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RUHR-FAMILIEN

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Familie Goldschmidt

— Schienenschweißung in Berlin 1908. Das ThermitVerfahren von Goldschmidt ist bis heute ein Welterfolg.

Liebe, Streit und Tragik Goldschmidt: Das ist außerhalb Essens keiner der ganz großen Namen. Aber die Geschichte dieser Familie und ihres Unternehmens ist auf so faszinierende, dramatische Weise verbunden mit Stadt, Region und Zeitgeschichte, dass wir einen gegebenen Anlass gern ergreifen, sie hier zu erzählen. Halb zur Serie über die großen Ruhr-Familien passend – halb zur Folge der „stillen Stars“, denn lautes Klappern gehörte nie so recht zum Handwerk der Goldschmidts.

„Chemische Fabrik Th. Goldschmidt“: Das „Th.“ steht für den Vornamen des Firmengründers. Carl Theodor Goldschmidt wird 1817 in eine bürgerliche Berliner Familie geboren. Sein Vater handelt mit Kattun, also Baumwollstoff. Beide Eltern sterben früh; Theodor kommt in die Obhut seines Onkels und seiner Vettern, die eine „Kattundruckerei“ betreiben. Theodor findet Interesse am Geschäft. Er studiert Naturwissenschaften, tritt in der Firma seine erste Stelle an – und gründet 1847 mit 30 Jahren sein eigenes Unternehmen, das die Fabrik der Verwandten mit Zinn-Chemikalien beliefert.

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Ruhr Revue

Mit seiner Frau Johanna Luise hat Theodor Goldschmidt drei Kinder: Karoline, Karl Bernhard und Johann (Hans) Wilhelm. Ehe der Jüngste ein Jahr alt ist, stirbt die Mutter. Beim Tod des Vaters sind die Söhne 17 und 14 Jahre alt. Trotzdem gelingt die Nachfolge: Beide Söhne studieren Chemie und werden beim berühmten Professor Bunsen in Heidelberg promoviert. Karl tritt 1882 in den Vorstand der Firma ein, Hans folgt 1888. Zu dem Zeitpunkt hat Karl schon entschlossen das Heft in die Hand genommen und Produktivität, Qualitätssicherung, Ertrag der Firma verbessert. Als billige Rohstoff-Quelle für Zinn hat er

Weißblech-Abfälle ausgemacht. Hans übernimmt es, neuartige Entzinnungsverfahren zu erforschen. Bald zeichnet sich ab: Wachstum ist in Berlin kaum möglich. Das Firmengelände am Landwehrkanal ist zu klein. Die Textilindustrie der Hauptstadt schrumpft. Für die entzinnten Blechabfälle gibt es keine Abnehmer. Die Lösung des Problems liegt im Westen: Am Niederrhein gibt es Textilbetriebe; das Ruhrgebiet hat blechhungrige Stahlwerke, Arbeitskräfte und noch immer genügend Platz. Mit Hilfe eines entfernt verwandten Krupp-Direktors finden die Goldschmidts ein passendes Gelände nordöstlich der Essener Innenstadt. Dorthin zieht die Firma „Th. Goldschmidt“ 1890/91 um – und wächst.

Goldschmidt ein Verfahren, bei dem Oxide des Metalls mit Aluminiumpulver gemischt und entzündet werden. Bei der heftigen, aber kontrollierten Reaktion entzieht das Aluminium dem Metalloxid Sauerstoff; es bleiben Metall und Schlacke. Eine Mischung von Aluminiumpulver und Eisenoxid kann auch als Schweißmasse verwendet werden. Lückenloses Schienenschweißen nach der „Thermit“-Methode wird bald zum Standard bei Straßenbahnen und später auch bei Eisenbahnbetrieben. Die beiden Brüder harmonieren „dienstlich“ und privat bestens. Als Karl 1882 die bildhübsche Martha Zoller heiratet, ist auch Hans begeistert von ihr – in einem Brief an den Bruder schwärmt er geradezu: „Ich hätte ihr um den Hals fallen können, um ihr zu danken, dass sie meinen geliebten Bruder so glücklich macht …“ Hans selbst heiratet 1890 Isolina Waring, eine Engländerin. Auch die beiden Schwägerinnen verstehen sich blendend. Doch Martha Goldschmidt stirbt schon 1891 bei der Geburt ihres dritten Kindes. Karls zweite Frau, Anna Weller, kommt mit ihrer lebenslustigen Schwiegerfamilie nicht gut aus. Da die Familien seit 1902 in zwei neuen Villen an der – damals noch beschaulichen – Essener Bismarckstraße eng beieinander wohnen, gibt es immer wieder Reibereien. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg bricht ein latenter Konflikt zwischen den Brüdern selbst offen aus: Hans, der Tüftler, Feingeist und Orchideenzüchter, hat mit seinen

— Firmengründer Theodor Goldschmidt (li.). Sein Sohn Karl hatte Humor, aber auch Durchsetzungskraft.

Forschungen viel zum Wachstum der Firma beigetragen, doch der robuste Karl übergeht Hans bei Entscheidungen immer offener. Am Ende herrscht Sprachlosigkeit. An die Stelle familientypisch reizend geschriebener Briefe tritt hölzerne Kommunikation über Dritte: „… habe ich Sie wiederholt darauf hingewiesen, wie wenig mein Bruder geneigt ist, mich anzuhören.“ Es hilft nicht, dass der gesundheitlich angegriffene Karl 1913 eine Villa in Seeheim (Odenwald) kauft, mit Anna viel Zeit dort verbringt und das Essener Haus 1916 sogar vermietet. Der Krieg trägt zum Bruder-Drama bei. Die patriotischen Goldschmidts sind nur zu bereit, zum Sieg beizutragen. Doch pro-

fitabel ist das nicht. Die Entzinnung leidet wegen der unterbrochenen Beziehungen ins Ausland. Dem „Thermit“-Bereich fehlt Aluminium. Hans’ Versuch, das Verfahren militärisch zu nutzen, ist ökonomisch wenig durchdacht. Kaum besser geht es mit den „kriegswichtigen“ Aktivitäten Karls und seines neuen Forschungs-Chefs Friedrich Bergius: Glykol statt Glycerin für Sprengstoffe, Zucker aus Holz, Treibstoff aus Kohle – das kriegstypische „Ersatz“Programm wird für Goldschmidt zum Desaster. Das liegt zum Teil daran, dass der spätere Nobelpreisträger Bergius oft mehr verspricht, als er praktisch einlösen kann. Er ist ein schwieriger Charakter; das haben

— Hans, der „Thermit-Goldschmidt“, war einTüftler und Feingeist. Trotz wichtiger Erfindungen sah er sich vom Bruder Karl an den Rand gedrängt und stieg aus.

| Zinn und Aluminium Die Entzinnung bleibt lange ein Schwerpunkt des Geschäfts. Sie ist, trotz der Forschungen des Bruders, Karls Domäne. Hans sucht sich ein neues Betätigungsfeld und findet es in der Aluminothermie: Unternehmen wie Krupp haben Bedarf an reinem Chrom und ähnlichen Metallen. Zu deren Herstellung entwickelt Hans

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— Schienenschweißung in Berlin 1908. Das ThermitVerfahren von Goldschmidt ist bis heute ein Welterfolg.

Liebe, Streit und Tragik Goldschmidt: Das ist außerhalb Essens keiner der ganz großen Namen. Aber die Geschichte dieser Familie und ihres Unternehmens ist auf so faszinierende, dramatische Weise verbunden mit Stadt, Region und Zeitgeschichte, dass wir einen gegebenen Anlass gern ergreifen, sie hier zu erzählen. Halb zur Serie über die großen Ruhr-Familien passend – halb zur Folge der „stillen Stars“, denn lautes Klappern gehörte nie so recht zum Handwerk der Goldschmidts.

