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Zwischen Grenzen und Grenzenlosigkeit
Inhalt
Impressum
Öffentliche Räume - Zwischen Grenzen und Grenzenlosigkeit selbstbestimmtes Projekt B. Sc. Urbanistik, 7. Semester Professur Stadtplanung, Bauhaus-Universität Weimar betreut durch Prof. Dr. Barbara Schönig
Redaktion Yann Colonna, Michael Dieminger, Maxie Jost, Philipp Scharfenberg Design, Layout & Satz Michael Dieminger Autoren dieser Ausgabe: Yann Colonna, Michael Dieminger, Maxie Jost, Philipp Rohde, Philipp Scharfenberg
Wir bedanken uns bei Prof. Dr. Barbara Schönig und René Seyfarth M.A. für Anregungen und Unterstützung.
Genderhinweis Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in diesem Dokument auf eine geschlechtsspezifische Differenzierung (z.B. Urbanistin / Urbanist verzichtet. Entsprechende Begriffe gelten im Sinne der Gleichbehandlung grundsätzlich für beide Geschlechter.
Prolog
S. 4
I.
KAPITEL
I.I.
Raum
I.II.
S. 9
Öffentlichkeit
S. 15
I.II.
Superposition
S. 22
II. II.I. II.I.I.
KAPITEL
Materielles Substrat Die Entwicklung der Shopping Mall Exkurs. Victor Gruen
S. 25 S. 30
Gesellschaftliche Interaktion von Handlungsstrukturen II.II. II.II.I.
Die Konsumgesellschaft
S. 32
Exkurs / baugeschichtliche Entwicklung des Einzelhandels in Leipzigs
S. 40
Exkurs / ECE und Co KG.
S. 47
Institutionalisiertes und normatives Regulationssystem II.III.
II.III.I.
Regeln & Normen
S. 50
Studie
S. 53
Zeichen-, Symbol-, Repr채sentationssysteme
II.IV.
Die heile Welt der Shopping Mall
II.IV.I.
S. 60
Studie
S. 68
III.
KAPITEL
III.I
Handlungskonzept / Aktion
S. 75
Abbildungsverzeichnis Anhang
S. 81
Ab
Prolog
OVO
Um sie als Leser durch diese Arbeit zu führen, erachten wir
es zunächst als notwendig zu klären, aus welcher Motivation heraus wir uns dem Thema »Öffentliche Räume« zugewendet haben und vor welchem akademischen Hintergrund sich unsere Argumentation aufbaut. Wir erhoffen uns durch die Erläuterung des Entstehungskontextes eine Einordnung in einen bestimmten Fachdiskurs zu ermöglichen, mit dem Ziel, diese Studienarbeit nicht in den luftleeren Raum zu produzieren, sondern stattdessen eine eigene Argumentationslinie in Form eines Papiers zu entwickeln, welches in Zukunft als Referenz nutzbar sein kann. Dieser zunächst überambitioniert anmutende Anspruch relativiert sich drastisch in Anbetracht der Tatsache, dass im kurzen Existenzlapsus des Studienganges »Urbanistik« noch keine umfassenden Arbeiten zur Öffentlichkeit und zum Öffentlichen Raum produziert wurden. Von Stadtplanern und Architekten gegründet, lässt sich aus der Namensgebung des Studienganges mit dem im deutschsprachigen Raum unüblichen Begriffs »Urbanistik« ein neue akademische Richtung ableiten. Wie diese sich jedoch genau artikuliert, bleibt weiter ein umstrittenes Thema. Trotz erheblicher Vorleistungen aus unterschiedlichsten Fachbereichen kann noch nicht von einem eingrenzbaren »urbanistischen«
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Diskurs die Rede sein. Vielmehr herrscht eine bedarfsorientierte Transdisziplinarität vor, die mal bereichernd und mal verwirrend wirken kann. Letztendlich wird die Zeit und der noch ausstehende interne Diskurs zeigen, ob der junge Studiengang in der Lage sein wird, sich als eine klare und durch seine Eigenart abgrenzende Fachrichtung zu etablieren.
Woher kommt die Urbanistik und was will sie? Die empirische Auseinandersetzung mit dem Phänomen Stadt markiert symbolisch das Erwachen einer Denkrichtung, aus der auch die Urbanistik entspringt. Erst der Umstand der Verstädterung im Zuge der Industrialisierung und der dabei entstehenden Missstände bewirken den Wandel von einer »laisser-faire«-Politik zur Einsicht, dass aktiv dafür Sorge getragen werden müsse, gewisse Regelungen und Standards festzusetzen, um das Zusammenleben der Menschen auf verdichtetem Raum gewährleisten zu können. Es existierten zwar bereits zuvor architektonische und ingenieurtechnische Eingriffe sowie Gesetzgebungen, die eine Verbesserung der Lebensqualität in der Stadt anstrebten, dennoch unterscheiden sie sich wesentlich von dem neuen Umgang mit Stadt aus den folgenden zwei Gründen:
(a) Stadt und Urbanität haben eine das gesellschaftliche Leben prägende Dimension erreicht und (b) es wird von nun an versucht, Eingriffen eine wissenschaftliche Grundlage zu geben.
War »Stadt« vor der Industriellen Revolution nur ein partielles räumliches Phänomen, welche nur eine Minderheit der Bevölkerung bewohnte, entwickelte sie sich zu einer Lebensweise – Urbanität – deren wesentliche Merkmale Dichte, Heterogenität, Soziabilität und Freiheit sind.1 Ohne die sozialen Rahmenbedingungen der Stadt – die frei mobilisierbare Arbeitskraft, die Abhängigkeit von Lohnarbeit, die Befreiung von Leibeigenschaft, der stadtspezifischen Absatzmarkt – ist zeitgenössische Gesellschaft nicht denkbar. Man muss gar soweit gehen, das »städtische« beziehungsweise das »urbane« nicht mehr als geografische Einheit zu verstehen, sondern als nahezu allumfassende Gesellschaftsform. Jeder, der einer Lohnarbeit nachgeht oder moderne Infrastruktur benutzt, ist in einem System eingebunden, an dessen Ursprung die »Stadt« steht. Die Empirie, welche diesem neuen ausufernden Phänomen erfassbare Züge zu geben versucht, erwacht zum einem aus den sich verbreitenden Vorstellungen einer auf alles anwendbaren Rationalität und ist zugleich gesteuert von dem Gefühl einer moralischen Verpflichtung die Lebensbedingungen der urbanen Unterschicht zu verbessern. Die Forschung dieses Fachbereichs besteht also in der rationalen Analyse eines Problems auf der Suche nach einer Lösung. Die zu diesem Zeitpunkt zur Verfügung stehenden Werkzeuge
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der Architektur und des Städtebaus müssen sich unter den neuen Verhältnissen auch neuen Handlungsfeldern und Methoden stellen. Vornehmlich gemeint sind damit Massenarchitektur, Infrastruktur basierend auf den Bedürfnissen der industriellen Produktion und der sich herausbildenden Konsumgesellschaft, sowie Ordnungsgesetze, die die Steuerung zukünftiger Entwicklungen ermöglichen sollen. Die Stadtplanung ist dabei ein Nebenprodukt des erweiterten Handlungsrahmen von Architekten, jedoch mit einem veränderten Augenmerk auf die Verwaltung, Ordnung und Entwicklung von Zielstellungen. Die Empirie dient dabei als Maßnahme der Rationalisierung und bringt gleichzeitig eine Relativierung politischen Idealismus mit sich. Mit dem Kapitalismus als Motor von Entwicklung wird gebaut, geplant, verordnet. Vorwiegend gilt der materielle Wohlstand der Menschen als das zu erreichende Ziel, doch auch diese Vorstellungen konnten nicht ewig überdauern. Krisen, Umbrüche und die technische Entwicklung transformieren die Gesellschaft und die dabei entstehenden sozialen Kontroversen legen die Makel einer wohlgeplanten, schön gebauten Stadt offen. Die »Stadt«, als Form einer »verräumlichten Gesellschaft«, wird zum Gegenstand eines theoretischen Diskurses, in dem Architektur und Stadtplanung im Sinn menschlicher Praxis einbegriffen sind, da der gebaute Raum als Ergebnis seiner sozialen Produktion verstanden wird. Mit der Urbanistik als umfassende Stadtforschung wird ein neues Feld geöffnet, in dem sich eine Vielfalt von Konzepten entfalten lässt, jedoch besteht durch die historische Entwicklung aus Architektur und Planung heraus letztlich immer auch das Bestreben, durch einen praktischen Eingriff die Lebensqualität der Menschen zu verbessern. Besonders die Debatte um den öffentlichen Raum zeigt ganz konkret, zwischen welchen Spannungsfeldern ein Urbanist sich bewegen
muss, um eine Analyse hervorzubringen, die den in diesem Bereich zusammenkommenden Disziplinen gerecht wird. Zunächst gibt es die Architektur und den Städtebau; Disziplinen die zwangsweise raumfixiert sind, denn ihr Anliegen ist es, die Gestalt der Stadt zu formen und zu lenken. Es spielen also der physische Raum und die sich in ihm abspielenden und sich auf ihn beziehenden Prozesse eine Rolle (Form und Funktion). Öffentlicher Raum kann von dieser Perspektive aus nicht als viel mehr verstanden werden als der Negativ-Raum der Stadt, der »offen zugängliche nicht-private Raum«. Die sich dort abspielenden Handlungen wären durch seine Funktionsbestimmung und Gestaltung zu kontrollieren beziehungsweise zu verbessern. Öffentliche Räume in der Urbanistik In vielerlei Hinsicht ist eine monolithische Betrachtung des öffentlichen Raumes durch die Brille der Architektur unzureichend. Stellt sie die Frage nach ästhetischem Empfinden des Einzelnen oder nach baulicher Effizienz, fehlt ihr doch die Analyse des Menschen in seinem gesellschaftlichen Zusammenleben, denn im Grunde ist »die wesentliche Größe, die das Leben des Menschen beeinflusst, [...] die anderen Menschen«2. An dieser Stelle betreten wir den Bereich der Soziologie. Mit der Erkenntnis, dass »Beziehungen zwischen den Menschen nun wesentlicher für das Verstehen des Menschen [seien] als sein Naturverhältnis«,3 eröffnet sich eine neue Denkweise, in der gebauter
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Raum, verstanden als Naturverhältnis keine derartig große Rolle spielen dürfte. Vielmehr ist das menschliche Verhalten der Schlüssel zur Aufklärung des Wesens des »öffentlichen Raumes«. Ob und wie Raum das zwischenmenschliche Verhalten beeinflusst, ist aber natürlich auch in der Soziologie relevant. Überschattet von einer Diskussion, was Raum eigentlich ist und wie er sich konstituiert, spielt er doch in nahezu jeder Untersuchung eine Rolle. Neben dem »Was« ist das »Wo« auch immer präsent. Welche Gewichtung dem »Wo« bei der Interpretation eines Phänomens zukommt, gilt es noch zu klären. Deutlicher ist die Verbindung zwischen Raum und Gesellschaft in der Disziplin der Humangeografie beziehungsweise der Sozialgeografie. Definiert als die »Lehre der räumlichen Verteilung sozialer Phänomene« wird von einer »Permanenz des Raumes« in seiner physischen Dimension ausgegangen. Dabei interessiert, in welchem Zusammenhang der Raum mit politischem Handeln und Denken steht. Eine der zentralen Fragestellungen ist zum Beispiel, ob politisches Handeln der Ursprung der Einnahme von Territorien sei. Verstehen wir Öffentlichkeit zunächst grundsätzlich als eine Form politischen Denkens oder Handelns, wird sie auch für die Humangeografie zu einem relevanten Untersuchungsfeld. Problematisch herauszuarbeiten ist jedoch, inwiefern »Öffentlichkeit« den Raum zu strukturieren vermag. Im Gegensatz zum Kapitalismus, Kommunismus oder Neoliberalismus ist die Funktionsweise von »Öffentlichkeit«, sowie ihre allgemeine Definition höchst unbestimmt. Zwischen den Fachbereichen der politischen Theorie, Kulturwissenschaften, Kommunikationswissenschaften, Kunsttheorie und der Philosophie wird immer noch um eine zufriedenstellende Antwort gerungen.
Im Dschungel der Theorien und Ansätze der unterschiedlichen Fachrichtungen und dem sich jeweils dahinter verbergenden Streit ist man schnell verloren. Wahrscheinlich liegt es in der Natur theorielastiger Wissenschaften mit Universalanspruch, keine endgültigen Konklusionen verfassen zu können oder aber unsere Überforderung regt sich aus der Widerspenstigkeit solcher Konzepte, sich in eine Praxis umwandeln zu lassen.
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An dieser Stelle verbirgt sich vermutlich der entscheidende Aspekt, der Urbanistik von den zuvor genannten Disziplinen unterscheidet und welcher durch die Herkunft – aus der Architektur – geprägt ist. Sie will die bestehenden Verhältnisse verändern. Der theoretische Hintergrund muss handhabbar gemacht werden. Nicht in einer verkürzten Verformung der physisch-räumlichen Umwelt, aber letztendlich doch in einer für den Menschen spürbaren Art und Weise. Wir wollen Ihnen im folgenden Kapitel in theoretisch verkürzter Form unser Verständnis von den Begriffen Raum und Öffentlichkeit vorstellen. Sie stellen einen eigene »Mischung« von Ideen und Konzepten dar, die uns zur Erarbeitung des Themas »Öffentlicher Raum der Shopping Mall« als Grundlage diente.
Quellen: 1 Was unter Urbanität genau zu verstehen ist, konnte im theoretischen Diskurs noch nicht abschließend definiert werden. Vgl. Klamt, Martin (2007), »Verortete Normen, Öffentliche Räume, Normen, Kontrolle und Verhalten«, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 78-79. 2 Zitiert aus Nummer 1 des »American Journal of Sociology«; übernommen nach Frank Eckhardt ( 2012), »Stadtsoziologie als transdisziplinäres Projekt«. In: Ders. (Hg.), Handbuch Stadtsoziologie, Springer VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 15 3 Ebd.: S.16
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I. apitel K
I. I. Ganz entscheidend, um eine „urbanistische“ Herangehensweise in
der Auseinandersetzung mit „öffentlichem Raum“ zu bestreiten, sind, wie bereits erwähnt, eine relativ klare Abgrenzung beziehungsweise Definitionen der Begriffe „Raum“ und „Öffentlichkeit“ unerlässlich.
