele Schafe, so viel Määh. Hell und leise, dunkel
Dachrinne und unter der Schaftränke. Sieht sich ihn finden in ei-
und laut, wie wenn jedes Tier eine eigene Stimme hätte. „Wieso
nem Gartenschlauch, sieht sich die Holztür aufsperren und den
eigentlich nicht“, sagt Alina, denkt: Wieso sollten nur Menschen
Kopf in die muffige Wärme stecken. Den Liegestuhl aufklappen,
eine eigene Stimme haben, Speziesismus ist das. Kühe haben
ihn hinstellen zwischen Sense und Leiter. Stroh finden und es
auch unterschiedliche Dialekte, steht im Ländle Magazin, das
sich in die nassen Schuhe stopfen. Die nassen, dunkelbraunen,
auf der Alpe am Klo liegt. Eine Kuh aus Lustenau muht anders
dunkelgrün verschmierten Schuhe, unter denen der Gatsch
als eine im Bayerischen Wald, als eine im Burgenland, im Außer-
pickt, zentimeterdick. Wie kann es so rutschen, wie kann ein
fern. Und Schafe, Schafe auch?
Regen so laut sein und ein Wind. Es vibriert in der Hosentasche. Alina muss stehen bleiben, sich vorbeugen, den Rücken zum
Vo n o b e n , u n t e n u n d h i n t e n kommen Schafe zum Stein. Umspülen ihn, wie Flut. Wie Lava aus Fell. Ganz schwarze Schafe und weiße Schafe mit b r a u n e n Kö p f e n .
Wind, die Elektronik vor den Elementen schützen. Eine SMS: In 4040 Linz innerhalb von 40 Minuten erhöhte Gefahr von stärkeren Gewittern, Hagel, Starkregen. Im Schadensfall hilft Ihre Beraterin. Hoffentlich trägt er zuhause die Tomaten rein, denkt Alina, wenn dort jetzt auch Gewitter ist. „Pah, denk an dich selbst. Nicht die Tomaten, Herrgott!“, schreit sie. Zwingt sich weiterzugehen. Denkt an Sommerabende am Balkon, an nackte Füße, die sich unter dem Tisch gegenseitig streicheln, und an Finger, die sich am Salzstreuer berühren. An ein Lächeln, das
Sie verschwimmen immer mehr mit der Umgebung. Nur die Mar-
ihr sagt: Hier geht es dir gut, hier bist du sicher. Sagt laut: „Du
kerln in den Schafsohren leuchten aus dem Wetter. Gelbe Fle-
heulst jetzt nicht.“ Denkt: Irgendwie hier runterkommen. Bloß
cken im glatten Nebel. Die Schafe wollen zurück, drängeln sich
zart sind die Glöckchen zu hören. Das Regenrauschen legt sich
auf ihrem Weg, ihrem Trampelpfad. Nehmen die Lämmer in die
über das Christkindgeräusch, das Herzklopfen auch. Alina geht
Mitte. Auch hier schützen die Mütter die Kleinsten, denkt Alina
durch das Weiße. Geht nicht, tapst, stapft, vorsichtigst. Den
und springt auf, den Tieren nach. Umdrehen, plötzlich geht es,
gelben Flecken nach, den leuchtenden Ohrmarken der Schafe.
mit den Schafen gemeinsam. Alina spürt Tropfen auf die Kapuze
Und dann ist die Hütte da. Verfallen, vermoost. Steinwände. Ein
prasseln. Hat Tropfen an den Brillengläsern. Hat dunkelbraune
Wellblechdach. Niedrig ist die Hütte, geht Alina bis zur Schulter.
Kreise auf den hellbraunen Wanderschuhen. Sagt: „Fick dich
Drinnen: Glöckchenkonzert und ein Geruch: dunkel, urig. Alina
halt, Wetterbericht“, denkt: Gut, dass der Weg so lehmfarben
klopft mit klammen Fingern auf das Wellblechdach und Dutzen-
ist. Dass die Erde so hellbraun ist, so hoch oben auf einem Berg.
de liegende Rechtecke schauen sie im Halbdunkeln der Hütte
Dass man das gut sieht, im Nebel und überhaupt, gut, dass
an. Alina seufzt, sagt: „Darf ich bitte reinkommen?“, und määh
sie den Weg schon einmal gegangen ist. Dass sie weiß, rechts
sagen die Schafe.
