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DISKUSSION

DISKUSSION

— Die alte Form – heute bis zur Unkenntlichkeit verdorben. Und Buden am Bahnhof sind ein ganz altes Essener Thema …

— Das Bahnhofscafé am Abend. Essener erinnern sich: Das Café war gut und als zentraler Treffpunkt sehr beliebt – sogar für Rendezvous.

Essen Hbf

Aufklärung über zwei Legenden Die Bahn hat es wieder einmal versprochen: Endlich soll sich beim maroden Essener Hauptbahnhof etwas tun, endlich soll das vergammelte Gebäude modernisiert werden. Wie, das sollen wir bald erfahren. Pläne für einen futuristischen Neubau-Palast sind diesmal angesichts der knappen Bahn-Finanzen kaum zu erwarten. Wir meinen: Das muss kein Schaden sein. Denn erstens haben futuristische Bahnhofs-Pläne eine fatale Neigung, sich in Luft aufzulösen. Und zweitens hat unser real existierender Bahnhof durchaus Potenzial für eine Ressourcen schonende und doch ansprechende Modernisierung. Aus gegebenem Anlass und zum 50. Geburtstag des viel geschmähten Gebäudes: eine kleine Aufklärung über zwei beliebte Legenden.

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Essener Revue

| Legende Nr. 1 Der im Bombenkrieg untergegangene alte Hauptbahnhof war das Nonplusultra, ein architektonisches Juwel, mit dem alle Essener und ihre Besucher glücklich waren. Richtig ist: Der 1902 fertig gestellte Bau war ein riesiger Fortschritt gegenüber jener „Bretterbude“, die bis dahin die Gemüter jahrzehntelang erregt hatte. Doch die Gestaltung des neuen Gebäudes konnte man ohne große Übertreibung als zuckerbäckrig bezeichnen, und kritische Besucher taten das auch

– sie sahen in dem türmchenbewehrten Haus einen typischen Bau kulturloser Emporkömmlinge. Außerdem war „Essen Hbf“ bahntechnisch keineswegs ein großer Wurf; vor allem die Einfädelung der nördlichen und südlichen Strecken war unbefriedigend. Schließlich blieb die Gestaltung des beengten Bahnhofsvorplatzes ein stetes Ärgernis; die Empörung über provinzielle Dauerprovisorien war nicht geringer als zuvor der Groll über die sparsame „Bretterbude“ oder heute der Ekel vor dem Schmuddel-Kasten. So höhnte eine Zeitung 1904 über ein „gottvolles Schild“ am unfertigen Vorplatz: „Privatplatz der Stadt Essen“. Und unvermutet dort auftauchende Arbeiter seien leider keineswegs zur Umgestaltung des Platzes angetreten, sondern nur zur „Errichtung einer Milchbude“. Bude am Bahnhof kommt uns doch irgendwie bekannt vor. Schon kurz nach dem Ersten und bis zum Zweiten Weltkrieg wurden ernsthaft Pläne diskutiert, den vermeintlich so vielgeliebten PrunkBahnhof als „unzulänglich“ komplett abzureißen und an anderer Stelle neu zu bauen. Im Gespräch war schon 1920 eine Verlegung nach Osten,

in etwa bei der heutigen alten Volkshochschule. Das war zwar weiter von der Innenstadt, doch dafür gab es mehr Platz. Andere Pläne sahen, noch viel radikaler, die Zusammenfassung der parallelen Ost-West-Strecken mit einem „Ruhrgebietshauptbahnhof“ am Nordrand der City vor. Aus alledem wurde bekanntlich nichts, weil kein Geld da war. Den alten Hauptbahnhof aber raffte der Bombenkrieg dahin. Er war so gründlich zerstört, dass über einen originalen Wiederaufbau ernsthaft gar nicht geredet zu werden brauchte – so bedeutsam war das Gebäude wirklich nicht gewesen. Statt dessen wurde, wie so oft, die Tabula rasa als Chance begriffen. Und prompt tauchten jene Pläne wieder auf, die den ganzen Bahnhof nach Osten verlegen wollten. Vor allem die Stadt Essen favorisierte eine große städtebauliche Lösung am „Holleplatz“, für die „phantastische Summe von 200 Millionen Mark“. Die Bahn aber hatte angesichts der allgemeinen Schäden an Gebäuden, Gleisen und rollendem Material wieder mal kein Geld und führte außerdem technische Bedenken ins Feld. Sie entschied sich für einen Neubau an alter Stelle.