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Auf den ersten Blick scheint die Frage um den Raum eine sehr simple zu sein. Wir sitzen in unserem Zimmer und schauen uns um: Da ist er doch, der Raum! Er ist die Leere, die uns umgibt und seine Grenzen sind die vier Wände, die den Raum umschließen. Gehen wir aus der Tür und betreten das Wohnzimmer, sind wir in einem anderen Raum. Gehen wir aus dem Haus, haben wir den Hausraum verlassen und befinden uns im Straßenraum. Diese Kette ließe sich fortführen bis zum Erdraum, der die Gesamtheit der Erdoberfläche bezeichnet. Das Weltall ist die den Planet Erde umfassende Leere. Dort in Raumstationen lebende Menschen gucken zwar aus kleinen Bullaugen
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auf einen Raum, in dem sie nicht überlebensfähig sind, aber ihre bloße körperliche Anwesenheit führt zur Annahme, dass die Leere des Weltall auch ein Raum ist. Die allumfassende Präsenz des Raumes ist eine historisch gewachsene Annahme, die einen recht beschwerlichen Weg hinter sich hat. Dass der Mensch überhaupt ein räumliches Verständnis entwickelte, ist bereits ein bemerkenswertes Phänomen. In »The Image of the City« untersucht Kevin Lynch die räumliche Wahrnehmung von Stadtbewohnern. Sein Augenmerk liegt dabei auf unserer Fähigkeit, uns in einer Stadt räumlich orientieren zu können, ohne über ihre tatsächliche Morphologie aufgeklärt zu sein oder gar eine Vorstellung von Himmelsrichtungen zu haben. Er nähert sich dabei, mittels Bezügen zur Tierwelt, zur Ethnologie und anhand von empirischen Untersuchungen, an etwas heran, das Löw als Spacing und Syntheseleistung bezeichnet. Erst unsere sinnliche Wahrnehmung ermöglicht es uns, die Dinge räumlich zueinander in Beziehungen zu setzen. Spacing ist das »Positionieren in Relation zu anderen Platzierungen«.1 Die Lücken, die dabei entstehen, synthetisieren wir zu Räumen. Diese Syntheseleistung erlaubt uns auch, aus bestehenden Kenntnissen und Vorstellungen Räume, die außerhalb unserer sinnlichen Erfahrung stehen, zu konstruieren, wie zum Beispiel der Innenraum von Gebäuden oder ein Flussbett. Durch das Erkunden, Experimentieren und Berechnen hat die Menschheit Wissen akkumuliert, welches erlaubt, die Lücken, statt mit Vermutungen, mit Tatsachen zu füllen. Die Erkenntnis der Schwerkraft, die Umrundung der Erde, die satellitengestützte Kartografie lassen uns annehmen, wir wüssten um das Bestehen des Raumes und seiner absoluten
Gültigkeit. In gewisser Weise könnte man sagen, Mathematik und Physik haben »Gott aus der Welt geschafft«2 und an dessen Stelle ist der Raum getreten: ein allumfassendes Nichts, dessen Gesetzen wir unterworfen sind und das sich nicht um unsere Präsenz in ihm schert, dem wir Menschen also nichts entgegenzusetzen haben. Bereits René Descartes unterschied zwischen der äußeren materiellen Welt und einer inneren Welt der Vorstellung. Nur durch den Einsatz der Vorstellung ist uns die Erkenntnis der äußeren Welt möglich.3 Er nahm dabei zwar an, die äußere Welt sei Gesetzmäßigkeiten unterworfen, die wir durch unsere Wahrnehmung versuchen sollten zu erkennen, im Sinne einer unwiderruflichen Wahrheit, er sagt aber damit auch, dass all diese Wahrheiten nichts weiter sind als Konstrukte unserer Vorstellung. Es ist also erlaubt, weiterzudenken. Auch wenn wir das Bestehen des Raumes in seiner materiellphysischen Erscheinungsform aufgrund unserer Wahrnehmung nicht negieren können,4 dürfen wir doch für eine komplexere Betrachtung plädieren, wenn es unsere innere Welt der Vorstellung als erforderlich ansieht. Augenscheinlich bildet das materiell-physische Substrat unsere Kapazität der Raumwahrnehmung aus, was wir aber sehen, tun und denken, sind soziale Kategorien. Jan Wehrheim benutzt folgende Formulierung: »der materielle, physisch-gebaute Raum ist gesellschaftlich produziert und auch der materielle, physischnatürliche Raum ist kulturell überformt.«5 Lenken wir an dieser Stelle unseren Blickwinkel bei der sozialen Produktion von Raum auf die gesellschaftlichen Interaktions- und Handlungsstrukturen. Dies stellt auch die Beobachtungskategorie der Human- und Sozialgeografie dar. Ausgehend von einer »Permanenz des Raumes« in seiner physischen Dimension6 untersuchen besagte wissenschaftliche Disziplinen, wie politisches Denken und Handeln dieses Substrat formen bzw. verformen kann. Ein sehr deutliches Beispiel für die Verformung des physischen Substrates ergibt sich bei der Bildung von Nationen. Im Zusammenschluss gewisser Personen werden Linien gezogen, die den Einflussbereich der jeweiligen Gruppe definieren. Auch Wohlstand und Armut (im ökonomischen
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Sinne) sind das Ergebnis der Interaktion zwischen Menschen. Gehen wir auf die persönliche Ebene, wird die Familie als Raum konstituierende Kategorie deutlich. Die Beziehungen innerhalb einer Familie haben Auswirkungen auf unsere Bewegungen und somit auf das Spacing und die Syntheseleistungen, die wir erbringen können. So wird Familie zum Raum. Ähnlich verhält es sich mit einer Vielzahl von Beziehungen. Sind wir nicht räumlich verbunden mit dem Plantagenarbeiter aus Ecuador, wenn wir die Banane essen, die er gepflückt hat? Existiert nicht auch ein Raum zwischen mir und dem von mir gewählten Repräsentanten? Festzuhalten ist nur, dass die Beziehungen der Menschen untereinander Räume bilden, die nicht an dem physischen Substrat gemessen werden können, da sie nicht an ihm gebunden sind und folglich mehrere, verschiedenartige Räume sich überlagern können. Das Internet kann als die Ikone dieser Raumkategorie gelten. Ihre »virtuellen Räume« bestehen ausschließlich aus menschlicher Interaktion. Wenn wir nun die Räume betreten, seien es die materiellen oder die auf menschlicher Interaktion aufbauenden, stellen wir fest, dass sie unterschiedlich auf unser Verhalten wirken. Wo ich mich befinde beziehungsweise mit wem ich interagiere, bestimmt das Verhalten, das ich zu Tage bringe. Nehmen wir als Beispiel ein Klassenzimmer. Bevor der Lehrer eintritt, sind die Schüler im regen Miteinander beschäftigt. Sie unterhalten sich, spielen oder schreiben Hausaufgaben voneinander ab. Die Regeln, die auf sie wirken, sind zunächst subtiler, als die, die sie zu befolgen haben, sobald der Lehrer eintritt. Sie sitzen vermutlich nicht auf den Boden, tragen alle Kleidung, rauchen nicht und begehen auch keine Gewaltverbrechen (zumindest in der Regel nicht). Tritt der Lehrer ein, setzen sie sich alle auf ihren Platz, holen die Hefte heraus und hören aufmerksam zu (zumindest wissen sie, dass sie dies tun sollten). Martin Klamt untersucht in seiner Studie »Verortete Normen« genau diesen Zusammenhang von Räumlichkeit und Regeln. Er beschreibt, dass in der griechischen Antike das Gesetz auch immer als eine räumliche Kategorie betrachtet wurde. Hannah Arendt spricht vom »Zaun des Gesetzes«, der Vorstellung des Gesetzes als Grenze in Anlehnung an ein Heraklitfragment.7 Klamts
Auffassung nach sind Norm und Raum »untrennbar miteinander verbunden«.8 Meistens wissen wir, welche Regeln wir zu befolgen haben, weil wir sie gesagt bekommen haben, sie irgendwo gelesen haben oder sie durch Erziehung vermittelt bekommen haben. Unser Wissen um bestehende gesellschaftliche Konventionen bedeutet hingegen noch lange nicht, dass wir diese befolgen werden, denn »Rechtsvorschriften und [..] Normen können [...] nur durch menschliche Praxis, die wiederum räumlich bedingt ist, zu realer Existenz jenseits einer Papier- oder Gedankenform gelangen«. Die Raumkategorie des institutionalisierten und normativen Regulationssystems ist also die Schnittstelle, zwischen dem materiellen Substrat und der gesellschaftlichen Praxis seiner Produktion.9 Eine etwas subtilere Art der Verräumlichung von Werten und Normen finden wir in der Gestaltung materiell-physischer Räume. Sehen wir zum Beispiel einen Weg in einer Landschaft, ist es sehr wahrscheinlich, dass wir ihm folgen werden. Er sagt im Grunde: »Geh hier lang!«. Eine Bank sagt wiederum: »Setz dich hin!«, oder ein glänzend polierter Marmorboden schreit geradezu: »Mach mich nicht schmutzig!«. André Leroi-Gourhan geht sogar so weit zu sagen, dass der Mensch nur in dem Maße Mensch sein könne, wie er mit seinesgleichen zusammenkommt und sich mit den Symbolen seiner raison d´être umgibt.10 Was Symbole mit der Entwicklung des menschlichen Wesens zu tun haben, würde an dieser Stelle zu weit reichen, bleiben wir also einfach bei der Feststellung, dass die Gestaltung von Objekten und Räumen eine Gebrauchsanweisung transportieren oder eine Symbolik, die unser Handeln in Bezug auf Objekt oder Raum bestimmen. Der Unterschied zu der zuvor genannten Raumkategorie besteht darin, dass wir nicht immer wissen, wieso beziehungsweise wie diese Handlungsbestimmung zustande kommt und daher schwieriger abweichend handeln können. Alle vier genannten Raumkategorien sind freie Herleitungen der Raummatrix von Dieter Läpple, welche uns zur Strukturierung unserer Untersuchung dienen sollen. Die vier beschriebenen Raumkategorien sind zunächst nur Erscheinungsformen von Raum.
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1. das materiell-physische Substrat
2. die gesellschaftlichen Interaktions- und Handlungsstrukturen
3. das institutionalisierte und normative Regulationssystem
4. räumliches Zeichen -, Symbol-, und Repräsentationssystem11
Sie sagen nichts über den Prozess aus, in dem Raum entsteht, also über seine »soziale Produktion«. In Anbetracht der Tatsache, dass der Raum bereits vorstrukturiert ist, wenn wir ihn betreten, müssen wir den Raum immer in seiner Dualität begreifen. Im gleichen Moment beeinflusst der Raum unser Handeln und unser Handeln produziert (oder reproduziert) Raum. Um mit Martina Löws Worten zu sprechen: »Raum ist zugleich Ordnungsdimension als auch Handlungsdimension (Prozess des Anordnens).«12 Daraus lässt sich schließen, dass Räume nie einen festen Zustand erreichen, sondern im Prozess von Ordnen und Handeln eine fortwährende Veränderung erleben. »Raum ist ein relationale (An)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern, welche unaufhörlich in Bewegung sind, wodurch sich die (An)Ordnung selbst ständig verändert.«13 Wollen wir den relationalen Raum erfassen, können wir also nie von einem festen Zustand ausgehen. Im Prozess des ständigen (An)Ordnens stellt sich eher die Frage, wie er produziert und reproduziert wird, also wie wir (an)ordnen.
Habitus als DIE (An)Ordnende Größe Der repetitive Alltag – der Habitus – beschreibt eine Vielfalt an Handlungsmustern, welche sich auf die (An)Ordnung von Räumen auswirken. Der Habitus beschreibt ein beim Aufwachsen erlerntes Set an Handlungen, das uns den Umgang mit unserer Umwelt im Alltag ermöglicht. Wir sind zum Beispiel in der Lage, uns ein T-Shirt überzuziehen, ohne jedes Mal darüber nachdenken zu müssen, durch welche Öffnung Kopf und Arme zu stecken sind. Wir wissen, wie man eine Türklinke bedient, wie man aus einem Becher trinkt und, dass man bei Rot nicht über die Ampel geht. Es bedarf keiner weiteren bewussten Reflexion, um diese Handlungen auszuführen. Diese Selbstverständlichkeit des Handelns ist auch bestimmend für die (An) Ordnung von Räumen. Wir wissen, dass Straßen für das Autofahren bestimmt sind und Bürgersteige für das Zufußgehen. Auch wissen wir, dass wir dort nicht schlafen werden. Wir benutzen den Habitus in unserer Syntheseleistung, um Räume vorzudenken, wenn wir zum Beispiel davon ausgehen, dass in jeder Stadtmitte ein Rathaus, ein
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Marktplatz und eine Kirche vorzufinden sind. Auf die gleiche Art und Weise nehmen wir (An)Ordnungen von Menschen an: wenn wir etwas kaufen, muss es eine Grenze geben zwischen Käufer und Verkäufer; in einem Supermarkt sitzt der Verkäufer, in einem Fachgeschäft steht er und das hat so zu sein. Anthony Giddens sagt dazu: »Routinen sind konstitutiv sowohl für die kontinuierliche Reproduktion der Persönlichkeitsstrukturen der Akteure in ihrem Alltagshandeln, wie auch für die sozialen Institutionen; Institutionen sind solche nämlich nur kraft ihrer fortwährenden Reproduktion«.14 Die Konsequenz aus dieser Annahme ist, dass der Habitus die Kraft ist, die zu einem Fortbestand der räumlichen (An)Ordnung führt. Wir bedienen uns aber auch des Habitus in einer bewussten diskursiven Art und Weise. Das zeigt sich zum Beispiel beim Auftreten einer von der Routine abweichenden Situation. Wenn die Türklinke bei ihrer Bedienung abfällt, sind wir in der Lage, sie wieder einzusetzen und müssen nicht den Rest unseres Lebens in unserem Zimmer verbringen. Im Unterschied zu den unbewussten Handlungen können wir erklären, wieso wir eine derartige Handlungsweise gewählt haben, nämlich, um durch die Tür zu kommen. Veränderung und Abweichungen räumlicher (An)Ordnung entstehen also immer in Bezug auf den bestehenden Habitus. Löw identifiziert vier Gründe für eine Handlung außerhalb der repetitiven Alltagspraxis: die Einsicht der Notwendigkeit von Veränderung, körperliches Begehren, Handlungsweisen anderer und Fremdheit. Diese Situationen erfordern vom Menschen eine Reflexion, sowohl der Situation als auch der Möglichkeiten des Umganges mit ihr. Dabei unterscheidet Löw wiederum in zwei Typen reflexiver Handlungen, dem »Abweichen beziehungsweise kreativgestalterischem Handeln« sowie dem »Verändern von Gewohnheiten«. Das Abweichen bezeichnet das Variieren des Handlungsspektrums, während die Veränderung das Ablegen alter Gewohnheiten zu Gunsten neuer Praktiken meint. Veränderung wird erst möglich durch die repetitive und kollektive Abweichung und Neugestaltung. »Dieses ist zunächst ein Abweichen von der Regel, welches die in
Routinen rekursiv reproduzierten Strukturen nicht angreift. Wenn aber die Abweichungen und Neuschöpfungen regelmäßig und nicht individuell, sondern auch kollektiv im Rückgriff auf relevante Regeln und Ressourcen verlaufen, dann sind Veränderungen institutionalisierter Räume bis hin zu Strukturveränderungen möglich.«15 Diese veränderten Raumkonstitutionen bezeichnet Löw als gegenkulturelle Räume, ein zur Dominanzkultur gegenläufiges Geschehen, das die Form einer eigenen Institution annimmt oder eines Raumes beziehungsweise einer (An)Ordnung, weil in dem Moment, in dem diese Veränderung abgeschlossen ist, sie wieder zum Habitus wird.
Raum als Ort Wenn wir Raum als relationale (An)Ordnung von Menschen und sozialen Güter verstehen, die vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Raumkategorien stehen, wird eine umfassende Analyse zu einer zeitraubenden Arbeit, deren Vollständigkeit immer fragwürdig erscheinen würde. Mit dem Rückgriff auf den Ort hingegen wird ein weiterer Rahmen eingeführt, der dem Container-Raum erschreckend ähnlich sieht, aber zugleich, begriffen als ein Element des relationalen Raums, eine nachvollziehbare Größe für einen methodologischen Ansatz liefert. Widersprüchlicherweise geht Löw davon aus, dass es für den von ihr beschriebenen Vorgang des Spacings, des Platzierens und Platziertwerdens Orte geben muss, an denen platziert werden kann.16 Weiter heißt es, der Ort wird durch die Besetzung mit sozialen Gütern oder Menschen kenntlich gemacht und ist Ziel und Resultat des Platzierens. Anders als der Raum kann er eine Veränderung oder Neugestaltung überdauern. Der Ort ersetzt somit den absoluten Raum als Container, wie »ein Gefäß, das nicht versetzt werden darf.«17 Dies erachten wir als Inkonsequenz in Löws Argumentation, die wir als
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Folge eines Trugschlusses der Wahrnehmung identifizieren müssen. Wenn Raum eine relationale (An)Ordnung von sozialen Gütern und Menschen ist, so muss der Ort dementsprechend auch als soziales Gut kategorisiert werden. Die »Einmaligkeit« ist lediglich eine Folge der zeit-spezifischem (An)Ordnung und der relationalen Platzierung infolge unserer individuellen Wahrnehmung. Der Mensch erbaut sich durch das Placing eine Geografie, durch deren Benennung Orte entstehen. Diese zunächst individuelle Wahrnehmung wird erst durch die (An)Ordnung zu einer kollektiven und repetitiven Praxis, zu einem Bestandteil einer gesellschaftlichen Struktur. Nur die Symbolik des Ortes bleibt durch den Habitus bestehen. Mit dem Beispiel »an dieser Stelle stand einmal die Berliner Mauer [...]« möchte Löw demonstrieren, wie die Symbolik trotz veränderter (An)Ordnung des Raumes den Ort fortbestehen lässt. Würde der Satz jedoch nie fallen, wäre der doch so symbolische Ort vielleicht ein Parkplatz, vielleicht eine Shopping Mall, viellecht wäre an dieser Stelle aber auch gar nichts mehr, denn »Berlin« wäre mit der Zeit einfach weitergewandert. Löws Beobachtung der Funktionsweise von Orten in der Konstitution von Raum als gesellschaftlicher Prozess ist richtig, ihre Annahme, dass die deswegen in irgendeiner Weise übergeordnet »real« wären, können wir jedoch nicht unterstützen. Der Ort ist somit den gleichen Konstitutionsmerkmalen unterzuordnen wie der Raum selbst. Ziehen wir zur Verdeutlichung dieser These die Raumexperiemente der Situationistischen Internationale heran. Wenn sie die Karte Londons benutzen, um sich bei einer Wanderung durch den Hartz zu orientieren, verschwindet die determinierende Grenze der Einmaligkeit. Die Karte von London wurde als spezifische (An)Ordnung von Orten konstruiert. Hypothetisch gesehen, müsste damit London immer London bleiben und der Trafalger Square wäre immer seine Mitte. Würde aber die abweichende kreativ-gestalterische Praxis der Situationisten nun zu einer kollektiven und repetitiven Praxis, also zu einer Veränderung des institutionalisierten Raumes »Londons« führen, wäre der Trafalger Square plötzlich ein idyllisches Tal mit grasenden Wildschafen.
Aus diesem Verständnis heraus wollen wir denn auch die »öffentlichen Räume« betrachten. Sie können nicht über geografische Abgrenzung bestimmt werden und definieren sich auch nicht über wie auch immer geartete rechtliche Bestimmungen. Vielmehr hängt ihre Eingrenzung von einer Definition der Öffentlichkeit ab, aus der heraus wir eine spezifische (An)Ordnung von sozialen Gütern und Menschen bestimmen können. Alle im konventionellen Sprachgebrauch (insbesondere der Architektur und Stadtplanung) als Raum kategorisierten (An)Ordnungen sind unserem Verständnis nach Orte und somit soziale Güter, die im (An)Ordnungsprozess »beweglich« sind. Quellen: 1
Löw, Martina (2001), »Raumsoziologie«, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, S.158.
2
In der Einleitung von Stefan Günzel (2006), in: Dünne, Jörg und Günzel, Stefan (Hrsg.), »Raumtheorie – Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften«, wird Nietzsche zitiert mit folgendem Satz: „Die Physiker haben Gott aus der Welt geschafft.“.
3
Vgl.: Günzel, Stefan (2006), »Einleitung«. In: Dünne, Jörg und Günzel, Stefan (Hrsg.), a.a.O., S 22.
4
Die allgemeine Relativitätstheorie von Albert Einstein stellt den für uns wahrnehmbaren euklidischen Raum auf den Kopf, sodass auch in der Physik eine Revision des „absoluten Raums“ stattfand und heute der „relativistische Raum“den Diskurs dominiert. Mag der relationale Raum der Bestimmung eines erweiterten soziologischen Raumbegriffs zwar dienlich sein, sei an dieser Stelle von seiner Verwendung abzusehen, da wir ihn für eine Handhabung des Raumbegriffs in der Urbanistik für irrelevant halten. Vgl. dazu Löw, Martina (2001), »Absolutistische und relativistische Raumvorstellungen«, a.a.O., S. 24-34.
5
Klamt, Martin (2007), »Verortete Normen, Öffentliche Räume, Normen, Kontrolle und Verhalten«, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 17.
6
Dünne, Jörg Einleitung, »Politisch Geografische Räume«, a.a.O., S. 371.
7
Arendt, Hannah (1958), »Vita activa oder Vom tätigen Leben«, Piper: Taschenbuchsonderausgabe 2002, S. 431, Anmerkung 64
8
Klamt, Martin (2007), a.a.O., S. 84.
9
Läpple, Dieter (1991), »Essay über den Raum«. In: Häußerman, Hartmut u.a. (Hrsg.),“Stadt und Raum, Soziologische Analysen“, Pfaffenweiler: Centaurus, S.194.
10 Leroi-Gourhan, André (2006), »Die symbolische Domestikation des Raumes«. In: Dünne, Jörg und Günzel, Stefan (Hrsg), a.a.O., S. 228. 11 Läpple, Dieter (1991), a.a.O., S.194. 12 Löw, Martina (2001), a.a.O., S. 131. 13 Ebd., S. 160. 14 Giddens, Anthony (1988), »Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung«. In: Löw, Martina (2001), a.a.O., S.163. 15 Ebd., S. 185. 16 Ebd., S.198. 17 Zitiert nach Aristoteles, »Physik«, in: „Philosophische Schriften, Bd.6«, Hamburg: Meiner (1995), S. 85. Entnommen aus der Einleitung Günzel, Stefan (2006), a.a.O.
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Obschon das, nennen wir es mal Phänomen der Öffentlichkeit, in unseren um Konkretisierung bemühten Vorstellungen gewaltig auseinanderzudriften vermag, vom sprichwörtlichen »Lärm der agorá«1 bis hin zum alles transzendierenden Licht, vor dessen Helligkeit sich gleichsam niemand verstecken kann, haftet all diesen gedanklichen Abbildungen doch in ähnlicher Weise das Merkmal eines Zustands unterschwelligen Rauschens an. Es gibt derlei noch viele weitere metaphorische Erklärungsversuche, doch wollen wir zunächst einmal sehen, inwieweit uns die nähere Untersuchung des Rauschens bereits insofern weiterhilft, als dass wir an ihr die elementarsten Grundzüge der Öffentlichkeit ausmachen können.
I. II.
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ffentlichkeit - mit ihr,in ihr, für sie?