geht’s nach oben, links nach unten. Gegenüber ist das nächste Plateau, dazwischen eine Senke. Weiß, da kann sie ausrutschen, in eine Distel fallen, in einen Haufen Schafscheiße, aber immerhin nicht in einen Abgrund. Immer den Glöckchen nach. Der Herde Windspiele. Den Christkindern. Der Leitlinie, dem
Wie Ursprünglichkeit klingt
sagt, mich über die Baustellen zuhause beklagt, den Geräuschpegel. Diesen Kreativitätskiller Lärm. Ich brauche drei Dinge zum Arbeiten: Einen Ort, wo ich bequem sitzen kann. Internet. Und Ruhe. Es muss nicht komplett still sein, aber die Geräusche dürfen nicht lästig sein. Regenprasseln auf dem Fensterbrett
In der Sennerei läuft das Radio. Wochentags Popmusik, Sonn-
kann laut sein, stört aber nicht. Knatternder Auspuff schon.
tag die Messe. Live aus dem Dom in Bregenz. Es wird Rasen
Leise Musik vom Nachbarn ist okay, wenn’s keine Scheißmusik
gemäht, fliegt ein Flugzeug drüber, der Pfister kommt mit dem
ist. Wenn er aber beginnt mitzusingen: unerträglich. Ein Klin-
Moped den Schotterweg herauf. Ständig sucht man sich gegen-
geln an der Tür, ein piepsendes Handy, und weg ist mein Fokus.
seitig und ruft. Auch auf der Alpe schleudert eine Waschma-
Am schlimmsten sind Baustellengeräusche aller Art: Schleifen,
schine. Mauzt eine Katze den Staubsauger an. Fallen Dinge zu
Presslufthämmern, Flämmen von Dachpappe.
Boden und werden Türen zugedroschen. Diskutieren Menschen und weinen müde Kinder, die nicht schlafen gehen wollen. Wird
Kuhglocken sind laut, sind auf der Alpe omnipräsent, auch in
beim Blumengießen und Kinderanziehen gesungen, dröhnt das
der Nacht, aber sind überraschend okay. Bei ihnen hat sich ein
Titellied von „Wicki und die starken Männer“ aus der Tonies-
interessanter Gewöhnungseffekt eingestellt. Erst habe ich sie
Box. Und steht man zwischen den Stufen zur Sennerei und
als erschreckend laut empfunden, dann moderat, dann plötzlich
dem Trampolin der Kinder, kann es sein, dass sogar ein Telefon
nicht mehr da, außer wenn ich bewusst hinhöre.
klingelt. Denn da, und nur da, hat man Empfang. Laut ist es auf der Alpe. Aber einen Text über Stille schreiben soll ich. Da ist eine Diskrepanz, eine ordentliche. Einen Text über Stille schreiben soll ich, während ich tagsüber Ohropax drinnen habe in meinem Zimmer, weil Ohropax für mich und meine Schreckhaftigkeit überlebensnotwendig sind. Weil gleich vor meinem Zimmer die Luke in der Decke ist, durch die das Holz vom Stadl in den Lagerraum neben der Sennerei gewor-
Manchmal habe ich mich gefragt, ob die Kuhglocken die Kühe nicht stören. Dass es da ja bei vielen Tieren heißt: Sie sind so viel geräuschsensibler als wir Menschen.
fen wird. Dick sind die Fichtenscheite, das kracht ordentlich. Ohropax drinnen im Zimmer, weil die Kinder der Katze nachlau-
Ich hätte sie gerne gefragt, die Kühe, ob sie das laut finden,
fen, stundenlang. Kinderfüße auf Holzböden klingen wie eine
ob sie lernen mussten, dieses Geräusch auszublenden. Ob sie
Stampede kleiner Dinosaurier. Ich schwöre, mein Wasserglas
Kopfweh bekommen können und wenn ja, ob sie welches hatten
hat gerade vibriert. Oropax drinnen im Zimmer, weil vor dem
an den ersten Tagen, nachdem man ihnen die Halsbänder mit
Fenster auf der Weide der Pfister mit dem Trimmer das Kraut
den Kuhglocken umgehängt hat. Ob sie es auch laut finden im
aus dem Boden mäht, das die Kühe nicht mögen. Weil mit dem
Stall, ob sie hören: die Melkmaschine, wie die brummt. Ich höre
Laubbläser gearbeitet wird, mit der Holzspaltmaschine, weil die
sie morgens bis in mein Bett.
Kaffeemühle die Bohnen frisch mahlt, und Menschen, die viel arbeiten, viel Kaffee brauchen. Auf der Alpe ist Arbeit laut. Meine Arbeit ist immer sehr leise. Diskrepanz. Worauf ich mich denn am meisten freuen würde, haben mich viele gefragt, bevor ich auf die Alpe gefahren bin, und ich habe immer „Stille“ ge-
Ich bin hier, um Kunst zu machen. Das hier existiert, weil
nicht zu wünschen, es wäre anders. An einem Tag stehe ich
Menschen Käse machen. Die Alpe ist ein Ort, der auf die Arbeit
knapp nach der Älplerfamilie auf und bin um kurz nach acht
abgestimmt ist, für die Arbeit gebaut worden ist, für den Käse.
