MÄCHTE Nummer 2: Götter

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27.03.2009

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DIE ZEHN ZUSATZGEBOTE DER ZEITGEISTER

1. KONSUMIEREN SIE BEWUSST! Aber viel.

2. MEHREN SIE SICH! Insbesondere, wenn Sie über einen höheren Bildungsstand verfügen.

3. OPTIMIEREN SIE SICH! Neue Biotechniken, Fortbildungen und leistungssteigernde Substanzen stehen bereit.

4. UNTERSCHEIDEN SIE SICH VON ANDEREN! Jedoch nicht zu sehr.

5. SEIEN SIE SO GUT WIE UMWELTBEWUSST! Bekunden Sie beispielsweise den Wunsch, Energie zu sparen.

6. LASSEN SIE SICH GERN ÜBERWACHEN! Sie werden sich sauber und sicher fühlen.

7. SICHERN SIE SICH UMFASSEND AB!

Ihre Restrisiken werden schrumpfen.

8. IGNORIEREN SIE DIE WIRTSCHAFTSKRISE! Solange es noch geht.

9. ERWEITERN SIE IHREN VERTEIDIGUNGSWILLEN! Bis auf Weiteres bis an den Hindukusch und an das Horn von Afrika.

10. LESEN SIE MÄCHTE! Und zwar gründlich.

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2 GÖTTER 2009

D: 10 EURO


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MÄCHTILD Machen Sie Kunst. Unerkannt.

Ihre Nachbarn sollen nicht erfahren, was tatsächlich in Ihrem Kopf vorgeht. Oder Sie möchten in den Augen Ihrer Kollegen weiterhin ein braver Sachbearbeiter sein. Vielleicht dürfen Sie auch Ihren Erbteil nicht gefährden. Aber Sie haben nun einmal diese fantastische Idee für ein bahnbrechendes Kunstprojekt. Aus guten Gründen möchten Sie das Ding eben nicht unter Ihrem Namen angehen. Wir können das verstehen. Vor allem jedoch möchten wir, dass Ihre fantastische Idee realisiert wird. Und der Öffentlichkeit nicht

vorenthalten bleibt. Daher unterstützen wir Sie. Wir leihen Ihnen einen klangvollen Namen. Werden Sie Mächtild! Produzieren Sie Ihr Werk. Zeigen Sie es. Ohne Ihre Identität zu offenbaren. Mächtild 1 arbeitet bereits. Mit der Aktion „1, 2, 3 – bald bin ich frei!“. Mehr dazu ab Seite 154 dieses Magazins. Und auf unserer Website. maechte.com


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Wir glauben an die Macht der Worte.

An die Macht der Bilder natürlich auch. Wie man sehen kann. Allerdings sind die Wortmaschinen gegenüber den Bildmaschinen in unseren Zeiten ins Hintertreffen geraten. MÄCHTE treten an, um die Machtverhältnisse ein wenig oder auch ein wenig mehr zugunsten des Wortes zu verschieben. 3


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EDITORIAL MÄCHTE sind den Göttern wohlgesonnen. Im Großen und Ganzen jedenfalls. Götter sollen ja so einiges für uns getan haben. Welt erschaffen, uns Menschen gemacht – ein Gott behauptet sogar, all unsere Sünden auf sich genommen zu haben. Dennoch werden Sie – verehrte und fabelhafte Leserschaft – in den Texten dieser Ausgabe vergeblich nach einer reflexartigen Dankbarkeit gegenüber Göttern suchen. Göttliches ist unseren Autoren nicht Gegenstand stiller Anbetung, sondern Anstoß zum Denken. Das passt. Denn MÄCHTE sind ein Magazin für Gedanken. Gedanken aus Autorenköpfen. In Worten und Bildern – und dazwischen. GLAUBENSBEKENNTNIS

Unser Glaubensbekenntnis haben wir auf Seite drei schon mal auf den Punkt gebracht. Jeder unserer Beiträge kann als Beleg des Bekenntnisses angeführt werden. Noch das kleinste Stückchen. Diese Einsicht in die Kraft des Kleinen ist uns wichtig – vor allem in Hinblick auf den Entstehungsprozess der vorliegenden Ausgabe. Warum? Nun – als uns die Textvorschläge verschiedenster Autoren erreichten, stellte sich sehr schnell heraus, dass uns nicht nur unterschiedliche Textgattungen angeboten wurden: Essays, Interviews, Kurzgeschichten, Gedichte und so weiter. Vielmehr herrschten auch große Differenzen darin, in welchem Grade die einzelnen Texte ausgearbeitet waren. Neben detaillierten Abhandlungen erhielten wir auch kurze Passagen, Splitter, einzelne Sätze. GÖTTER IN STÜCKEN

Wir haben uns dazu entschlossen, mit diesen Fragmenten zu arbeiten. „Götter in Stücken“ nennen wir die Auswahl, die wir ins Heft aufgenommen haben. Was uns daran gefällt? Recht viel. Zunächst einmal sind es die einzelnen Stücke wert, gelesen zu werden. Dann gewinnen wir mit ihnen eine weiter aufgefächerte Herangehensweise ans Göttliche. Dieses Herangehensweise ist zwar deutlich schroffer, aber in ihrer Schroffheit auch imprägniert gegen jede Form falschen Respekts vor dem allzu großen Thema. Außerdem möchten wir einen unserer Grundsätze veranschaulichen: Noch der kleinste Teil eines Gedankens ist selbst schon ein Gedanke oder aber der Keim eines solchen. Wir möchten daran erinnern, dass wir nie wissen können, wo ein neuer Einfall auf uns lauert. Wir Menschen. In dieser Unberechenbarkeit liegt – wenn man so will – das göttliche Element des Denkens. Große Momente fallen uns unvermittelt zu. Vielleicht auch bei der Lektüre der folgenden Seiten, wenn sich zwischen den so verschiedenen Beiträgen dieser Ausgabe eine Fülle von Verbindungen einstellt. Blitze – von Zeus geworfen. Ein erbauliches Vergnügen mit unserer Nummer 2 wünschen Ihre herausgebenden MÄCHTE. Stephan May herausgebende@maechte.com 5


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INHALT Göttlicher Sex

12. Ein Essay von Christoph Joseph Ahlers. Entweihung des Tempels, vorübergehend

14. Kleine Dankesbekundung an „Schmidt & Pocher“. Von Peter Demetrius. Vom misslichen Geschick zum Missgeschick – Warum Allmacht die einzige Lösung ist

18. Ein Essay von Ulf Heuner.

Dylan Mortimer – Letztes Gefecht

22. Der vielleicht letzte Kampf von Verschwendungsgott und Effizienzgott. In Dylan Mortimers Kunst. Jenseits des göttlichen Immergleichen

34. Wider den Wiederholungszwang in der zeitgenössischen Philosophie. Von Christian Kupke. Die Seiltänzergeneration – Porträt einer Altersklasse

42. Der Gewinnertext unseres Essaywettbewerbs „Im Osten was Neues“. Geschrieben von Daria Wilke. Schiffbruch mit TINA

48. Mit Yann Martels „Schiffbruch mit Tiger“ die Welt verändern. Eine Anleitung von Lars Distelhorst. Wahrheit oder Pflicht?

56. Ianus vom Tiber, das kirchliche Abendland und der Eingeölte vom Jordan. Von Hubertus Ahlers. Marc Peschke – After This Darkness There Is Another

62. Marc Peschkes Fotos sind eine sehr schöne Gelegenheit zum Schwarz-Sehen-Üben. Das Licht der Dinge (Gottes) – Der analogen Fotografie zum Abschied

72. Über Sehkräfte, die nicht unsere sind. Von Stephan May. Fannys Traum

83. Eine Geschichte von Katrin Deibert. Unzeitgemäße Affekte

88. „Hyperions Schiksaalslied“ von Friedrich Hölderlin und „In Sesseln“ von Elisabeth Kreis. Du sollst Dir ein Bildnis machen!

90. Die Umkehrung des zweiten Gebots im Zeitalter von Image und Branding. Von Kris Krois. Echt Madonna

98. Madonna ist nicht mehr die Alte. Eine Beschwerde des recht kritischen Maskeradefans Peter Demetrius. Feuchtgebiete im Reich des Cromarganmenschen

102. Anknüpfungen an Charlotte Roches Roman. Von Ingo Reuter. Alle Wesen haben eine Bestimmung – M. Night Shyamalan glaubt

108. Eine Verteidigungsrede für den Regisseur, der sich im Wandel treu bleibt. Von Kathrin Isberner.


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Modern Ghost Stories

114. Anmerkungen zur (spät-)modernen Faszination an Geistern. Von Peter J. Bräunlein. Ich sah Fanatismus

122. „Submission“, „The Matrix“ und „La Passion de Jeanne d’Arc“. Von Stephan May. Achtung Coyote! Zauberwissen, Respekt und Pragmatismus

128. Die Navajo-Religion und wir. Von Susann Becker.

Edward S. Curtis – Enteignung des Heiligen

134. Die Navojo-Gottheiten auf den Fotos von Edward S. Curtis fordern unsere Vorstellungskraft heraus. Göttliche Namen – Graffiti sind nicht Street Art

144. Eine Rückbesinnung auf Super Kool und Super Intellectuel. Von Stephan May. 1, 2, 3 – bald bin ich frei!

154. Die Freiheit der Kunst ist ein göttliches Geschenk. Der Künstler sollte feige sein. Ein Gespräch mit Mächtild 1.

Götter in Stücken Fragmente, Fetzen, Aufgeschnapptes. Große Gedanken in kleiner Form. Für Häppchen zu sperrig. Nie und nimmer vollständig. Sortiert in gerechter Willkür von A bis Z. 8 A wie Anfang. 16 B wie Botschaft. 17 C wie creationism. 21 D wie Du. 32 E wie Epiphanie. 32 F wie Finger. 40 G wie Gnade. 40 H wie Harry und Herr. 46 I wie Innenleben. 53 J wie Jenseitsverlust. 54 K wie Kunst. 80 L wie lucky. 81 M wie Marken. 86 N wie Name. 94 O wie oben. 96 P wie Pop. 105 Q wie Qualifikation. 106 R wie Residenzen. 113 S wie Schutz und Smoke. 120 T wie Tun. 120 U wie unverzagt. 121 V wie Verdauung. 132 W wie Wissen. 142 X wie X-Ray. 153 Y wie Yo. 161 Z wie Zusatz. 5 Editorial. 95 Impressum. 101 Bildquellen. 162 Schlussworte.