| Legende Nr. 2 Der neue, der Nachkriegsbahnhof war von Anfang an ein billiges, schäbiges Provisorium, nicht zu vergleichen mit dem ach so schönen Vorkriegsbau. Richtig ist: Die Bahn ließ sich unglaublich viel Zeit mit dem Bau, und als 1956 das neue Gebäude endlich stand, war das noch längst nicht der ganze Bahnhof. Reste des alten Gebäudes wurden noch immer genutzt, und gebaut wurde weiter. Noch 1961 seufzten die Ruhr-Nachrichten über die „ewige Baustelle“. Als Datum für die wirkliche Fertigstellung des Bahnhofs gilt sage und schreibe 1975. Doch was damals auf der Südseite angepappt wurde, hatte mit dem Stil der Empfangshalle nur mehr wenig zu tun, und die wurde denn auch mit An- und Einbauten bis zur Unkenntlichkeit verschandelt. Dabei hatte es der Stil der Fünfziger durchaus in sich gehabt und war 1956 auch von der Essener Presse gelobt worden: Eine „klar gegliederte Außenfront, entsprechend moderner Bauauffassung“, vermerkte zum Beispiel die NRZ. Gewiss: Von der prätentiösen Schnörkeligkeit seines Vorgängers hatte der neue Bahnhof nichts. Der graue, quaderför-

mige Hauptbau trieb das Schlichtheitsprinzip der frühen Nachkriegszeit auf die Spitze. Aber die Fassade korrespondierte recht gut mit Nachbargebäuden wie der Hauptpost. Der nördliche Eingang war von einladender Weite, öffnete sich wirklich hin zur Innenstadt. Das zeitgeistig kokett sich darüber emporschwingende Dach bot zwar weniger Regenschutz als die heutige Kastenkonstruktion – aber viel mehr Charme! Mehr noch als das Vordach fügte die nach rechts ausschwingende Glasfassade dem schlichten Hauptbau ein spielerisches Element hinzu. Dieser Anbau beherbergte ein zweigeschossiges Bahnhofs-Café: „eine Bereicherung“, urteilte die NRZ. Heute wirken Fotos des gut besuchten Cafés wie Bilder aus einer fernen Welt. Im Innern war der Bahnhof hell und transparent. Einen finsteren, niedrigen Durchgang unter den Gleisen wie im alten Bahnhof, wie bis heute in Duisburg, Oberhausen und vielen anderen Städten, gab es nicht mehr. Dass die Vorzüge des Hauses sich nicht auf Dauer im Bewusstsein der Essener festsetzen konnten, hat vermutlich mit der „ewigen Baustelle“ zu tun, damit, dass der Hauptbahnhof irgendwie nie

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— Die alte Form – heute bis zur Unkenntlichkeit verdorben. Und Buden am Bahnhof sind ein ganz altes Essener Thema …

— Das Bahnhofscafé am Abend. Essener erinnern sich: Das Café war gut und als zentraler Treffpunkt sehr beliebt – sogar für Rendezvous.

Essen Hbf

Aufklärung über zwei Legenden Die Bahn hat es wieder einmal versprochen: Endlich soll sich beim maroden Essener Hauptbahnhof etwas tun, endlich soll das vergammelte Gebäude modernisiert werden. Wie, das sollen wir bald erfahren. Pläne für einen futuristischen Neubau-Palast sind diesmal angesichts der knappen Bahn-Finanzen kaum zu erwarten. Wir meinen: Das muss kein Schaden sein. Denn erstens haben futuristische Bahnhofs-Pläne eine fatale Neigung, sich in Luft aufzulösen. Und zweitens hat unser real existierender Bahnhof durchaus Potenzial für eine Ressourcen schonende und doch ansprechende Modernisierung. Aus gegebenem Anlass und zum 50. Geburtstag des viel geschmähten Gebäudes: eine kleine Aufklärung über zwei beliebte Legenden.