„Chemische Fabrik Th. Goldschmidt“: Das „Th.“ steht für den Vornamen des Firmengründers. Carl Theodor Goldschmidt wird 1817 in eine bürgerliche Berliner Familie geboren. Sein Vater handelt mit Kattun, also Baumwollstoff. Beide Eltern sterben früh; Theodor kommt in die Obhut seines Onkels und seiner Vettern, die eine „Kattundruckerei“ betreiben. Theodor findet Interesse am Geschäft. Er studiert Naturwissenschaften, tritt in der Firma seine erste Stelle an – und gründet 1847 mit 30 Jahren sein eigenes Unternehmen, das die Fabrik der Verwandten mit Zinn-Chemikalien beliefert.

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Mit seiner Frau Johanna Luise hat Theodor Goldschmidt drei Kinder: Karoline, Karl Bernhard und Johann (Hans) Wilhelm. Ehe der Jüngste ein Jahr alt ist, stirbt die Mutter. Beim Tod des Vaters sind die Söhne 17 und 14 Jahre alt. Trotzdem gelingt die Nachfolge: Beide Söhne studieren Chemie und werden beim berühmten Professor Bunsen in Heidelberg promoviert. Karl tritt 1882 in den Vorstand der Firma ein, Hans folgt 1888. Zu dem Zeitpunkt hat Karl schon entschlossen das Heft in die Hand genommen und Produktivität, Qualitätssicherung, Ertrag der Firma verbessert. Als billige Rohstoff-Quelle für Zinn hat er

Weißblech-Abfälle ausgemacht. Hans übernimmt es, neuartige Entzinnungsverfahren zu erforschen. Bald zeichnet sich ab: Wachstum ist in Berlin kaum möglich. Das Firmengelände am Landwehrkanal ist zu klein. Die Textilindustrie der Hauptstadt schrumpft. Für die entzinnten Blechabfälle gibt es keine Abnehmer. Die Lösung des Problems liegt im Westen: Am Niederrhein gibt es Textilbetriebe; das Ruhrgebiet hat blechhungrige Stahlwerke, Arbeitskräfte und noch immer genügend Platz. Mit Hilfe eines entfernt verwandten Krupp-Direktors finden die Goldschmidts ein passendes Gelände nordöstlich der Essener Innenstadt. Dorthin zieht die Firma „Th. Goldschmidt“ 1890/91 um – und wächst.

Goldschmidt ein Verfahren, bei dem Oxide des Metalls mit Aluminiumpulver gemischt und entzündet werden. Bei der heftigen, aber kontrollierten Reaktion entzieht das Aluminium dem Metalloxid Sauerstoff; es bleiben Metall und Schlacke. Eine Mischung von Aluminiumpulver und Eisenoxid kann auch als Schweißmasse verwendet werden. Lückenloses Schienenschweißen nach der „Thermit“-Methode wird bald zum Standard bei Straßenbahnen und später auch bei Eisenbahnbetrieben. Die beiden Brüder harmonieren „dienstlich“ und privat bestens. Als Karl 1882 die bildhübsche Martha Zoller heiratet, ist auch Hans begeistert von ihr – in einem Brief an den Bruder schwärmt er geradezu: „Ich hätte ihr um den Hals fallen können, um ihr zu danken, dass sie meinen geliebten Bruder so glücklich macht …“ Hans selbst heiratet 1890 Isolina Waring, eine Engländerin. Auch die beiden Schwägerinnen verstehen sich blendend. Doch Martha Goldschmidt stirbt schon 1891 bei der Geburt ihres dritten Kindes. Karls zweite Frau, Anna Weller, kommt mit ihrer lebenslustigen Schwiegerfamilie nicht gut aus. Da die Familien seit 1902 in zwei neuen Villen an der – damals noch beschaulichen – Essener Bismarckstraße eng beieinander wohnen, gibt es immer wieder Reibereien. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg bricht ein latenter Konflikt zwischen den Brüdern selbst offen aus: Hans, der Tüftler, Feingeist und Orchideenzüchter, hat mit seinen

— Firmengründer Theodor Goldschmidt (li.). Sein Sohn Karl hatte Humor, aber auch Durchsetzungskraft.

Forschungen viel zum Wachstum der Firma beigetragen, doch der robuste Karl übergeht Hans bei Entscheidungen immer offener. Am Ende herrscht Sprachlosigkeit. An die Stelle familientypisch reizend geschriebener Briefe tritt hölzerne Kommunikation über Dritte: „… habe ich Sie wiederholt darauf hingewiesen, wie wenig mein Bruder geneigt ist, mich anzuhören.“ Es hilft nicht, dass der gesundheitlich angegriffene Karl 1913 eine Villa in Seeheim (Odenwald) kauft, mit Anna viel Zeit dort verbringt und das Essener Haus 1916 sogar vermietet. Der Krieg trägt zum Bruder-Drama bei. Die patriotischen Goldschmidts sind nur zu bereit, zum Sieg beizutragen. Doch pro-

fitabel ist das nicht. Die Entzinnung leidet wegen der unterbrochenen Beziehungen ins Ausland. Dem „Thermit“-Bereich fehlt Aluminium. Hans’ Versuch, das Verfahren militärisch zu nutzen, ist ökonomisch wenig durchdacht. Kaum besser geht es mit den „kriegswichtigen“ Aktivitäten Karls und seines neuen Forschungs-Chefs Friedrich Bergius: Glykol statt Glycerin für Sprengstoffe, Zucker aus Holz, Treibstoff aus Kohle – das kriegstypische „Ersatz“Programm wird für Goldschmidt zum Desaster. Das liegt zum Teil daran, dass der spätere Nobelpreisträger Bergius oft mehr verspricht, als er praktisch einlösen kann. Er ist ein schwieriger Charakter; das haben

— Hans, der „Thermit-Goldschmidt“, war einTüftler und Feingeist. Trotz wichtiger Erfindungen sah er sich vom Bruder Karl an den Rand gedrängt und stieg aus.

| Zinn und Aluminium Die Entzinnung bleibt lange ein Schwerpunkt des Geschäfts. Sie ist, trotz der Forschungen des Bruders, Karls Domäne. Hans sucht sich ein neues Betätigungsfeld und findet es in der Aluminothermie: Unternehmen wie Krupp haben Bedarf an reinem Chrom und ähnlichen Metallen. Zu deren Herstellung entwickelt Hans

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— Schienenschweißung in Berlin 1908. Das ThermitVerfahren von Goldschmidt ist bis heute ein Welterfolg.

Liebe, Streit und Tragik Goldschmidt: Das ist außerhalb Essens keiner der ganz großen Namen. Aber die Geschichte dieser Familie und ihres Unternehmens ist auf so faszinierende, dramatische Weise verbunden mit Stadt, Region und Zeitgeschichte, dass wir einen gegebenen Anlass gern ergreifen, sie hier zu erzählen. Halb zur Serie über die großen Ruhr-Familien passend – halb zur Folge der „stillen Stars“, denn lautes Klappern gehörte nie so recht zum Handwerk der Goldschmidts.

„Chemische Fabrik Th. Goldschmidt“: Das „Th.“ steht für den Vornamen des Firmengründers. Carl Theodor Goldschmidt wird 1817 in eine bürgerliche Berliner Familie geboren. Sein Vater handelt mit Kattun, also Baumwollstoff. Beide Eltern sterben früh; Theodor kommt in die Obhut seines Onkels und seiner Vettern, die eine „Kattundruckerei“ betreiben. Theodor findet Interesse am Geschäft. Er studiert Naturwissenschaften, tritt in der Firma seine erste Stelle an – und gründet 1847 mit 30 Jahren sein eigenes Unternehmen, das die Fabrik der Verwandten mit Zinn-Chemikalien beliefert.