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A wie Anfang Ein Gespräch mit Bernardin Schellenberger über Gott als „Wort“ und sein neues Buch zur Botschaft des Johannesevangeliums.

„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ So steht es am Beginn des Johannesevangeliums. Die Christen haben also einen Wortgott statt einer Sammlung von Kriegs-, Liebes- oder Meeresgöttern, die mit Blitzen nach den Menschen werfen, ihre Herzen mit Liebespfeilen durchbohren oder sie mit Stürmen schlagen. Was ist damit gewonnen worden, was vielleicht verloren gegangen? Schellenberger: Gewonnen wurde ein Qualitätssprung in der Gottesvorstellung. Nach christlicher Lehre (nicht unbedingt in der Praxis der Kirchen) ist grundsätzlich jede „Vorstellung“, die man sich von „Gott“ macht, mehr falsch als wahr. Aber um nicht ganz von „Gott“ schweigen zu müssen, reden wir in Bildern, die ihn nicht „definieren“, also klar umschreiben und (be-)greifbar machen, sondern offenbleiben. Sie weisen in Richtungen, die am ehesten „etwas Richtiges“ über seine Eigenart sagen. Bilder sind anders als Begriffe, über die man diskutieren kann. Man muss sie auf sich wirken lassen; dann sprechen sie einen in der Tiefe an. Und da haben wir nun also mit dem Bild, Gott sei „Wort“, ein subtileres Bild als die offensichtlich massiveren Projektionen der seitherigen Gottes-Bilder. Wenn man sich Gott als „Wort“ vorstellt,

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fallen die allzu menschlichen Züge der Bilder weg, die Sie aufzählen. Verloren gegangen ist die Handgreiflichkeit in der Gottesvorstellung und in unserem menschlichen Miteinander. Wenn man bloß noch das „Wort“ als Mittel hat, sich zu äußern und zu behaupten, kann man sich recht nackt vorkommen. Wie begegnet man einem Gott als „Wort“? Schellenberger: Sie müssten jetzt das Bild „Wort“ lange auf sich wirken lassen und alle seine Dimensionen ausloten, also darüber meditieren, was ein „Wort“, was die Sprache alles kann, und sich dann sagen: In der Richtung wäre das zu suchen, was im Johannesevangelium mit „Gott“ gemeint ist. Das bleibt natürlich zunächst weiterhin eine Projektion von Ihnen, das heißt: Sie vergrößern eine menschliche Erfahrung ins Unendliche und haben mit diesem „Gottesbild“ immer noch ein Spiegelbild von sich selbst – wenn auch ein gewaltig überhöhtes. Gewonnen ist damit immerhin eine bemerkenswerte Verfeinerung, die wir bis heute noch nicht ganz nachvollzogen haben. Ich will als Beispiel bloß einen Schluss daraus ziehen. Wenn das „Wort“ unser Schlüssel zur Wirklichkeit und folglich zur Lösung unserer Pro-

bleme ist, heißt das, dass die „Kriegs-, Liebes- und Meeresgötter“ für untauglich erklärt werden und uns alles „Durchbohren“ und „Schlagen“ letztlich nichts bringt. In der Weltpolitik hat man das vielleicht schon ein wenig gelernt, aber noch viel zu wenig. Immerhin wird heute schon viel länger als früher diskutiert und konferiert, bevor man einen Krieg erklärt. Welches sind denn die Besonderheiten des christlichen Wortgottes oder Gottwortes? Schellenberger: Gut, dass Sie danach fragen. Denn um das einzusehen, was ich bis jetzt erläutert habe, würde man nicht unbedingt die Religion brauchen. Eine vernünftige Philosophie müsste eigentlich auch darauf kommen – und tat das ja auch. Schon Sokrates war so weit, auch Buddha, um nur diese beiden zu nennen. Aber Religion scheint eine Grundkategorie unserer menschlichen Psyche zu sein: Wir verabsolutieren bestimmte Vorstellungen, Zwänge und Wünsche; sie werden uns „heilig“ und wir bringen ihnen auf unvernünftige Weise unglaubliche „Opfer“. Die Steinzeitjäger hatten ihre Jagdgötter, die Ackerbauern ihre Erntegötter; heute opfern wir – inzwischen zwar ohne ausdrückliche Rituale –


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Das Wort ist Fleisch geworden. Bernardin Schellenberger erl채utert die Besonderheit des Christengotts. (Ach ja, das hier ist 체brigens Lammfleisch.)


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Karrieregöttern Kinder, Wohlstandsgöttern die Umwelt, Finanzgöttern unsere Seele. Die Besonderheit des christlichen „Wortgottes“ ist, dass er uns nicht nur unseren Projektionen überließ, so kultiviert die besten davon auch sein mochten. Bei Johannes heißt es: „Das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt.“ Er qualifizierte also im historisch greifbaren, konkreten Menschen Jesus von Nazareth dieses Wort genauer. Das brachte einige Überraschungen, die unsere Projektionen durchbrechen und korrigieren. Jesus stellte mit seinem Leben und seiner Botschaft alle üblichen Werte auf den Kopf. Das kann ich jetzt hier nicht weiter ausführen. Der springende Punkt für uns dabei ist: Die Meditation über die Eigenart des „Wortes“, zu der ich Sie gerade anregte – diese „Projektion“ – reicht nicht. Sie müssen sie ergänzen und korrigieren, indem Sie über Jesus meditieren, das heißt: indem Sie sich mit ihm, dem „Fleisch gewordenen“ Wort Gottes intensiv beschäftigen und ins innere Gespräch mit ihm treten. Wieder geht es nicht um das theoretische „Nachdenken“, sondern um die innere Begegnung mit diesem intensivsten „Bild“ dessen, was Christen sich unter „Gott“ vorstellen (sollen). Eine Stelle Ihres Buches beschreibt, wie sich viele Interpreten an der berühmten Textstelle des Johannes abarbeiten, indem sie versuchen, das Wort durch etwas anderes zu ersetzen. Durch den Sinn, das Nichts, die Kraft, die Tat usw. Woher rührt dieser Austauschwunsch? Schellenberger: Ich vermute, um vor dieser Begegnung zu kneifen; oder einfach, weil die Interpreten 10

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nicht begreifen, dass es im Johannesprolog nicht bloß um den interessanten Begriff „Wort“ geht, für den man – womöglich brauchbarere – Alternativen suchen kann. Diese Interpreten trennen den Prolog vom Rest des Evangeliums ab, obwohl schon im Prolog ausdrücklich gesagt wird, das Wort sei „Fleisch“ geworden, was die Aufforderung darstellt, den Begriff „Wort“ in Vers 1,1 mit dem zu füllen, was in den zwanzig nachfolgenden Kapiteln beschrieben wird. Das ist, als wollte ich Ihren Namen hernehmen, ohne mich für Sie und Ihre Biografie zu interessieren, und dann Gedankenspiele anstellen, welche anderen Namen ich Ihnen geben könnte. Sie sehen die Betonung des Wortes am Beginn des Johannesevangeliums als eine Aufforderung, mit Gott in ein lebendiges Gespräch einzutreten. Ist diese Idee des lebendigen Gesprächs auch als Abgrenzung vom alttestamentarischen Gott zu verstehen, der womöglich in erster Linie deshalb spricht, damit die Menschen ihm gehorchen? Schellenberger: Statt von einer „Abgrenzung“ möchte ich lieber von einer Fortführung sprechen. Es gibt bereits im Alten Testament zahlreiche Stellen, an denen Gott mit Menschen redet, „wie ein Mensch mit seinem Freund redet“ (Exodus 33,11). Das bedeutete einen bemerkenswerten Durchbruch in der Religionsgeschichte. Für so gut wie alle bisherigen Religionen war die Gottheit immer launisch, unberechenbar, ja bedrohlich gewesen. Sie musste ständig mit aufwendigen Riten und Opfern bei Laune gehalten und manipuliert werden. Es ist einmalig, wie im Alten Testament Gott den Menschen einen

Freundschaftsbund anbietet und ihnen absolute Verlässlichkeit und Zuneigung verspricht. Die Tragik war, dass das Volk sich nie richtig darauf einließ, sondern lieber auf „Rosse und Wagen und die Stärke des Mannes“ und auf den Opferkult vertraute. Sehr viel weiter sind wir heute noch nicht, obwohl Jesus ausdrücklich sagte: „Ich nenne euch nicht mehr Knechte, sondern Freunde.“ (Joh. 15,15) Die Einladung zum lebendigen Gespräch steht seit zweitausend Jahren immer noch ziemlich unerwidert im Raum. Aber bekanntlich verlaufen Evolutionsfortschritte ungemein langsam. Diese Antworen entstammen dem Austausch mit Bernardin Schellenberger über sein Buch „Ich bin es, der mit dir redet: Die Botschaft des Johannesevangeliums“ (Herder, Freiburg, 2008). bernardin-schellenberger.de


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Von wegen Passionsspektakel. Gott l채dt uns zu einem lebendigen Gespr채ch ein. (Foto: Passionsspiele Oberammergau, 1910)


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Göttlicher Sex Von Christoph Joseph Ahlers.