Bezeichnenderweise erlaubt uns der Begriff des Rauschens zunächst
das Fernbleiben von einer klar umrissenen Definition, derer sich schon so viele namhafte Theoretiker bemühten, dass wir an dieser Stelle darauf verzichten müssen, diese vollständig aufzuzählen.2 Ebenso nützt der übliche Verweis auf die Etymologie vom lateinischen »res publica« (übersetzt als »im Besitz/im Gebrauch der Gemeinde stehend«3) nur bedingt, da er sich wohl zur historischen Analyse eignet, weniger jedoch, um in einer aktuellen Auseinandersetzung angemessene Akzente zu setzen.4 Letztlich gehen wir heute immer noch der Frage
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nach, was die Öffentlichkeit denn eigentlich sei, wobei wir an dieser Stelle in der Regel höflich darauf hingewiesen werden, dass es die Öffentlichkeit sowieso nicht gibt und, wenn doch davon die Rede ist, kann sie schwerlich den ihr anhängenden impliziten Nationalismus abschütteln, da sie wie mit Fesseln an den Sprach- und Kulturraum eines Landes gekettet zu sein scheint.5 Es wird deutlich, dass wir, statt zuvorderst in eine Debatte um einzelne Interpretationen einzusteigen, uns zunächst ein wenig zurücknehmen sollten, um den Blick eben für das im Hintergrund rauschende Wesen zu schärfen.
Ganz urnatürlich ist uns die Unterscheidung zwischen »öffentlich« und »privat«, welche sich zwar ebenfalls einer feststehenden Grenzziehung entzieht, so entpuppt sich das explizite Festhalten an diesem Dualismus doch als ganz fundamental für unser Selbstund Weltverständnis. Das heißt natürlich nicht, dass dies die einzig mögliche Gegenüberstellung wäre, sondern das Erstaunliche ist vielmehr, in welchem Maße das Öffentliche einer Bestimmung mittels eines negativen Bezugs auf ein Anderes bedarf. Vielmals stößt man auf die Auffassung zweier sich gegenüberstehender Sphären, die je nach spezifischen Rahmenbedingungen einer bestimmten Zivilisation mehr oder minder ineinander diffundieren, während hier und da bereits die völlige Auflösung beider Sphären beklagt wird. Nichtsdestotrotz überlebte das Begriffspaar bisher jegliche bewusst oder unbewusst unternommenen Angriffe auf seine Daseinsberechtigung, sodass sich an ihnen selbst heute noch der Diskurs entfaltet, ganz gleich wie stark man sich davon emanzipiert zu haben glaubt. Daraus können wir für unser weiteres Vorgehen zwei der Öffentlichkeitsdebatte immanente Grundlagen ableiten, (a) die Kontinuität des Verständnisses von »öffentlich« als eine von zwei Kehrseiten und (b) die ungebrochene Popularität raumverwandter Namensgebungen, worin man einen stetigen Drang zur Lokalisierung vermuten kann. In welcher Form ersteres und letzteres sich gegenseitig bedingen, soll nachfolgend näher beleuchtet werden.
Teil I: Öffentlichkeit als eine Dimension des menschlichen Bewusstseins im Zusammenleben6 Weniger privat, mehr öffentlich? Nehmen wir den einzelnen Menschen des 21. Jahrhunderts, der auf den ersten Blick seiner sichersten Zuflucht, der eigentlichen Privatsphäre, unwiederbringlich beraubt scheint, da die vormals ihr zugerechneten Bereiche sich zunehmend im Öffentlichen wiederfinden beziehungsweise sich zu einem solchen transformieren.
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Die Arbeit dient zwar vordergründig immer noch der reinen Lebenserhaltung, also der ursprünglichsten Tätigkeit des Menschen überhaupt, bildet darüber hinaus aber vor allem die wichtigste Quelle für gesellschaftliche Anerkennung und Kommunikation, ja bedeutet gar den gesellschaftlichen Schauplatz schlechthin, in dessen Arena es sich einen Status zu erkämpfen gilt. Der Gesundheitszustand des Einzelnen wird nunmehr als potentielle Belastung für das Gemeinwesen betrachtet und die Demografie, mit ihr Familienplanung, Gebär- und Zeugungsverhalten etc., zum politischen Kontrollfeld erhoben, gemäß dem Diktat einer normalistischen Lebensweise.7 Die Schule ist die rigorose Fortführung der bereits im Kindergarten einsetzenden Sozialisationsmaschinerie, in der eine leistungsorientierte Elite und ein zumindest gesellschaftsfähiger Rest produziert werden. Das nachbarschaftliche Verhältnis gleicht einer wechselseitigen Beobachtung von privaten Verfehlungen und Erfolgen des jeweils anderen, was Missbilligung oder Neid nach sich ziehen kann, während auf überpersönlicher Ebene Abweichungen vom statistischen Mittelwert aufgrund wissenschaftlicher Geringfügigkeit ausgeblendet werden können. Nun soll diese überspitzte Darstellung nicht zu der Fehleinschätzung führen, das Individuum sei ausschließlich ein Opfer der Transformation des Privaten zum Öffentlichen, lässt sich doch teilweise seine aktive Beteiligung daran erkennen. Das Mobiltelefon, das wohl klassischste Beispiel der empirischen Sozialforschung, ermöglicht ein Hinaustragen, im wörtlichen sowie übertragenen Sinn, persönlicher Verständigung in die Straße, Metro oder den Supermarkt, wo es gegenüber Einflüssen der direkten Umgebung wiederum wie eine Art Abschirmung wirkt. Social Media Networking wird heutzutage derart exzessiv betrieben, dass immer mehr Freundschaften gewonnen, immer mehr Hobbys präsentiert und persönliche Mitteilungen an eine immer wachsende Zahl von Adressaten noch extravaganter ausfallen müssen, um im Meer der Persönlichkeit preisgebenden Informationen nicht unterzugehen.
Aber wenn all das Private, woran einem jeden von uns, so müsste man meinen, doch am meisten gelegen ist, vom Öffentlichen absorbiert wird, schafft das ein uns allen Gemeinsames? Findet sozusagen eine groß angelegte Enteignung zu Gunsten eines Gemeinwesens statt? Müssen wir uns fragen, ob wir bereits seit langem »unter Bedingungen leben, in denen nur die Fertigkeiten und die Arbeitskraft, die uns wie das Leben selbst zu eigen sind, ein zuverlässiger Besitz sind«?8 Ist das die Welt der postmodernen Individualisten, der ewigen Einzelkämpfer ihrer Selbstentfaltung, deren Lebensstile sich noch weiter ausdifferenzieren und deren Interessen sich weiterhin partikularisieren werden? Folgt man dem Historiker Reinhart Koselleck, setzt diese Dynamik bereits infolge der Aufklärung ein, denn »sie [die Aufklärung] baut alle Tabus ab, indem sie die Privilegien zerstört. Dadurch wird alles in den Strudel der Öffentlichkeit gezogen. Es gibt nichts, was nicht von dieser Öffentlichkeit erfasst würde.«9 Während in dieser Aussage eher die Befürchtung einer ideologischen Totalität als notwendige Konsequenz von Ver-öffentlichung durchscheint, beschreiben andere Autoren wie Oskar Negt und Alexander Kluge in geradezu gegensätzlicher Semantik eine Emanzipation des Privaten, was nun die Befreiung von seinem unpolitischen Schicksal erlebt – wobei es sich nicht lediglich um einen überbewerteten Symbolismus handelt, sondern um den »wirkliche[n] Ausdruck eines fundamentalen gesellschaftlichen Bedürfnisses«.10 Jenseits von einer simplen Bewertung der einen Sphäre als besser als die jeweils andere ist hingegen unbestreitbar nachzuweisen, »dass der symbolische Ort des Privaten selbst politisch erzeugt ist«11 und sich demnach die Emanzipation auf der ihr vorgezeichneten Linie vom Privaten zum Öffentlichen bewegt. Insofern jedoch, als dass keine menschliche Betätigung frei in der Luft schwebend stattfinden kann und tatsächlich »einen ihr zugehörigen Ort in der Welt« braucht12, wird klar, dass es eine tiefer gehende Substanz geben muss, welche jeglicher politischen Verfestigung vorausgeht, letztlich aber nicht ohne diese auskommt. Ohne an dieser Stelle ausführlicher auf die erheblichen historischen Verschiebungen eingehen zu wollen, welche das Verhältnis privat-öffentlich zweifelsohne erfahren hat, wollen wir direkt seinen zentralen Punkt geltend machen.
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Das Leben des einzelnen Menschen umfasst prinzipiell zwei Seinsweisen, die sich entweder durch Anwesenheit oder Abwesenheit anderer Menschen kennzeichnen. Damit ist noch nicht mal die wohl unerschütterlichste Assoziation von privat mit dem eigenen Haushalt gemeint, sondern schlicht und ergreifend die Tatsache, ob die jeweilige Situation ein Gesehen- und Gehörtwerden von anderen erlaubt oder nicht. Sobald der Mensch sich alleinstehend und verlassen wiederfindet, fehlt ihm nicht einfach nur die Gesellschaft der anderen, sondern – viel schlimmer – hieße das: »in einem Zustand leben, in dem man bestimmter, wesentlich menschlicher Dinge beraubt ist. Beraubt nämlich der Wirklichkeit, die durch das Gesehenund Gehörtwerden entsteht [...]«.13 Dem Individuum als solches entzieht sich die Wirklichkeit der Welt, denn tyrannisch und einseitig muss sie sich ihm präsentieren, wenn er sie nur aus seiner Perspektive betrachten kann. Für uns Menschen ist es unerlässlich, dass unsere Sicht auf die Welt die Sichtweisen anderer einbezieht, schließlich geht das Gemeinsame, was wir an der Welt haben, deutlich über den natürlichen Lebensraum Erde hinaus und liegt stattdessen gerade in allen zwischenmenschlichen Angelegenheiten begründet. Doch innerhalb dieses gemeinsam konstruierten Gebildes namens Welt ist doch jeder Einzelne ein Einzelner und bildet eine so spezifische Position, dass kein anderer aus der gleichen Position heraus sehen oder hören kann. Um die Welt also nur annäherungsweise in ihrer Gesamtheit, in ihrer Wirklichkeit zu erfassen, bedarf es der Versammlung all der Positionen, mit denen wir sie teilen und potentiell gestalten können, andernfalls würde sie schlechthin nicht existieren. Gegenüber diesem Erscheinungs- und Gestaltungsfeld des Öffentlichen erweist sich der Schutz- und Rückzugsbereich des Privaten jedoch als nicht weniger bedeutungsvoll, denn nur dieser bietet uns die Möglichkeit des zeitweiligen Entrinnens vom ständigen Gesehen- und Gehörtwerden und damit die grundlegende Ressource, um mit uns selbst zu sein und aus uns zu schöpfen. Trotzdem haftet diesem Bereich die Schwere der Notwendigkeit an, wenn wir an die bloße Sicherstellung unseres biologischen Überlebens denken, welche wir seit jeher im Verborgenen zu beantworten suchen. »So ist es nicht das Innere dieses Bereichs, dessen Geheimnis die Öffentlichkeit nichts angeht, sondern seine äußere Gestalt, dasjenige nämlich, was von
außen errichtet werden muss, um ein Inneres zu beherbergen, was von politischer Bedeutung ist. Innerhalb des Öffentlichen erscheint das Private als ein Eingegrenztes und Eingezäuntes, und die Pflicht des öffentlichen Gemeinwesens ist es, diese Zäune und Grenzen zu wahren, welche das Eigentum und Eigenste eines Bürgers von dem seines Nachbarn trennen und gegen ihn sicherstellen.«14 Da hier keine hinreichende Erklärung hinsichtlich der Zusammenwirkung biologischer und sozialer Verlange des Menschen gegeben werden kann, sei nur das für uns Relevante folgendermaßen zusammengefasst: das Leben des tätigen Menschen findet lokalisiert in einer Menschen- und Dingwelt statt, von welcher es sich nicht entfernen kann und welche es nicht transzendiert, denn ohne diese Lokalisierung verlöre es jeden Sinn, seine Existenzgrundlage verschwände.15 Darin lässt sich gewissermaßen eine direkte Aufforderung lesen, die an uns appelliert, diese Auseinandersetzung mit dem uns Umgebenden nicht zu versäumen, während es gleichzeitig andeutet, dass im Grunde jede die Welt gänzlich negierende Haltung in letzter Konsequenz in dieser Welt selbst nicht sichtbar und insofern nicht existent wäre. Die Unmöglichkeit des Schwebezustands unserer Tätigkeiten und unseres Daseins, von der Hannah Arendt schreibt, setzt sich demzufolge aus zwei Komponenten zusammen, zum einen nannten wir bereits die zwei Seinsweisen des Menschen und zum anderen verwiesen wir im oben Gesagten auf das Politikum der Zuweisung von »privat« und »öffentlich«. Wie verhalten sich diese Komponenten nun zueinander? Auf der elementarsten Ebene unseres Zusammenlebens finden wir die Unterscheidung zwischen dem für andere Sicht- und Hörbarem und dem nur uns zu Eigenen vor, eine Distinktion von »privat« und »öffentlich« in ganz grundsätzlicher Form, der sich keine Tätigkeit und kein Gedanke entziehen kann. Alles lässt sich entweder in ersterem oder letzterem lokalisieren und auf diese Art und Weise ist unser Zusammenleben in der Menschen- und Dingwelt grundlegend bestimmt. Folglich kann aber ein Ort an sich weder »öffentlich« noch »privat« sein, da diese Eigenschaften ausschließlich von der Präsenz der Menschen und ihren Interaktionen abhängen und es sich somit um Kategorien des »Wie« und nicht des »Was« handelt. Sobald ich der Wohnung die Konnotation »privat« und dem Parlament die Aufschrift »öffentlich« zuweise, handelt es sich bereits um eine politische Praxis, die
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die Fixierung einer Bedeutung sucht und insofern letztlich eine Machtausübung darstellt. Hierin finden wir also die entscheidenden Hinweise zu den zwei zu anfangs formulierten Grundzügen der Öffentlichkeitsdebatte: (a) das Wesen des »Öffentlichen« entspringt in dem Maße aus dem unauflöslichen Verhältnis mit seinem Gegenstück dem »Privaten«, als dass es im Grunde nichts anderes als eine von zwei Seinsweisen des Menschen abbildet und (b) die Bindung dieser Bedeutung an bestimmte Orte als auch an bestimmte Räume, sei es nun in rechtlicher oder metaphorischer Form, ist als Ergebnis der unaufhaltsam stattfindenden sozialen Produktion von Bedeutungen zu werten. Dass ein Teil eben dieser sozialen Produktion auch das Verständnis und die Funktion von »Öffentlichkeit« in unserer heutigen Gesellschaft generiert, sei Gegenstand der nun folgenden Bemerkungen, denn es wird Zeit, dass wir uns endlich auf die Suche nach dem Öffentlichen begeben.