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Mit seiner Frau Johanna Luise hat Theodor Goldschmidt drei Kinder: Karoline, Karl Bernhard und Johann (Hans) Wilhelm. Ehe der Jüngste ein Jahr alt ist, stirbt die Mutter. Beim Tod des Vaters sind die Söhne 17 und 14 Jahre alt. Trotzdem gelingt die Nachfolge: Beide Söhne studieren Chemie und werden beim berühmten Professor Bunsen in Heidelberg promoviert. Karl tritt 1882 in den Vorstand der Firma ein, Hans folgt 1888. Zu dem Zeitpunkt hat Karl schon entschlossen das Heft in die Hand genommen und Produktivität, Qualitätssicherung, Ertrag der Firma verbessert. Als billige Rohstoff-Quelle für Zinn hat er

Weißblech-Abfälle ausgemacht. Hans übernimmt es, neuartige Entzinnungsverfahren zu erforschen. Bald zeichnet sich ab: Wachstum ist in Berlin kaum möglich. Das Firmengelände am Landwehrkanal ist zu klein. Die Textilindustrie der Hauptstadt schrumpft. Für die entzinnten Blechabfälle gibt es keine Abnehmer. Die Lösung des Problems liegt im Westen: Am Niederrhein gibt es Textilbetriebe; das Ruhrgebiet hat blechhungrige Stahlwerke, Arbeitskräfte und noch immer genügend Platz. Mit Hilfe eines entfernt verwandten Krupp-Direktors finden die Goldschmidts ein passendes Gelände nordöstlich der Essener Innenstadt. Dorthin zieht die Firma „Th. Goldschmidt“ 1890/91 um – und wächst.

Goldschmidt ein Verfahren, bei dem Oxide des Metalls mit Aluminiumpulver gemischt und entzündet werden. Bei der heftigen, aber kontrollierten Reaktion entzieht das Aluminium dem Metalloxid Sauerstoff; es bleiben Metall und Schlacke. Eine Mischung von Aluminiumpulver und Eisenoxid kann auch als Schweißmasse verwendet werden. Lückenloses Schienenschweißen nach der „Thermit“-Methode wird bald zum Standard bei Straßenbahnen und später auch bei Eisenbahnbetrieben. Die beiden Brüder harmonieren „dienstlich“ und privat bestens. Als Karl 1882 die bildhübsche Martha Zoller heiratet, ist auch Hans begeistert von ihr – in einem Brief an den Bruder schwärmt er geradezu: „Ich hätte ihr um den Hals fallen können, um ihr zu danken, dass sie meinen geliebten Bruder so glücklich macht …“ Hans selbst heiratet 1890 Isolina Waring, eine Engländerin. Auch die beiden Schwägerinnen verstehen sich blendend. Doch Martha Goldschmidt stirbt schon 1891 bei der Geburt ihres dritten Kindes. Karls zweite Frau, Anna Weller, kommt mit ihrer lebenslustigen Schwiegerfamilie nicht gut aus. Da die Familien seit 1902 in zwei neuen Villen an der – damals noch beschaulichen – Essener Bismarckstraße eng beieinander wohnen, gibt es immer wieder Reibereien. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg bricht ein latenter Konflikt zwischen den Brüdern selbst offen aus: Hans, der Tüftler, Feingeist und Orchideenzüchter, hat mit seinen

— Firmengründer Theodor Goldschmidt (li.). Sein Sohn Karl hatte Humor, aber auch Durchsetzungskraft.

Forschungen viel zum Wachstum der Firma beigetragen, doch der robuste Karl übergeht Hans bei Entscheidungen immer offener. Am Ende herrscht Sprachlosigkeit. An die Stelle familientypisch reizend geschriebener Briefe tritt hölzerne Kommunikation über Dritte: „… habe ich Sie wiederholt darauf hingewiesen, wie wenig mein Bruder geneigt ist, mich anzuhören.“ Es hilft nicht, dass der gesundheitlich angegriffene Karl 1913 eine Villa in Seeheim (Odenwald) kauft, mit Anna viel Zeit dort verbringt und das Essener Haus 1916 sogar vermietet. Der Krieg trägt zum Bruder-Drama bei. Die patriotischen Goldschmidts sind nur zu bereit, zum Sieg beizutragen. Doch pro-

fitabel ist das nicht. Die Entzinnung leidet wegen der unterbrochenen Beziehungen ins Ausland. Dem „Thermit“-Bereich fehlt Aluminium. Hans’ Versuch, das Verfahren militärisch zu nutzen, ist ökonomisch wenig durchdacht. Kaum besser geht es mit den „kriegswichtigen“ Aktivitäten Karls und seines neuen Forschungs-Chefs Friedrich Bergius: Glykol statt Glycerin für Sprengstoffe, Zucker aus Holz, Treibstoff aus Kohle – das kriegstypische „Ersatz“Programm wird für Goldschmidt zum Desaster. Das liegt zum Teil daran, dass der spätere Nobelpreisträger Bergius oft mehr verspricht, als er praktisch einlösen kann. Er ist ein schwieriger Charakter; das haben

— Hans, der „Thermit-Goldschmidt“, war einTüftler und Feingeist. Trotz wichtiger Erfindungen sah er sich vom Bruder Karl an den Rand gedrängt und stieg aus.

| Zinn und Aluminium Die Entzinnung bleibt lange ein Schwerpunkt des Geschäfts. Sie ist, trotz der Forschungen des Bruders, Karls Domäne. Hans sucht sich ein neues Betätigungsfeld und findet es in der Aluminothermie: Unternehmen wie Krupp haben Bedarf an reinem Chrom und ähnlichen Metallen. Zu deren Herstellung entwickelt Hans

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fragt Oberbürgermeister Hans Luther, ob nicht auch Karl Goldschmidt seine Villa zur Verfügung stellen wolle. Das tut der Firmenchef, unter dem Einfluss des Sohnes Theo und gegen städtische Kooperation bei der Expansion seiner Fabrik. Durch einen Mittelbau von Edmund Körner verbunden, werden die Goldschmidt-Villen für ein paar strahlende Jahre zum „schönsten Museum der Welt“.

| Und wieder zwei Brüder

— So präsentierte sich die Goldschmidt-Fabrik nordöstlich der Essener Innenstadt um das Jahr 1900.

Hans und andere besser beurteilt als Karl Goldschmidt. Im quälenden Streit über die angespannte Lage verlässt Hans 1916 den Vorstand und Ende 1918 den Aufsichtsrat. 1919 zieht er von Essen zurück nach Berlin und gründet ein eigenes, mäßig erfolgreiches Forschungslabor. Seine Goldschmidt-Anteile verkauft Hans geradezu kopflos zu Inflationspreisen. Da er „nur“ fünf Töchter hat, bleibt dem Familienzweig nicht mal der Name erhalten. Die Bilanz des Ersten Weltkriegs: Das Werk hat Geld verloren, Filialen und Partner im Ausland. Karl und Anna betrauern ihren gemeinsamen Sohn Wilhelm, der als Testpilot verunglückte, außerdem ihren Schwiegersohn Carl Edeling, der als Uboot-

Kommandant ums Leben kam. Und zu alledem haben Karl und Hans einander verloren. Beide deuten später gegenüber Freunden den Wunsch nach Versöhnung an. Dazu kommt es nicht mehr. 1923 stirbt Hans Goldschmidt 62-jährig bei einem Erholungsaufenthalt in Baden-Baden. Karl erliegt drei Jahre später einer Gallenoperation. Ausgerechnet Hans’ Wegzug begründet eine besondere Beziehung zwischen Goldschmidts und dem Ruhrgebiet. Hans nämlich schenkt seine Villa plus 50.000 Mark dem Essener Kunstverein, so dass der Verein dort 1920 ein Museum eröffnen kann. Als Essen sich anschickt, die FolkwangSammlung Karl Ernst Osthaus’ zu kaufen,

— Hans’ (li.) und Karls Villen als Folkwangmuseum mit verbindendem Mittelbau von Edmund Körner