Was hat Gott mit Sex zu tun? Auf den ersten Blick wenig. Vor allem dann, wenn der Blick durch die Kirche geprägt ist. Die römisch-katholische Amtskirche ist ein international agierender Konzern, der seit Jahrhunderten bestrebt ist, Gott aus dem Thema Sex rauszuhalten und Sex auf einerseits Lust oder andererseits Fortpflanzung zu reduzieren. Lust als das Negative, das es zu kontrollieren und zu reglementieren gilt und das eigentlich nur auftreten darf, wenn Sex der Fortpflanzung dient. Und Fortpflanzung als das Positive, das aber nur stattfinden darf, wenn die Verbindung von der Amtskirche sakramental sanktioniert ist. Sex, bei dem keine Fortpflanzung rauskommt, wie z. B. bei gleichgeschlechtlichen Paaren, ist für die Firma Kirche von vornherein daneben. Da könnte es am Ende ja nur um Lust gehen und das geht natürlich nicht. Natürlich geht es auch bei gleichgeschlechtlichen Paaren nicht nur um Lust, aber das ist dem Kirche-Konzern egal. Mit Gott hat das alles natürlich gar nichts zu tun. Und die göttlichste Dimension der Sexualität kommt in der Corporate Identity der Kirche-Holding auch gar nicht vor: Nämlich die Beziehungsdimension der Sexualität. Darunter versteht man die Möglichkeit, durch sexuellen Körperkontakt psychosoziale Grundbedürfnisse nach Zugehörigkeit, Angenommenheit, Geborgenheit und Nähe erfüllen zu können. Also ein Gefühl der Erlösung durch körperliche und seelische Überwindung der Vereinzelung. Als die Firma Kirche merkte, dass so eine Bedürfniserfüllung ein super Produkt ist, weil das jeder haben will, hat sie sofort versucht, ein Patent darauf anzumelden. Das heißt, nur die Kirche-AG sollte befugt sein, diese Erlösung zu verkaufen. So, wie heute Biotechnologie-Konzerne versuchen, den Gencode von Getreide oder Schweinen für sich patentieren zu lassen, damit niemand anders Vermarktungsrechte hat. Obwohl Getreide und Schweine, genau 12

wie die Liebe, uns von Gott geschenkt wurden. Damals war die Kirche-AG aber nahezu der einzige Provider für Erlösung am Markt, quasi ein Monopolist. So wie seinerzeit die Post das gesamte Telefongeschäft alleine machte, bevor sie Telekom wurde und andere auf den Markt lassen musste. In jedem Dorf gab es eine Filiale der Kirche-Gruppe und jeden Sonntag ertönte vom Turm der Filiale das Soundlogo (Kirche-Glocken). Heute werden immer mehr Niederlassungen geschlossen. Genau wie die Post ihre Filialen in den aussterbenden Dörfern dichtmacht oder im Shop-in-Shop-System in die letzten Supermärkte verlegt. Als die Kirche-Gruppe noch die Nummer eins auf dem Markt der psychosozialen Grundbedürfniserfüllung war, wurden alle anderen Mitbewerber, wie Natur- oder Andere-Götter-Religionen, Spiritualität oder Okkultismus usw. in einem Heuschreckenprozess der feindlichen Übernahme (sog. „Heilige Mission und Inquisition“) plattgemacht. Man übernahm, was nützlich erschien und was gut am Markt platziert war, wie beispielsweise den Weihnachtsbaum, klebte das Firmenlogo Kirche drauf und erklärte den Rest als sog. „Heidentum und Ketzerei“ für illegal. Wer was anderes glaubte und machte als die Kirche-AG, der wurde gefoltert und umgebracht, am liebsten bei lebendigem Leibe verbrannt. Auf jeden Fall musste für die Kirche-Company zum Zweck der Absicherung der eigenen Vormachtstellung auf dem Markt der psychosozialen Bedürfniserfüllung dringend eine rigorose Reglementierung der Sexualität her. Denn sonst hätten sich die potenziellen Kunden ja selbst befriedigen können und vor allem sich auch gegenseitig, all ihre psychosozialen Grundbedürfnisse. Womöglich noch einfach so mit Lust. Und am Ende wären sie gar erlöst von der Vereinzelung in Liebe bei Gott. Ganz ohne die Firma Kirche. Nicht auszudenken. Dafür erfand man eine perfekte Marketingstrategie: Man verkündete einfach, dass Sex nur noch nach drei Kirche-Regeln stattfinden darf: nur in der Ehe, nur


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zur Fortpflanzung, nur in der Missionarsstellung. Alles andere war verboten. Damit stellte man etwas unter Strafe, was alle wollten und taten, nämlich auch andere sexuelle Betätigungen und Kontakte haben, weil sie sich dadurch angenommen fühlen und obendrein auch noch Lust erleben konnten. Und man erklärte, dass jeder, der einfach so Sex hat, eine sog. „Sünde“ begeht und dafür in die sog. „Hölle“ kommt. Weil die meisten Leute nicht lesen und schreiben konnten, brachte man extra Folterbilder in den Filialen auf den Dörfern an, mit einem sog. „Teufel“, der den „armen Sündern“ glühende Eisenstangen in den Po steckt. In der Kirche-AG kannte man sich mit so was gut aus, weil man selber genau so eine Hölle auf Erden in der „Heiligen Inquisition“ mit den sog. „Hexen und Ketzern“ veranstaltete. Die Leute hatten nicht viel Ahnung, glaubten, was man ihnen ausmalte, und hatten deswegen vor dieser Hölle tierisch Angst.

Jeden Sonntag ertönte vom Turm jeder Filiale des Kirche-Konzerns das Soundlogo. Und nun kam der Clou. Jetzt verkündete die KircheGruppe: Wenn einer trotzdem einfach so Sex macht, ob mit sich selbst oder mit jemand anderem, dann kann er in die nächste Kirche-Filiale gehen und Geld einzahlen und die Sache ist vergeben und vergessen. Dieser Service kam unter dem Produktnamen „Ablass“ auf den Markt. Wer bereit war, so ein AblassZertifikat zu kaufen, der kam dafür nicht mehr in die Hölle. Und wer noch was drauflegte, der konnte sogar in den sog. „Himmel“ und dort VIP-Member werden, dazugehören, nicht alleine sein, erlöst sein, angenommen und aufgehoben, ewig sorglos leben. 13

Die 48 Jungfrauen zum Durchvögeln waren hier allerdings nicht im Produktpaket enthalten – die gab’s nur bei einer anderen Firma im Orient, als Dreingabeprämie für sog. „Märtyrer“. Das Marketingprinzip war also perfekt: Man verbietet einfach die unmittelbarste Quelle für das Gefühl von Zugehörigkeit, Angenommenheit, Geborgenheit und Nähe, nämlich Sex. Und dann verkauft man Persilscheine, für die, die’s trotzdem machen, und sagt: Wer bei uns kauft und noch ein bisschen was drauflegt, der wird erlöst, der kriegt Zugehörigkeit, Angenommenheit, Geborgenheit und Nähe für immer! Genial, oder? So kam es zu der exklusiven Erlösungs- und Heilsversprechung des Kirche-Konzerns und zur Reglementierung der Sexualität mit den Marketing-Tools „Sünde“, „Hölle“ und „Himmel“. Zugehörigkeit, Angenommenheit, Geborgenheit und Nähe. Merken Sie was? Das ist immer noch das, was wir alle suchen. Das ist der Grund, warum wir uns zusammentun – in Gruppen und vor allem zu Paaren. Und wenn wir Sex haben, können wir uns die Bedürfnisse nach diesen Gefühlen auf intensivste Weise erfüllen. Erlösung durch Überwindung der Vereinzelung. Der Himmel auf Erden. Und wenn wir das erleben, dann empfinden wir das, was wir Liebe nennen. Und die Liebe, das ist Gott. Wenn wir uns in Liebe annehmen und als leiblicher Ausdruck dessen miteinander schlafen, dann geht das für Gott vollkommen in Ordnung. Wenn wir so Sex haben, können wir das fühlen. Nicht nur geistig verstehen oder mystifiziert glauben, sondern fassbar erleben, bei Leibe begreifen. Das ist das Göttliche der Sexualität. Das ist göttlicher Sex. Und niemand braucht dafür Kunde irgendeiner Firma zu werden. Ist doch super, oder? Christoph Joseph Ahlers arbeitet als klinischer Sexualpsychologe in Berlin. sexualpsychologie-berlin.de


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B wie Botschaft Auch die Worte eines Erlösers können missverstanden werden.

„Die Zeit des Kleingeldes ist gekommen!“

Die amerikanische Politdramaturgie hat eine neue Erlöserfigur hervorgebracht. Wir bewundern die Kraft des Landes zur Erneuerung. Oder zur Anbetung des Wunsches nach Erneuerung. Oder die Erneuerungsshow mit zwei Riesenspektakeln: einerseits den Kriegen jenseits des amerikanischen Territoriums und andererseits der Destabilisierung des Konsumflusses innerhalb der eigenen Grenzen. Die neue Regierung wird versuchen, diese beiden gefährlichen Spektakel einzugrenzen, sie zu verkleinern und unter Kontrolle zu bringen. Der Geldfluss versiegt. Dabei scheint es mir einfacher zu sein, eine weniger militärisch geprägte Außenpolitik zu verwirklichen, als auf andere Art im eigenen Lande zu leben.

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Die Hauptfrage der Erneuerung ist nicht die einer neuen Kriegs- oder Friedensstrategie, sondern die der inneren Stabilität: Werden die USA für ihre Gesellschaft einen anderen Modus der Stabilisierung finden als den Massenkonsum auf Pump? Werden sie vielleicht die puritanische Arbeitsmoral wieder in reinerer Form praktizieren – also ohne die maßlos in die Zukunft ausgedehnte Verschwendung nicht vorhandener Erträge? Liegt hier nicht der eigentliche Sinn von Obamas Botschaft „The time for change has come“? Jeder Penny zählt wieder. Diese Interpretation stammt von Ingo Koschnik. (Change: Veränderung, Verwandlung, Wandel, Wechsel, Umschwung, Abwechselung, frische Wäsche, Kleingeld.)


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17.03.2009

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C wie creationism Dachte Gott beim Pfau nur an das eine?

Darwinisten sehen im Pfau ein Musterbeispiel f端r sexuelle Selektion. Manche sprechen sogar von einem Luxussignal, das nach der Logik funktioniert: Die langen Federn behindern mich, deshalb bin ich ein ganz besonders toller Pfaumann. Was hat sich Gott dabei nur gedacht? Jetzt seid ihr dran, liebe Kreationisten. Den Hinweis auf die besten St端cke des Pfaus verdanken wir Hilde Zehnert.

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22.03.2009

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O wie Oben Rauch ist nicht gleich Rauch.

Haben wir mit der Weltraumfahrt einen neuen Weg gefunden, nach oben zu kommen? Oder ist es ein Weg, mit dem Denken in den Kategorien oben und unten zu brechen und die Erdkugel als heiliges Symbol dieses Bruches einzusetzen? Diese Frage stammt von Claudia Schönfelder.

„Es gibt im griechischen Opfer gleichsam eine vertikale Achse, indem vom Altar das Feuer mit Fettdunst und Rauch zum Himmel steigt und so den Kontakt mit den Göttern herstellt – darum auch die Gebete beim Schlachten und Verbrennen. Und es gibt den horizontalen Kreis, der zugleich gezogen wird, eine geschlossene Linie, die trennt, wer dazugehört und wer nicht, wer zu essen bekommt und wer ausgeschlossen bleibt.“ Dieses Zitat stammt von Walter Burkert.