schon oben auf dem Tristenkopf. Als ich mich in die Bergwiese
Käse braucht gute Milch, konstante Temperatur und Käsekul-
lege, außer Schafen und Wind nichts höre, glaube ich, sie ge-
turen. Literatur braucht gute Ideen, konstante Auseinander-
funden zu haben. Die Stille. Dann kam der Helikopter, rotierte
setzung damit und Ruhe. Meine Literatur zumindest braucht
sich durch mein Trommelfell bis ins Hirn. Solche Geräusche, die
das. Ich brauche das. Es gibt keine Bücher auf der Alpe, keine
spüre ich richtig körperlich. Letztes Jahr war ich beim HNO-
Bücher für Erwachsene. Hier hat niemand Zeit zum Lesen, und
Arzt und habe zum ersten Mal in meinem Leben einen Hörtest
wenn doch, dann wird den Kindern vorgelesen. Unter Erwach-
gemacht. Die Mitarbeiterin dort dachte, das Gerät wäre kaputt
senen maximal ein Brief beim Abendessen, eine Bestellung, ein
oder falsch kalibriert, weil meine Testergebnisse so gut waren.
Rezept für Marmelade, aber kein Buch. In meinem Bücherregal
So gut höre ich, drum ist Lärm für mich so ein Problem. Darum
zuhause steht ein dünner weißer Band mit dem Titel „Stille“.
finde ich keine Stille.
Der norwegische Lyriker und A b e n t e u re r E r l i n g K a g g e h a t ihn geschrieben. Kagge war a u f d e m E v e re s t u n d i n d e r Antarktis. Überall hat er die Stille gesucht und schlussendlich sagt er (wenig überraschend), dass die Stille ein Ort ist, der überall sein kann. Dass man die Stille in sich einmal finden muss, um sie immer wieder finden zu können, sogar in einer vollen New Yorker UBahn zur Rushhour. Ich fand das recht kitschig, zu einfach und habe das Buch eher enttäuscht zugeklappt. Auf der Alpe denke ich viel an Kagge, versuche ich oft, der Stille in mir eine Chance zu geben. Probiere Meditieren, probiere mich an ruhige Orte zu denken: in ein leeres Museum, eine einsame Kirche, in das Atelier, das ich mir so wünsche. Es geht nicht. Mir ist der Versuch zu esoterisch, mir ist das Umfeld zu laut. Mich hat in einem Interview für das Vorarlberger Tourismusbüro die Redakteurin gefragt, ob ich denn in meiner Zeit auf Andlisbrongen nicht nur über die Alpwirtschaft gelernt habe, sondern auch Dinge über mich. Ich habe gelernt, mir mein Ruhebedürfnis einzugestehen. Ich habe noch nicht gelernt, mich nicht dafür zu schämen, mir
Manchmal ist es aber auch lohnend, so gut zu hören. Es gibt auch schöne Geräusche auf der Alpe. Das raue Reiben von Kuhzungen auf Kuhfell, wenn die Tiere sich gegenseitig am Hals lecken. Kinderlachen, Katzenschnurren, klappernde Fensterläden im Wind. Regenrauschen. Das Schleifen von Stein auf Metall, wenn der Pfister die Sense dengelt. Wie seine Stimme manchmal hüpft und alle zusammen über die Situationskomik Stimmbruch lachen. Quietschende Gummistiefel im Gatsch. Muhende Kühe, das Geräusch, wenn Kühe Gras ausreißen und kauen. Spielende Schweine und Wasser, das in Tränken plätschert. Kann man Maschinenlärm ausblenden, weiß man, wie Ursprünglichkeit klingt.
Lisa-Viktoria Niederberger, *1988 in Linz, hat als Redakteurin der Literaturzeitschrift „erostepost“, als Buchhändlerin und beim freien Radio gearbeitet. Macht jetzt hauptberuflich Literatur mit Schwerpunkt Feminismus und Klimaschutz, Kinderbücher und Rezensionen. Das literarische Debüt „Misteln“, ein Kurzprosaband, ist im März 2018 in der edition.mosaik erschienen. Das aktuelle Romanmanuskript wurde 2021 mit dem Startstipendium für Literatur und dem Kunstförderpreis der Stadt Linz ausgezeichnet.
Herausgeber: Rupp AG, Krüzastraße 8, 6912 Hörbranz Idee, Konzept und Umsetzung: buero balanka | Gestaltung: klebermetzler Texte: Lisa-Viktoria Niederberger | Fotos: Alex Kaiser
Leo findet, dass ein guter Milchbauer eine umfassende Expertise braucht: „Ein halber Tierarzt sollte er sein, ein halber Ernährungsexperte fürs Vieh. Und gut melken muss er natürlich auch können.“ Ob er das alles in der Landwirtschaftsschule gelernt h a t ? „ D a s m e i s t e v o m Va t e r. U n d d u rc h s E i n f a c h - M a c h e n . “