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| Legende Nr. 1 Der im Bombenkrieg untergegangene alte Hauptbahnhof war das Nonplusultra, ein architektonisches Juwel, mit dem alle Essener und ihre Besucher glücklich waren. Richtig ist: Der 1902 fertig gestellte Bau war ein riesiger Fortschritt gegenüber jener „Bretterbude“, die bis dahin die Gemüter jahrzehntelang erregt hatte. Doch die Gestaltung des neuen Gebäudes konnte man ohne große Übertreibung als zuckerbäckrig bezeichnen, und kritische Besucher taten das auch

– sie sahen in dem türmchenbewehrten Haus einen typischen Bau kulturloser Emporkömmlinge. Außerdem war „Essen Hbf“ bahntechnisch keineswegs ein großer Wurf; vor allem die Einfädelung der nördlichen und südlichen Strecken war unbefriedigend. Schließlich blieb die Gestaltung des beengten Bahnhofsvorplatzes ein stetes Ärgernis; die Empörung über provinzielle Dauerprovisorien war nicht geringer als zuvor der Groll über die sparsame „Bretterbude“ oder heute der Ekel vor dem Schmuddel-Kasten. So höhnte eine Zeitung 1904 über ein „gottvolles Schild“ am unfertigen Vorplatz: „Privatplatz der Stadt Essen“. Und unvermutet dort auftauchende Arbeiter seien leider keineswegs zur Umgestaltung des Platzes angetreten, sondern nur zur „Errichtung einer Milchbude“. Bude am Bahnhof kommt uns doch irgendwie bekannt vor. Schon kurz nach dem Ersten und bis zum Zweiten Weltkrieg wurden ernsthaft Pläne diskutiert, den vermeintlich so vielgeliebten PrunkBahnhof als „unzulänglich“ komplett abzureißen und an anderer Stelle neu zu bauen. Im Gespräch war schon 1920 eine Verlegung nach Osten,

in etwa bei der heutigen alten Volkshochschule. Das war zwar weiter von der Innenstadt, doch dafür gab es mehr Platz. Andere Pläne sahen, noch viel radikaler, die Zusammenfassung der parallelen Ost-West-Strecken mit einem „Ruhrgebietshauptbahnhof“ am Nordrand der City vor. Aus alledem wurde bekanntlich nichts, weil kein Geld da war. Den alten Hauptbahnhof aber raffte der Bombenkrieg dahin. Er war so gründlich zerstört, dass über einen originalen Wiederaufbau ernsthaft gar nicht geredet zu werden brauchte – so bedeutsam war das Gebäude wirklich nicht gewesen. Statt dessen wurde, wie so oft, die Tabula rasa als Chance begriffen. Und prompt tauchten jene Pläne wieder auf, die den ganzen Bahnhof nach Osten verlegen wollten. Vor allem die Stadt Essen favorisierte eine große städtebauliche Lösung am „Holleplatz“, für die „phantastische Summe von 200 Millionen Mark“. Die Bahn aber hatte angesichts der allgemeinen Schäden an Gebäuden, Gleisen und rollendem Material wieder mal kein Geld und führte außerdem technische Bedenken ins Feld. Sie entschied sich für einen Neubau an alter Stelle.

| Legende Nr. 2 Der neue, der Nachkriegsbahnhof war von Anfang an ein billiges, schäbiges Provisorium, nicht zu vergleichen mit dem ach so schönen Vorkriegsbau. Richtig ist: Die Bahn ließ sich unglaublich viel Zeit mit dem Bau, und als 1956 das neue Gebäude endlich stand, war das noch längst nicht der ganze Bahnhof. Reste des alten Gebäudes wurden noch immer genutzt, und gebaut wurde weiter. Noch 1961 seufzten die Ruhr-Nachrichten über die „ewige Baustelle“. Als Datum für die wirkliche Fertigstellung des Bahnhofs gilt sage und schreibe 1975. Doch was damals auf der Südseite angepappt wurde, hatte mit dem Stil der Empfangshalle nur mehr wenig zu tun, und die wurde denn auch mit An- und Einbauten bis zur Unkenntlichkeit verschandelt. Dabei hatte es der Stil der Fünfziger durchaus in sich gehabt und war 1956 auch von der Essener Presse gelobt worden: Eine „klar gegliederte Außenfront, entsprechend moderner Bauauffassung“, vermerkte zum Beispiel die NRZ. Gewiss: Von der prätentiösen Schnörkeligkeit seines Vorgängers hatte der neue Bahnhof nichts. Der graue, quaderför-