Wir beten – wenn überhaupt – einen transzendenten Vatergott oben im Himmel an, während wir unten die Mutter Erde verfeuern. Das wird vielleicht der Kernvorwurf unserer neuen Umweltreligion an unsere bisherige Lebensweise werden – wenn er es nicht schon ist. Dieser Hinweis stammt von Thorsten Koschinsky.


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IMPRESSUM WARNUNG: MÄCHTE können Bewusstsein generieren! KONZEPT: MÄCHTE sind ein Autorenmagazin für Medien, Kunst und Pop (sowie für alle anderen Öffentlichkeiten, falls jenseits von Medien, Kunst und Pop überhaupt noch andere Öffentlichkeiten existieren). VERLAG: großes M Verlag, Lister Meile 38, D-30161 Hannover, Telefon: +49 511 33651681, Telefax: +49 511 33651682, grossesM.net GESCHÄFTSFÜHRENDER INHABER/HERAUSGEBER: Dr. Stephan May (V.i.S.d.P.), herausgebende@maechte.com REDAKTION: schreibende@maechte.com ANZEIGEN: werbende@maechte.com GESTALTUNG UMSCHLAG: Verena Binnewies, Hannover, punkt-design.de GESTALTUNG INNENTEIL: großes M Verlag LEKTORAT: Lektorat Berlin, Dr. Ulf Heuner, Berlin, lektorat-berlin.com SCHLUSSKORREKTUR: Worte & Wörter, Dr. Thomas Hübener, Hannover, worteundwoerter.de DRUCK: Poligrafia s.j., Pozna´n, poligrafia-sc.com.pl VERTRIEB: Zweite Hand Verlags-GmbH, Berlin, zweitehand.de NACHBESTELLUNG: vertreibende@maechte.com VERKAUF KIOSK: Sie finden MÄCHTE bundesweit am Bahnhofs- und Flughafenkiosk. VERKAUF NETZGESCHÄFT: Selbstverständlich können Sie MÄCHTE auch per elektonischer Post an vertreibende@maechte.com bestellen oder in unserem Netzgeschäft auf maechte.com einkaufen. LESERBRIEFE: Wir freuen uns auf elektronischen Direktkontakt mit unserer fabelhaften Leserschaft. Schreiben Sie uns doch, was Sie denken. An: schreibende@maechte.com MEINUNGSVIELFALT: Einzelne Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung anderer Beitragender oder des Herausgebers wieder. VERVIELFÄLTIGUNG: Der Nachdruck sowie andere Vervielfältigungen unserer Texte, Bilder und Illustrationen sind (auch im Internet) nur mit ausdrücklicher schriftlicher Genehmigung des Verlages gestattet. Da die Rechte der Texte bei den Autoren liegen, ist für eine Vervielfältigung der Texte darüber hinaus das Einverständnis der Autoren einzuholen. MARKENSCHUTZ: MÄCHTE sind eine eingetragene Marke. THEMA DER NÄCHSTEN AUSGABE: Die einen sagen, dass wir ihn auf die eine oder andere Weise alle leisten. Die anderen behaupten,

dass heute niemand mehr dazu in der Lage ist, ihn in wirksamer Form zu organisieren, zu erfinden oder zu verkörpern:

Widerstand VORSCHLÄGE: Vorschläge sind willkommen: ausgearbeitete Essays genauso wie Gedanken in kleinerer Form sowie Fotos, Illustrationen, Abbildungen von Kunstobjekten und Vorschläge für Kunstaktionen. Wir lesen eingesandte Texte sorgfältig und sichten angebotenes Material aufmerksam. Jedoch bitten wir um Verständnis dafür, dass wir für unverlangt eingesandte Manuskripte, Fotos und Illustrationen und sonstiges Material keine Haftung übernehmen. Auch senden wir Unterlagen nur dann zurück, wenn ein ausreichend frankierter Rückumschlag beiliegt. Aufträge werden schriftlich erteilt. Wir nehmen Einsendungen bevorzugt auf dem elektronischen Postweg entgegen. Senden Sie Ihre E-Post bitte an: schreibende@maechte.com ERSCHEINEN: MÄCHTE sind ein Aperiodikum. MÄCHTE Nummer 3 erscheinen, wenn sie fertig sind. INFODIENSTE: Sie möchten benachrichtigt werden, wenn MÄCHTE Nummer 3 erscheinen? Wir nehmen Sie mit größtem Vergnügen in den Verteiler unserer Infodienste auf. Senden Sie uns einen E-Brief mit dem Betreff „Infodienste“. An: informierende@maechte.com

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Echt Madonna Ist Madonna noch die Alte? Natürlich nicht. Verwandlungen sind bei diesem Superstar ja an der Tagesordnung. Aber dieses Mal ist es anders. Wir haben es mit einem Paradigmenwechsel zu tun: von der reinen Oberfläche zur noch reineren Wahrhaftigkeit. Über unsere neue göttlich legitimierte Mutterkönigin. Eine Beschwerde des recht kritischen Maskeradefans Peter Demetrius.

PROVOKATION UND OBERFLÄCHE

Wenn früher etwas über Madonna zu lesen war, ging es meistens um zwei Dinge – und dabei war es ganz gleichgültig, ob man die Yellow Press, anspruchsvolle Magazine oder eine der mittlerweile zahlreichen wissenschaftlichen Abhandlungen über den weiblichen Popstar Nr. 1 las. Es ging erstens um Madonnas Provokationen, die für die Presse immer noch willkommene Anlässe sind, über sie zu schreiben. Madonna ist nun wirklich sehr lange im Geschäft, aber diese Masche funktioniert bis heute. Lieblingsziel der Provokationen war und ist die katholische Kirche, Lieblingsmittel die offenherzige Inszenierung weiblicher Sexualität. Noch 2006 sorgte die Kreuzigungsszene auf der Confessions-Tour für Furore, erst kürzlich widmete Madonna ihren Song „Like a Virgin“ dem Papst, was wiederum ein passables Medienecho zur Folge hatte. Zweitens ging es in Texten über Madonna oft um ihre Verwandlungsfähigkeit. Madonna galt als Prototyp eines Oberflächenstars, der uns nur noch Hüllen anbot, die keinen wahren Kern mehr hatten. Vielleicht ist Prototyp auch das falsche Wort. Madonna war eher die Apotheose der Verwandlung – und damit ein Affront gegen alle, die in der einen oder anderen Weise an eine (göttliche) Substanz glaubten. Die Vielfalt und Widersprüchlichkeit der Rollen, die unter dem Label Madonna aufgeführt wurden, begei98

sterte die Masse der Fans ebenso wie die intellektuelle Fan-Elite, die in der Regel eine überzeugende Rechtfertigung benötigt, um zu ihrem Fan-Sein in der Öffentlichkeit zu stehen. Im Gegensatz beispielsweise zu Paris Hilton, die an nur einer Oberfläche arbeitet, die sie dann recht erfolgreich vermarktet, wechselte Madonna ihre Oberflächen beliebig aus. Sie war Heilige, Hure, Feministin, kleines Mädchen, Sexbombe und vieles mehr. Darin sahen Medientheoretiker nicht nur eine Stellungnahme zu den Gesetzen des Unterhaltungsgeschäfts, sondern auch einen reflexiven Bezug auf den gesellschaftlichen Gesamtzustand unseres Medienzeitalters. Madonna führte den Mechanismus unserer Showreligion regelrecht vor. Sie wechselte die Oberflächen so virtuos, dass wir daraus etwas über das Modell des Oberflächenwechsels erfuhren. Deshalb wurde sie von allen geliebt, die unendliche Maskenspiele als produktiver und ehrlicher betrachteten als jede Form von Realitätsfetischismus. Beide Ebenen haben sich über Jahrzehnte hinweg gegenseitig befruchtet. Bei keiner Maskerade schauen wir so gern zu wie bei einer sexuell aufgeladenen. Und nichts widerspricht dem religiösen Anspruch auf letztgültige Wahrheit und Tiefe so stark wie der Kult der reinen Oberfläche. Gelungenes Ding, das. DER WAHRHAFTIGKEITSKOMPLEX

Seid einiger Zeit jedoch mischt ein drittes Element im Bild Madonnas mit, das die alte Phalanx aus Pro-


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Projektion von Madonna während einer Bühnenshow und Madonna „privat“ beim Verlassen der Kabbala-Schule.

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vokation und reflexiver Oberflächeninszenierung durcheinanderwirbelt. Ich möchte es den Wahrhaftigkeitskomplex nennen. In der Öffentlichkeit tauchen (angebliche) Handlungen und Äußerungen von Madonna auf und Gerüchte über sie, die mal liebenswürdige und sympathische, dann aber wieder entlarvende und nicht selten lächerliche Details über das wahre Leben Madonnas an die Oberfläche bringen.

Madonna und Angelina Jolie liefern sich eine Schlacht um den Titel der weltbesten Mutter. Ich kann schon kein Gespräch mehr über Madonna führen, ohne dass einer der Gesprächsteilnehmer seine Anerkennung für ihren immer noch tollen Körper zum Ausdruck bringt. Dann höre ich regelmäßig von Schönheitsoperationen und Trainingseinheiten, all den Maßnahmen, die der fünfzigjährige Superstar aufbieten soll oder demnächst will, um dem Zahn der Zeit zu trotzen und die Wahrheit des Körpers zu verändern. Wohlgemerkt gilt die Anerkennung der Madonnafans dabei nicht etwa einer Maske, die ein Nachdenken über die Realität ihres Körpers ad absurdum führte. Es geht darum, dass Madonna tatsächlich besser in Form ist als alle anderen und nicht nur so aussieht. Diese realitätsverehrende Sichtweise wird dann fleißig belegt durch intimes Wissen aus Madonnas Speiseplan und Sportprogramm. Speisen, die so und nicht anders zubereitet und zu sich genommen werden. Und Sport, der pedantisch betrieben und nicht etwa nur für die Kamera inszeniert wird. Mich persönlich stört das alles sehr. Wo bleibt denn die Gute-Laune-dein-Leben-ist-Schall-und-RauchMadonna bei all den kleinlichen Verhaltensregeln, die uns aus ihrer Ehe mit Guy Ritchie kolportiert wurden: Madonna sei eine sehr strenge Mutter. Sie verbanne Fernsehen und Zucker aus ihrem Haushalt. Und es gibt ja wohl keinen besseren Kult der Oberfläche als eine ordentliche Zuckerspritze vor der Glotze. Ich sage nur Glasur. Aber das ist der echten Madonna egal. Sie scheint sogar noch weiter zu gehen, so hört man. Ihrem armen Ehemann verbietet sie Kneipenbesuche und zwingt ihm stattdessen Kabbala100

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stunden auf. Die Scheidung werde kommen. Dann kommt die Scheidung. Die Unterhaltszahlungen. Die Sorgerechtsregelung. Solchen Kram kann ich doch wohl auch von meinen Nachbarn über andere Nachbarn hören. Dafür brauche ich Madonna nicht. LEBEN KAUFEN ODER SCHENKEN?