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Die dritte Unternehmer-Generation bei Goldschmidt besteht, da Frauen zu jener Zeit nur in allerhöchster Not zählen, wiederum aus zwei Brüdern. Theo und Bernhard sind – 1883 und 1884 – noch in Berlin geboren, aber in Essen aufgewachsen, sind erst quer durch die Stadt zur Schule am Alfrediplatz gelaufen und dann zum Burggymnasium beim Münster. Bernhard wird sich später erinnern, dass es dort A-Klassen für Kinder „besserer Leute“ und B-Klassen für die anderen gegeben habe. Vater Karl besteht darauf, dass seine Söhne zu den B-Kindern gehören. Viel Freude haben sie an der renommierten Schule wohl nicht. Theo, ein guter Schüler, verursacht zum Abitur einen kleinen Skandal, weil er zum Abschied frustriert in seine Bank ritzt: „So leb denn wohl, Gymnasium, ich scheide ohne Trauern.“ Dann aber studiert er brav Chemie, macht den Doktor, beginnt 1908 in der Fabrik zu arbeiten. Als Goldschmidt sich in eine AG verwandelt, wird Theo Mitglied des Vorstands. 1923 übernimmt er den Vorsitz von Vater Karl, der in den Aufsichtsrat wechselt. Bernhard geht zur Marine und nimmt erst 1911 als Oberleutnant zur See seinen Abschied. Dann macht er eine kaufmännische Ausbildung, studiert Staatswissenschaften und wird 1922 mit einer Arbeit über „Gewinnbeteiligung der Arbeitnehmer“ promoviert. Seinen Dienst in der Firma Goldschmidt hat er schon 1913 begonnen; 1920 wird er in den Vorstand berufen. Beide Brüder unterbrechen jedoch ihre Karriere, um den ganzen Krieg lang als Soldaten zu dienen. Dass es zwischen Theo und Bernhard Goldschmidt nicht zu Konflikten kommt, liegt vielleicht auch an der räumlichen Distanz, die sich bald ergibt. 1921 hat Goldschmidt sich an der elektrotechnischen Fabrik Neufeldt & Kuhnke in Kiel beteiligt. Von dem Apparatebauer erhofft Senior Karl sich technische Unterstützung bei


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Koners (Cohn), Herzfelds. Dass die Goldschmidts sich längst vom Judentum abgewandt haben, dass sie national gesinnt sind und dass Theo vieren seiner sechs Kinder fast demonstrativ „nordische“ Namen gegeben hat – Friederun, Dietlind, Frohmut und Gudula – spielt beim Rassenantisemitismus keine Rolle. Im Prinzip.

— Die Essener Fabrik 1940, noch ohne Kriegsschäden. Der Blick geht von Nordwesten über die Rheinische Bahnlinie.

| Der arisierte Großvater

— Bernhard (li.) und Theo Goldschmidt 1933, am Beginn einer für sie besonders schwierigen Zeit.

Projekten wie Kohle-Hydrierung. Zwar beendet Theo 1924 das Engagement auf diesem Gebiet; die Kieler Neuerwerbung aber bleibt bei Goldschmidt und wird 1926 ganz übernommen. Bernhard wird Leiter des später als „Hagenuk“ firmierenden Unternehmens. Er zieht mit seiner Familie nach Kiel, das er aus seiner Marine-Zeit kennt und wo auch die Schwester Martha Edeling mit ihrer Familie lebt. In Essen übernimmt Bernhard vom Vater den Vorsitz im Aufsichtsrat. Nach Ruhrbesetzung und Inflation kommt die Firma wieder auf Kurs. Zu den wegweisenden Veränderungen zählt der Einstieg in die organische Chemie mit Tensiden und Desinfektionsmitteln. Für seine Familie lässt Theo Goldschmidt den Architekten Georg Metzendorf in EssenBredeney 1925 eine Villa bauen. Nach dem Weggang seines gesellschaftlich aktiven Bruders – Bernhard begründet 1922 den Essener „Presseball“ – ist es Theo, der für die Rolle der Familie im Stadtleben steht. Eine Rolle, so Firmenhistoriker Ralf Peters, die stets gewichtiger ist als es die Größe des Unternehmens erwarten ließe. Beide Brüder sind in der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) aktiv. Das ist in ihren Kreisen nicht ungewöhnlich, zeugt allerdings von wenig politischem Urteilsvermögen. Denn die DNVP wird von 1928 an unter ihrem Vorsitzenden Alfred Hugenberg – einem ehemaligen KruppDirektor – zum Totengräber der Republik

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und trägt entscheidend dazu bei, Adolf Hitler an die Macht zu bringen. Außerdem sind weite Teile der DNVP antisemitisch. Die Goldschmidts aber haben unübersehbar jüdische Wurzeln. Sogar nach der Machtübernahme verfolgt Theo die Maßnahmen der NS-Regierung mit Wohlwollen und will in negativen Aspekten nur vorübergehende „Auswüchse“ sehen. Dabei dürfte schon sein Name Nazi-Fanatikern verdächtig und zuwider sein. Und sollten sich RasseSchnüffler über Dokumente der Familie beugen, würden sie schnell fündig. Firmengründer Theodor und seine Frau stammen beide aus jüdischen Familien; außer Goldschmidts gibt es da Levins,

Obwohl alles „im Blut“ liegen soll, schauen NS-Bürokraten beim Großeltern-Prüfen dann doch auf Religionszugehörigkeit. Zum Glück, denn danach sind Theo und seine Geschwister schlimmstenfalls „Mischlinge zweiten Grades“ oder „Vierteljuden“. Und die sollen, auch wenn es manchen Nazi stört, leben dürfen. Doch es bleibt Unsicherheit. Die Familie findet einen skurrilen Ausweg, wie Theos Enkel Stephan Goldschmidt jüngst in einem Aufsatz gezeigt hat: Firmengründer Theodor, als Jude geboren und erst mit 16 Jahren getauft, wird angesichts gefährlich dünner Aktenlage kurzerhand mit Hilfe einer „merkwürdigen Urkunde“ zum arischen Adoptivkind seines Vaters gemacht; Theodor Goldschmidt habe eigentlich Krüger geheißen. Somit könne sich die Familie als „rein arisch“ bezeichnen, meint Theo. Trotzdem hofft er, dass die Sache nie geprüft wird. Offensichtlich ist es für Menschen mit „so einem Namen“ und mit „so einem Stammbaum“ besonders heikel, wenn sie in Konflikt mit dem Regime geraten. Aber Theo und Bernhard distanzieren sich nicht nur innerlich. Sie halten, zum Beispiel, bis 1938 zu ihrem jüdischen Aufsichtsratsmitglied Georg Hirschland und bleiben mit dieser alten Essener Familie verbunden. Als Vorsitzender des Folkwang-Museumsvereins wagt Theo 1933/34 eine offene Konfrontation mit dem NS-Nachfolger des Direktors Ernst Gosebruch und versucht, den Kern des Museums gegen örtliche Funktionäre zu verteidigen. Mutig, denn jederzeit könnte das als „jüdische Frechheit“ gegen Theo und seinen Status als „Dreiviertelarier“ verwandt werden. Die Goldschmidts steuern ihr Unternehmen so durch die NS-Zeit, aber: Ihre Essener Fabrik wird bis Kriegsende zerbombt. Auch ihre Wohnhäuser werden schwer beschädigt. Bernhards Familie betrauert — Theo und Emma Goldschmidt bei ihrer Silberhochzeit 1939. Ihre Söhne Karl-Theo und Frohmut (links hinten) sollten den Krieg nicht überleben.

einen Schwiegersohn; Schwester Martha verliert ihren Sohn Helmuth Edeling an den Krieg. Theo und Emma Goldschmidt trifft es doppelt: 1941 stirbt Karl-Theo, designierter Nachfolger seines Vaters, in den ersten Wochen des Russlandfeldzuges. In den letzten Tagen des Krieges fährt Frohmut, zweitältester Sohn, als Leitender Ingenieur in einem Uboot Richtung Dänemark. Das Boot wird versenkt, Frohmut kehrt nicht zurück. Unterdessen trägt Goldschmidt vielfach zur Rüstung des NS-Staates bei, aber indirekt auch zur Rüstung der Gegner. Auf deutsche Städte – und das GoldschmidtWerk – regnen Brandbomben, die mit dem von Hans Goldschmidt erfundenen Thermit gefüllt sind. Die gefürchteten britischen „Mosquito“-Schnellbomber sind aus Holz gebaut, das mit einer Variante des „TEGO-Leimfilms“ von Goldschmidt zusammengefügt wurde. Und es sind „Mosquitos“, die am 2. Mai 1945 „U 2359“ mit Frohmut Goldschmidt im Kattegat versenken. Nicht minder beklemmend: Seit 1930 hält Goldschmidt eine 15-prozentige Beteiligung an der „Deutschen Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung“. Die „Degesch“ liefert große Mengen des Blausäure-Präparats