Teil II: Öffentlichkeit als politisches Erbe des Bürgertums und die soziale Produktion ihrer selbst Platzt jetzt auch die Öffentlichkeitsblase? Wenn wir uns etwa mit einer wie der weiter oben geäußerten Vorstellung des »Strudels der Öffentlichkeit« (siehe Seite 17) konfrontiert sehen, müssen wir aufpassen, dass wir nicht der verkürzten Logik eines »Öffentlichseins ohne Öffentlichkeit«16 anheim fallen. Denn während wir einerseits all dem Privatem hinterher trauern, was sich leibhaftig vor unseren Augen im Öffentlichen aufzulösen droht, machen wir uns andererseits schuldig, und zwar schuldig der Unterlassung der Frage, wie es denn konkret um die Verfasstheit der so genannten Öffentlichkeit heute steht. Trotz aller Skepsis, die bei der Betrachtung von Jürgen Habermas‘ quasi-Standardwerk »Strukturwandel der Öffentlichkeit« (1962) gerade bezüglich dessen diskursethischen und deliberativen Grundfesten anzuraten ist,17 müssen wir unumwunden zugestehen, dass er es war, der das Thema in nicht verfehlender Brisanz und Tragweite in der breiten, heute überaus interdisziplinären Debatte salonfähig machte – ja, könnte man nicht sagen, dass er es geradezu in das Licht der Öffentlichkeit
rückte? In einer Zeit, in der kritische Kulturtheoretiker wie etwa Theodor W. Adorno den Verlust eines revolutionären Publikums problematisierten18 oder der amerikanische Soziologe David Riesman in seiner Analyse »The Lonely Crowd« (1950) das Bild »der neuen Gleichgültigen« skizzierte,19 traf Habermas auf genau den Stoff der kulturellen Kommodifizierung, welchen er unter dem Titel der Öffentlichkeit behandelte und somit diesen Begriff als neuen Dreh- und Angelpunkt einer erweiterten Debatte einführte und gewissermaßen festsetzte. »Wenn die Gesetze des Marktes, die die Sphäre des Warenverkehrs und der gesellschaftlichen Arbeit beherrschen, auch in die den Privatleuten als Publikum vorbehaltene Sphäre eindringen, wandelt sich Räsonnement tendenziell in Konsum, und der Zusammenhang öffentlicher Kommunikation zerfällt in die wie immer gleichförmig geprägten Akte vereinzelter Rezeption.«20 Selbst 50 Jahre später würden wir dieser Aussage, wie sie derzeit zum Beispiel von David Harvey (radikale Geografie) aufgegriffen wird, intuitiv zustimmen, wobei wir uns weder auf den Irrweg des bürgerlichen Ideals der räsonierenden, zum Publikum versammelten Privatleute noch auf den Umweg des für uns zu weit greifenden ökonomischen Determinismus einlassen wollen. Dennoch ließe sich weiterdenken über das, was Habermas in seinen weiteren Ausführungen beschreibt: »[...] das Räsonnement verschwindet hinter dem Schleier der intern getroffenen Entscheidungen über Selektion und Präsentation des Materials«, einschließlich seiner Feststellung, dass unsere Nachrichten schon längst der Dominanz von »comics, corruption, accident, desaster, sports, recreation, social events« zum Opfer gefallen sind.21 Was dabei auffällt, ist die Annäherung an einen historischen, aber nun wieder aufkommenden Aspekt der Menge oder Masse, welcher im Kontext der absolutistischen Kunstrezeption Mitte des 18. Jahrhunderts als bewusstes Instrument genutzt wurde, um den Idealbegriff der zum qualitativen Urteil fähigen »public« von seiner fehlerhaften Erscheinungsform, der zeitgenössischen »multitude«, abzugrenzen.22 Führt man diese und Habermas‘ Betrachtungsweise fort, bleibt von der »Öffentlichkeit« nicht viel übrig und zudem muss sie gleich an zwei Fronten um ihre Existenz ringen, auf der einen Seite gilt es, den Zerfall in eine unschlüssige, handlungsunfähige multitude (Menge, Masse) zu verhindern und auf der anderen Seite sich der Manipulation durch einen übermächtigen Gesellschafts-, Kultur- und Verwaltungsapparat zu widersetzen. Während die eine
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Seite genau die Entstehung und das Weiterbestehen solch einer »urteils- und entscheidungsunfähigen Masse« beabsichtigt, bedeutet auf der anderen Seite die konsequente Abwehr der Verwandlung in eine Masse die letzte Hoffnung auf Entscheidungs- und Urteilsfreiheit. Einmal im Zustand derartiger Ernüchterung gelandet, ist der Sprung zur Diagnose der »Scheinöffentlichkeit« nicht weit, wie sie zum Beispiel anhand des Grundrechts der freien Meinungsäußerung exemplarisch von Negt und Kluge entlarvt wurde. Sie berichten, dass ein im Auftrag des Verlagskonzerns Axel Springer erstelltes Rechtsgutachten des Juristen Ernst Forsthoff aus dem Jahr 1968 das Grundgesetz allen Ernstes als Schutzmantel für das ungestörte Voranschreiten der Monopolisierung der (west-)deutschen Presselandschaft durch den privaten Großkonzern ausdeutet: »Die Rechtsausführungen sind zum größten Teil Gefälligkeitsargumente für den Auftraggeber, sie entsprechen nicht der in der Rechtslehre herrschenden Auffassung.«23 Kehren wir ins Jahr 2013 zurück, brauchen wir uns gar nicht lange umzuschauen, bis wir auf derlei Aktivitäten als vollkommen normalisierte Praxis der Politik in den parlamentarischen Demokratien wie Frankreich oder Deutschland stoßen, wo sich »Regierung und Parlament [...] Gesetze durch private Unternehmen machen [lassen].«24 Wir bemerken, so sehr der Begriff der Öffentlichkeit noch vom Lied der Freiheit tönen mag, finden wir ihn, beim besten Willen, doch stets nur als Handlanger der Repression selbst vor. Oder wie es bei Adorno so treffend heißt: »Habermas hat diese Entwicklung als Zerfall der Öffentlichkeit zusammengefasst. Vielleicht war Öffentlichkeit in Wahrheit überhaupt nie verwirklicht. Zu Anfang wäre sie, als nicht vorhandene, erst zu schaffen gewesen, dann hat sie in zunehmendem Maß die Mündigkeit verhindert, die sie meint.«25, während er an anderer Stelle pointiert vom »Verblendungszusammenhang« spricht.26 Wenn wir diesen im Sinne eines umfassenden Lebenszusammenhangs verstehen wollen, kommen wir nicht umhin, uns eingehender den Materien des Sozialen und des Politischen sowie ihren Wechselwirkungen zu widmen. Denn genau in diesem Punkt könnten wir uns andernfalls im Gewirr von Idealen, konkreten Erwartungshaltungen und erlebter Realität hoffnungslos verirren. Der Anschaulichkeit halber möchten wir die Anekdote einer »politischen Urszene« erzählen, die sich 1832 während des Prozesses
gegen den französischen Revolutionär Louis-Auguste Blanqui zutrug, ohne weitere Umstände zu nennen, sondern nur um der Anekdote selbst willen: »Vom Gerichtspräsidenten gebeten, seine Profession anzugeben, antwortet dieser einfach ›Proletarier‹. Gegen diese Antwort wendet der Präsident ein: ›Das ist doch keine Profession‹, nur um genauso schnell den Angeklagten antworten zu hören: ›Das ist die Profession von dreißig Millionen Franzosen, die von ihrer Arbeit leben und keine politischen Rechte haben.‹ Worauf der Präsident zustimmt, diese neue ›Profession‹ vom Gerichtsschreiber notieren zu lassen.«27 Hieran lassen sich die zwei Ebenen, eine soziale und eine politische, sowie ihr Verhältnis zueinander ablesen, woraus sich der Rahmen bestimmen lässt, in welchem wir Öffentlichkeit letztlich zu begreifen haben. Der Proletarier spricht aus der Perspektive seines sozialen Lebenszusammenhangs, welcher völlig im ökonomischen Überleben aufgeht bei gleichzeitiger politischer Rechtlosigkeit, wobei sich dreißig Millionen Franzosen offenbar in dem gleichen Lebenszusammenhangs wiederfinden, mit welchen er überdies die Selbstbenennung als Proletarier zu teilen scheint. Der Gerichtspräsident, welcher stellvertretend für die juristisch-politische Ebene steht, bestätigt in seinem Einspruch gegen die Professionsbezeichnung zunächst die politische Rechtlosigkeit des Proletariers, von der dieser dann selbst spricht, um sie im Nachhinein dennoch – zumindest ansatzweise – zu berichtigen. Folgerichtig zeugt diese Szene von einem hochpolitischen Moment, indem sie nämlich die Konfrontation zweier sich unvereinbar gegenüberstehender Welten wiedergibt, welche jedoch unbestreitbar eine Wechselwirkung eingehen, denn, wie wir gesehen haben, vermögen sie sich gegenseitig zu beeinflussen. Außerdem sind beide Ebenen als Produkte einer sozialen Praxis zu sehen, wobei dem Politischen all das zuzuordnen ist, was sich durch Verallgemeinerung als normative Regel festsetzen konnte und somit eine übergeordnete – nämlich eine universell für alle geltende – Bedeutung genießt. Gesagtes ließe sich wie folgt verdeutlichen: das Soziale beschreibt die Mensch-Mensch-Beziehungen und das Politische gründet sich vor allem auf die Beziehungen zwischen Kollektiven, welche sich mit dem Interesse bilden, die
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vorherrschenden Bedingungen der Mensch-Mensch-Beziehungen zu ändern. Der Ursprung dieser Bestrebungen kann wiederum nur in den Erfahrungen des Zusammenlebens liegen, über welche der Einzelne verfügt und tatsächlich nur in dem historischen Moment, in dem die (soziale) Praxis als problematisch reflektiert wird und dadurch den Anschein des Selbstverständlichen verliert, kann verändernd auf das eingegriffen werden, was die bisherige soziale Praxis als feststehend definierte.28 Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis erklärt sich auch, dass »die faktische Normativität des öffentlichen Bereichs also nicht durch ein Allgemeininteresse, sondern vielmehr durch die stärksten und am besten organisierten Privatinteressen definiert [wird].«29 Um der »Öffentlichkeit« in ihrer politischen Tragweite nun auf die Schliche zu kommen, müssen wir der Frage nachgehen, wie ein solcher Bedeutungsgewinn mancher Interessen, Gruppierungen oder Ideen denn eigentlich genau funktioniert. Da wir Menschen uns nicht einfach auf der Erde befinden und warten, was mit uns passiert, wird klar, dass ein stetige Tätigkeit von statten gehen muss, welche zunächst unser reines Überleben sichert, aber darüber hinaus dem Zusammenleben erst den gesellschaftlichen Charakter verleiht, den wir üblicherweise einfach als gegeben annehmen. Aus den vorhergehenden Betrachtungen des Raumes wissen wir, dass eben diese »soziale Praxis« sowohl den Prozess des (An)Ordnens, also die Produktion von Raum, als auch das eigentliche Positioniert-Sein in dieser (An)Ordnung umfasst. Obschon diese beiden Komponenten permanent ineinandergreifen und aufeinander einwirken, sind sie nur in ihrer grundlegenden Gegensätzlichkeit zu begreifen: die (An)Ordnung stellt die räumliche Dimension dar und die Ausführung des (An)Ordnens, was immer eine Handlung der Bedeutungszuweisung impliziert, bedarf einer zeitlichen Grundlage. Entgegen unserer anerzogenen Auffassung von Geschichte als lineare Chronologie, dürfen wir hierbei jedoch nicht von einer Art Kettenreaktion ausgehen, sondern müssen uns unbedingt der Gleichzeitigkeit des Wirkens vieler Menschen und ihrer Handlungen bewusst sein, sodass es potentiell ständig zu Verschiebungen innerhalb des Gefüges kommt. Da aber jeder soziale Raum, sei es die Familie, eine Religion oder das Grundgesetz, unweigerlich nach der festen Existenz seiner Bedeutung strebt, müssen wir von den »hegemonialen Anstrengungen der Verräumlichung« sprechen,
worunter wir uns nichts anderes vorzustellen haben als Politik, die Fixierung von Bedeutung.30 Wenden wir uns nochmals der Anekdote des Proletariers zu. Als er sich mit dem politisch fixierten Raum konfrontiert sah, in dessen (An)Ordnung es seine Profession nicht geben konnte, brachte er bewusst eine Argumentation vor, von welcher er nicht wissen, aber hoffen konnte, dass er sich mit ihrer Hilfe den bestehenden Regeln widersetzen könne. Erst mit der Aufnahme der Bezeichnung vom Gerichtsschreiber im staatlichen Professionsverzeichnis vollzieht sich seine politische Öffentlichkeit, denn die Veränderung wurde verwirklicht – und genau in diesem Moment ist es auch schon um sie geschehen, denn abermals ist der Proletarier »angeordnet«. Nur indem sie selbst flüchtig ist, kann sich die »Öffentlichkeit« ihrer eigenen Verräumlichung verwehren, andernfalls wäre sie ebenso Bestandteil im ewigen Spiel der (An)Ordnung. Doch eben diese Flüchtigkeit trägt die ausschlaggebenden Veränderungen, welche einzigartig sind, wie uns unsere historische Anekdote zeigt, sich aber dennoch immer wiederholen können. Das heißt zum einen, dass Öffentlichkeit immer in ihrem Plural zu denken ist und zum anderen, dass immer wieder neu entstehen kann, ganz gleich der sozialen und politischen Umstände. Und insofern ist sie auch ein Prinzip, nämlich »das Prinzip der verzeitlichenden Öffnung von Raum, der Garant, dass der Ort der Öffentlichkeit leer bleibt.«31
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Ihr rauschendes Wesen wird es uns also selbst an diesem Punkt nicht erlauben, die »Öffentlichkeit« »wirklich« zu fassen. Aber unser Bewusstsein sollte sich die Schlussfolgerung zu Herzen nehmen, dass wir »Öffentlichkeit« nur handelnd verwirklichen können – und zwar, wenn wir uns die Freiheit nehmen, selbst verändern zu wollen.
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Nichts kann ewig bestehen. Außer der Möglichkeit, dass sich alles immer wieder von Grund auf ändern kann.
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Virno, Paolo (2005), »Das Öffentlichsein des Intellekts«. In: Gerald Raunig, Ulf Wuggenig (Hrsg.), »Publicum, Theorien der Öffentlichkeit«, Wien: Verlag Turia + Kant, S. 33. Vgl. dazu Hohendahl, Peter Uwe (2000), »Bibliographie zum Begriff der Öffentlichkeit«. In: Ders. u. a. (Hrsg.), »Öffentlichkeit. Geschichte eines kritischen Begriffs«, Stuttgart – Weimar: Verlag J. B. Metzler, S. 129-179. Gerhardt, Volker (2012), »Öffentlichkeit: die politische Form des Bewusstseins«, München: Beck, S. 48ff. Vgl. dazu die Ausführungen zur semantischen und begriffsgeschichtlichen Konfusion in »Einleitung« und »Vorbemerkungen zur Wortgeschichte«, Hohendahl, Peter Uwe (2000), a.a.O., S. 1-7. Kockot, Vera und Wuggenig, Ulf (2005), »Einleitung«. In: Gerald Raunig, Ulf Wuggenig (Hrsg.), a.a.O., S. 12. An gleicher Stelle wird beschrieben, dass erst des »Globalisierungsdiskurses [bedurfte], um die Fixierung der Theorien der Öffentlichkeit auf die nationalstaatliche Eben zu problematisieren, [was] den vorherrschenden methodologischen und konzeptionellen Nationalismus zu durchbrechen erlaube.“. Negt, Oskar und Kluge, Alexander (1972), »Öffentlichkeit und Erfahrung: zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit«, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 17. Es werden zwei verschiedene Verwendungen des Begriffs der Öffentlichkeit angeführt, zwischen denen es grundsätzlich zu unterscheiden gilt, weswegen der vorliegende Artikel in Anlehnung an die Ausführungen der beiden Autoren in zwei Teile gegliedert ist. Demirovic, Alex (2005), »Hegemonie und das Paradox von privat und öffentlich«. In: Gerald Raunig, Ulf Wuggenig (Hrsg.), a.a.O., S. 43. Arendt, Hannah [1958], »Vita activa oder Vom tätigen Leben«, Piper: Taschenbuchsonderausgabe (2002), S. 85. Zitiert nach: Koselleck, Reinhart (1979), »Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt«, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 97. Entnommen aus: Strum, Arthur (2000), »V. Öffentlichkeit von der Moderne zur Postmoderne: 1960-1999«. In: Hohendahl, Peter Uwe u.a. (Hrsg.), a.a.O., S. 100. Negt, Oskar und Kluge, Alexander (1972), a.a.O., S. 18. Demirovic, Alex (2005), a.a.O., S. 46. Arendt, Hannah [1958], a.a.O., S. 90. Ebd., S. 73. Ebd., S.77f. Ebd., S. 33. Virno, Paolo (2005), a.a.O., S. 36. Kockot, Vera und Wuggenig, Ulf (2005), a.a.O., S. 10. Strum, Arthur (2000), a.a.O., S. 92f. Habermas, Jürgen [1962] »Strukturwandel der Öffentlichkeit«, Neuwied: Luchterhand (1982), S. 257. Zitiert nach: Habermas, Jürgen (1962). Entnommen aus: Strum, Arthur (2000), a.a.O., S. 94. Zitiert nach Habermas, Jürgen (1962). Entnommen aus: Kockot, Vera und Wuggenig, Ulf (2005), a.a.O., S. 13f. Kernbauer, Eva (2012), »Das Publicum in der kunsttheoretischen Tradition: Wege zur Öffentlichkeit (und zurück)«. In: Kammerer, Dietmar (Hrsg.), »Vom Publicum. Das Öffentliche in der Kunst«, Bielefeld: transcript Verlag, S. 62. Negt, Oskar und Kluge, Alexander (1972), a.a.O., S. 140. Vgl. dazu auch http:/ www.spiegel.de/spiegel/print/d-46050022.html (Zugriff am 29.01.2013). Goanec, Mathilde (2013), »Die Abdankung der Politik«. In: Le Monde diplomatique, Ausgabe Januar, S. 22. Die Lektüre des gesamten Artikels wird ausdrücklich empfohlen, gleichwohl die Ausführungen Frankreich stärker fokussieren. Zitiert nach Adorno, Theodor, »Meinungsforschung und Öffentlichkeit, Soziologische Schriften II«, Frankfurt a. M.: Suhrkamp (1970), Bd. 9., S. 534. Entnommen aus: Strum, Arthur (2000), a.a.O., S. 96. Negt, Oskar und Kluge, Alexander (1972), a.a.O., S. 24. Zitiert nach Rancière, Jacques (1995) »Das Unvernehmen. Politik und Philosophie«. Entnommen aus: Scholz, Leander (2012), »Ästhetik und Vernunft«. In: Kammerer, Dietmar (Hrsg.), a.a.O., S. 205. Ebd., S. 208. In Anlehnung an die Ausführungen von Louis Althusser, der beschrieb, dass die Praxis der reflektierenden Theorie stets vorausgeht. Strum, Arthur (2000), a.a.O., S. 97. Marchart, Oliver »Kunst, Raum und Öffentlichkeit(en)«, Abschnitt I, http:/ eipcp.net/transversal/0102/marchart/de (Zugriff am 29.01.2013). Ebd., Abschnitt III.
I. III.
S uperposition /Raum//Öffentlichkeit/: * / Öffentlichkeit ist keine räumliche Kategorie / / Raum ist die permanent bewegliche (An)Ordnung von [handelnden] Menschen und sozialen Gütern / [Dualismus von Raum: (An)Ordnung ist immer zugleich Auflösung der (An)Ordnung, da kein endgültiger Zustand erreicht werden kann, niemals, denn es gibt Zeit./ / Die Veränderung des Raums – das (An)Ordnen an sich – ist eine Handlungskategorie / // Öffentlichkeit kann sich nur im Handeln entfalten // (Obwohl das Handeln auf den Raum wirkt, wird es sich dennoch nie vollends von ihm emanzipieren können. Insofern ist Öffentlichkeit in ihrem Plural und zyklisch zu denken: RaumVeränderung-Raum-Veränderung usw.) ***
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S
POLITISCHE ÖFFENTLICHKEIT
P P
H
HABITUS
A
V
SOZIALE ÖFFENTLICHKEIT
S ABWEICHUNG VERÄNDERUNG
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II. Kapitel
II. II.
E SM
die ntwicklung der hopping all
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die ENTWICKLUNG VON SHOPPING MALLS in den USA »A group of retail or other commercial establishments that is planned, developed, owned and managed as a single property. On-site parking is provided. The center’s size and orientation are generally determined by the market characteristic of the trade area served by the center. The two main configurations of shopping centers are malls and open-air strip centers«1 International Council of Shopping Centers
»Country Club Plaza«
Den Ursprung der uns heute allgemein bekannten und weit verbreiteten Form des Einzelhandels, der Shopping Mall, finden wir in den USA. Im Zuge der Suburbanisierung, der damit verbundenen Zunahme des Individualverkehrs und der neuen Möglichkeit für Investition und Spekulation, erfand Jesse Clyde 1922 einen ersten Gebäudekomplex der, nach späteren Definitionen, bereits über wesentliche Charakteristika eines Shopping-Centers verfügte, das »Country Club Plaza« in Kansas City. Hierbei handelte es sich zunächst um eine Aneinanderreihung verschiedenster Geschäfte, die eine einheitliche Architektur aufwiesen und über ausreichend Parkflächen verfügten. Hinzu kam ein gemeinsam organisiertes Management und Marketing. Vorrangig wurden diese Komplexe an stadteinwärts beziehungsweise -auswärts gelegenen Straßen positioniert. Dieser periphere Standort war von großer Bedeutung, denn auf diese Weise konnten Kunden sowohl aus den Innenstädten, als auch aus dem Umland angezogen werden. Ein weiterer markanter Aspekt, in Bezug auf die zunehmende Motorisierung, waren die direkt vor den Geschäften angelegten Parkflächen, die den Kunden die Anfahrt und den Aufenthalt so komfortabel wie möglich gestalten sollten. Diese Vorreiterform des Shopping-Centers blieb bis in die 1950er Jahre mit nur geringen Veränderungen bestehen. Eine detailliertere Entwicklungsabstufung der dazwischen liegenden 30 Jahre, von strip commercial centers und taxpayer blocks über roadside franchises bis hin zu shopping villages findet man in der Studie »Erlebniswelten & Erlebnisgesellschaft« aus den Jahren 1996-1999 von der Professur Soziologie und Sozialgeschichte der Stadt, an der Bauhaus
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Universität Weimar, unter der Leitung von Prof. Dr. phil. habil. Dieter Hassenpflug.2 Infolge der progressiven Massenproduktion und der permanenten Zunahme des Individualverkehrs entstand 1956 das erste ShoppingCenter in Minneapolis nach der Idee von Victor Gruen. Der von ihm erfundene Gebäudetyp stellte eine Art künstliches Stadtzentrum auf der »grünen Wiese« dar und ist heute allgemein unter der Bezeichnung »Shopping Mall« bekannt. Seine überdachten und vollklimatisierten Bauten, mit einheitlicher Fassade, ermöglichten den Kunden nicht nur eine klimaunabhängige Einkaufsmöglichkeit, sondern boten durch ihre Multifunktionalität auch einen Raum für soziale Aktivitäten und Unterhaltung nach innerstädtischem, europäischem Vorbild. Diese Multifunktionalität erreichte Gruen in erster Linie durch die neuartige Gestaltung der Gebäude. Er ordnete die Geschäfte nach innen gerichtet auf zwei Ebenen an und verteilte sie linear an inneren Straßen. An den Enden der Straße lagen jeweils große Warenhäuser, die als »Magnet Stores« oder »Anker« dienten. Die Ebenen wurden durch Rolltreppen miteinander verbunden und in die Mitte der Mall setzte er einen Innenhof unter Dachfenstern, den er mit einem Fischteich, künstlichen Bäumen und einem Café versah. Zusätzlich stellte Gruen zweistöckige Parkdecks zur Verfügung. Das Ergebnis war eine Sensation in der Entwicklung des Einzelhandels und der Bau der so genannten Shopping Malls nahm rasant zu. Bereits im Jahr 1960 verfügte die USA über 39 dieser Bauten. Bis zum Jahr 2004 stieg die Anzahl auf fast 50.000 an.3 Seit den 1970er Jahren veränderte sich die Gestalt der
»Southdale Center« amerikanischen Shopping Malls stetig. Der veränderte Bedarf, neue städtebauliche Paradigmen und der hohe Konkurrenzdruck erforderten immer wieder neue Konzepte und Ideen, um Kunden zu gewinnen und zu binden. Dies führte unter anderem zu folgenden Konsequenzen: der Einzug von Shopping Malls in die Innenstädte, die Ausführung in offener Bauweise, der Ausbau von Freizeit- und Unterhaltungsmöglichkeiten oder die Integration von Wohneinheiten.