Selbstverständlich muss jeder Star mit den Investigationen und Erfindungen der Klatschreporter rechnen, die nichts als die Wahrheit verkaufen können. Aber ich gewinne langsam den Eindruck, Madonna selbst lässt das alte Oberflächen-Verwandlungs-Schiff auf festen Grund auflaufen. Denn richtig ernst wird der Wahrhaftigkeitskomplex erst in ihrem Streben nach einer besseren Welt. Immer wenn sie sich dazu veranlasst sieht, gegen die Übel der Welt Stellung zu beziehen, gibt es für mich keinen Unterschied mehr zu Brangelina. Und Brad Pitt und Angelina Jolie meinen es nun wirklich ernst mit der Amalgamierung von ästhetischer und moralischer Perfektion. Schön und gut sind hier in der lächerlichsten Werbefernsehform miteinander verschmolzen. Die beiden sind bestimmt Fans von Schillers schlechtester Idee, der ästhetischen Erziehung des Menschen zum moralischen Wesen. Madonna etwa auch? Es scheint kein Zufall zu sein, dass sich Madonna und Angelina Jolie eine Schlacht um den Titel der weltbesten Mutter liefern. Denn wie könnte man die Übel der Welt besser tadeln als aus einem wahrhaftigen Muttergefühl heraus. Die weltbeste Mutter kann aber nur eine Frau sein, deren Muttergefühle so groß sind, dass sie für die ganze Welt ausreichen. Stellvertretend für die ganze Welt wird dann hier und da schnell ein Kind adoptiert. Schnell adoptieren wiederum kann nur, wer den Katalysator Geld benutzt. Madonna wurde vorgeworfen, dass sie sich nicht an die Regeln halte. Egal, sagt Madonna. Dieses Kind habe ich schon mal gerettet. Was kümmert mich die Bürokratie. Es ist schon bemerkenswert, wie Madonnas todernst gemeinte Adoptionsshow die altehrwüdige Geste des Rock’n’Roll, alle Regeln zu missachten, und den Anspruch auf die letztgültige Mutterschaft miteinander verbindet. In ihrem alten Oberflächen-ProvokationsModell hätte sich Madonna mit der Geste zufriedengegeben und sie kräftig ausgehöhlt. Heute jedoch will sie ein neues Gesetz etablieren. Ihr eigenes wahrhaftiges Muttergesetz, welches etwa so lautet: Eine Mutter hat das Recht, Leben zu schenken. Und dieses Recht hat sie auch gegenüber Kindern, die nicht ihrem Körper entstammen.


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Wer will da widersprechen? Einige seriöse Adoptionsorganisationen taten es und wiesen darauf hin, dass Madonnas Handlung einen Adoptionsmarkt sanktioniere, in dem ein Leben nicht geschenkt, sondern verkauft wird. Man könne diesen Markt nur dann wirksam bekämpfen, wenn man die geltenden Adoptionsregeln streng befolgt. Interessanterweise gerieten die Adoptionsorganisationen damit in die gleiche Rolle, die Madonna ansonsten für die katholische Kirche vorsieht. Die Kritik, die diese Organisationen äußerten, wirkte so lebensfeindlich wie das Eintreten der Kirche gegen Verhütungsmittel. Die neue Haltung Madonnas, die nicht allein Geste, sondern wahrhaft Leben spendende Handlung ist, wirkt dagegen wahrhaft königlich. Frü-

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her waren es die Könige, die im Namen Gottes über Leben und Tod entschieden haben. Wer glaubte, dass wir diese durch Gott legitimierte Souveränität an unsere modernen Institutionen abgetreten haben, wurde vom Superstar eines Besseren belehrt. Als Madonna über das Leben ihres jetzigen Adoptivkindes entschied, fand ihr Künstlername zu seiner eigentlichen Bestimmung. Früher brachte er gleichzeitig Verehrung und Verhöhnung der christlichen Mutter Gottes zum Ausdruck. Jetzt benennt er die göttlich legitimierte Mutterkönigin. Als nächstes gründet Madonna ihre eigene Kirche. Warten Sie es ab. Peter Demetrius. Weitgehend untätiges Individuum und analytischer Beobachter öffentlicher Persönlichkeitsinszenierungen. Lebt in Köln.

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1, 2, 3 – bald bin ich frei! Die Freiheit der Kunst ist ein göttliches Geschenk. Der Künstler sollte ein Feigling sein. Ein Gespräch mit Mächtild 1 über die Macht kleiner Götzen, die Befreiungskräfte von öffentlichen Versteigerungen, Blutkunstwerke und die Stockhausen-Falle.

Vielleicht erklären wir kurz, wie es zu deiner Aktion gekommen ist: Eigentlich hattest du uns einen Text für diese Ausgabe angeboten. Du wolltest über die kleinen alltäglichen Götzen in deinem Leben schreiben … … von Dingen, die von mir Besitz ergriffen hatten.

Ein anderer deiner Götzen ist ein Spazierstock. Dein Vater hat ihn zu deiner Züchtigung benutzt. Noch verrückter: Es ist nicht der Stock meines Vaters. Ich hab das Ding auf einem Trödelmarkt gekauft, weil er mich an den Stock meines Vaters erinnert.

Was für Dinge? Eine Spardose, ein Zinnsoldat, ein Buch usw. – insgesamt elf Stück. Alles Sachen, die sich Macht in meinem Leben erschlichen haben, ganz allmählich – bis jede einen Teil von mir gefangen genommen hatte.

Aber dann ist es doch auch kein richtiger Götze? Doch, er hat genau wie die anderen Dinge von mir Besitz ergriffen. Er bestimmt die Erinnerung an meinen verstorbenen Vater. Ich finde zu Unrecht. Mein Vater hat mich lediglich einmal damit geschlagen. Als ich ihn angelogen hatte und es nicht zugeben wollte, ist er außer sich geraten. Im Zorn hat er nach dem Stock gegriffen und zugeschlagen. Für ihn war es, wie ich glaube, schlimmer als für mich. Er hat sich als Versager gefühlt. Als einer, der nur noch zuschlagen kann. Dieser Moment hat sich tief in mein Gedächtnis eingebrannt. Er bestimmt beinahe das ganze Bild meines Vaters. Ich will das Bild wieder aufschließen.

Wie muss man sich das konkret vorstellen? Na, zum Beispiel hat mir mein Großonkel einmal, als ich noch klein war, ein Überraschungsei mitgebracht. Darin war ein Metallsoldat als Gadget – ein Musketier. Als ich das gelbe Plastikei im Inneren des Schokoeis aufmachte und wir beide entdeckten, dass der kleine Soldat darin ist, war mein Onkel ganz aus dem Häuschen. Er war ein bisschen militaristisch angehaucht. Mit den besten Absichten hat er zu mir gesagt, dass der Musketier jetzt mein Glücksbringer im Lebenskampf sei. Ich glaube bis heute daran. So ein Glücksbringer kann doch von Vorteil sein – wenn er funktioniert. Ich kann doch mein Glück nicht vom Inhalt eines Überraschungseis abhängig machen. Außerdem geht die Geschichte noch weiter: Der Musketier hebt die eine Hand, und diese Hand sieht irgendwie beschädigt aus. Wie halb abgeschossen. Für mich ist das ein Omen. Ich denke immer, dass ich irgendwann für all das geschenkte Kämpferglück bezahlen muss. Genau das meine ich, wenn ich von In-Besitz-Nehmen spreche. Dieses kleine Männchen beherrscht meine Hoffnungen und Ängste. Das geht doch wohl zu weit. 154

Es geht dir also nicht darum, diesen wichtigen Moment aus deinem Gedächtnis zu tilgen? Genau. Ich will ihn aber entzaubern, damit auch andere Momente, die vielleicht viel wichtiger für die Erinnerung an meinen Vater sind, wieder erscheinen können – in der ihnen gebührenden Bedeutung. Welche denn? Weiß ich noch nicht. Zuerst muss der Götze erledigt werden. Erst dann sehe ich, was anderes hochkommt. Du hast den Text dann doch nicht geliefert. Warum? Der Gedanke an die Veröffentlichung hat mir Angst eingejagt. Bei den Götzen geht es um sehr persönliche Erfahrungen. Und Schreiben ist auch eine sehr persönliche Sache.