„Zyklon B“, mit dem in Schiffen, Kühlhäusern und Massenunterkünften Schadinsekten vertilgt werden. Das Mittel erlangt schreckliche Berühmtheit, weil es im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau missbraucht wird zum Mord an etwa einer Million Menschen, die allermeisten unter ihnen Juden. Es ist kaum anzunehmen, dass Theo Goldschmidt oder irgendjemand anderes in seiner Firma etwas vom Mord mit Zyklon B ahnte, dem die Familie durchaus selbst zum Opfer hätte fallen können.

| Familiär und sozial Als der Krieg zu Ende ist, liegt die Essener Fabrik in Trümmern. Wegen der Stammbelegschaft entschließen sich Goldschmidts dennoch für den Wiederaufbau. Die Produktpalette des Unternehmens wird in den folgenden Jahren stetig verändert; wichtigstes Stichwort ist die Einführung der Silikonchemie. Hauptsächlich werden Zutaten für die Kunststoff- und die Kosmetikindustrie hergestellt. Die Weißblechentzinnung der frühen Jahre verliert immer mehr an Bedeutung und wird 1990 aufgegeben. „Thermit“ aber und die Schienenschweißung bleiben ein wichtiges Geschäftsfeld. Bernhard führt bis 1966 die Geschäfte der Hagenuk in Kiel. Theo bleibt in Essen

und wohnt weiterhin in Bredeney, wenn auch nicht mehr im kriegszerstörten Metzendorf-Haus. Nicht zuletzt seine Haltung während der NS-Zeit trägt ihm nun lokal wie national zahllose Ämter und Ehrenämter ein. Dem Folkwang-Museum bleibt er verbunden, aber kritisch. So reagiert er empört auf das Verhalten des MuseumsChefs Köhn gegenüber der emigrierten Familie Hirschland. Wie andere Museumsdirektoren jener Zeit sieht Köhn das Folkwang vornehmlich selbst als NS-Opfer. Dass Bilder in der Sammlung hängen, für die Hirschlands 1939 beim zwangsweisen Verkauf nur ein Spottgeld erhalten haben, stört ihn nicht. Theo Goldschmidt erkämpft einen Vergleich: Die meisten Bilder werden den Hirschlands zurückgegeben. Ein wirklich großes Unternehmen wird Goldschmidt auch nach dem Krieg nicht; im Essener Zentralwerk arbeiten stets weniger als 2000 Menschen. Das entspricht nicht einmal einer mittleren Kohlenzeche. Und anders als bei Bayer in Leverkusen oder BASF in Ludwigshafen kann man nicht sagen, dass diese Chemiefabrik Essen je geprägt hätte. Hinzu kommt, dass ihre Produkte kaum bekannt sind, obwohl sie in so vielen Alltagsdingen stecken. Das alles erklärt, warum die Familie zwar eine bedeutende Rolle in Essen gespielt hat, aber nicht annähernd so berühmt ist wie Krupp, Hoesch, Stinnes oder Thyssen. Geschätzt werden die familiäre Struktur, die vielfältigen sozialen Leistungen des Unternehmens vor allem intern. Jubiläumsfeiern bei Goldschmidt scheinen gerade in der Nachkriegszeit tatsächlich etwas von Familienfesten zu haben. Das hat viel mit Theo und Bernhard zu tun, die als erste Goldschmidt-Männer in Würde alt werden und ihre brüderliche Zuneigung beibehalten. Zu Bernhards Siebzigstem sagt Theo

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Koners (Cohn), Herzfelds. Dass die Goldschmidts sich längst vom Judentum abgewandt haben, dass sie national gesinnt sind und dass Theo vieren seiner sechs Kinder fast demonstrativ „nordische“ Namen gegeben hat – Friederun, Dietlind, Frohmut und Gudula – spielt beim Rassenantisemitismus keine Rolle. Im Prinzip.

— Die Essener Fabrik 1940, noch ohne Kriegsschäden. Der Blick geht von Nordwesten über die Rheinische Bahnlinie.

| Der arisierte Großvater

— Bernhard (li.) und Theo Goldschmidt 1933, am Beginn einer für sie besonders schwierigen Zeit.

Projekten wie Kohle-Hydrierung. Zwar beendet Theo 1924 das Engagement auf diesem Gebiet; die Kieler Neuerwerbung aber bleibt bei Goldschmidt und wird 1926 ganz übernommen. Bernhard wird Leiter des später als „Hagenuk“ firmierenden Unternehmens. Er zieht mit seiner Familie nach Kiel, das er aus seiner Marine-Zeit kennt und wo auch die Schwester Martha Edeling mit ihrer Familie lebt. In Essen übernimmt Bernhard vom Vater den Vorsitz im Aufsichtsrat. Nach Ruhrbesetzung und Inflation kommt die Firma wieder auf Kurs. Zu den wegweisenden Veränderungen zählt der Einstieg in die organische Chemie mit Tensiden und Desinfektionsmitteln. Für seine Familie lässt Theo Goldschmidt den Architekten Georg Metzendorf in EssenBredeney 1925 eine Villa bauen. Nach dem Weggang seines gesellschaftlich aktiven Bruders – Bernhard begründet 1922 den Essener „Presseball“ – ist es Theo, der für die Rolle der Familie im Stadtleben steht. Eine Rolle, so Firmenhistoriker Ralf Peters, die stets gewichtiger ist als es die Größe des Unternehmens erwarten ließe. Beide Brüder sind in der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) aktiv. Das ist in ihren Kreisen nicht ungewöhnlich, zeugt allerdings von wenig politischem Urteilsvermögen. Denn die DNVP wird von 1928 an unter ihrem Vorsitzenden Alfred Hugenberg – einem ehemaligen KruppDirektor – zum Totengräber der Republik

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und trägt entscheidend dazu bei, Adolf Hitler an die Macht zu bringen. Außerdem sind weite Teile der DNVP antisemitisch. Die Goldschmidts aber haben unübersehbar jüdische Wurzeln. Sogar nach der Machtübernahme verfolgt Theo die Maßnahmen der NS-Regierung mit Wohlwollen und will in negativen Aspekten nur vorübergehende „Auswüchse“ sehen. Dabei dürfte schon sein Name Nazi-Fanatikern verdächtig und zuwider sein. Und sollten sich RasseSchnüffler über Dokumente der Familie beugen, würden sie schnell fündig. Firmengründer Theodor und seine Frau stammen beide aus jüdischen Familien; außer Goldschmidts gibt es da Levins,