DIE ENTWICKLUNG VON SHOPPING-CENTER IN DEUTSCHLAND
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raumplanerische Vorgaben, die den Bau großer Einkaufszentren an den Stadtperipherien erschwerten und der bis dahin noch unbeliebten Innenstadtlage als Standort wurde noch keine, oder nur geringe Aufmerksamkeit geschenkt. Erst mit der politischen Wende 1989 änderte sich diese Situation schlagartig (siehe Abb.: »Anzahl der Shopping-Center in Deutschland von 1965-2012«). Laut EHI (Forschungs- und Bildungsinstitut für den Handel/ Stand 2013) stieg die Zahl der Einkaufszentren in Deutschland zwischen 1990 und 2012 von 93 auf 444 an. Ebenso erhöhte sich die Gesamtverkaufsfläche 500
Anzahl der Shopping-Center in Deutschland von 1965-2012
400
Wie auch im restlichen Europa eröffnete das erste deutsche Shopping-Center nach amerikanischem Vorbild bereits in den 1960er Jahren. Zwei erwähnenswerte Vorreiter auf diesem Gebiet waren das Main-Taunus-Zentrum in Frankfurt am Main und der Ruhrpark in Bochum, beide wurden 1964 eröffnet. In den darauffolgenden Jahren, bis Ende der 1980er, kamen nur spärlich neue ShoppingCenter hinzu (zum Beispiel das Donau-Einkaufszentrum in Regensburg von 1967). Grund dafür waren nicht zuletzt
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300 200 100 0 1965
1990
2000
2012
Eigene Darstellung, Werte von Quelle: EHI Retail Institute, Köln, 2013
Shopping –Center Geschäftsfläche
Shopping-Center nach Standortlage und Eröffnungsjahren (in %)
2.746 Nordrhein-Westfalen 1.820 Bayern 1.562 Sachsen 1.512 Berlin 1.309 Baden-Württemberg 1.156 Hessen 1.031 Brandenburg 932 Niedersachsen 878 Sachsen-Anhalt 650 Schleswig-Holstein 645 Hamburg 501 Mecklenburg-Vorpommern 473 Rheinland-Pfalz 467 Thüringen 295 Bremen 103 Saarland Eigene Darstellung, Werte von Quelle: Shoppingcenter.de/ Institut für Gewerbezentren/ Stand: Januar2011
von 2,8 Mio. m² auf ca. 14 Mio. m². Bei einer Differenzierung nach Bundesländern hält Nordrhein-Westfalen mit 110 Centern und einer Gesamtfläche von rund 2,75 Mio. m² den Spitzenplatz, gefolgt von Bayern, Sachsen und Berlin (siehe Abb.: »Shopping –Center Geschäftsfläche«). Die größten Marktanteile beanspruchen dabei: die ECE Projektmanagement GmbH, METRO Group Asset Management und mfi (management für immobilien AG). Vor allem in Ostdeutschland expandierten in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung die ex-urbanen Einkaufszentren. Allerdings handelte es sich hierbei nicht um Einkaufszentren im herkömmlichen Sinn, sondern eher um eine Ansammlung verschiedener Fachmärkte in sogenannten Fachmarktzentren. Diese Ansiedlungen an peripheren Standorten erklärten sich durch verschiedene Standortvorteile der »grünen Wiese« gegenüber der Innenstadt wie zum Beispiel: niedrigere Bau- und Erschließungskosten, Gestaltungsvorschriften, geringere Denkmalschutzanforderungen, kostengünstigere Stellplatzkapazitäten, preiswerteres Bauland und ein niedrigeres Mietpreisniveau. Bezogen auf Gesamtdeutschland konnte man Anfang der 90er Jahre jedoch völlig unterschiedliche Tendenzen in »Ost« und »West« beobachten. Während sich die Center-Entwicklung in den neuen Bundesländern in nicht-integrierten Lagen, ungehemmt
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Standort 1964 - 1990 1991 - 1995 1996 - 2000 2001 - 2005 2006 - 2007
2008
2009
Insgesamt
Innenstadt
46,6
24,5
44,8
64,2
60,0
63,8
85,8
45,6
Stadtteil
45,6
36
43,8
30,4
33,3
36,2
7,1
38,6
Stadtteil
7,8
39,5
11,4
5,4
6,70
,0
7,1
15,8
Eigene Darstellung, Daten nach Quelle: http://www.bbsr.bund.de/cln_032/nn_1051708/BBSR/ DE/Raumbeobachtung/AktuelleErgebnisse/2011/einkaufszentren/einkaufszentrum__node. html?__nnn=true
weiterentwickelte, konnte in Westdeutschland eine deutlich regressive Entwicklung im Bau von Einkaufszentren außerhalb der Stadtgrenzen verzeichnet werden. Wie später am Beispiel Leipzig beschrieben (siehe KapiteL II.II.I), lagen die Gründe für den bevorzugten Bau im Umland der ostdeutschen Städte vorrangig an der hohen Entscheidungsgewalt der Bürgermeister kleinerer Gemeinden, die aufgrund lukrativer Versprechungen von Investoren die Genehmigungen für deren Vorhaben erteilten. Zum Ende der 1990er Jahre setzte dann ein gesamtdeutscher Standorttrend hin zur integrierten Lage (Innenstadt und Stadteilzentren) von ShoppingCentern ein. Seitdem siedelten sich, nach Statistiken des EHI, ab der zweiten Hälfte der 1990er Jahre ca. 90 % der neu errichteten Shopping-Center in Innenstädten und Stadtteilzentren an. Insgesamt hat sich damit die Anzahl innerstädtischer Shopping-Center im Zeitraum von 1990 bis 2009 mehr als vervierfacht. Proportional dazu stieg die Verkaufsflächenzahl. Diese Entwicklung hält, jedoch mit abgeschwächten Neueröffnungszahlen, bis heute an. Im Gegensatz zu den 1990er Jahren (ca. 15 Neueröffnungen jährlich) wurden in den vergangenen drei Jahren insgesamt nur 16 neue ShoppingCenter eröffnet. Auch die Verkaufsflächenzahl verringerte sich von durchschnittlich ca. 30.000m² auf nunmehr 20.000m². Das liegt zum einen daran, dass sich Projektentwickler zunehmend auf Mittelstädte mit größerem Einzugsgebiet konzentrieren, da die Großstädte einen hohen Sättigungsgrad erreicht haben. Gerade in Mittelstädten sehen sie durch den Niedergang der Warenhäuser viel Potenzial für Shopping-Center, die etablierte Standorte von Hertie, Karstadt oder Kaufhof sukzessive übernehmen können. Zum anderen ist festzustellen, dass sich die Center-Betreiber und Investoren in der
letzten Zeit zunehmend der Revitalisierung von vorhandenen Centern widmen. Dieser Bedeutungsgewinn von Umbau und Erneuerung ist auch generalisierter, nicht verbriefter Richtlinien geschuldet, die nach etwa zehn Jahren eine Modernisierung empfehlen, um die Position des Objekts zu sichern und sowohl dem veränderten Kundenund Mieterbedarf, als auch den neuen ökologischen Ansprüchen entgegen zu kommen. Besonders hoch ist der Nachholbedarf in Ostdeutschland bei Centern, die Anfang bis Mitte der 90er Jahre errichtet worden sind und nicht selten konzeptionelle Mängel aufweisen. Insgesamt haben Strukturanpassungen seitens der Anbieter und ein verändertes Einkaufsverhalten der Kunden zu großen Veränderungen im Einzelhandelsangebot geführt. Die deutlichsten Auswirkungen sieht man am sinkenden Marktanteil beziehungsweise an der Verdrängung mittelständischer, charakteristischer Fachgeschäfte und dem anhaltenden Trend zur Errichtung von Shopping-Centern. Dazu kommt, dass auch Einzelhandelszentren (zum Beispiel an Flughäfen) in nicht-integrierten Lagen bereits erfolgreich ihr Angebot an Waren, Unterhaltung, Freizeitmöglichkeiten und Dienstleistungen erweitern. Dabei besteht die Gefahr, dass sowohl Einzelhandelsunternehmen, als auch innerstädtische Kauf-und Warenhäuser durch die Konzepte der großen Shopping-Center einem hohen Konkurrenzdruck ausgesetzt sind und einen erheblichen Anteil ihrer Funktionen verlieren.
Quellen 1. (vorgeschlagene Definition des International Council of Shopping Centers/ vgl. Prof. Dr. Bernd Falk [1998], »Das große Handbuch - Shopping Center«, MI-Verlag, S. 15) 2. Studie: Prof. dr. phil. habil. Dieter Hassenpflug,(1996 - 1999), »Erlebnisswelten & Erlebnisgesellschaft«, S. 83 & S. 96ff. 3. Jan Wehrheim (2007) » Entwicklung des Einzelhandels in Deutschland«, Dt. Univ.Verlag, S. 16ff. 4. Oliver Blank (2004), » Entwicklung des Einzelhandels in Deutschland « Dt. Univ. Verlag, S. 189ff 5. Prof. Dr. Bernd Falk (1998), » Das große Handbuch - Shopping Center«, MI Verlag 6. EHI: http://www.handelsdaten.de/statistik/ daten/studie/70337/umfragen/anzahl-dershopping-center-in-deutschland-zeitreihe/ (zugegriffen am 17.01.2013) 7. Homepage Prof. Dr. Bernd Falk: http://www.shopingcenters.de/de/ marktsituation/deutschland (zugegriffen am 17.01.2013)
Für die gewachsenen Innenstädte ergeben sich infolgedessen zum Teil drastische Konsequenzen in Hinsicht auf Qualität, Attraktivität und wirtschaftliche Handlungsfähigkeit, was in der Summe zum Verlust von Individualität und Identität führt. Durch eine verbesserte Integration in Bezug auf Faktoren wie Standort, Größe, Angebot und öffentlichen Raum könnte eine Schwächung der Innenstädte konterminiert werden.
»MIETFLÄCHE VON SHOPPING CENTERN 2009«
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Victor David Grünbaum *1903 - †1980, Architekt und leidenschaftlicher Theaterliebhaber, aufgewachsen in Wien, musste aufgrund seiner jüdischen Herkunft nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Österreich sein geliebtes Wien verlassen und emigrierte 1938 in die USA. Der Architekt gilt als Vater der heutigen Shopping Mall, jedoch plante und baute er diese unter einem anderen Aspekt. Sein Ziel war es, das urbane Gefühl der europäischen Stadt in die autogerechten Suburbias zu tragen. Sein Konzept „regional shopping centers“ sollte »[…] Kristallisationspunkte des kommunalen Lebens« hervorbringen. Unter diesem Gesichtspunkt baute er zunächst in Detroit vier Einkaufszentren und im Jahr 1952 bekam er den Auftrag der Familie Dayton, ein für den suburbanen Raum angepasstes Kaufhaus zu entwickeln. Sein Konzept bestand aus einer »umfassend neuen commuity«, eine Stadt ganz nach europäischem Vorbild, und sah vor, dass zehn Kilometer außerhalb der Stadt Minneapolis Wohnsiedlungen, Privathäuser, Parks, Seen, ein medizinisches Zentrum und ein einzigartiges Einkaufszentrum entstehen sollten.1 Quellen:
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1.
http://vimeo.com/44030235 (Videov zugegriffen am 05.02.2013), http://www.eurozine.com/articles/2007-05-25-baldauf-de.html
Victor Gruen
The Mall Maker (A5)
(A6) (A4) (A5)
31
II. III
die onsum
K G
esellschaft
Bedarfsweckung (A7)
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»Kaufen ist ein öffentlicher Akt und schon deshalb von großer kultureller Relevanz.«1 Ina Merkel
Wenn man sich mit dem Phänomen der Shopping Malls in unseren
Städten auseinandersetzen will, muss man sich auch mit ihrem Ursprung befassen. Denn nicht, wie so oft dargestellt, sind die Einkaufszentren unserer Zeit aus dem Nichts entstanden, wie UFO´s in der Stadt gelandet und drohen nun (erst seit kurzem) unsere Gesellschaft in reine Konsumenten zu verwandeln. Die Tradition des Konsums liegt schon Jahrhunderte zurück und war stets eine treibende Kraft für die lokale Wirtschaft, während sie gleichzeitig die Politik bestimmt hat. Mit dem Einsetzen des Fordismus wird der Konsum massentauglich und verändert, seit jeher, das Verhalten einer ganzen Gesellschaft. Im folgenden Text wollen wir einen kurzen historischen Überblick über die westlich geprägte Konsumgesellschaft darlegen, um die Entwicklung hin zur Shopping Mall oder zu den Urban Entertainment Center besser verstehen zu können. Hierzu soll in einer kurzen Einordung der Konsumtion als eine allgemeine, anthropologische und kulturgeschichtliche Kategorie, samt ihren kausalen und funktionalen Zusammenhängen und der daraus resultierenden Kritiken gegeben werden. Anschließend wird die Behauptung vom Konsum als eine gesellschaftlich prägende Kraft näher ausgeführt und schließlich die geschichtliche Entwicklung in Deutschland dargestellt.
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Konsum und Konsumgesellschaft
»Konsum« kommt vom lateinischen »consumere« und steht für »verwenden, verbrauchen, verzehren, verprassen«2 und auch in der heutigen Zeit trifft diese Beschreibung zu, vielleicht letzteres sogar mehr denn je. Das Gegenstück zum Konsum ist die Produktion, eines bedingt das andere, ohne Produktion gibt es nichts zu konsumieren und ohne den Konsum bräuchte man nicht produzieren. Die Produktion ist darüber hinaus auch noch der ausschlaggebende Faktor für den stetigen Wachstum, welcher wie eine allgegenwärtige Doktrin das gesellschaftliche Voranschreiten bestimmt. Ohne die Produktion und der anschließenden Konsumtion kann es folglich kein Wachstum geben, welches Horrorszenarien seitens der Wirtschaft und Politik auftürmen lässt. Der Konsum hat in der heutigen Zeit eine herausragende kulturelle, soziale und ökonomische Bedeutung erreicht. Der Konsument wird zur einer bedeutenden Leitfigur, denn sein Handeln ist wichtig für das ökonomische Wachstum, einerseits um Beschäftigung zu sichern und, so wird es zumindest behauptet, für individuelle und soziale Selbstentfaltung und Selbstdarstellung andererseits. Jedoch trägt der Massenkonsum auch eine dunkle Kehrseite mit sich, so steht der übermäßige Verbrauch synonym für eine rapide und starke Umweltzerstörung und -verschmutzung, sowie für einen maßlosen Verbrauch von Rohstoffen.
Auch wenn heute die Produktion und der Konsum ein enormes Ausmaß angenommen haben, so fing selbst dieses Phänomen klein an. Das Aufkommen des Konsums kann man datieren mit dem erstmals Werkzeug gebrauchenden Menschen. Mit der Hilfe von Werkzeugen stellten die Menschen Produkte her, welche sie anschließend konsumierten. Durch die stetige Spezialisierung entstand eine zunehmende Funktionstrennung zwischen Produzent und Konsument, welche sich zusätzlich auch räumlich ausprägte. Die Selbstversorgung entwickelte sich hin zu einer Marktversorgung, neue Systeme waren notwendig, so entwickelte sich beispielsweise die Geldwirtschaft und die Werbung als zentrale Elemente des Konsums, als Mittel, welche die Kommerzialisierung vorantreiben.
Kulturbedürfnisse
Bedürfnisse des Menschen sind nach vielen Konsumtheoretikern Ursprung und Ursache des Konsums. Denn Bedürfnisse können soziale, materielle und geistige sein und stehen dafür, was der Mensch für seinen Entwicklungsstand und seine Weiterentwicklung braucht. Zu Anfang der Geschichte der Menschheit waren dies Grundbedürfnisse wie Ernährung, Bekleidung oder die Fortpflanzung, welche für die reine Subsistenz notwendig sind. Grundbedürfnisse bestehen auch heute noch, jedoch haben diese ursprünglichen in unserer »Überflussgesellschaft« an Bedeutung verloren und werden heute als Kulturbedürfnisse deklariert. Es geht nicht mehr um die Ernährung oder die Bekleidung an sich, sondern um die Entfaltung einer Persönlichkeit, den Ausdruck eines Individuums oder um die Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Gruppierung. Bei den Bedürfnissen handelt es sich um ein sich ständig wandelndes gesellschaftliches, kulturelles System3; Bedürfnisse existieren, seit es den Menschen gibt und haben sich über die Zeit vermehrt, gewandelt und manche an Gewichtung gewonnen, andere dafür verloren.
Konsumkritiken
Ausgehend vom bisher Gesagten kann man an dieser Stelle konservative und marxistische Kritiken in die Diskussion einbringen. Die Vielzahl von Bedürfnissen, die neben den Grundbedürfnissen existieren, werden als ein Produkt der Dominanz der Produktion über die Konsumtion dargestellt. Im Marxismus stellt beispielsweise die Produktion die entscheidende Triebkraft für die Entwicklung in der Geschichte dar. Der Liberalismus geht wiederum
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davon aus, dass die Produktion jeglichen/jeden Markt schafft.4 Hieraus lässt sich die Interpretation ableiten, dass rechte wie auch linke Kritiker den Konsum als Endprodukt eines langen und dominanten Produktionssystems verstehen. Die Konsumenten werden manipuliert, um einen möglichst hohen Absatzmarkt für die Produkte zu schaffen. »Bedarfsdeckung werde abgelöst durch Bedarfsweckung«.5 So könnte behauptet werden, dass alles, was über die Grundbedürfnisse hinausgeht, als etwas Zusätzliches begriffen werden muss, was nur von den Konsumenten als nötig und brauchbar angesehen wird, da die »übermächtige« Produktion mit der Hilfe von Marketing, Werbung, neuartigen Verpackungen etc. diese Kaufanreize oder, um es dramatisch auszudrücken, einen »Konsumzwang« schafft. Die allumfassende Herrschaft von Industrie, Produktion und Arbeit, welche unseren Alltag dominiert und somit den gesamten Konsum und unsere Kommunikation bestimmt, wird von Jürgen Habermas in »Technik und Wissenschaft als Ideologie« (1968) beschrieben, was auf eine breite Zustimmung während den 1970er Jahren stieß. Die Relevanz dieser Behauptungen zeigt sich in der Vielzahl kritischer Literatur und dem vermehrten Auftreten von empirischen Forschungen zum Konsumverhalten. Kritiker der Konsumkritik konnten hingegen feststellen, dass die Herrschaft der Produktion, stärker als vermutet, von dem Handeln der Konsumenten abhängig ist, ja dieser zum Teil sogar bestimmenden Einfluss nehmen könne, da jedes Produkt einen gewissen Rahmen für freie Interpretation zulässt. Dadurch entstehen, gegen die Erwartungen der Produzenten, neue Nutzungsmöglichkeiten, auf die der Markt reagieren muss. Der Einfluss, über welchen der Konsument mit seinem Kaufverhalten verfügt, bedeutet letztlich, dass die konsumierende Masse kein völlig willenloses Opfer des Produktionssystemes ist. Belege für dieses Wechselverhältnis finden sich auch begründet mit dem Aufkommen von Verbraucherverbänden, Warentests und staatlichen Überwachungsprogrammen, welche als Mediatioren zwischen den zwei »Welten« verhandeln. Obwohl es diese Schutzmechanismen seitens des Staates und seitens der Zivilgesellschaft gibt, welche quasi als die Anwälte des Konsumenten vorzustellen sind, ist der einzelne Konsument jedoch nicht wirklich fähig, durch sein Verhalten das vorbestimmte Konsumverhalte des Produktionssystems zu durchbrechen.