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Wir fanden deine sehr Idee schön. Um den Text doch noch möglich zu machen, haben wir dir angeboten, ihn unter einem Pseudonym zu veröffentlichen. Wir haben den Namen Mächtild für dich erfunden. Genauer gesagt Mächtild 1. Denn das Modell könnte ja in Serie gehen. Dann gibt es irgendwann vielleicht einmal Mächtild 2 und Mächtild 3 mit ganz anderen Projekten. Du hast zuerst eingewilligt, schließlich aber die Arbeit an deinem Text abgebrochen, weil er keinen Sinn mehr für dich hatte. Warum genau? Mir ging es ja nicht in erster Linie ums Schreiben. Der Text war für mich eher ein Mittel zum Zweck. Er sollte mein Werkzeug sein, mit dem ich die kleinen versteinerten Götzen loswerden würde. Es ist ein weitverbreiteter Glaube, dass Schreiben dabei hilft, die eigenen Dämonen zu besiegen: von ihnen und ihrer Macht zu erzählen und sie damit zu überwinden. Ja, daran habe auch ich geglaubt. Aber es kam noch etwas anderes hinzu. Ich erhoffte mir auch von der Veröffentlichung einen befreienden Effekt, obwohl ich – wie gesagt – auch Angst vor der Öffentlichkeit hatte. Warum befreiend? Es ist der Verrat: Wenn ich die kleinen lächerlichen Geheimnisse, die mich an die Götzen ketten, öffentlich ausplaudere, ist das so eine Art Aufkündigung eines geheimen Bündnisses. Dein Glaube ans Schreiben hat sich aber nicht erfüllt. Ich hatte das Gefühl, den Götzen einen literarischen Rang zu verleihen. Und sie damit auf ewig in mein Leben einzuschreiben. Das will ich ja gerade nicht. Das Projekt drohte zu scheitern. Wir waren enttäuscht. Also haben wir uns zusammengesetzt und überlegt, wie du deine Götzen doch noch loswerden könntest. Die Lösung ergab sich wie von selbst und sie hieß: verkaufen. Öffentlich verkaufen! Warum öffentlich? Weil darin die Befreiung liegt. Wir hatten also die Idee des Pseudonyms und die Idee des öffentlichen Verkaufs. Eine Versteigerung auf eBay schien dir die perfekte Lösung zu sein. Wieso? eBay war ursprünglich eine Plattform für Privatauktionen. Dort wird oft unter Pseudonymen angeboten. Die öffentliche und anonyme Befreiung von Besitztümern, die ihrerseits von uns Besitz ergriffen haben, ist also die ursprüngliche Bestimmung von eBay. 155

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Befreiung vielleicht. Aber doch eher von Fehlkäufen oder Klamotten, die nach der Diät nicht mehr passen ... Wer weiß? Vielleicht stecken öfter, als man denkt, Geschichten dahinter, die nicht erzählt werden, um Irritationen beim Verkauf zu vermeiden. Ich möchte meine Geschichten jedenfalls nicht verschweigen, sondern zum Teil des Verkaufsprozesses machen. Also hast du am Ende doch geschrieben. Ein paar kurze Sätze zu jedem Götzen. Ohne den Anspruch, etwas Schönes oder sprachlich Interessantes zu produzieren. Das war an sich schon befreiend. Dennoch siehst du das Ganze als Kunstaktion. Ja, es ist Kunst. Wieso ist es Kunst? Weil ich es sage. Vielleicht ist es ja nur ein bequemer Weg, seine Vergangenheit umzuarbeiten. Und auch ein bisschen feige. Das ist es mit Sicherheit auch. Du bist also feige? Aber sicher. Du scheinst das nicht als Vorwurf aufzunehmen? Feigheit ist eine der großen unterschätzten Produktivkräfte. Sie hat uns weit gebracht. Wo ständen wir denn heute, wenn unsere Vorfahren gegen den Säbelzahntiger Mann gegen Katze gekämpft hätten. Nein, nein, auflauern und hinterrücks abstechen. Das war die Erfolgsformel gegen den Säbelzahntiger. Vielleicht weißt du es nicht, aber anderswo werden mutige Menschen bewundert. Mag sein. Aber warum werden Feiglinge verachtet? Weil sie sich zum Beispiel hinter einem Pseudonym Dinge erlauben, die sie sich in ihrem eigenen Namen niemals trauen würden. Es geht ja um die Dinge. Um die Kunst und nicht um die Person. Feigheit bedeutet für die Kunst unendlich viel. Indem sich der Künstler den gewöhnlichen Gewalten entzieht, sich vor ihnen zurückzieht, erwirbt er die Chance, frei von ihnen zu werden. Feigheit hat für dich in der Kunst also etwas mit Freiheit zu tun? In doppeltem Sinne. Feigheit ermöglicht dem Künstler erstens, etwas zu tun, das er ansonsten vielleicht nicht getan hätte. Dafür steht das Pseudonym. Dann


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gibt es aber noch etwas Wichtigeres: die Beziehung der Feigheit des Künstlers und der Freiheit der Kunst. Die Freiheit der Kunst ist ein Geschenk Gottes. Was bedeutet das? Die Kunst ist so frei wie Gott. Der Künstler auch? Keiner ist wie Gott. Der Künstler ist nur einer, der mit dem Gottesgeschenk der Freiheit zurande kommen muss oder will. Er will etwas daraus machen. Und die Feigheit? Die Feigheit ist eine gute Strategie, sich gegenüber der Freiheit der Kunst zu verhalten. Warum gerade die Feigheit? Sie akzeptiert, dass es Größeres gibt als uns. Gott zum Beispiel oder seine Geschenke – z. B. die Freiheit der Kunst. Man geht in Deckung, versteckt sich und schaut sich die Dinge mit Abstand an. Aber nicht nur die offensichtlich großen Dinge. Manche Künstler sind sogar zu feige, in den Alltag einzutauchen. Hinter allen Dingen lauern riesige Zudringlichkeiten. Zudringlichkeiten? Meinst du Gefahrenquellen – so wie die heiße Herdplatte in der Küche? So nicht. Der feige Künstler sieht, dass uns die alltäglichen Dinge in Beschlag nehmen. Davor fürchtet er sich. Er sieht wie durch ein starkes Vergrößerungsglas, wie uns die heiße Herdplatte abverlangt, ihr den Saft abzudrehen oder sie für unsere Zwecke zu benutzen, zu kochen etwa. Das kann unerträglich sein. Unerträglich? Wenn der Künstler nicht kochen kann? Nein, im Ernst: Manche fassen vielleicht lieber mit der Hand auf die heiße Herdplatte als den Geboten des Alltags zu gehorchen. Viel Spaß dabei. Als Künstler habe ich natürlich noch andere Möglichkeiten, der heißen Herdplatte gegenüberzutreten – jenseits der üblichen Wege. Vielleicht beschieße ich den Herd mit Pfeil und Bogen, schön feige, aus der Distanz. Dann habe ich womöglich eine neue Form der Herdbemeisterung gefunden. Etwas geschaffen. Melde die Methode doch als Patent an. Markus Lüpperts hat übrigens einmal sinngemäß gesagt, dass die Künstler die Welt mit Gott geschaffen haben. Ist doch Unsinn. Passt aber zu ihm. Lüpperts inszeniert sich ja als Angeber und Macher. Reine Egoshow. 156

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Ich glaube nicht, dass jemand auf Gottes Ebene steht. Gott ist für den Menschen eine hoffnungslose Überforderung. Der feige Künstler weiß das und bezieht Impulse aus den Überforderungen, die mit der Freiheit der Kunst auf ihn zukommen. Egomanie gibt es in der Kunst aber schon recht oft. Mag sein. Aber Egomanie behindert. Lüpperts spielt vielleicht auch nur mit ihr – als Maske. Kann ja sein, dass er dahinter ganz feige ist. Wenn man aber eine Maske zu lange trägt, verwächst sie vielleicht irgendwann mit einem. Egomanie kennt nur sich selbst. Das Ego ist dann zu voll, als dass noch etwas aufgenommen werden könnte. Der feige Künstler ist leer. Er lässt sich von größeren Kräften bewegen. Er tritt nicht als Person, sondern unter einem Pseudonym auf. Auf diese Weise ist er zu allem bereit. Wirklich zu allem? Auch zu geächteten Regelverstößen? Zu Zerstörungen? Oder Verbrechen? Davon ist nur die Zerstörung ein brauchbarer Begriff. Aus der Perspektive der Kunst sind doch gesellschaftliche Regeln und Verbrechen völlig gleichgültig. Was heißt das? Das heißt, dass die Kunst durch ihre Freiheit amoralisch und asozial ist. Aber diese Freiheit lässt sich nicht demonstrieren, indem man hier und da gezielt gegen eine Regel verstößt. Das ist ein Missverständnis der Möchtegern-Avantgarde. Vor allem, wenn außer dem Regelverstoß nichts anderes herauskommt. Mit dem bloßen Verstoß gegen Regeln bleibt der Künstler stark an diese Regeln gebunden, im Umwerfen der Regel. Die Kunst ist in einem radikaleren Sinne frei. Und im Umkehrschluss? Wenn die Kunst so frei ist wie Gott, müsste man sich Gott dann nicht als genauso amoralisch und asozial wie die freie Kunst vorstellen? Zumindest ist es gut, uns zu vergegenwärtigen, dass unsere Moral und unsere Gesellschaftsform nicht von Gott vorgegeben sind. Dafür sind wir verantwortlich. Und einen direkten eindeutigen Draht zu einem gesetzgebenden Gott, den haben wir eben nicht. Deshalb wirken selbstdeklarierte Gottesstaaten ja auch immer so grotesk. Man erkennt sofort, dass schwache oder machthungrige Menschen am Werk sind und nicht Gott selbst. Wie weit geht die radikale Freiheit der Kunst? Wenn zum Beispiel das Wohlergehen anderer auf dem Spiel steht, sind das dann Kunstopfer? Oh, die Stockhausen-Falle.


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1. Götze des ohnmächtigen Vaters – bald nur noch ein gewöhnlicher Spazierstock. 2. Götze der Offenbarungssicherheit – bald nur noch eine schöne Ausgabe von Nietzsches „Also sprach Zarathustra“. 3. Götze des Lebenskampfes – bald nur noch ein metallener Musketier aus einem Überraschungsei. 4. Bellen-ist-auch-ein-Statement-Götze – bald nur noch ein angegilbter Sticker mit einem bekannten Hund darauf. 5. Götze der Zusammenkunft – bald nur noch ein altes Foto von Darstellern und Fans der Lindenstraße. 6. Götze der Menschenschuld – bald nur noch ein Buch mit dem Titel „Serengeti darf nicht sterben“. 7. Kuchen-Geling-Götze – bald nur noch ein von Oma geerbter Kirschenentsteiner. 8. Götze der Leichtgläubigkeit – bald nur noch eine seltsame Werbemünze. 9. Götze der Verarmungsangst – bald nur noch eine Spardose im „Gaucho“-WM-Maskottchen-Look. 10. Götze der Anziehungskraft – bald nur noch eine 80er-Jahre-Muschelhalskette. 11. Götze der ewigen Neuheit – bald nur noch ein betagtes Kartenspielset, mit dem Mächtild 1 oft verloren hat.