Obwohl alles „im Blut“ liegen soll, schauen NS-Bürokraten beim Großeltern-Prüfen dann doch auf Religionszugehörigkeit. Zum Glück, denn danach sind Theo und seine Geschwister schlimmstenfalls „Mischlinge zweiten Grades“ oder „Vierteljuden“. Und die sollen, auch wenn es manchen Nazi stört, leben dürfen. Doch es bleibt Unsicherheit. Die Familie findet einen skurrilen Ausweg, wie Theos Enkel Stephan Goldschmidt jüngst in einem Aufsatz gezeigt hat: Firmengründer Theodor, als Jude geboren und erst mit 16 Jahren getauft, wird angesichts gefährlich dünner Aktenlage kurzerhand mit Hilfe einer „merkwürdigen Urkunde“ zum arischen Adoptivkind seines Vaters gemacht; Theodor Goldschmidt habe eigentlich Krüger geheißen. Somit könne sich die Familie als „rein arisch“ bezeichnen, meint Theo. Trotzdem hofft er, dass die Sache nie geprüft wird. Offensichtlich ist es für Menschen mit „so einem Namen“ und mit „so einem Stammbaum“ besonders heikel, wenn sie in Konflikt mit dem Regime geraten. Aber Theo und Bernhard distanzieren sich nicht nur innerlich. Sie halten, zum Beispiel, bis 1938 zu ihrem jüdischen Aufsichtsratsmitglied Georg Hirschland und bleiben mit dieser alten Essener Familie verbunden. Als Vorsitzender des Folkwang-Museumsvereins wagt Theo 1933/34 eine offene Konfrontation mit dem NS-Nachfolger des Direktors Ernst Gosebruch und versucht, den Kern des Museums gegen örtliche Funktionäre zu verteidigen. Mutig, denn jederzeit könnte das als „jüdische Frechheit“ gegen Theo und seinen Status als „Dreiviertelarier“ verwandt werden. Die Goldschmidts steuern ihr Unternehmen so durch die NS-Zeit, aber: Ihre Essener Fabrik wird bis Kriegsende zerbombt. Auch ihre Wohnhäuser werden schwer beschädigt. Bernhards Familie betrauert — Theo und Emma Goldschmidt bei ihrer Silberhochzeit 1939. Ihre Söhne Karl-Theo und Frohmut (links hinten) sollten den Krieg nicht überleben.

einen Schwiegersohn; Schwester Martha verliert ihren Sohn Helmuth Edeling an den Krieg. Theo und Emma Goldschmidt trifft es doppelt: 1941 stirbt Karl-Theo, designierter Nachfolger seines Vaters, in den ersten Wochen des Russlandfeldzuges. In den letzten Tagen des Krieges fährt Frohmut, zweitältester Sohn, als Leitender Ingenieur in einem Uboot Richtung Dänemark. Das Boot wird versenkt, Frohmut kehrt nicht zurück. Unterdessen trägt Goldschmidt vielfach zur Rüstung des NS-Staates bei, aber indirekt auch zur Rüstung der Gegner. Auf deutsche Städte – und das GoldschmidtWerk – regnen Brandbomben, die mit dem von Hans Goldschmidt erfundenen Thermit gefüllt sind. Die gefürchteten britischen „Mosquito“-Schnellbomber sind aus Holz gebaut, das mit einer Variante des „TEGO-Leimfilms“ von Goldschmidt zusammengefügt wurde. Und es sind „Mosquitos“, die am 2. Mai 1945 „U 2359“ mit Frohmut Goldschmidt im Kattegat versenken. Nicht minder beklemmend: Seit 1930 hält Goldschmidt eine 15-prozentige Beteiligung an der „Deutschen Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung“. Die „Degesch“ liefert große Mengen des Blausäure-Präparats

„Zyklon B“, mit dem in Schiffen, Kühlhäusern und Massenunterkünften Schadinsekten vertilgt werden. Das Mittel erlangt schreckliche Berühmtheit, weil es im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau missbraucht wird zum Mord an etwa einer Million Menschen, die allermeisten unter ihnen Juden. Es ist kaum anzunehmen, dass Theo Goldschmidt oder irgendjemand anderes in seiner Firma etwas vom Mord mit Zyklon B ahnte, dem die Familie durchaus selbst zum Opfer hätte fallen können.

| Familiär und sozial Als der Krieg zu Ende ist, liegt die Essener Fabrik in Trümmern. Wegen der Stammbelegschaft entschließen sich Goldschmidts dennoch für den Wiederaufbau. Die Produktpalette des Unternehmens wird in den folgenden Jahren stetig verändert; wichtigstes Stichwort ist die Einführung der Silikonchemie. Hauptsächlich werden Zutaten für die Kunststoff- und die Kosmetikindustrie hergestellt. Die Weißblechentzinnung der frühen Jahre verliert immer mehr an Bedeutung und wird 1990 aufgegeben. „Thermit“ aber und die Schienenschweißung bleiben ein wichtiges Geschäftsfeld. Bernhard führt bis 1966 die Geschäfte der Hagenuk in Kiel. Theo bleibt in Essen

und wohnt weiterhin in Bredeney, wenn auch nicht mehr im kriegszerstörten Metzendorf-Haus. Nicht zuletzt seine Haltung während der NS-Zeit trägt ihm nun lokal wie national zahllose Ämter und Ehrenämter ein. Dem Folkwang-Museum bleibt er verbunden, aber kritisch. So reagiert er empört auf das Verhalten des MuseumsChefs Köhn gegenüber der emigrierten Familie Hirschland. Wie andere Museumsdirektoren jener Zeit sieht Köhn das Folkwang vornehmlich selbst als NS-Opfer. Dass Bilder in der Sammlung hängen, für die Hirschlands 1939 beim zwangsweisen Verkauf nur ein Spottgeld erhalten haben, stört ihn nicht. Theo Goldschmidt erkämpft einen Vergleich: Die meisten Bilder werden den Hirschlands zurückgegeben. Ein wirklich großes Unternehmen wird Goldschmidt auch nach dem Krieg nicht; im Essener Zentralwerk arbeiten stets weniger als 2000 Menschen. Das entspricht nicht einmal einer mittleren Kohlenzeche. Und anders als bei Bayer in Leverkusen oder BASF in Ludwigshafen kann man nicht sagen, dass diese Chemiefabrik Essen je geprägt hätte. Hinzu kommt, dass ihre Produkte kaum bekannt sind, obwohl sie in so vielen Alltagsdingen stecken. Das alles erklärt, warum die Familie zwar eine bedeutende Rolle in Essen gespielt hat, aber nicht annähernd so berühmt ist wie Krupp, Hoesch, Stinnes oder Thyssen. Geschätzt werden die familiäre Struktur, die vielfältigen sozialen Leistungen des Unternehmens vor allem intern. Jubiläumsfeiern bei Goldschmidt scheinen gerade in der Nachkriegszeit tatsächlich etwas von Familienfesten zu haben. Das hat viel mit Theo und Bernhard zu tun, die als erste Goldschmidt-Männer in Würde alt werden und ihre brüderliche Zuneigung beibehalten. Zu Bernhards Siebzigstem sagt Theo

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RUHR-FAMILIEN

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— Theo wird 70: Alfried Krupp (li.) 1953 mit Emma und Theo Goldschmidt. Rechts strahlt Ludwig Erhard, während NRW-Finanzminister Adolf Flecken gratuliert.

1954: „Ich habe Dich, lieber Bernhard, diese 70 langen Jahre ohne Unterbrechung in brüderlicher Freundschaft und Treue begleiten können. Wir beide standen an der Spitze des Werkes, Du als Vorsitzender des Aufsichtsrates, ich als Vorsitzender des Vorstandes, während dreißig Jahren stets einig in unseren Zielen und stets geeint in unserer Meinung über die Wege, die einzuschlagen waren.“ 1959 zieht Theo Goldschmidt sich aus der Geschäftsführung zurück und übernimmt Bernhards Position im Aufsichtsrat. Seine letzten Jahre verlebt Theo, wie Vater Karl, in Seeheim. Dort stirbt er 1965; seine Frau Emma folgt ihm 1966. Bernhard wird noch einmal Vorsitzender des Aufsichtsrates und zieht sich 1968 endgültig zurück. Er stirbt 1969 in Darmstadt. Nun tritt in der Geschäftsführung kein Goldschmidt mehr an jene leitende Stelle, die Theo seinen Söhnen Karl-Theo und Frohmut zugedacht hatte. Diese Rolle spielt in der vierten Generation bis 1981 Curt Edeling, Enkel von Karl Goldschmidt und Urenkel des Firmengründers, dazu promovierter Chemie-Ingenieur. Ihm folgen familienfremde Manager. Doch bleibt Goldschmidt ein Familienunternehmen und wird weithin als kleine, feine Perle der Branche geschätzt. 1991 weist Goldschmidt bei einem Umsatz von 1,3 Milliarden DM einen Gewinn von 102 Millionen aus. Das weckt Begehrlichkeiten bei Großkonzernen. Es beginnt gerade die Zeit der Fusionen, Übernahmen, auch der bis dato in Deutschland kaum bekannten „feindlichen“ Übernahmen. Die Th. Goldschmidt AG wird den aggressiven Verehrern nach zähem Kampf erliegen; ausgerechnet im Jubiläumsjahr 1997.