Wirtschaftspsychologisches Konsumverhalten
Es bildeten sich also komplexe Zusammenhänge heraus, welche von
Produzenten wie auch Konsumenten entwickelt worden sind. Auf der individuellen Ebene betrachtet, haben die Güter der Produzenten jedoch hauptsächlich einen Gebrauchswert. Die Decke schützt vor der Kälte und die Dusche bedient die hygienischen Grundsätze. In einer entwickelten Konsumgesellschaft reichen solche Werte nicht mehr aus. Eine Decke wird daher nach der Farbe und dem Muster ausgewählt und die Dusche trumpft mit einer zusätzlichen Massagefunktion auf. Über den Gebrauchswert legen sich weitere zusätzliche Werte. Aus wirtschaftspsychologischer Sicht sollen Güter und Dienstleistungen als Prestige dienen, mit denen sich die unterschiedlich kaufkräftigen Konsumenten voneinander distinguieren. Prestigeobjekte werden mit einem höheren Wert belegt. Diese teureren Produkte nützen den Bessergestellten dazu, sich abzusetzen; Preissenkungen führen anschließend dazu, dass auch die weniger Kaufkräftigen sich die Güter leisten können, was im Gegenzug dazu führt, dass neue prestigeträchtige Produkte geschaffen werden müssen, um eine Distinktion zu erhalten und die Dynamik somit erneut inkrafttritt. Natürlich wurde die gestiegene Kaufkraft der überwältigenden Masse von den weniger Kaufkräftigen erkannt und so findet in einer hochentwickelten Konsumgesellschaft, im Gegensatz zu vergangenen Zeiten, keine allzu strikte Trennung der Waren nach Prestiges mehr statt. Es ist nahezu egal, welchen sozialen Status man trägt, fast jeder verfügt heutzutage zum Beispiel über ein Smartphone. Mit der Hilfe von Konsumgütern wird die eigene Persönlichkeit manifestiert, mit ihr wird eine Selbstverwirklichung und Selbstinszenierung erreicht.6
Gesellschaftsprägende Kraft des Konsums
Ab wann kann man jedoch behaupten, dass eine Gesellschaft von dem Konsum geprägt wird? Die Produktion und Konsumtion bestimmen seit jeher die menschliche Zivilisation und können somit nicht als ein Epoche abgegrenzt werden, sondern müssten eher als ein ständiger Prozess gedeutet werden. Wenn man jedoch von einer »Konsumgesellschaft« sprechen will, muss also der Konsum, für einen bestimmten Zeitraum, eine wichtige gesellschaftsprägende Kraft darstellen. Woran kann man dies jedoch festmachen? Sucht man nach Gegenbegriffen zu »Konsumgesellschaft« findet man die »Mangelgesellschaft«, »Arbeitergesellschaft« und »Industriegesellschaft«.
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Damals beim Milcheinkauf, Konsum-Kaufhalle Neustädter Markt, / Aufnahme von Borchert Christianz
Daraus lässt sich ableiten, dass die »Konsumgesellschaft« erst nach dem Beginn der »Industriegesellschaft« einsetzen kann, und zwar erst dann, als die Produktion einen so hohen Grad an produzierender Masse erreicht hatte, dass sie damit eine breite Schicht der Bevölkerung versorgen konnte. Für diese neue Menge an Produkten brauchte es eine neue Masse an Konsumenten; der Großteil war vor und auch noch während der Industrialisierung nur mit einer sehr geringen Kaufkraft ausgestattet. Dementsprechend benötigte man zusätzlich zur massentauglichen Produktion auch eine höhere Anzahl an kaufkräftigen Konsumenten, welche zudem über Zeit für den Konsum (Freizeit) verfügten. Während der Industrialisierung setzte demnach die Entwicklung hin zur Konsumgesellschaft ein; als die Industrieproduktion eine gewisse Selbstständigkeit erreicht hatte, die Arbeit nicht mehr ganz so sehr das Leben und der Mangel nicht mehr ganz so sehr den Alltag bestimmten, konnten sich die ersten Ansätze der »Konsumgesellschaft« herausbilden.
Die Konsumrevolution in Deutschland
Als im 18. Jahrhundert die Industrierevolution in Europa einsetzte, veränderte sich auch das Angebot für den Konsum. Durch die starke Verstädterung wandelte sich das Selbstversorgersystem komplett in eine Marktversorgung. Immer mehr Ladengeschäfte veränderten die Erscheinung der Stadt, Werbung und Marketing wurden geboren und konsumfördernde Maßnahmen wie Sonderangebote oder das Rückgaberecht wurden geschaffen. Zu den traditionellen Nahrungsmitteln kamen Genussmittel, wie zum Beispiel Kaffee, Tabak und Zucker in den in großer Zahl entstandenen neuen Geschäften hinzu. Auch die Vergnügungsbranche verzeichnete im 18. Jahrhundert ein starkes Wachstum, zum bereits gewandelten Straßenbild mit immer mehr Schaufenstern, die ein breites Warenangebot darboten, gesellten sich Kneipen und Tanzlokale sowie die ersten prunkvollen Passagen.7 Dieser Prozess brauchte dennoch seine Zeit, bis eine vollständige Revolutionierung des Produktionssystems sich entwickeln konnte.8 Die Veränderungen erfassten zunächst nur eine Minderheit in der Bevölkerung. Noch immer war das neue Angebot für viele außer Reichweite und eine Grundversorgung für alle noch nicht garantiert. Jedoch soll hier ein entscheidender Bruch im Konsumverhalten festgemacht werden,
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obschon der Prozess zur einer entwickelten Konsumgesellschaft natürlich nicht schlagartig stattfand, sondern Zeit benötigte, je nach Stand des Landes bis ins 20. oder 21. Jahrhundert. Den Vorreiter des Konsums stellen die Vereinigten Staaten von Amerika dar, hier wurde bereits seit den 1930er Jahren ein verstärktes konsumorientiertes Verhalten festgestellt. Für Deutschland kann man diesen Umbruch mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs datieren und erst 1960 erreichte das Konsumniveau in Deutschland den gleichen Stand wie in den Vereinigten Staaten bereits 1930. Zuvor verhinderte die ökonomische Krise in der Zwischenkriegszeit den Konsumisierungsprozess, so konnte damals nur der bürgerliche Teil der Gesellschaft das erweiterte Spektrum im Angebot wahrnehmen. Steigende Einkommen dienten dazu, die Ernährung und Wohnverhältnisse zu verbessern, oder besser gesagt, um eine Grundversorgung herzustellen. Der Konsum in der Zwischenkriegszeit konzentrierte sich auf langlebige Gegenstände und das Konsumverhalten der Vereinigten Staaten wurde eher kritisch begutachtet; besonders argwöhnisch wurde der Einheitsgeschmack betrachtet, so schrieb ein Amerika bereisender deutscher Journalist von einem »hundertprozentige[n] Herdeninstinkt von Onkel Sams sämtlichen Neffen«.9 Während des Nationalsozialismus herrschte eine große Abneigung gegen den »homo economicus« und es sollte, dem damaligen Ideal entsprechend, eine »Volksgemeinschaft« unter Mithilfe des »Heimatschutzes« entstehen. Die Produktion war nicht auf Massenkonsum ausgelegt, sondern wurde bestimmt von den Zielen Aufrüstung und Autarkie. Bis auf wenige, stark instrumentalisierte Produkte, wie den »Volksempfänger« und den »Volkswagen« erweiterte sich das Angebot in der Gesellschaft kaum. Nach der Befreiung von den Nationalsozialisten und dem Ende des zweiten Weltkrieges veränderten sich die Bedingungen in Deutschland. Die Entscheidung der Alliierten für einen Wiederaufbau in Westdeutschland ermöglichten das starke wirtschaftliche Wachstum und kurbelten die Produktion an. Durch die Währungsreform von 1948 wurde der Grundstein für das einsetzende »Wirtschaftswunder« gelegt. Der hohe Nachholbedarf in der Gesellschaft trieb eine ganze Wirtschaft an und das Einbinden der Bundesrepublik in das globale Wirtschaftssystem erweiterte die Möglichkeiten der Entwicklung. Während der 1950er und 1960er Jahren stieg das Einkommen der Familien überproportional an. Immer mehr Frauen gingen einer Erwerbstätigkeit nach und besserten damit die Haushaltskassen der Familien auf. Nun statteten sich die westdeutsche Konsumenten mit den damals beliebten Konsumgütern wie
dem Automobil, dem Kühlschrank oder dem Fernseher aus. Der Konsum stand deutlich unter amerikanischem Einfluss, die USA eröffnete West-Deutschland mit der Aufnahme in die westliche Welt nicht nur neuartige Konsummuster und Lebensarten, sondern dominierten von nun an auch den Bereich der Filmindustrie, welche Einblicke in das Leben auf der anderen Seite vom Atlantik bot. Besonders der Einfluss auf jüngere Generationen war enorm und ganze Jugendkulturen wurden geprägt. Die konsumkritischen Bewegungen der 68er Jahre zeigten diesbezüglich auch ihre Janusköpfigkeit, so wurde der Konsum zwar stark kritisiert und durch das Erscheinen des Berichts vom »Club of Rome« die Grenzen des Verbrauchs formuliert, jedoch gestaltete die kritische Bewegung eine »Pop Culture«, welche der Musikindustrie zum Aufschwung verhalf und einen neuen bedeutenden Konsummarkt hervorbrachte. Bei vielen Deutschen, vor allem bei den älteren Menschen, wog jedoch eine hohe Skepsis mit. Die beiden Weltkriege, Inflationen und Wirtschaftskrisen, aber auch Flucht und Vertreibung ließen nur langsam ein Vertrauen in das System sich aufbauen. Die Ängste vor erneuten Versorgungsengpässen, vor der möglichen Rückkehr einer hohen Arbeitslosigkeit und auch vor aktuellen politischen Konflikten des Kalten Krieges führten zu einer starken Zurückhaltung, zu Vorratskäufen und einer hohen Sparquote bei den Menschen. So betrug die Verschuldung pro Kopf nur ein Zehntel von der in den USA. Auf der Ebene der Weltpolitik wurde der Konsum von der westlichen Hemisphäre als eine Zurschaustellung der Überlegenheit des Kapitalismus gegenüber dem Kommunismus genutzt, was sich für kein anderes Land so ambivalent äußerte wie für Deutschland. Was in West-Deutschland zu einer Stabilisierung des politischen Systems beitrug, führte in der Deutschen Demokratischen Republik zu einer Schwächung, denn aufgrund der geringen wirtschaftlichen Leistung konnte kein vergleichbare Wohlstand erreicht werden, was Unmut weckte und letztendlich auch den Zusammenbruch maßgeblich beeinflusste. Althergebrachte Klassifizierungen zwischen Bürgern, Arbeitern und Bauern verloren in den ersten Jahrzehnten der jungen BRD immer mehr an Bedeutung und mit der anhaltenden Verstädterung verschwommen die Grenzen zwischen Stadt und Land. Konsum war überall und für alle Schichten möglich. Dabei muss allerdings zwischen dem Konsumniveau verschiedener Gruppen unterschieden werden, zwischen denen sich sowohl kleine aber auch noch große Diskrepanzen erkennen lassen. Diese sind jedoch nicht direkt an das Einkommen gebunden, so konsumieren manch ärmere Bevölkerungsgruppen mehr als bessergestellte. Der Konsum differenziert zunehmend die gesellschaftlichen Gruppen, besonders die Mittelschicht profiliert sich mit einer Vielzahl von konsumtiven Lebensstilen. Das rasante Wirtschaftswachstum hielt bis in die 1970er Jahre hinein an,
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das Einkommen stieg und der Konsum wurde immer gesellschaftsfähiger und schnell wurde mit dem Konsumniveau der USA gleichgezogen. Als jedoch die erste Ölkrise 1973 einsetzte und das Wirtschaftswachstum um 1,6 Prozent schrumpfte, ging auch das Einkommen der Bürger zurück und das Konsumniveau stagnierte. Dass anschließend dennoch eine erneute Konsumsteigerung stattfinden konnte, wurde durch Realpreissenkungen erreicht. Die Entwicklung der Konsumgesellschaft kam in die Krise, das stetige Wachstum als Garant für die Demokratie10 zeigte seine ersten Tücken auf. Konsum in der deutschen demokratischen Republik Die ersten Nachkriegsjahre waren in West- und Ostdeutschland von Not- und Mangelzuständen geprägt; eine »Rationengesellschaft«, bestehend aus den Überlebenden des Krieges, unzähligen Vertriebenen und zerrütteten Familien stellte sich Tag für Tag die Frage: Woher bekomme ich heute etwas zu essen? Damals standen noch grundlegende Bedürfnisse ganz oben auf der Liste der Bevölkerung: Wohnung, Nahrung, Bekleidung, Kohle zum Heizen und Strom. Eine Reihe von wirtschaftspolitischen Entscheidungen unter sowjetischer Hoheit hatte gravierende Auswirkungen auf die Konsumgüterindustrie, welche sich vor allem in der Textilindustrie, der Nahrungsmittelproduktion und dem Handwerk niederschlugen, zudem aber auch Konsequenzen für andere konsumrelevante Bereiche mit sich brachten. Die Enteignungswelle für die Herstellung der sozialistischen Eigentumsverhältnisse sowie das Festhalten am politischen Kurs der Autarkie mit dem Schwerpunkt in der Förderung der Schwerindustrie, bedeutete den Niedergang der wichtigen mittelständischen konsumgüterproduzierenden Branche.11 Die Verbesserung der Lage der Bevölkerung stand zwar 1958 beim SED Parteitag als oberstes Ziel mit »Überholen und Einholen«1 auf dem Banner, jedoch war eine Konsumpolitik nur als Reaktion auf drastische Missstände zu verstehen und ihr wurde in der realen Politik nur eine minderwertige Rolle zugestanden. Die 60er Jahre oder auch die »goldenen Jahre« der DDR (zumindest in einer romantisierten Auffassung) brachten ersten Wohlstand. Es kam zu einer Modernisierung des Handels, wie zum Beispiel die Einführung des Versandhandels zeigt. Mit Bezeichnungen wie »Bediene Dich selbst« in Geschäften, sollte ein gesteigertes Produktniveau sowie das Bild einer sozialistische Gesellschaft, in der Geld keine Rolle spielt, propagiert werden. Vormalige Luxusgüter sanken allmählich zu Konsumgütern herab und zählten in mehr und mehr Haushalten zur Grundausstattung. Dennoch zeigten sich nach wie vor ein starker Mangel an Produkten und der »Kaufkraftüberhang«
der Bürger führte zu langen Wartezeiten für gehobene Produkte wie dem Kühlschrank oder dem Auto. Immer wieder kam es zu Engpässen bei den grundlegendsten Konsumgütern, mal fehlte es an Zucker, mal an Waschpulver. Das ständige Problem, das Konsumniveau der Bevölkerung befriedigen zu können, veranlasste die Obrigkeit dazu, konsumpolitische Lösungsansätze, gegensätzlich zur sozialistischen Ideologie, einleiten zu lassen. Die Ladenkette »Delikat« oder die Modeboutique »Exquisit«, in denen exklusivere Waren zu einem stark erhöhten Preis angeboten wurden, stellten solcherlei Maßnahmen dar. Der hohe Zuspruch für diese neuen Konsumformen und auch das Aufkommen von »Ladenhütern« sprechen von einem Wandel im Konsumanspruch der Bevölkerung. Die 70er Jahre, in welchen die DDR in der UNO diplomatisch anerkannt wurde und Erich Honecker das »Wohnungsbauprogramm« einleitete, brachten einen Aufschwung und gaben der Bevölkerung Hoffnung. Der Bau von Neubausiedlungen im ganzen Land war eine Antwort auf die miserablen Zustände der Altbauwohnungen in zentraler Stadtlage. Durch hohe Mietsubventionen waren zum einen viele Wohnungen zwar statistisch gesehen belegt, aber nach dem Auszug der Kinder unterbelegt, zum anderen ergab sich durch die Verteilung der Wohnungen oftmals ein erzwungenes Zusammenleben geschiedener Eheleute oder erwachsener Kinder, die noch immer bei ihren Eltern wohnen mussten. Die Antwort darauf war das »Wohnungsbauprogramm«, welches der Phase des »Konsumsozialismus«13 den Nährboden schaffte, eine Phase, in der die Regierung dem Individualisierungsbestreben der Bürger entgegenkam. Die edlen Modegeschäfte »Exquisit« wurden flächendeckend erweitert und der Zugang zu den »Internshops«, in denen man Westwaren kaufen konnte, erlaubt. Damit ging eine Abkehr von dem sozialistischen Ideal einher;14 durch Devisennot wurde das Ziel, die schwachen Bevölkerungsgruppen zu stärken, in den Hintergrund gerückt und das Bestreben nach einer Umverteilung des Reichtums, was einen Repräsentationskonsum unnötig machen sollte, da jeder alles konsumieren könne, scheiterte. Die Konsumpolitik wurde aufgrund der widersprüchlichen Vorstellungen ökonomischer Kriterien auf grundlegende Punkte wie die Verbesserung der Versorgungslage, eine Festpreisgarantie und Bedürfnisbefriedigung begrenzt. Neuerungen wie die »Konsum-« und »HO-Läden« sollten zwar den erreichten Lebensstandard widerspiegeln, aber die Schaufenster blieben meist leer und es bildeten sich lange Schlangen vor den Geschäften. Durch die Festpreisgarantie entstand in den 80er Jahren eine extreme Preisstruktur, Milch und Brot waren so billig, dass es an Schweine verfüttert wurde, ein Kassettenradio kostete dafür das Zehnfache von dem Preis in Westdeutschland.15 Mit dem starren System der Planwirtschaft wurden immer wieder Konsumwünsche verkannt und ließen den Unmut in der Bevölkerung steigen. Der demonstrative Wohlstand in Westdeutschland weckte
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Konsum in der DDR (A8)
A(9)
Konsumbedürfnisse in der DDR, was einen Systemvergleich im Licht des Konsums geradezu provozierte, was sich als die Achillesferse für das sozialistische System erweisen sollte. Nach der Wende konnte in den neuen Bundesländern ein im Vergleich zu Restdeutschland hohe Konsumsteigerung festgestellt werden, was darauf beruht, dass das Einkommen der Ost-Bürger im Durchschnitt um 0% zunahm und ein großer Nachholbedarf hinsichtlich westlicher Konsumgüter bestand. Die 100 Mark Begrüßungsgeld setzten nahezu alle Bürger im Kauf von typischen Westprodukten wie Südfrüchte, Schokolade und Kaffee um.16 Der Aufschwung findet aber ein Ende, die Einkommen steigen seit Mitte der 90er Jahre kaum noch. Dennoch werden auch heute noch neue Konsummuster erfunden zu den »Konsumtempeln« Shopping Malls mit ihrem vielfältigen Angebot gesellen sich Urban Entertainment Centers oder Shopping Villages hinzu, die den Konsum von Unterhaltung, Kunst und Kultur für sich entdeckt haben. Nicht mehr nur der reine Einkauf von Waren bestimmt die Konsumwünsche der Bewohner, sondern der Konsument möchte unterhalten werden. Eine neue Bereitschaft für Kunst und Kultur zu bezahlen, macht sich seit den letzten Jahren verstärkt bemerkbar, die Branchen des Tourismus und der kulturellen Unterhaltung blühen in allen Städten auf. Um den Konsum am Laufen zu halten, sind immer mehr Maßnahmen notwendig, welche zum Teil sogar vom Staat getragen werden. Ein Beispiel hierfür ist die während der Finanzkrise eingeführte staatliche »Abwrackprämie«, als »Umweltprämie« maskiert, diente sie dazu, den Konsum trotz schwacher finanzieller Ausstattung der Konsumenten anzukurbeln. Auch wenn Ludwig Ehrhard noch den Konsum mit der Demokratie gleichsetzte und den Geldschein mit einem Wahlschein verglich, so hinkt dieser Vergleich heute. Eine „Konsumgesellschaft“ ist gleichzeitig auch immer eine »Wegwerfgesellschaft«, die durch Ausbeutung und Unterdrückung die Scheinwelt aufrecht erhält und somit nur einseitig Wohlstand schafft – auf der anderen Seite bleibt
Quellen 1. Merkel, Ina (2009), »Konsumpolitik in der DDR«. In: Haupt, Heinz-Gerhard und Torp, Claudius (Hrsg.), »Die Konsumgesellschaft in Deutschland 1890-1990«, Frankfurt am Main: Campus, S. 299. 2
http://www.latein-deutsch-woerterbuch.de/verb/ consumere.html (Zugriff am 23.12.2012)
3
König, Wolfgang (2008), »Die kleine Geschichte der Konsumgesellschaft«, Stuttgart: Steiner, S.276.