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Wieso Stockhausen? Und warum Falle? Sag doch einfach, was du dazu denkst. Witzig. Das war es doch, was Stockhausen dumm hat aussehen lassen, als er über den 11. September faselte? Er hat sich mit seinem ziemlich verklärten Künstlerwunsch gehen lassen. Als wenn ein Künstler besonders bedeutend sei, wenn er für sein Werk Leben opferte, ob nun sein Leben oder das anderer. Immer wenn sich die Schöpfermythen der Künstler aufblähen, wird es schnell lächerlich. Leider waren Journalisten zugegen. Und da sich im Meinungsmarkt ein Skandal nun mal besser verkauft als die Lächerlichkeit, haben sie eben einen Skandal daraus gemacht. Für dich war es kein Skandal? Eher eine Dummheit. Stockhausen sollte etwas mehr nachdenken, bevor er den Mund aufmacht. Oder er schaut sich mal ein Readymade an. Das könnte ihn auch heilen von der absurden Idee, man müsste als Künstler eine Gewalt entfesseln, die im banalen Sinne mächtig ist, also Leben vernichten kann. Ein Readymade als Therapie? Ein Readymade ist doch ein wunderbarer Akt der Feigheit. Während anderswo die Gesetze des Könnens gelten, denkt der feige Duchamp nicht daran, sich der Könnerkonkurrenz zu stellen. All das Pathos der Kunstinszenierungen ist so erdrückend – auch das der Avantgarde. Es gibt keine Luft zum Atmen. Da nimmt er lieber ein bisschen leichten Schrott und macht schnell ein kleines Werk, zu dem die große Geste nicht mehr so recht passen will. Ist das nicht genau die Art von Regelverstoß, von der du eben gesagt hast, sie reiche nicht aus? Die Leichtigkeit, die darin steckt, und die Art, Dinge wie ein Pissoir mit einem Mal in ihren Formen und nicht in ihrer üblichen Funktion zu sehen, gehen für mich über den einfachen Regelverstoß hinaus. Duchamp gehört heute zum Inventar der Avantgarde. Ja, mit dem Einkassieren der großen Feiglinge sind die Mutigen immer alle ganz schnell. Über den 11. September wurde auch gesagt, es sei ein feiger Anschlag. Von Fanatikern ausgeführt, die sich hinter ihrer Religion verstecken und mit Passagierflugzeugen voller wehrloser Menschen in zivile Bauten fliegen. Wer sich als Fanatiker hinter einer Religion versteckt, tut das Gegenteil des Künstlers, der sich vor dem Zugriff der Dinge auf sein Leben versteckt. Die fanatische Religion sagt einem haarklein, was man zu tun 158

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hat. Vor ihr geht der Künstlerfeigling in Deckung. Denn er möchte nichts von dem tun, was sie will. Was wäre denn, wenn die Anschläge vom 11. September als Kunstaktion veranstaltet worden wären? Dann gäbe es in einigen Kunsttheoriebüchern ein eigenes Kapitel zu dieser Frage. Du weichst aus. Als Feigling allerdings dein gutes Recht. Ich kenne meine Rechte. Aber vor allem sehe ich keinen Anlass, als Kunstrichter aufzutreten. Jeder, der sich als Künstler ausruft, soll selbst sehen, wie er mit seinem Schaffen durchkommt. Ich glaube nicht, dass welcher Künstler auch immer in unseren Gesellschaften mit so etwas wie 9/11 durchkommen kann. Also gilt hier die radikale Freiheit der Kunst als göttliches Geschenk nicht? Doch, die gilt immer. Damit kann man die Kunst zur Legitimation für alles und jedes heranziehen. Nein, für gar nichts. Denn die Kunst und ihre Freiheit befinden sich jenseits unseres Legitimationsdenkens. Aber eben auch jenseits unserer Gesetze und Moralvorstellungen. Diese Freiheit sieht keine Beschränkungen vor. Schon vergessen: Sie ist göttlich. Müssen sich Künstler also vor Gericht verantworten, wenn Sie für ihr Kunstwerk ein Verbrechen begehen? Ob sich der Künstler für etwas verantworten muss, entscheidet nicht er, sondern die Gesellschaft, in der er das tut, was er tut. Die Gesellschaft wird sich wohl kaum an die Kunstfreiheit als göttliches Geschenk halten, wenn sie Verbrechen beurteilt. Aber der verbrecherische Künstler wird sich nach den Regeln des Staates zu verantworten haben, nicht nach denen der Kunst. Die Kunst kennt keine Gesetze und Richter. Die Unterscheidung zwischen freier Kunst und unfreiem Künstler ist mir noch nicht ganz klar. Die Kunst ist für nichts zur Verantwortung zu ziehen. Der Künstler schon. Unser Recht regelt seine Freiheit ja im Bürgerlichen Gesetzbuch und nennt das Kunstfreiheit. Deren Grenzen werden wenn nötig vor Gericht verhandelt. Dagegen sind gesellschaftliche Grenzen für die Freiheit der Kunst als göttlichem Geschenk völlig unerheblich. Diese Freiheit lässt sich nicht benutzen – weder für die Legitimation der eigenen Hand auf der Herdplatte noch für irgendein Unrecht. Aber eben auch nicht zur Verhinderung von Unrecht, was ja viele Moralisten nicht verstehen.


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Ach so. Ja, ach so. Du tust die ganze Zeit so, als würde ich Blutkunstwerke anfertigen oder morgen ein Flugzeug entführen, um damit in der Neuen Nationalgalerie oder bei Contempory Fine Arts einzuschlagen. Nicht vergessen: Ich versteigere eine Spardose und einen Zinnsoldaten und solchen Kram auf eBay. Wirf doch deinen Zinnsoldaten schon mal gegen die Fensterscheibe von Contempory Fine Arts. Vielleicht stellen sie dich aus. Nein, der wird versteigert. Darin liegt die Befreiung. Eine Ausstellung hätte einen ähnlichen Effekt wie die Literarisierung. Sie verewigt den Götzencharakter. Gut, sprechen wir noch einmal über deine Aktion. Du hast ihr einen Titel gegeben, der den eBay-Claims aus der bekannten Werbung in einen Hilferuf abwandelt: Aus „3, 2, 1, meins“ wird „1, 2, 3 – bald bin ich frei!“ Welcher Götze hält dich am stärksten in Unfreiheit? Es ist eher so, dass jeder Götze seine Macht auf einem bestimmten Gebiet inthronisiert hat. Und dabei sind die Götzen nicht immer besonders originell – ein weiterer Grund, ihnen den Garaus zu machen. Nicht besonders originell? Nein, zum Beispiel besetzt die Spardose mein Verhältnis zum Geld. Tatsächlich nicht originell. Was heißt denn besetzen? Bei der Spardose habe ich die Götzenversteinerung festgestellt, als sie voll war. Eigentlich hatte ich gespart, um mir eine Dauerkarte für meinen Fußballclub zu kaufen. Die Spardose ist ja der Gaucho, also das Maskottchen der Fußball-WM 1978. Später wurde es aber ein ganz allgemeiner Wunsch: einfach etwas Schönes kaufen – so in der Art. Als der Gaucho bis unter die Hutspitze gefüllt war, konnte ich das Geld aber nicht ausgeben. Noch nicht einmal rausholen. Ich bildete mir ein, es sei reines Geld, von dem eine besondere Kraft ausginge. Und hatte Angst, dass bei seiner Beschmutzung – also wenn ich es heraushole – Unheil drohe, vielleicht ewige Armut oder so etwas.

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Im Rahmen einer Pressekonferenz in Hamburg antwortete Karlheinz Stockhausen am 16. September 2001 auf die Frage eines Journalisten nach seiner persönlichen Sicht auf die Terroranschläge vom 11. September 2001: „Also – was da geschehen ist, ist natürlich – jetzt müssen Sie alle ihr Gehirn umstellen – das größtmögliche Kunstwerk, was es je gegeben hat, dass also Geister in einem Akt etwas vollbringen, was wir in der Musik nie träumen könnten, dass Leute zehn Jahre üben wie verrückt, total fanatisch für ein Konzert, und dann sterben. Das ist das größte Kunstwerk, was es überhaupt gibt für den ganzen Kosmos. Stellen Sie sich das doch vor, was da passiert ist, das sind Leute, die sind so konzentriert auf das, auf die eine Aufführung, und dann werden 5000 Leute in die Auferstehung gejagt in einem Moment. Das könnte ich nicht. (...) Das war eine Explosion wie für die Menschen in New York. Bumm. Ich weiß nicht, ob die jetzt woanders sind, die da plötzlich so schockiert waren. Also es gibt Dinge, die gehen in meinem Kopf vor sich, durch solche Erlebnisse, ich habe Wörter benutzt, die ich nie benutze, weil das so ungeheuer ist. Das ist das größte Kunstwerk überhaupt, was je passiert, stellen Sie sich mal vor, ich könnte jetzt ein Kunstwerk schaffen, und Sie wären alle nicht nur erstaunt, sondern würden auf der Stelle umfallen. Wir wären tot und wieder geboren, weil Sie Ihr Bewusstsein verlieren, weil es einfach zu wahnsinnig ist, dass manche Künstler versuchen, doch über die Grenze des überhaupt Denkbaren und Möglichen zu gehen, damit wir wach werden und für eine andere Welt uns öffnen. Also ich weiß nicht, ob es da 5000 Wiedergeburten gibt, aber irgendsowas, es ist unglaublich.“

Wie hast du das angestellt? Mit Schlamm? Viel besser: Ich habe die Kohle einfach zur Bank gebracht. Das ist schon länger her. Dann ist dieser Götze angeschlagen in seiner Macht? Vielleicht ein bisschen. Ich habe mich seines Inhalts vor der Umstellung auf den Euro entledigt. Andererseits muss ich mich seitdem ziemlich zusammenreißen, diesen hinterlistigen und gierigen Gaucho nicht wieder mit Euro fett zu füttern.

Ist das Geld noch drin? Wird es mit versteigert? Natürlich nicht.

Der Gang zur Bank hat dir Entzauberung gebracht? Die Bankangestellte hat die Münzen durch eine dieser Zählmaschinen gejagt und zu einer Zahl im Display gemacht. Dann auf meinem Konto. Besser kann man einen Götzen nicht neutralisieren.

Aber es ist doch reines Geld. Also Götzengeld. Von diesem Götzenunsinn will ich mich doch befreien. Der erste Schritt zur Befreiung lag schon mal darin, das Reinheitsgebot zu missachten.

Das scheint mir ein wichtiger Punkt zu sein. Was am Anfang des Projekts das Schreiben sein sollte, ist jetzt der Verkauf. Die Verwandlung in eine Zahl auf dem Konto ist deine Technik der Befreiung.