mige Hauptbau trieb das Schlichtheitsprinzip der frühen Nachkriegszeit auf die Spitze. Aber die Fassade korrespondierte recht gut mit Nachbargebäuden wie der Hauptpost. Der nördliche Eingang war von einladender Weite, öffnete sich wirklich hin zur Innenstadt. Das zeitgeistig kokett sich darüber emporschwingende Dach bot zwar weniger Regenschutz als die heutige Kastenkonstruktion – aber viel mehr Charme! Mehr noch als das Vordach fügte die nach rechts ausschwingende Glasfassade dem schlichten Hauptbau ein spielerisches Element hinzu. Dieser Anbau beherbergte ein zweigeschossiges Bahnhofs-Café: „eine Bereicherung“, urteilte die NRZ. Heute wirken Fotos des gut besuchten Cafés wie Bilder aus einer fernen Welt. Im Innern war der Bahnhof hell und transparent. Einen finsteren, niedrigen Durchgang unter den Gleisen wie im alten Bahnhof, wie bis heute in Duisburg, Oberhausen und vielen anderen Städten, gab es nicht mehr. Dass die Vorzüge des Hauses sich nicht auf Dauer im Bewusstsein der Essener festsetzen konnten, hat vermutlich mit der „ewigen Baustelle“ zu tun, damit, dass der Hauptbahnhof irgendwie nie

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— Die alte Form – heute bis zur Unkenntlichkeit verdorben. Und Buden am Bahnhof sind ein ganz altes Essener Thema …

— Das Bahnhofscafé am Abend. Essener erinnern sich: Das Café war gut und als zentraler Treffpunkt sehr beliebt – sogar für Rendezvous.

Essen Hbf

Aufklärung über zwei Legenden Die Bahn hat es wieder einmal versprochen: Endlich soll sich beim maroden Essener Hauptbahnhof etwas tun, endlich soll das vergammelte Gebäude modernisiert werden. Wie, das sollen wir bald erfahren. Pläne für einen futuristischen Neubau-Palast sind diesmal angesichts der knappen Bahn-Finanzen kaum zu erwarten. Wir meinen: Das muss kein Schaden sein. Denn erstens haben futuristische Bahnhofs-Pläne eine fatale Neigung, sich in Luft aufzulösen. Und zweitens hat unser real existierender Bahnhof durchaus Potenzial für eine Ressourcen schonende und doch ansprechende Modernisierung. Aus gegebenem Anlass und zum 50. Geburtstag des viel geschmähten Gebäudes: eine kleine Aufklärung über zwei beliebte Legenden.

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| Legende Nr. 1 Der im Bombenkrieg untergegangene alte Hauptbahnhof war das Nonplusultra, ein architektonisches Juwel, mit dem alle Essener und ihre Besucher glücklich waren. Richtig ist: Der 1902 fertig gestellte Bau war ein riesiger Fortschritt gegenüber jener „Bretterbude“, die bis dahin die Gemüter jahrzehntelang erregt hatte. Doch die Gestaltung des neuen Gebäudes konnte man ohne große Übertreibung als zuckerbäckrig bezeichnen, und kritische Besucher taten das auch

– sie sahen in dem türmchenbewehrten Haus einen typischen Bau kulturloser Emporkömmlinge. Außerdem war „Essen Hbf“ bahntechnisch keineswegs ein großer Wurf; vor allem die Einfädelung der nördlichen und südlichen Strecken war unbefriedigend. Schließlich blieb die Gestaltung des beengten Bahnhofsvorplatzes ein stetes Ärgernis; die Empörung über provinzielle Dauerprovisorien war nicht geringer als zuvor der Groll über die sparsame „Bretterbude“ oder heute der Ekel vor dem Schmuddel-Kasten. So höhnte eine Zeitung 1904 über ein „gottvolles Schild“ am unfertigen Vorplatz: „Privatplatz der Stadt Essen“. Und unvermutet dort auftauchende Arbeiter seien leider keineswegs zur Umgestaltung des Platzes angetreten, sondern nur zur „Errichtung einer Milchbude“. Bude am Bahnhof kommt uns doch irgendwie bekannt vor. Schon kurz nach dem Ersten und bis zum Zweiten Weltkrieg wurden ernsthaft Pläne diskutiert, den vermeintlich so vielgeliebten PrunkBahnhof als „unzulänglich“ komplett abzureißen und an anderer Stelle neu zu bauen. Im Gespräch war schon 1920 eine Verlegung nach Osten,

