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Vorwort
Prof. Dr. Oliver Dufner, Dr. Christoph Wieser, Dr. Marcel Bächtiger
Horw, Januar 2021 Nachdem wir uns im vergangenen Herbst mit der Stadt Biel beschäftigt haben, möchten wir im kommenden Semester unsere Recherche zu städtebaulichen Phänomenen am Beispiel von St. Gallen fortführen. Wir verfolgen dabei weiterhin die Prämisse, dass städtebauliche und architektonische Entwicklungen in einer wechselseitigen Beziehung zu den jeweiligen gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Bedingungen stehen und es daher möglich ist, jede Stadtstruktur im Verlauf ihrer Geschichte differenziert zu lesen. Dies geschieht anhand ihrer morphologischen Ausprägung wie auch der architektonischen Form ihrer Bauten und lässt damit Rückschlüsse auf obige Bedingungen zu.
Die Disziplin Städtebau ist vielfach geprägt durch idealtypische Konzeptionen, die sinnbildlich für eine Vorstellung des menschlichen Zusammenlebens stehen. Im Lauf der Jahrhunderte entsteht durch Überschreibungen, Ergänzungen und Rückbau schrittweise eine städtische Realität, in der unterschiedliche Epochen und Wertvorstellungen unvermittelt kollidieren – man denke beispielsweise an moderne Eingriffe in mittelalterliche Städte – oder sich einzelne Ensembles zu einem komplexen Ganzen formen. Diese Phänomene finden sich in vielen europäischen Städten und tragen zu deren Vielfalt und Qualität bei.
St. Gallen in den Fokus der Betrachtung zu stellen, macht aus verschiedenen Gründen Sinn. So weist die Stadt eine reiche und weit zurückreichende Stadtgeschichte auf, welche zum einen auf der Bedeutung als Klosterstadt gründet, zum andern auf der bis ins Mittelalter zurückreichenden Tradition als Handels- und Produktionsstätte der Textilindustrie. Diese beiden Faktoren prägten nicht nur die bauliche Entwicklung vom Mittelalter bis ins frühe 20. Jahrhundert, sondern verliehen der Stadt auch internationale Strahlkraft. Mit dem Einbruch der Textilindustrie nach dem 1. Weltkrieg hat St. Gallen zwar seine wirtschafltiche Bedeutung eingebüsst; als grösste Ostschweizer Stadt mit Universität und grossem Umland spielt sie jedoch kulturell und ökonomisch immer noch eine relevante Rolle im Diskurs.
Im Verlauf der städtebaulichen Entwicklung St. Gallens gab es immer wieder Verdichtungsmomente, die von besonderer Bedeutung waren und welche wir schlaglichtartig beleuchten wollen. Über all diesen Ereignissen steht die Bedeutung und bauliche Präsenz des Klosters im Stadtzentrum. Dessen Gründung als Fürstabtei geht auf das 8. Jahrhundert zurück und bildete quasi den Nukleus für die Entwicklung St. Gallens bis heute. Verantwortlich für diese Gründung war die Präsenz des irischen Mönchs Gallus in der Region rund 100 Jahre zuvor. Durch die sukzessive Vergrösserung der Anlage sowie die Ummauerung der Siedlung um das Kloster im 10. Jahrhundert wurde St. Gallen dann auch typologisch zur Mittelalterlichen Stadt. Nach mehreren Bränden und Zerstörungen erlebte der Klosterbezirk mit dem Bau der neuen Kathedrale ab 1756 und dem kurz darauffolgenden Neubau der Stiftsbibliothek und der neuen Pfalz im Barockstil eine signifikante bauliche Entwicklung, welche bis heute Bestand hat. Obwohl das Benediktinerkloster 1805 aufgelöst wurde, behielt St. Gallen als Bischofssitz seine Bedeutung innerhalb der katholischen Kirche. Die Unterschutzstellung des gesamten Stiftsbezirks durch die UNESCO 1983 sicherte auch auf lange Sicht eine angemessene Wahrnehmung des Ensembles.
Ein weiterer wichtiger gesellschaftlicher und ökonomischer Treiber war die im 19. Jahrhundert aufkommende Textilindustrie, welche zu einem starken Bevölkerungswachstum und damit auch zu einer Ausbreitung des Stadtkörpers in östliche und westliche Richtung führte. Der Ursprung der Textilproduktion reicht bis ins 15. Jahrhundert zurückreicht. Während es über einige Jahrhunderte vor allem der Handel mit Leinwand war, führte die Erfindung der Handstickmaschine zu einem starken Aufschwung der Stickereiindustrie, welche der Stadt als internationaler Handelsdrehscheibe bis zum 1. Weltkrieg eine ausserordentliche ökonomische Blüte bescherte.