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27.03.2009

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Der Verkauf beweist, dass die Götzen nichtig sind. Denn Götter kann man nicht verkaufen oder kaufen. Bist du sicher? Der Markt ist momentan geschwächt. Die Kritiker sind obenauf. Aber geben wir ihm doch eine Chance und verkaufen nach deinen elf Götzen in einer zwölften Versteigerung Gott. Lassen wir den Markt entscheiden, ob man Gott verkaufen kann oder nicht. Das geht nicht. Es wird ein leeres Paket auf den Weg zum Höchstbietenden gehen. Nein, in dem Paket wird Gott sein. Wird man ihn dort drin sehen können? Niemand kann Gott irgendwo drin sehen. Wie willst du beweisen, dass man ihn kaufen kann. Das ist eine Frage des Glaubens. Wer nicht glaubt, soll nicht mitbieten. Ob das mit den eBay-Regeln konform geht? Uhh, die Regeln. So schön frei ist der Herr Künstler also. Die Versandkosten würden mich interessieren. Genauso hoch wie bei deinen Götzen: versichertes Paket. Interessante Vorstellung, dass das Paket verloren geht und ihr Schadensersatz geltend machen wollt. Diese Sendung kommt an. Was, wenn der Teufel das Paket ersteigert? Wir sprechen hier von Gott. Der wird schon wissen, was er zu tun hat, wenn er dem Teufel begegnet. Stimmt auch wieder. Aber gut, es ist deine Aktion. Wir wollen sie nicht verfälschen. Allerdings interessiert es mich, warum du diesem kleinen Erweiterungsvorschlag so negativ gegenüberstehst. Du bringst doch auch sehr viel Vertrauen in den Markt mit. Immerhin vertraust du deine Befreiung dem wahrscheinlich bekanntesten Marktplatz der Welt an. Ich habe nichts gegen den Markt. Aber ich möchte Gott nicht auf derselben Ebene abhandeln wie meine Götzen – und schon gar nicht auf dieselbe Art. Warum nicht? Das erste Gebot lautet: „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“ Viele sehen das Gebot ja als Ausdruck der Eifersucht, also als negative Begleiterscheinung des Monotheismus. Ich aber erlebe tagtäglich, wie meine kleinen Götzen mich in ihrer ganzen Konkretheit gefangen halten. Der eine Gott ist 160

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dagegen abstrakt. Entfernt. Unerreichbar. In der Abstraktion ist er auch freier. Er versteinert nicht so schnell. Vielleicht kann man mit ihm auch Götzen hinwegfegen: 1, 2, 3, großer Einer befrei! Dann gäbe es ja so etwas wie eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen diesem einen Gott und dem Markt. Viele Kritiker sehen den Markt aber eher als Teufel, der alle in Versuchung führt. Auch und gerade die Erfolgreichen unter euch Künstlern, die heute ständig verdächtigt werden, nur noch für den Markt zu produzieren. Ich glaube, die Kunstszene ist etwas neidisch auf den Markt, der so viel erreicht und sich überall durchsetzt – Krise hin oder her. Die Klamottenläden sehen heute oft besser aus als Galerien. Deshalb wollen die Kunstjünger den schillerndsten aller Märkte für die Kunst. Dazu machen sie die Kunst zur absoluten Ware: das heißt, nicht nur zur teuersten, sondern auch zur intransparentesten. Mit horrenden Preisen, die niemand wirklich nachvollziehen kann. Aber die Veränderungen reichen noch weiter: Die großen Sammler machen die Museen fertig. Sie treiben die Preise so hoch, dass die Museen nicht mehr nachziehen können. Den Bedeutungsverlust muss man sich vor Augen führen. Die documenta hat versucht, ihn mit dem Konzept ihrer 12. Runde zu kommentieren. Sie ist ohne Stars angetreten. Vielleicht hat sie damit aber eher den Marktwert der vertretenen Künstler gesteigert und gleichzeitig ihrem eigenen Bedeutungsverlust in die Hände gespielt. Bedauerst du diesen Bedeutungsverlust der alten Institutionen? Ich bin kein Marktfetischist. Aber zumindest befreien die superreichen Sammler die Kunst vom Dogma des Allgemeingutes, das die Kunstspießer in den Museen pflegen, weil sie vom Staat bezahlt werden und dafür irgendeine Rechtfertigung brauchen. Ist die Idee der Kunst als Allgemeingut nicht eine der Demokratie angemessene Vorstellung? Vielleicht. Aber ich denke nicht, dass der Museumsklüngel viel von Demokratie hält. Entscheidungen auf nachvollziehbarer Basis, Leistungsüberprüfung, Rechenschaft gegenüber dem Volk, Abstimmungen, am besten noch über Kunst. Das sind Dinge, die im Museumsbetrieb nicht auf Anhieb ins Auge springen. Dienen die Museen nicht auf ihre Weise ebenso der Freiheit der Kunst? Es ist doch eher ein miefiges und trauriges Schicksal


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27.03.2009

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für die Kunst, wenn sie den Kunstbeamten in den Museen in die Hände fällt. Allein schon die Vorstellung einer Institution ist grotesk angesichts der Freiheit der modernen Kunst. Die Kunst ist per se frei. Sie benötigt keine Diener.

Wir kommen zum Ende. Aber zuvor sollten wir vielleicht zur Sicherheit noch einmal darauf hinweisen, dass wir zu keinem Zeitpunkt des Gesprächs zum Kunstmord oder Blutkunstwerk aufrufen wollten. Das nenne ich feige.

Sollte denn nicht auch die zeitgenössische Kunst für jedermann zu sehen sein. Das leisten die Museen doch? Ehrlich gesagt, finde ich eine andere Vorstellung spannender: Ein bedeutendes Werk verschwindet im Panzerschrank eines Sammlers und wird zur Legende. Dann: Bumm! Es taucht eines Tages wieder auf und schlägt irgendwo ein – wie Nietzsches Pfeil mit einer Megatonnenladung bestückt.

Also noch einmal für alle: Gesetze befolgen! Nicht mit Menschenfleisch spielen. Ach ja, und bitte brav rote Farbe mit dem Pinsel auf die Leinwand streichen, das Blut also nur malen. Warum soll gemaltes Blut denn rot sein?

Ist nicht auch ein Nietzschebuch unter deinen Götzen? Ja, eine schöne alte Ausgabe von „Also sprach Zarathustra“. Mit ihr in der Tasche habe ich immer das Gefühl, die Offenbarung direkt dabei zu haben. Ganz unabhängig davon, was in dem Buch steht. Das ist mein Götze der Offenbarungssicherheit.

Viel Glück bei der Versteigerung! Den Starttermin der Versteigerung und alle weiteren Informationen zum Projekt von Mächtild 1 erfahren Sie im Internet.

maechte.com

Z wie Zusatz Beachten Sie die Gebote auf der Heftrückseite – oder auch nicht.

Die zehn Gebote haben schon einige Jahre auf dem Buckel. Aber alle Achtung: Sie gelten immer noch – jedenfalls weitgehend. Allerdings kommt keine Zeit ohne zusätzliche Anweisungen aus. Zusatzgebote. Nicht im Zeichen des Heiligen Geistes, sondern der Zeitgeister, die sich oft mehr beweihräuchern, als uns lieb ist. Auf der Rückseite dieser Ausgabe haben wir neun offensichtliche Zusatzgebote unserer Gegenwart gelistet, vor deren Ansprüchen wir unsere fabelhafte Leserschaft zwar warnen, aber leider nicht bewahren können. Immerhin können wir Ihnen zu jedem Zusatzgebot noch einen kleinen Zusatz anbieten, der alles klarer macht. Hoffentlich. Und dann ist uns noch ein zehntes Zusatzgebot eingefallen, vor dem wir unsere fabelhafte Leserschaft weder warnen noch bewahren wollen. Dies ist ein exklusiver Service von MÄCHTE – Ihrem Autorenmagazin. 161


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30.03.2009

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MÄCHTILD Machen Sie Kunst. Unerkannt.

Ihre Nachbarn sollen nicht erfahren, was tatsächlich in Ihrem Kopf vorgeht. Oder Sie möchten in den Augen Ihrer Kollegen weiterhin ein braver Sachbearbeiter sein. Vielleicht dürfen Sie auch Ihren Erbteil nicht gefährden. Aber Sie haben nun einmal diese fantastische Idee für ein bahnbrechendes Kunstprojekt. Aus guten Gründen möchten Sie das Ding eben nicht unter Ihrem Namen angehen. Wir können das verstehen. Vor allem jedoch möchten wir, dass Ihre fantastische Idee realisiert wird. Und der Öffentlichkeit nicht

vorenthalten bleibt. Daher unterstützen wir Sie. Wir leihen Ihnen einen klangvollen Namen. Werden Sie Mächtild! Produzieren Sie Ihr Werk. Zeigen Sie es. Ohne Ihre Identität zu offenbaren. Mächtild 1 arbeitet bereits. Mit der Aktion „1, 2, 3 – bald bin ich frei!“. Mehr dazu ab Seite 154 dieses Magazins. Und auf unserer Website. maechte.com


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27.03.2009

11:51 Uhr

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DIE ZEHN ZUSATZGEBOTE DER ZEITGEISTER

1. KONSUMIEREN SIE BEWUSST! Aber viel.

2. MEHREN SIE SICH! Insbesondere, wenn Sie über einen höheren Bildungsstand verfügen.

3. OPTIMIEREN SIE SICH! Neue Biotechniken, Fortbildungen und leistungssteigernde Substanzen stehen bereit.

4. UNTERSCHEIDEN SIE SICH VON ANDEREN! Jedoch nicht zu sehr.

5. SEIEN SIE SO GUT WIE UMWELTBEWUSST! Bekunden Sie beispielsweise den Wunsch, Energie zu sparen.

6. LASSEN SIE SICH GERN ÜBERWACHEN! Sie werden sich sauber und sicher fühlen.

7. SICHERN SIE SICH UMFASSEND AB!

Ihre Restrisiken werden schrumpfen.

8. IGNORIEREN SIE DIE WIRTSCHAFTSKRISE! Solange es noch geht.

9. ERWEITERN SIE IHREN VERTEIDIGUNGSWILLEN! Bis auf Weiteres bis an den Hindukusch und an das Horn von Afrika.

10. LESEN SIE MÄCHTE! Und zwar gründlich.

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EU: 12 EURO

2 GÖTTER 2009

D: 10 EURO


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