in etwa bei der heutigen alten Volkshochschule. Das war zwar weiter von der Innenstadt, doch dafür gab es mehr Platz. Andere Pläne sahen, noch viel radikaler, die Zusammenfassung der parallelen Ost-West-Strecken mit einem „Ruhrgebietshauptbahnhof“ am Nordrand der City vor. Aus alledem wurde bekanntlich nichts, weil kein Geld da war. Den alten Hauptbahnhof aber raffte der Bombenkrieg dahin. Er war so gründlich zerstört, dass über einen originalen Wiederaufbau ernsthaft gar nicht geredet zu werden brauchte – so bedeutsam war das Gebäude wirklich nicht gewesen. Statt dessen wurde, wie so oft, die Tabula rasa als Chance begriffen. Und prompt tauchten jene Pläne wieder auf, die den ganzen Bahnhof nach Osten verlegen wollten. Vor allem die Stadt Essen favorisierte eine große städtebauliche Lösung am „Holleplatz“, für die „phantastische Summe von 200 Millionen Mark“. Die Bahn aber hatte angesichts der allgemeinen Schäden an Gebäuden, Gleisen und rollendem Material wieder mal kein Geld und führte außerdem technische Bedenken ins Feld. Sie entschied sich für einen Neubau an alter Stelle.

| Legende Nr. 2 Der neue, der Nachkriegsbahnhof war von Anfang an ein billiges, schäbiges Provisorium, nicht zu vergleichen mit dem ach so schönen Vorkriegsbau. Richtig ist: Die Bahn ließ sich unglaublich viel Zeit mit dem Bau, und als 1956 das neue Gebäude endlich stand, war das noch längst nicht der ganze Bahnhof. Reste des alten Gebäudes wurden noch immer genutzt, und gebaut wurde weiter. Noch 1961 seufzten die Ruhr-Nachrichten über die „ewige Baustelle“. Als Datum für die wirkliche Fertigstellung des Bahnhofs gilt sage und schreibe 1975. Doch was damals auf der Südseite angepappt wurde, hatte mit dem Stil der Empfangshalle nur mehr wenig zu tun, und die wurde denn auch mit An- und Einbauten bis zur Unkenntlichkeit verschandelt. Dabei hatte es der Stil der Fünfziger durchaus in sich gehabt und war 1956 auch von der Essener Presse gelobt worden: Eine „klar gegliederte Außenfront, entsprechend moderner Bauauffassung“, vermerkte zum Beispiel die NRZ. Gewiss: Von der prätentiösen Schnörkeligkeit seines Vorgängers hatte der neue Bahnhof nichts. Der graue, quaderför-

mige Hauptbau trieb das Schlichtheitsprinzip der frühen Nachkriegszeit auf die Spitze. Aber die Fassade korrespondierte recht gut mit Nachbargebäuden wie der Hauptpost. Der nördliche Eingang war von einladender Weite, öffnete sich wirklich hin zur Innenstadt. Das zeitgeistig kokett sich darüber emporschwingende Dach bot zwar weniger Regenschutz als die heutige Kastenkonstruktion – aber viel mehr Charme! Mehr noch als das Vordach fügte die nach rechts ausschwingende Glasfassade dem schlichten Hauptbau ein spielerisches Element hinzu. Dieser Anbau beherbergte ein zweigeschossiges Bahnhofs-Café: „eine Bereicherung“, urteilte die NRZ. Heute wirken Fotos des gut besuchten Cafés wie Bilder aus einer fernen Welt. Im Innern war der Bahnhof hell und transparent. Einen finsteren, niedrigen Durchgang unter den Gleisen wie im alten Bahnhof, wie bis heute in Duisburg, Oberhausen und vielen anderen Städten, gab es nicht mehr. Dass die Vorzüge des Hauses sich nicht auf Dauer im Bewusstsein der Essener festsetzen konnten, hat vermutlich mit der „ewigen Baustelle“ zu tun, damit, dass der Hauptbahnhof irgendwie nie

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rung unterblieb, kann eigentlich niemanden verwundern, da doch die ganze Stadt dauernd den Abriss des „hässlichsten Bahnhofs in Deutschland“ forderte. Passiert ist folglich wieder mal gar nichts. Bis jetzt.