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Seit Hans Goldschmidt seine Anteile verkauft hat, besitzt die Familie keine Aktienmehrheit. Auch als vor 75 Jahren die „Vermögensverwaltung Erben Dr. Karl Goldschmidt“ gegründet wird, ändert sich daran nichts. Man glaubt wohl, alles im Griff zu haben – bis es zu spät ist. Die Angebote interessierter Konzerne tragen ab 1991 auch Zwist in die Familie: Einige möchten verkaufen, während andere sogar vorschlagen, viel Geld in die Hand zu nehmen und endlich die Aktienmehrheit zu erwerben. Doch sie kommen nicht zum Zug. Statt dessen verkauft 1997 ein Versicherungsunternehmen seinen zehnprozentigen Goldschmidt-Anteil an den Mischkonzern „Viag“. Der hält nun die Majorität und will mehr. Familie und Management sind geschockt. Man spricht bitter von „Verrat“ und „Identitätsverlust“. 1998 resigniert die Familie und verkauft ebenfalls an Viag. Die schließt sich aus Angst vor einer feindlichen Übernahme (!) — Bernhard und Theo Goldschmidt blieben einander zeitlebens zugetan, nicht nur für die Kamera.

schon 2000 mit der „VEBA“ zu „E.on“ zusammen. Goldschmidt wird 2003 in die VEBA-Tochter Degussa eingegliedert. Ein Jahr später reicht E.on Degussa an die neue, „kohlefreie“ RAG weiter, welche sich 2007 „Evonik“ nennt. Das Werk im Essener Nordosten produziert weiter mit etwa 1400 Mitarbeitern gefragte Chemikalien für Kunststoff- und Kosmetikhersteller. Der Name Goldschmidt aber wäre wohl schon verschwunden, läge das Werk nicht seit 1967 an der Goldschmidtstraße.

| Erfolgsschiene Thermit Es gibt aber noch die vor 75 Jahren gegründete „Vermögensverwaltung Erben Dr. Karl Goldschmidt (VVG)“, und sie verwaltet ein gutes Stück traditionellen Goldschmidt-Geschäfts: Seit dem Zweiten Weltkrieg ist die Schienenschweißung nach dem Thermitverfahren zu einem weltweiten Erfolg gewachsen. Dass Eisenbahnreisende das bekannte „Ta-Tack, Ta-Tack“ der Schienenstöße aus den Ohren verloren, ist weitgehend auf Goldschmidt zurückzuführen, auch wenn das wieder kaum jemand weiß. 1998 kauft die VVG diesen Bereich aus dem Goldschmidt-Gesamtpaket heraus und führt ihn als „Goldschmidt-ThermitGroup“ weiter. Ausgerechnet das vom „verlorenen Bruder“ Hans Goldschmidt entwickelte Verfahren hat als einziges der frühen Geschäftsgebiete überdauert und ist bei der Familie geblieben. Die Zentrale der Thermit-Group siedelt sich in Leipzig an; die Produktion in Halle an der Saale. Die Vermögensverwaltung kann natürlich auch nicht mehr in der alten Firmenzentrale residieren, bleibt aber in Essen. Ihre Büros befinden sich jetzt im alten Verwaltungsgebäude des einstigen Koke-

— Jede Menge Goldschmidts beim Familientreffen 2011 in Essen. Nur ganz wenige von ihnen tragen allerdings noch den Namen des Firmengründers.

reibauers Koppers. Als Holding kontrolliert die VVG neben dem Thermit-Komplex auch andere Beteiligungen der Familie. Sprecher der Anteilseigner und Aufsichtsratsvorsitzender der Thermit-Group ist Karl Theo Goldschmidt. Traditionsbewusster könnte er nicht heißen. Doch während sein Onkel, der 1941 als Soldat gestorbene Karl-Theo, sich noch konsequent als Chemiker auf die Nachfolge seines Vaters vorbereitet hat, geht der Neffe, wie fast die gesamte fünfte Familiengeneration, beruflich andere Wege. Einzig Martin Edeling ist als Chemiker in führender Position bei Goldschmidt-Thermit tätig. Nur die ursprünglich aus Kiel zugereisten Edelings wohnen auch noch in Essen. Theo und Emma Goldschmidt sind der Stadt zwar lange treu geblieben, haben aber alle ihre Kinder in ein reformorientiertes Landschulheim bei Holzminden

geschickt. Vielleicht wirkte da Theos negative Erfahrung im Burggymnasium nach. Jedenfalls wuchsen die Kinder nicht in Essen auf und hatten später keinen Anlass, sich dort niederzulassen. Regelmäßig trifft sich die Familie an wechselnden Orten; 2011 aus Anlass des 75-jährigen „VVG“-Jubiläums in Essen. Sicher, sagt einer von ihnen, hätten sich viele der über Deutschland und die USA verstreuten Verwandten aus den Augen verloren, gäbe es nicht das gemeinsame Interesse am Unternehmen. Karl Theo Goldschmidt gibt sich überzeugt, dass es so bleibt. 2009 schrieb er zum 90-jährigen Bestehen einer Tochterfirma: „Ich bin zuversichtlich, dass in 90 Jahren ein anderes Mitglied der Familie Goldschmidt an gleicher Stelle zurückblicken wird.“ Das hätten seine Namenspaten gewiss Seite gesagt. 1 ganz ähnlich ● -na

Eine neue Stiftung Die Firma Goldschmidt blickt zurück auf eine lange Tradition sozialen Engagements für die Belegschaft und über das Unternehmen hinaus: Pensionskasse, bezahlter Urlaub, Weihnachtsgeld und andere freiwillige Leistungen, Betriebskrankenkasse, ein Erholungsheim in Hattingen-Niederbredenscheid, Werksarzt, Werksküche, Werksbücherei – mit vielem war Goldschmidt anderen Unternehmen voraus. Als Pionier zeigte sich Karl Goldschmidt auch, als er 1907 ein „Kaufmännisches Seminar“ für Fortbildung initiierte, aus dem später die Verwaltungsund Wirtschaftsakademie (VWA) entstand. In dieser speziellen Tradition hat die „Vermögensverwaltung Erben Dr. Karl Goldschmidt“ nun anlässlich ihres 75-jährigen Bestehens die Goldschmidt-Stiftung gegründet, die das soziale Engagement der Erben auf verschiedene Projekte der Bildung und Weiterbildung konzentrieren soll.

Wir begleiten Sie. In jedem Fall. Handels- und Gesellschaftsrecht · Vertragsrecht Arbeitsrecht · Familienrecht · Erbrecht · Immobilienrecht Wohnungseigentumsrecht · Miet- und Pachtrecht Huyssenallee 105 45128 Essen

Telefon 0201 / 20163-0 Telefax 0201 / 20163-33

info@rechtsanwaelte-mezger.de www.rechtsanwaelte-mezger.de

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— Theo wird 70: Alfried Krupp (li.) 1953 mit Emma und Theo Goldschmidt. Rechts strahlt Ludwig Erhard, während NRW-Finanzminister Adolf Flecken gratuliert.

