BACTERIOPHOBIE

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Bacteriophobie

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Bacteriophobie

Madlen Gรถhring, 2. Semester Carmen Campanini Merz Akademie, Wintersemester 2011/12

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Es ist ein heißer Tag. Schon jetzt, am frühen Vormittag, ist die Luft unerträglich schwül. Nur hier, am U-Bahnsteig, ist die Hitze auszuhalten. Wenige Menschen warten mit mir auf die einfahrende Bahn. Um diese Zeit arbeiten die meisten.

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Es ist mein freier Tag und ich fahre in die Stadt, um schnell ein paar Besorgungen zu machen. Der Zug f채hrt ein und kommt quietschend zum Stehen. Ich steige ein, setze mich hin.

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Auch hier ist kaum jemand zu sehen – vielleicht fällt mir der Mann deswegen auf. Er ist der Einzige, der steht. Bei jedem Halt und erneuten Anfahren des Zuges wird er beinahe von der Wucht der Bewegung mitgerissen und droht zu stĂźrzen.

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Zunächst betrachte ich das Schauspiel interessiert. Es scheint, als könne er sich gar nicht richtig festhalten. Seine Hand ist vermutlich eine Prothese. Er tut mir leid. Ich sehe verschämt zu Boden. Bevor sich die Türen am Hauptbahnhof öffnen, steht er einen kurzen Moment lang vor mir und meine Augen fixieren seine Hand. Sie sieht aus wie die einer Schaufensterpuppe – mit ihren langen, dünnen Fingern in makellosem Weiß.

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Ich beschlieĂ&#x;e, meine Besorgungen zu verschieben und dem Mann noch eine Weile zu folgen. Er nimmt die Rolltreppe nach oben in die Haupthalle.

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An einem der Brezelst채nde macht er halt, kramt in seinem unauff채lligem Stoffbeutel, fischt 55 Cent heraus und legt sie in die flache Handinnenseite, um sie der Verk채uferin zu geben. Als ihm die Brezelfrau seine T체te reicht, balanciert er sie auf der Hand bis zu einer Bank.

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Ich bestelle mir auch etwas, um mich dann neben dem Mann auf eine der B채nke in der Wartehalle zu setzen. Nachdem wir, ohne ein Wort zu wechseln, fertig gegessen haben, steht er auf und geht in Richtung eines der zahlreichen Schnellrestaurants. Ich folge ihm weiter.

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Als ich dort ankomme, scheint er bereits in eine der Toiletten verschwunden zu sein. Ich bestelle Kaffee und setze mich, um auf ihn zu warten. Nach fast einer Stunde ist er immer noch nicht zu sehen.

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Ich will eigentlich weiter und gehe deshalb zur Toilette um nachzusehen, ob er vielleicht, in einem unachtsamen Moment, an mir vorbeigegangen ist. Ich stoße die Tür auf, und er steht, am ganzen Leib, zitternd vor mir. Stammelnd klagt er, dass Bakterien über den Handstumpf auf ihn klettern wollten. Fast im selben Moment schreit er auf. Die Hand fällt zu Boden und zerbricht.

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Als ich ihn beruhigen will, weicht er aus und schreit mich an. „Bakterienschleuder,“ schreit er, „halt mir sofort die Türe auf!“ Dann hastet er an mir vorbei in die Halle.

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