— Hell, freundlich, sauber: Die neue Bahnhofshalle vor vierzig Jahren. Da musste sich niemand ekeln oder fürchten.

richtig fertig war. Und als es dann doch so weit war, 1975, war er schon nicht mehr er selbst. In jenem Jahr, höchst symptomatisch, hat man ihm das putzige Vordach abgeschlagen und durch den bis heute existierenden Nachfolger à la S-Bahn-Haltepunkt ersetzt. Was man zur gleichen Zeit am Südausgang anbaute, war von ebenso erschreckender Phantasielosigkeit. Überdies hat man dann den nördlichen Bahnhofsvorplatz, ohne Straßenbahn, aber mit sehr unglücklich angelegten U-Bahn-Eingängen, so gründlich verkorkst, dass der Hauptausgang des Bahnhofes kein rechtes städtisches Gegenüber mehr hat. So angeschlagen geriet das Gebäude in jene autoverrückte Zeit, da Bahnhöfe nicht nur der DB ziemlich schnuppe waren. Machen wir uns nichts vor: Bahnfahren galt damals als uncool, als etwas für jene, die irgendwie den Anschluss verpasst hatten und sich kein Auto leisten konnten. Dass der Bahnhof dann auch genau so aussah, je länger, je mehr, darf man kaum allein der Bahn anlasten. Dass er immer mehr 42 |

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verschmuddelte, lag nicht bloß an fehlender Reinigung und am Benehmen der wachsenden Penner- und Junkieschar. Wir alle haben ihn vernachlässigt, unseren Bahnhof – erstens, weil das damals im Trend lag, und zweitens, weil das Gebäude in seiner 1975er Fassung wirklich nicht leicht zu lieben war. Als alle Welt sich in Sachen Bahnhöfe neu besann, trat in Essen, historisch betrachtet,

wieder der Normalfall ein: Alle jammerten Tag für Tag, jahrein, jahraus über den miserablen Bahnhof, pompöse Pläne für einen kompletten Neubau nebst glitzernder Einkaufs-Mall („Passarea“) wurden ventiliert, die Bahn aber hatte wieder mal kein Geld. Für schicke Neu- oder spektakuläre Umbauten hatte sie andere Kandidaten auf der kurzen Liste. Dass in Essen aber sogar bescheidene Modernisie-

| Und die Moral... Wenn die Beteiligten aus der langen Geschichte „Essen (und) sein Bahnhof“ etwas lernen wollen, werden sie erstens jetzt keine Zeit mehr auf gigantomane Ufo-Stationen verschwenden. Und wenn sie eine bezahlbare Lösung gefunden haben, werden sie zweitens nicht auf einer weiteren „ewigen Baustelle“ herumkleckern, sondern zügig klotzen. Das Jahr 2010 ist ein guter Ansporn: Kulturhauptstadtbahnhof. Und warum sollte man nicht den guten, 50 Jahre alten Kern des Gebäudes freilegen und ohne den Plunder der Siebziger erneut umbauen, mit mehr Verständnis für die ursprüngliche Form? Vielleicht kriegen wir ja sogar das Bahnhofs-Café zurück. Es wäre, um mit den NRZ-Kollegen von 1956 zu sprechen, eine Bereicherung. ● Martin Kuhna

Der Wahrheit die Ehre! Wenn die Essener Revue sich damit selbst nicht zu wichtig nähme, könnte man den Legenden über den Essener Hauptbahnhof noch eine dritte hinzufügen: dass es nämlich zuerst in der WAZ gestanden habe, dass die Deutsche Bahn AG Essen für 2010 einen renovierten Hauptbahnhof versprochen habe. Die Essener Revue hat bereits in ihrer September-Ausgabe 2005 einen Brief veröffentlicht, in dem die Bahn Stadt und Region versprach, bis 2010 einen „Wohlfühlbahnhof“ geschaffen zu haben. Das war die Reaktion auf einen Protestbrief aus der Juni-Ausgabe 2005 der Essener Revue, den über 200 Leser herausgetrennt, frankiert und Herrn Mehdorn nach Berlin geschickt hatten. Ulrich Führmann, Redaktionsleiter der Essener NRZ, hat in einem Kommentar (23. Juni 2006) an diese erfolgreiche Aktion erinnert. Danke!


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