4
Ebd., S.135.
5
Ebd., S.17.
6
Ebd., S.17.
7
Taz, Konsumtheorie - Was ist Shopping? http:// www.taz.de/!5057/ (Zugriff am 29.12.2012)
8
Grabowski, Philip (2012), »Die Entstehung der Konsumgesellschaft«, Hamburg: Diplomica Verlag GmbH, S.13.
9
König, Wolfgang (2008), a.a.O., S.23.
10
Ebd., S. 37
11 Hierzu soll erwähnt werden, dass vor allem in den USA mit dem »New Deal« das Bild des Konsumenten als Vorkämpfer für eine soziale Demokratie generiert wurde und auch von Ludwig Erhard die freie Konsumwahl als eines der "wesentlichen demokratischen Grundrechte" bezeichnet wurde.
12 Merkel, Ina (2009), a.a.O., S. 290f. 13 Ebd., S. 291. 14 Ebd. S. 294. 15 »Reichtum [...] ist nicht eine Ansammlung von Gegenständen, sondern von sozialen Beziehungen. Bedürfnisse richten sich nicht mehr auf das konsumtive Haben, sondern auf das produktive Sein. Arbeit, vorgestellt als kreative Tätigkeit und freies Denken, und nicht Konsum wird zum Lebensbedürfnis.« Zitat aus Merkel, Ina (2009), a.a.O., S. 296. 16 Ebd., S. 299.
39
II. III
die baugeschitliche
Edesntwicklung Einzelhandels
L
in eipzig
Bau einer Leipziger Messehalle 1924
40
A(10)
Die Stadt Leipzig wurde durch den Markgraf Otto von Meißen gegründet und erhielt ca. 1165 das Stadtrecht. Dieses Privileg und die besondere geographische Lage an der Kreuzung zweier alter römischer Handelsstraßen (»via regia« und »via imperii«) führten im 15. Jahrhundert zu einem deutlichen Wachstum der Stadt, sowie zur Monopolstellung der Leipziger Messe. Mit ungefähr 45ha besitzt Leipzig, im Gegensatz zu anderen deutschen Großstädten, ein relativ kleines Innenstadtgebiet. Trotz dieses beschränkten Flächenangebotes gelang es der Stadt, die Funktion als Messe- und Handelszentrum am Standort zu etablieren. Bis ins 19. Jahrhundert verfügte Leipzig größtenteils über Straßen, die im Durchschnitt eine Breite von nicht mehr als zwölf Metern aufwiesen und die einzige Freifläche stellte der Marktplatz dar, auf dem der Großteil des städtischen Lebens und Handels stattfand. Im 17. Jahrhundert wurde die Stadt dem rasant zunehmenden Warenverkehr und den gesteigerten Logistikbedürfnissen durch das Zusammenlegen von mehreren aneinander angrenzenden Grundstücken und der Vereinigung mehrerer nebeneinander liegender Häuser gerecht. Mit den dadurch entstandenen »Durchhöfen« trat die Stadt dem geringen Platzangebot auf den zu engen Straßen entgegen. Von nun an hatten die beliefernden Fuhrwerke, vor allem während der Messen, die Möglichkeit ihre Waren schnell verladen zu können. Damit einhergehend wurde, entgegen dem bis dahin bestehenden Römischen Recht welches das Betreten der Höfe als Hausfriedensbruch ansah, ein öffentliches Durchgangsrecht eingeführt. Ein weiterer Vorteil war, dass die Wege
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»Barthels Hof« / Leipzig (eigene Aufnahme 2012)
zwischen zwei Gebäudereihen verkürzt wurden und sich somit ein erweitertes Wegenetz durch die Innenstadt ausbildete. Im 18. Jahrhundert entstanden die sogenannten Durchhäuser. Diese barocken Gebäude präsentierten sich, im Gegensatz zu ihren Vorgängern, in einem einheitlichen Stil und einer geschlossenen Gestaltung. Die wirtschaftlichen und logistischen Vorteile der Durchhöfe blieben jedoch erhalten. Im Erdgeschoss befanden sich meist Geschäfte und Gastronomie, die erste Etage war für Wohnraum vorgesehen und die darüber liegenden als Warenlager. Das einzige noch erhaltene Relikt dieser Zeit stellt der zwischen Markt, Hainstraße und kleiner Fleischergasse gelegene »Barthels Hof« dar. Anfang bis Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich in Frankreich die Idee und Umsetzung des Passagenbaues. Diese Gebäude boten, wie auch schon die Durchhäuser, den Besuchern und Passanten die Möglichkeit der verkürzten Wege und zeichneten sich zusätzlich durch ihre witterungsunabhängige Gestaltung aus.
»Die Steckner-Passage« (A11)
Drei grundlegende Elemente machten diesen Gebäudetyp aus: »[...] das Glasdach, die symmetrisch ins Gebäude hineingezogenen Straßenfassaden und die zwei oder mehr Straßen verbindende Fußgängerzone, die beiderseits mit Läden besetzt ist« .1 In Leipzig kam diese neue Bauform nur recht zögerlich zur Anwendung. Die vorhandenen Durchhöfe boten noch bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bessere logistische Möglichkeiten für die Funktion der Warenmesse. Erst 1872, mit dem Beginn der Mustermesse, wurde auch in Leipzig sukzessive mit dem Bau der ersten typischen Passagen begonnen (Theater Passage). Ihr folgten weitere Vertreter wie die Steckner Passage, die Plauensche Passage und die Mädler Passage, die später auch als Messehaus umgebaut und genutzt wurde. Um der progressiven industriellen Produktion und der Funktion als Messestadt weiterhin gerecht zu bleiben, wurde zum Ende des 19. Jahrhunderts das Prinzip der Mustermesse in Leipzig entwickelt. Die Händler stellten nun nicht mehr ihr gesamtes Sortiment aus, sondern zeigten nur noch Angebotsmuster und schlossen Lieferverträge mit zukünftigen Kunden. Diese Neuentwicklung bescherte der Messestadt einen massiven Ausstellerzulauf und der damit verbundene gesteigerte Raumbedarf wurde mit dem Bau
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von »Messepalästen« und »Messehäusern« abgedeckt. Diese Gebäude erschlossen Grundstücke und Räume, die ursprünglich nichts miteinander zu tun hatten. Meist wurden sie über den Fundamenten mehrerer älterer Gebäude errichtet oder umschlossen sogar ganze Straßenblöcke, wie zum Beispiel das »Städtische Kaufhaus« zeigt. Das Besondere an diesen Gebäuden war, dass sie durch integrierte Ladengeschäfte und Gastronomiebetriebe im Erdgeschoß auch außerhalb der Messezeiten genutzt werden konnten. Andere prominente Beispiele für diese Messehäuser waren der »Specks Hof«, die »Mädler Passage« oder der »Steibshof«, die heute als Einkaufspassagen fungieren. Diese Entwicklung hielt bis zum Beginn des 2. Weltkrieges an, »[...] bis 1938 sind nach diesem Muster 55 Messepaläste und Messehäuser gebaut worden, davon 30 in der Innenstadt«.2 Insgesamt stand in diesen Gebäuden eine Ausstellungsfläche von ca. 200.00m² zur Verfügung. Hinzu kamen ca. 100.000m² Verkaufsfläche des Einzelhandels und der Warenhäuser in der Leipziger Innenstadt. Noch vor Beginn des Krieges erlebte die Stadt Leipzig quasi einen Umbruch dieser bestehenden Situation. Während des dritten Reiches wurde kein besonderes Augenmerk auf Leipzig gelegt. Die Stadt gehörte nicht zu den vorgesehenen Projekten des Stadtumbaus. Dennoch wollten einige lokale Regierende die Stadt in ihrer Rolle als Messestadt weiter vorantreiben. So kam es bereits 1940 zu einem Antrag des Gauleiters, Leipzig weiter auszubauen. Der Schwerpunkt dieses Antrages lag auf dem Ausbau der technischen Messe und der dazugehörigen Infrastruktur (Hauptbahnhof, Verbindung zur Innenstadt und Messehotels). Der Antrag wurde allerdings, aus Gründen der nicht realisierbaren Materialbeschaffung, abgelehnt.3 Insgesamt unterlag Leipzig also keinen gravierenden städtebaulichen Veränderungen. Ganz anders dagegen entwickelte sich der Handel. So wie in allen deutschen Großstädten zu dieser Zeit, expandierte auch in Leipzig der Einzelhandel und forderte größere Verkaufsflächen. Infolgedessen entstanden riesige Kauf- beziehungsweise Warenhäuser mit großflächigen Glasfassaden. Andere verbargen sich in ganz neuen Gebäudeformen, die zwar äußerlich an die historischen Gebäude erinnerten, aber im Inneren in moderner Stahlbetonbauweise konstruiert waren, so zum Beispiel das ehemalige »Kaufhaus Horten«, das heute Teil der »Höfe am Brühl« ist. Von den alleiierten Luftangriffen zum Ende des Jahres 1945 war vor allem die Leipziger Innenstadt betroffen. Obwohl die Stadt, im Gegensatz zu Dresden oder Berlin, einer völligen Zerstörung entging, wurden
»Specks Hof« / Leipzig (eigene Aufnahmen 2012)
»Steibs Hof «/ Leipzig (eigene Aufnahmen 2012)
doch 27 der charakteristischen Durchhöfe und Passagen eliminiert. Unter diesen Verlusten fanden sich auch architekturgeschichtlich unersetzliche, barocke Gebäude wie beispielsweise der »Äckerleins Hof« oder der »Kochs Hof«. Auch viele Warenhäuser und Messepaläste wurden durch die zerstörerischen Angriffe beschädigt und somit 75% der Ausstellungsflächen vernichtet. Insgesamt aber blieb die Leipziger Innenstadt in ihren grundlegenden Strukturen erhalten und der Wiederaufbau konnte, was das System an Durchhöfen und Passagen betraf, auf einen verbliebenen Bestand von ca. 40% rekurrieren. Besondere Achtung wurde auch der Verbreiterung von Straßen geschenkt, um dem erwarteten Messeverkehr gerecht zu werden. Aus Platzmangel realisierte man diese verkehrstechnische Verbesserung durch das Umverlegen von Fußwegen in das Innere von Gebäuden. Die so geschaffenen Arkaden ermöglichten die Straßenverbreiterung ohne in die grundlegende Struktur der Innenstadt eingreifen zu müssen. Diese und andere städtebauliche Maßnahmen, wie der rasche Wiederaufbau der Messepaläste und Kaufhäuser (zum Teil nur provisorisch), ermöglichten bereits im Mai 1946 die Eröffnung der 1. Nachkriegsmesse und positionierten damit die Stadt Leipzig erneut als bedeutende Handelsstadt. In den Folgejahren entstand lediglich eine neue Passage im Zuge des Wiederaufbaues nach dem 2. Weltkrieg. Hierbei handelte es sich um die 1949/50 errichtete Passage im »Messehof«.
»Mädler Passage« / Leipzig (eigene Aufnahmen 2012)
Schadensplan der Leipziger Innenstadt von 1950
Schwarz. Grau. Hellgrau.
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leicht/nichtzerstörte Gebäude stark zerstörte Gebäude Totalverluste
(Quelle: Birk Engmann/„Bauen für die Ewigkeit“/ S.87)
»Messehof«
»Messehof« (Quelle: eigene Aufnahme 2012)
Unter der Herrschaft der ehemaligen Sowjetunion und später unter der Regierung der DDR litt die Leipziger Innenstadt und die darin befindliche historische Bausubstanz der Passagen, Durchhöfe und Messehäuser erneut. Die Enteignung und Verstaatlichung von Geschäften und Unternehmen war die erste Amtshandlung der Besatzer nach dem Ende des Krieges, wobei einzelne Unternehmen in Kombinaten zusammengefasst wurden. Vor allem die Messe nahm eine wichtige, wirtschaftliche Funktion in der Beziehung zwischen Ost- und West ein und bescherte der Stadt Leipzig besondere Förderungen, auch im Bereich des Einzelhandels. Als Aushängeschild gegenüber westlichen Besuchern wurde Leipzig, gemäß der Wirtschaftspolitik der DDR, mit zahlreichen Einkaufsmöglichkeiten ausgestattet. Vorrangig waren das Betriebe der HO (Handelsorganisation) und der Konsumorganisation. In der Leipziger Innenstadt entstanden auf diese Art und Weise, bis zum Jahr 1989, ca. 40.000m² Verkaufsflächen, darunter in den vier großen Warenhäusern (zum Beispiel »Konsument« und »Centrum«) ca. 21.00m². Die Innenstadt aber verfiel zunehmend, da im Bereich der Infrastruktur und der gründerzeitlichen Bausubstanz, darunter auch die historischen Passagen, Durchhöfe und Messehäuser, kaum noch Investitionen getätigt worden sind. Man entschied sich im Sinne des sozialistischen Leitbilds vielmehr dafür, Großwohngebiete in Plattenbauweise in den Vorortbereichen zu errichten. Aber auch in der Innenstadt wurden Wohnungsbauensembles im Stil der Stalinzeit errichtet, am westlichen Brühl entstanden drei zehngeschossige Wohnhochhäuser und in fußläufiger Entfernung das mit 11.500m² Verkaufsfläche größte Warenhaus der DDR, die so genannte »Blechbüchse«. Mit der Öffnung der innerdeutschen Grenzen im November 1989 stand
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vor allem der Osten Deutschlands vor einem völligen Wandel seines Wirtschaftssystems. Mit der Grenzöffnung strömten die DDR-Bürger nach Westdeutschland, um ihren »Konsumhunger« zu stillen und all die Waren zu kaufen, die in der ehemaligen DDR nicht verfügbar waren. Noch vor der Währungsunion 1990 versuchten aus diesem Grund westdeutsche Unternehmer, Spekulanten und Investoren in der DDR Geschäfte zu eröffnen und Shopping-Center zu errichten. In der Randlage von Leipzig gestalteten sich diese Vorhaben recht undurchsichtig und kompliziert, zum einen aufgrund fehlender staatlicher Planungs- und Genehmigungsverfahren sowie unangepasster Verwaltungs- und Rechtsstrukturen und zum anderen wegen der Übertragung der Planungshoheit auf die Gemeinden. So konnten die Bürgermeister der umliegenden Gemeinden, manipuliert durch verfälschte InvestorenProphezeiungen, sehr schnelle und unbürokratische Entscheidungen zu Gunsten dieser Investoren fällen. In der Folge entstanden bis 1994 in der Peripherie von Leipzig (auf der »grünen Wiese«) zahlreiche große Einkaufszentren, Fachmärkte und andere großflächige Einzelhandelsbetriebe mit einer Gesamtverkaufsfläche von ca. 460.000m². Als prominenteste Beispiele die im Zuge des sogenannten »Wiedervereinigungseffekts«4,5 entstanden sind, seien an dieser Stelle das »Paunsdorf Center« (1994) und der »Saale Park« (heute »Nova Eventis«) in Günthersdorf genannt. In der Innenstadt allerdings scheiterten viele dieser Vorhaben an der Einspruchspraxis und einem schnell gebildetem Regierungspräsidium der Stadt Leipzig, welches Anträge dieser Art ablehnte. Die rechtlichen Voraussetzungen für Bauvorhaben in den neuen Bundesländern wurden dann im Juli 1990 mit der Einführung des BauGB, gekoppelt mit dem neuen Instrument des »Vorhabens- und Erschließungsplans« nach §55 BauZVO, sowie dem Raumordnungsgesetz der BRD geschaffen. Da aber die Leipziger Stadtbevölkerung nicht auf die Einkaufsmöglichkeiten im Umland angewiesen sein sollte und sich in der Zwischenzeit viele Einzelhandelsprovisorien auf leeren Grundstücken und Straßenecken etabliert hatten, beschloss die Stadt Leipzig ab 1991 zunächst die Genehmigung von provisorischen Selbstbedienungswarenhäusern in Zelten in der Nähe der Bevölkerung. Diese Genehmigungen waren aber meist befristet und galten für Grundstücke der Stadt Leipzig, sodass hier stets Einfluss, bezüglich Dauer, Art und Gestaltung der Provisorien, über das Miet- und Baurecht genommen werden konnte. Zudem setzte sich die Stadtregierung die
»Die Blechbüchse A(12)«
45
Aufgabe, in den folgenden Jahren ausreichende und attraktive Einkaufsgelegenheiten in der Innenstadt zur Verfügung zu stellen. Auf diesen Grundlagen entstanden bis in die Gegenwart zahlreiche, bemerkenswerte Passagen und Höfe: die Promenaden Hauptbahnhof (1995-1997), die Strohsack-Passage (1997), die Brühl-Arkaden (1998), der Petersbogen (1999-2001), die Marktgalerie (2001-2005), die Höfe am Brühl (2012) oder auch das außerhalb des Zentrums gelegene Allee-Center 1
2
4
5
1
»Promenaden am Bahnhof«
2
»Strohsack-Passage«
3
»Brühl Arkaden«
4
»Petersbogen«
5
»Marktgalerie«
6
»Höfe am Brühl«
7
»Allee-Center«
3
6
7 Quellen
Alle Fotos: eigene Aufnahme
46
(1995-1996) im Neubaugebiet Leipzig-Grünau. Das charakteristische Innenstadtsystem Leipzigs evolutionierte sich also ursprünglich aus dem System der Durchhöfe und Durchhäuser, die sich später zu Einkaufspassagen wandelten, welche stetig weiterentwickelt und schließlich durch den Bau von Messehäusern ergänzt worden sind. Nach der deutschen Wiedervereinigung 1990 nutzten vor allem viele Immobilienunternehmen und Investoren die Chance, die historischen Passagen, Durchhöfe und Messehäuser zu sanieren. Dabei legte die Stadt Leipzig besonderen Wert darauf, dass die zu DDR-Zeiten teilweise völlig verfallenen Bauten (zum Beispiel der »Webers Hof«) eine dem Denkmalschutz entsprechende Sanierung erhielten. So kann man noch heute in der Leipziger Innenstadt dieses einzigartige, geschlossene System an Passagen, Durchhöfen und Messehäusern finden. Vor allem im Bereich zwischen der Nikolai-Straße und der Großen Fleischergasse beziehungsweise der Universitätsstraße und Burgstraße bestehen noch zahlreiche dieser Zeitzeugen. Mit der Entwicklung eines neuen Messekonzeptes und der Verlegung der Leipziger Messe 1996 auf das neu erbaute Messegelände verloren die innerstädtischen Messehäuser ihre eigentliche Funktion. In die ehemaligen Ausstellungsräume zogen Museen, Galerien, Gastronomie, Geschäfte und Büros ein. Diese markante Stadtstruktur Leipzigs erstreckt sich über die gesamte Innenstadt und stellt neben der Funktionserweiterung der Innenhöfe auch ein zusätzliches Wegenetz dar.5 Gleichzeitig nahm, ohne deren Verlauf zu ändern, der Straßenmaßstab zu und der Markt behielt weiterhin die Rolle als »zentraler Platz«. All das sind Umstände, die der Stadt Leipzig verhalfen, sich aus ihren ursprünglichen Maßstäben zu lösen und eine großstädtische Struktur anzunehmen, ohne den typischen Charakter der Innenstadt zu verlieren.