Diese Entwicklung schlug sich von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ausbruch des 1. Weltrkrieges auch in einer regen Bautätigkeit nieder. So entstanden an den Flanken der stadtbegleitenden Hügelzüge des Rosenbergs durchgrünte Wohngebiete, welche den Ruf als `Stadt der Treppen` begründete. Die damalige Bedeutung der Stickereiindustrie manifestiert sich baulich aber vor allem in einer Anzahl von Geschäftshäusern, welche geprägt vom Jugendstil, dem Reichtum des Stickereihandwerks in Form geschmückter und verzierter Fassaden huldigten. Zu nennen sind in diesen Zusammenhang insbesondere die Geschäftshäuser Oceanic (Arch. Pfleghard & Häfeli, 1906), Pacific (1907) und Finkart & Abegg (1919, beide Curjel & Moser).
Während die Geschäftsbauten der Stickereiindustrie auf privater Basis entstanden, erfolgte die Planung für das heutige Museumsquartier mit
Stadtpark östlich der Altstadt unter der Ägide der öffentlichen Hand. Auf der Basis des Bebauungsplans von Reinhard Lorenz (1874) bildete sich in den folgenden Jahrzehnten sukzessive ein sorgfältig komponiertes Zusammenspiel von Museums- und Bildungsbauten im neoklassizistischen Stil und Landschaftsraum. In seiner Anlage erinnert das Quartier dabei durchaus an die historistisch geprägte Stadthausanlage in Winterthur, ruft aber auch die klassizistischen Bauten des Museumsquartiers in Berlin in Erinnerung.
Landesgrenzen überwindende Verwandtschaften zu städtebaulichen Gefügen finden sich auch an anderer Stelle in St. Gallen, so beispielsweise beim Hauptbahnhof. Dieser wurde von Alexander von Senger 1911-1913 in einem an den Barock angelehnten Stil erbaut. Die Basis für die gesamte Gestaltung bildete dabei der Platzentwurf von Heinrich Dietscher, der sich stark an den Grundsätzen von Camillo Sittes Schrift Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen von 1889 orientierte und die dort publizierte Piazza d’erbe in Verona in Figur und Dimension übernahm.
In den Zwischenkriegsjahren litt St.Gallen unter den Nachwirkungen des Niedergangs der Stickereiindustrie. Dementsprechend spärlich blieben die gebauten Beispiele der Moderne in St. Gallen. Einzig der Linsebühlbau, der vom Architekten Moritz Hauser mit Unterstützung der Stadt initiiiert und 1933 fertiggestellt wurde, kann mit seinem gemischten Programm und Stilvokabular als grösserer moderner Bau im Sinne des Neuen Bauens verstanden werden. Mit der wirtschaftlichen Erholung nach dem Ende des 2. Weltkriegs kam es dann auch in St. Gallen zu weiteren prägenden öffentlichen Bauten. So stellt der Neubau für die Hochschule von Walter Förderer, Rolf Otto und Hans Zwimpfer (1963) einen der wichtigsten Bauten der Spätmoderne dar, und wurde von Renyner Banham beziehungsweise Jürgen Joedicke unter dem Begriff des Betonbrutalismus rezipiert. Gemeinsam mit der Erweiterung der Kantonsschule durch Otto Glaus (1964) und dem Stadttheater von Claude Paillard (1968) repräsentiert dieser an eine moderne Akropolis gemahnende Bau ein neues Selbstverständnis öffentlicher Bauten in St. Gallen.
GÄSTE
VORTRÄGE
Dr. Werner Oechslin
dipl. Architekt ETH „Barock“
Dr. Peter Röllin
Kultur- und Kunstwissenschaftler “Textilmetropole St. Gallen — Topos und Städtebau / Architektur in der Frühzeit globaler Einbindung”
Florian Zierer (Caruso St John Architects)
dipl. Architektt TUB, ETSAM “St. Gallen Cathedral chancel”
Ivo Barão (Barão-Hutter)
dipl. Architekt FAUP “St. Gallen”
SCHLUSSKRITIK
Dr. Peter Röllin
Kultur- und Kunstwissenschaftler
Dr. Susanne Schindler Kilian Leiterin MAS gta ETH Zürich
STUDIERENDE
Alen Mendes Cristina, Alzamil Aljawharah Mansour, Antonini Nicola, Baer Rebecca, Bakir Zouhir Stefan, Braun Xenia, De Almeida Sara Marisa, De Smet Jan-Karl Erwin, Dello Ioio Giovanni, Elizarova Vlada, Furrer Juliana, Furter Tobias, Gashi Qendrim, Gisler Patrick, Horsthemke Hilke, Hug Stefanie, Jabbouri Ichrake, Jacome Luzuriaga Johanna Elizabeth, Kaltenbach Larissa Aline, Kottathu Christian, Lounibos Shane Alexander, Müller Dario, Oppliger Nils, Pochkaenko Irina, Purkis Roisin Elizabeth, Redwood Joseph, Rubio Rodriguez Laura Cristina, Ruggeri Jacopo, Rushiti Rinor, Shabo Gabriela, Simic Ivan, Steiner Olivia, Tschopp Mario, Tschuppert Simone Monique, Vicencio Maria Emelyn, Wacker Pascal, Weibel Werner, Wenner Liliane, Yanenko Oleksandr, Yoon Solhae, Zejnullahu Amir.