1954: „Ich habe Dich, lieber Bernhard, diese 70 langen Jahre ohne Unterbrechung in brüderlicher Freundschaft und Treue begleiten können. Wir beide standen an der Spitze des Werkes, Du als Vorsitzender des Aufsichtsrates, ich als Vorsitzender des Vorstandes, während dreißig Jahren stets einig in unseren Zielen und stets geeint in unserer Meinung über die Wege, die einzuschlagen waren.“ 1959 zieht Theo Goldschmidt sich aus der Geschäftsführung zurück und übernimmt Bernhards Position im Aufsichtsrat. Seine letzten Jahre verlebt Theo, wie Vater Karl, in Seeheim. Dort stirbt er 1965; seine Frau Emma folgt ihm 1966. Bernhard wird noch einmal Vorsitzender des Aufsichtsrates und zieht sich 1968 endgültig zurück. Er stirbt 1969 in Darmstadt. Nun tritt in der Geschäftsführung kein Goldschmidt mehr an jene leitende Stelle, die Theo seinen Söhnen Karl-Theo und Frohmut zugedacht hatte. Diese Rolle spielt in der vierten Generation bis 1981 Curt Edeling, Enkel von Karl Goldschmidt und Urenkel des Firmengründers, dazu promovierter Chemie-Ingenieur. Ihm folgen familienfremde Manager. Doch bleibt Goldschmidt ein Familienunternehmen und wird weithin als kleine, feine Perle der Branche geschätzt. 1991 weist Goldschmidt bei einem Umsatz von 1,3 Milliarden DM einen Gewinn von 102 Millionen aus. Das weckt Begehrlichkeiten bei Großkonzernen. Es beginnt gerade die Zeit der Fusionen, Übernahmen, auch der bis dato in Deutschland kaum bekannten „feindlichen“ Übernahmen. Die Th. Goldschmidt AG wird den aggressiven Verehrern nach zähem Kampf erliegen; ausgerechnet im Jubiläumsjahr 1997.

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Seit Hans Goldschmidt seine Anteile verkauft hat, besitzt die Familie keine Aktienmehrheit. Auch als vor 75 Jahren die „Vermögensverwaltung Erben Dr. Karl Goldschmidt“ gegründet wird, ändert sich daran nichts. Man glaubt wohl, alles im Griff zu haben – bis es zu spät ist. Die Angebote interessierter Konzerne tragen ab 1991 auch Zwist in die Familie: Einige möchten verkaufen, während andere sogar vorschlagen, viel Geld in die Hand zu nehmen und endlich die Aktienmehrheit zu erwerben. Doch sie kommen nicht zum Zug. Statt dessen verkauft 1997 ein Versicherungsunternehmen seinen zehnprozentigen Goldschmidt-Anteil an den Mischkonzern „Viag“. Der hält nun die Majorität und will mehr. Familie und Management sind geschockt. Man spricht bitter von „Verrat“ und „Identitätsverlust“. 1998 resigniert die Familie und verkauft ebenfalls an Viag. Die schließt sich aus Angst vor einer feindlichen Übernahme (!) — Bernhard und Theo Goldschmidt blieben einander zeitlebens zugetan, nicht nur für die Kamera.

schon 2000 mit der „VEBA“ zu „E.on“ zusammen. Goldschmidt wird 2003 in die VEBA-Tochter Degussa eingegliedert. Ein Jahr später reicht E.on Degussa an die neue, „kohlefreie“ RAG weiter, welche sich 2007 „Evonik“ nennt. Das Werk im Essener Nordosten produziert weiter mit etwa 1400 Mitarbeitern gefragte Chemikalien für Kunststoff- und Kosmetikhersteller. Der Name Goldschmidt aber wäre wohl schon verschwunden, läge das Werk nicht seit 1967 an der Goldschmidtstraße.

| Erfolgsschiene Thermit Es gibt aber noch die vor 75 Jahren gegründete „Vermögensverwaltung Erben Dr. Karl Goldschmidt (VVG)“, und sie verwaltet ein gutes Stück traditionellen Goldschmidt-Geschäfts: Seit dem Zweiten Weltkrieg ist die Schienenschweißung nach dem Thermitverfahren zu einem weltweiten Erfolg gewachsen. Dass Eisenbahnreisende das bekannte „Ta-Tack, Ta-Tack“ der Schienenstöße aus den Ohren verloren, ist weitgehend auf Goldschmidt zurückzuführen, auch wenn das wieder kaum jemand weiß. 1998 kauft die VVG diesen Bereich aus dem Goldschmidt-Gesamtpaket heraus und führt ihn als „Goldschmidt-ThermitGroup“ weiter. Ausgerechnet das vom „verlorenen Bruder“ Hans Goldschmidt entwickelte Verfahren hat als einziges der frühen Geschäftsgebiete überdauert und ist bei der Familie geblieben. Die Zentrale der Thermit-Group siedelt sich in Leipzig an; die Produktion in Halle an der Saale. Die Vermögensverwaltung kann natürlich auch nicht mehr in der alten Firmenzentrale residieren, bleibt aber in Essen. Ihre Büros befinden sich jetzt im alten Verwaltungsgebäude des einstigen Koke-

— Jede Menge Goldschmidts beim Familientreffen 2011 in Essen. Nur ganz wenige von ihnen tragen allerdings noch den Namen des Firmengründers.

reibauers Koppers. Als Holding kontrolliert die VVG neben dem Thermit-Komplex auch andere Beteiligungen der Familie. Sprecher der Anteilseigner und Aufsichtsratsvorsitzender der Thermit-Group ist Karl Theo Goldschmidt. Traditionsbewusster könnte er nicht heißen. Doch während sein Onkel, der 1941 als Soldat gestorbene Karl-Theo, sich noch konsequent als Chemiker auf die Nachfolge seines Vaters vorbereitet hat, geht der Neffe, wie fast die gesamte fünfte Familiengeneration, beruflich andere Wege. Einzig Martin Edeling ist als Chemiker in führender Position bei Goldschmidt-Thermit tätig. Nur die ursprünglich aus Kiel zugereisten Edelings wohnen auch noch in Essen. Theo und Emma Goldschmidt sind der Stadt zwar lange treu geblieben, haben aber alle ihre Kinder in ein reformorientiertes Landschulheim bei Holzminden

geschickt. Vielleicht wirkte da Theos negative Erfahrung im Burggymnasium nach. Jedenfalls wuchsen die Kinder nicht in Essen auf und hatten später keinen Anlass, sich dort niederzulassen. Regelmäßig trifft sich die Familie an wechselnden Orten; 2011 aus Anlass des 75-jährigen „VVG“-Jubiläums in Essen. Sicher, sagt einer von ihnen, hätten sich viele der über Deutschland und die USA verstreuten Verwandten aus den Augen verloren, gäbe es nicht das gemeinsame Interesse am Unternehmen. Karl Theo Goldschmidt gibt sich überzeugt, dass es so bleibt. 2009 schrieb er zum 90-jährigen Bestehen einer Tochterfirma: „Ich bin zuversichtlich, dass in 90 Jahren ein anderes Mitglied der Familie Goldschmidt an gleicher Stelle zurückblicken wird.“ Das hätten seine Namenspaten gewiss Seite gesagt. 1 ganz ähnlich ● -na

Eine neue Stiftung Die Firma Goldschmidt blickt zurück auf eine lange Tradition sozialen Engagements für die Belegschaft und über das Unternehmen hinaus: Pensionskasse, bezahlter Urlaub, Weihnachtsgeld und andere freiwillige Leistungen, Betriebskrankenkasse, ein Erholungsheim in Hattingen-Niederbredenscheid, Werksarzt, Werksküche, Werksbücherei – mit vielem war Goldschmidt anderen Unternehmen voraus. Als Pionier zeigte sich Karl Goldschmidt auch, als er 1907 ein „Kaufmännisches Seminar“ für Fortbildung initiierte, aus dem später die Verwaltungsund Wirtschaftsakademie (VWA) entstand. In dieser speziellen Tradition hat die „Vermögensverwaltung Erben Dr. Karl Goldschmidt“ nun anlässlich ihres 75-jährigen Bestehens die Goldschmidt-Stiftung gegründet, die das soziale Engagement der Erben auf verschiedene Projekte der Bildung und Weiterbildung konzentrieren soll.

Wir begleiten Sie. In jedem Fall. Handels- und Gesellschaftsrecht · Vertragsrecht Arbeitsrecht · Familienrecht · Erbrecht · Immobilienrecht Wohnungseigentumsrecht · Miet- und Pachtrecht Huyssenallee 105 45128 Essen

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