1. Wolfgang Hocquél (2011), » Die Leipziger Passagen und Höfe «, Sax Verlag, S. 10
4. Oliver Blank (2004), » Entwicklung des Einzelhandels in Deutschland «, Deutscher Universitätsverlag, S.191
2. Niels Gormsen (1996), » Leipzig - Stadt, Handel, Messe: die städtebauliche Entwicklung der Stadt Leipzig als Handels- und Messestadt « Institut, S. 11
5.
3. Birk Engmann (2006), » Bauen für die Ewigkeit «, Sax Verlag, S. 83; (Zitat aus einem Schreiben an den Reichstadthalter Mutschmann vom 21.09.1940)
6. www.leipzig-service.de/leipziginfo/ geschichte.htm (zugegriffen am (13.01.2013)
Wolfgang Hocquél (1999), » Die Leipziger Passagen und Höfe «, Sax Verlag, S.13
EE die
C
19 Milliarden Euro Einzelhandelsumsatz
Insgesamt
Projekt management und
Co. KG
Die ECE (Einkaufs-Center Entwicklungsgesellschaft) ist eine Tochtergesellschaft der weltweit agierenden »OTTO-GROUP« und wurde 1965 von VersandhausUnternehmer Werner Otto gegründet. Seit 2000 wird das Unternehmen von seinem Sohn Alexander Otto geführt. Laut des Firmenprofils sieht sich die ECE als europäischer Marktführer im Bereich ShoppingCenter. Die statistische Selbstauskunft in diesem Sektor unterstreicht diese Aussage:
185 Shopping-Center im Management 14 in Bau und Planung 15 in Erweiterung/Großumbau
17.500 Mietpartner
6.000.000 m² Verkaufsfläche 47
4 Mio. Besucher / Tag
der ECE. Da die Mietflächen bei Weitem günstiger und größer angeboten werden können als in den bestehenden Fußgängerzonen einer Stadt, konzentrieren sich große Einzelhandelsketten auf die neuen Standorte. Infolge können die Ladenflächen in den Fußgängerzonen nicht mehr vermietet werden.
Zudem engagiert sich die ECE in verschiedenen Zusätzlich betreibt bzw. investiert die ECE in Sektoren Stiftungen. Neben Förderbereichen wie Sport wie: und Medizin, befindet sich darunter die Stiftung »lebendige Stadt« (2000 von Alexander Otto Bürobauten: 670.000m² Büroflächen gegründet). Offiziell stellt sich die Stiftung als Verkehrsimmobilien: Bahnhöfe in Deutschland und »[...] Gemeinschaftsprojekt von Kommunen und Österreich, Flughafenkonzepte, Wirtschaft, in dem sich führende Persönlichkeiten Vertriebskonzepte für die aus Politik, Verwaltung, Kultur, Wirtschaft und Automobilindustrie, Betrieb von Forschung für die nachhaltige Förderung der 60 Parkhäusern europäischen Städte einsetzen« dar. Mit der (400 Mio. Euro Stiftung soll über neue Möglichkeiten zur Stärkung Investitionsvolumen) von Innenstädten diskutiert und mitgewirkt Industriebauten: Logistikzentren (420.000m²), werden. Vorsitzender der Stiftung ist Alexander Messekomplexe, TV-Studios Otto. Mit Spendeneinnahmen von 1.329.000,00 € (800 Mio. Euro (wie Stiftungsbericht aus dem Jahr 2011 zeigt) und Investitionsvolumen) zahlreichen einflussreichen Kontakten, verfügt die Stiftung über ein beachtliches »Kapital«. Bei Schlagzeilen wie: Kritik Die Selbstdarstellung der ECE, als »Experte zum »Stadtkern aufpolieren: ECE fordert Bettelverbot« Beheben von Schwächen in der Stadt«, zeigt sich oder »[…] ECE-Bereichsleiter Axel Diewald zunächst recht positiv »[…] bringt neue wirtschaftliche präsentierte umfangreichen Forderungskatalog. Dynamik in die Stadt, […] Kaufkraft bleibt in der Obenan auf dem Wunschzettel stehen eine Stadt, […] Signalwirkung für die Stadtentwicklung, einheitliche Beleuchtung und Stadtmöblierung und […] Center tragen zur Stadterneuerung bei, […] strengere Spielregeln für Händler, Gastronomie 1.000 zusätzliche Arbeitsplätze pro Center« und und Lieferanten« (vgl.: Ruhr Nachrichten.de am 07.02.2013) spricht damit Entscheidungsträger strategisch stellt sich die Frage in wie weit die ECE, mit Einsatz an. Allerdings sieht die Realität zum Teil ganz dieser Kontakte und finanzieller Mittel, über anders aus. Beispiele wie die Städte Hamm und Möglichkeiten verfügt auch Rahmenbedingungen Oberhausen zeigen, dass durch die Errichtung von beeinflussen zu können. Shopping-Centern, in diesen Dimensionen, ganze Fußgängerzonen »aussterben«. Zurückzuführen ist Quelle: http://www.ece.de/de/geschaeftsfelder/projektuebersicht/ eine solche Entwicklung bereits in die Planungsphase abgerufen am 07.02.2012
Promenaden am Bahnhof, Leipzig, Innenstadt
Erföffnung: 1997 Betreiber: ECE Projektmanagement G.m.b.H. & Co. KG Verkaufsfläche: 30.000m² auf 3 Ebenen Parken: 1.300 Parkplätze in Parkhäusern 156 Fahrradstellplätze Branchen- und Mietermix: 140 Fachgeschäfte Schwerpunkt im Textilbereich spezialisierte Lebensmittel-Fachhändler Dienstleistungs-und Gastronomiebetriebe Magnetbetrieb: Fachmarkt für Unterhaltungselektronik
48
Einzugsgebiet
905.000 Einwohner Frequenz 86.00 Besucher/Tag
Höfe am Brühl, Leipzig,
2012 mfi management für Immobilien AG 44.000m2 auf drei Ebenen 31 Wohneinheiten 820 Parkplätze im eigenen Parkhaus 180 Fachgeschäfte Textilbereich Lebensmittelhändler Dienstleistungs- und Gastronomiebetriebe Fachmarkt für Unterhaltungselektronik
Allee- Center, Leipzig, Grünau
Einzugsgebiet
503.000 Einwohner Frequenz 60.000 Besucher/Tag
49
1996 ECE Projektmanagement G.m.b.H. & Co. KG 24.000m2 auf zwei Ebenen 1.400m2 funktionale Bürofläche 1.000 Parkplätze auf dem Dach & Tiefgarage 118 Fahrradstellplätze am Center 115 Fachgeschäfte ein Warenhaus, zwei Textilhäuser Erlebniskino mit 8 Sälen Dienstleistungs- und Gastronomiebetrieb Fachmarkt für Unterhaltungselektronik
Einzugsgebiet
488.000 Einwohner Frequenz 30.00 Besucher/Tag
II. VI
K S
ontrolle und
teuerug
in Shopping Malls (Teil 1)
Ordnungen, Normen und Gesetze spielen in unserer gesellschaftlichen Entwicklung eine enorme Rolle. Es gibt sie in sämtlichen Ausführungen und für unterschiedlichste Bereiche. Sie variieren in ihrer Form und in ihren Urhebern. So zählen die Grundrechte im Grundgesetzbuch der BRD genauso zur Basis eines Ordnungsapparats, wie die vorgelebten Werte im Kindesalter durch Familie und das soziale Umfeld, welche adaptiert und als eigenes Gerüst für Normen und Werte genutzt werden können. Durch diese multiperspektivische Maschine an Regelungen wissen wir, wie wir uns zu verhalten haben. Deviantes
50
Verhalten wird durch die Abweichung von den vorhandenen Regelung bestimmt und dementsprechend gewertet und gegebenenfalls muss derjenige, der nicht nach dem vorliegendem Ordnungsschema handelt, mit Konsequenzen rechnen. Diese Tatsache generiert bei den meisten Menschen ein Gefühl von Sicherheit. Doch wer hat eigentlich das Recht, darüber zu urteilen, was richtig ist und was falsch? Was passiert, wenn uns ein Regelungsapparat so beeinflusst, dass wir willkürliche Ordnungen als Selbstverständlichkeit annehmen und diese auf unser Umfeld anwenden? Anhand des Beispiels der Kontrolle in Shopping Malls und der daraus resultierenden Steuerung der Menschen in ihr näheren wir uns dieser Problematik.
1. Konstruktion, Organisation und Kontrolle Shopping Malls sind präzise strukturierte, organisierte und kontrollierte Räume. Das ist nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, dass sie die Ausführungen wirtschaftlich orientierter Unternehmen sind. Dennoch stellt sich die Frage, wie stark ein öffentlicher Raum, denn die Shopping Mall präsentiert sich als öffentlicher Raum, gesteuert werden kann, bzw. darf. Frank Helten stellt fest, dass es nahe liegt, dass das Modell der Shopping Mall als totale Institution gesehen werden kann.1 Diese strebt, nach Goffman (1972), eine umfassende soziale Kontrolle von Individuen und eine Regulierung ihres Verhaltens an.2 Es steht zumindest fest, dass Menschen in Malls mehr machen als nur zu konsumieren. Diese Einrichtungen haben sich zu vielfältig genutzten kulturellen Räumen entwickelt. Selbst die Tatsache, dass »shoppen« weit aus mehr ist als der schlichte Konsum3, unterstreicht, dass Menschen selbst und nicht nur ihr Konsumverhalten durch einen subjektiven Kontrollapparat gesteuert werden.
1.1. Arten der Kontrolle Man kann nach Karen Sievers deutlich unterscheiden zwischen Exklusionsmaßnahmen und subtileren Arten der Kontrolle.4 Exklusionsmaßnahmen bilden Regelungen, welche durch die privatrechtliche Stellung des Ortes ermöglicht werden.5 Dazu zählen Hausordnungen, Hausverweise und -verbote und Zugangsbeschränkungen für bestimmte Gruppen von Menschen. Diese kann man wiederum nach latenter und manifester Art unterscheiden. Die latente Art von Zugangsbeschränkungen bezeichnet die Beschränkung durch zum Beispiel eine (angebliche) Vorbestimmtheit einer Nutzergruppe, bzw. einer sozialen Schicht. Die manifeste Art ist die direkt exkludierende Beschränkung, welche sich in Verboten der Nutzung für bestimmte Gruppen äußert.6 Viel bedeutender für den Steuerungsapparat in Shopping Malls sind hingegen die subtileren Arten der Kontrolle. Sievers weist dabei auf die Präsenz der Konsumenten- und Verhaltensforschung hin, welche dazu dient, Konsumenten nach Lebensstilgruppen zu klassifizieren und die entsprechenden Malls auf die einzelnen Bedürfnisse anzupassen.7 Nichts in der Mall wird dem Zufall überlassen. Die Musik, das Licht, der Übergang vom tristen Parkplatz zur erlösenden Eingangsoase, die Bepflanzung, die Sitzgelegenheiten, der Fußboden – alles ist auf ein bestimmtes Klientel zugeschnitten.8 Das Ambiente und die Atmosphäre beeinflussen maßgeblich sowohl die allgemeine Stimmung des Konsumenten, als auch sein Verhalten.9 Demnach handeln Menschen in einer Mall nur selten bewusst nach den Regeln der Hausordnung. Vielmehr handeln sie nach den Regeln, die durch ihr Umfeld und durch das Kollektiv der Shopping MallNutzer suggeriert werden. Aldo Legnaro und Almut Birenheide verweisen auf die Parallelen zur Auratisierung der katholischen Kirche und bezeichnen diese als »weiche« Kontrolle.10 Diese zielt auf eine völlige Überwältigung des Individuums, unter anderem mittels nicht erfassbarer räumlicher Proportionen und ausladender architektonischer Gesten, durch dekorative Details und Kostbarkeit der Materialien und durch sakralisierte Gegenstände.11 Auch verschiedene Sicherheitsmaßnahmen und Überwachungsmechanismen in Shopping Malls dienen der Steuerung.12 Sie vermitteln die permanente Kontrolle der
51
Einhaltung des vorliegenden Regelapparats, was allerdings, allein aufgrund der Anzahl der Nutzer, unmöglich ist. Des weiteren dient die Überwachung der reibungslosen Regelung der Betriebsvorgänge in der Mall, denn von den technischen und logistischen Abläufen im Hintergrund soll der Mallbesucher nichts bemerken. Es soll der Anschein eines ruhigen, selbstständig laufenden Ortes vermittelt werden.
1.2. Ziele der Kontrolle Im Grunde sind die Betreiber der Malls bemüht, eine permanente Ordnung aufrecht zu erhalten. Es geht ihnen darum, ein möglichst großes und kaufkräftiges Publikum zu erreichen.13 Obwohl das oft die Folge ist, kann es in erster Linie kein Ziel der Unternehmen sein, bestimmte Personengruppen auszuschließen. Es sollen lange Aufenthaltszeiten, Spontaneinkäufe und hohe Geldausgaben generiert werden. Ziel der Betreiber ist es, einen Ausgleich zwischen Euphorie und Gelassenheit beim Mallbesucher zu schaffen. Ihn gilt es aktiv in die Geschehnisse der Mall einzubinden und ihm gleichzeitig das Gefühl von Ruhe und Geborgenheit zu vermitteln. Zusätzlich werden Disziplinarmaßnahmen geschaffen, die eindeutige Grenzen setzen.
2. Gefahr durch Kontrolle 2.1. Ausgerichtet und orientiert an Masse Das Zielpublikum von Shopping Malls ist die große Masse, natürlich mit besonderem Augenmerk auf die kaufkräftigste Konsumentengruppe. Was diese Mehrheit als wünschenswert empfindet, gilt als Norm.14 Aus dieser Organisationsstruktur folgen einige Probleme, wenn man bedenkt, wie variabel die Gruppe der Masse ist und wer von ihr ausgeschlossen bleibt.
2.2. Ausschluss von bestimmten Gruppen Als Konsequenz der Orientierung an der Masse bleibt es nicht aus, dass Gruppen von Menschen aus Shopping Malls ausgegrenzt werden. Die Betreiber unterscheiden die Konsumenten nach
Lebensstilen und sozialen Schichten.15 Die Gefahr besteht darin, dass der Ausschluss von Minderheiten als eine Art Normalität im urbanen Raum angesehen werden kann.
2.3. Transparenz der Kunden und Ihrem Konsumverhalten Die Anpassung an ein bestimmtes Publikum entwickelt sich in eine problematisch Richtung. Der Konsum wird zu einer statischen und präzise kalkulierten Transaktion16, die immer mehr auf das Individuum ausgerichtet wird. Somit führt die Anpassung an einen bestimmten Lebensstil zu einer Bestimmung des Konsumverhaltens und der Konsumgüter dieses bestimmten Lebensstils. Eine totale Durchleuchtung der Kunden und deren Wünsche hat eine enorme Steuerung der Menschen zur Folge.
3. Zusammenfassung Frank Helten kommt zu dem Urteil, dass Shopping Malls zwar auf den ersten Blick als totale Institutionen gesehen werden können, wenn man sie allerdings unter dem Gesichtspunkt betrachtet, dass sie hochmoderner Katalysator der Warenverteilung sind, die durch störungsfreie Abläufe und angepasste Lösungen erst funktionieren17, unterliegen deren Nutzer nicht mehr Kontrolle als in anderen, ähnlichen Einrichtungen. Diese Kontrolle wirkt sich nicht nur auf das Innere der Mall aus, sondern auch auf den Raum außerhalb der Mall. Die Kontrolle der Mall bewirkt, dass die Konsumenten von der urbanen Realität abgeschreckt werden. Das »draußen« erscheint als unübersichtlich und verwirrend, gegenüber der klimatisierten, bereinigten Sicherheitszone »drinnen«.18 Die Mall imitiert städtische Strukturprinzipien, ist aber gleichzeitig einer unwirklichen und künstlichen Monotonie verfallen.19
Mall unterscheiden. Sie vergessen allerdings, dass die ihrer Ansicht nach »richtige« Stadt auch Verordnungen und Kontrollen unterliegt, nur der Maßstab und die Urheber sind andere. Die Frage die nun gestellt werden muss, ist, ob der Ordnungsapparat der Shopping Mall, die sich als funktionierender urbaner Raum tarnt, sich auf das Ordnungsbewusstsein der Menschen in anderen Räumen auswirkt. Die Gefahr liegt darin, dass der Wunsch nach der simplen, monotonen und einfachen Struktur der Mall um sich greift und komplexere, heterogene Strukturen, wie sie im urbanen Raum vorkommen, weitestgehend abgelehnt werden. Die Shopping Mall hat demnach nicht nur eine manipulierende Wirkung auf das Verhalten und die Wahrnehmung der Menschen innerhalb der Mall, sondern auch auf deren Empfindungen gegenüber dem urbanen Umfeld und die daraus resultierende Akzeptanz, beziehungsweise Nichtakzeptanz. Quellen 1 Helten, Frank (2007), »Die Sicherheit der Shopping Mall«. In: Jan Wehrheim (Hrsg.), Shopping Malls. Interdisziplinäre Betrachtung eines neuen Raumtyps, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 244. 2 Ebd., S. 244. 3 Ebd., S. 241. 4 Sievers, Karen (2007) »Center-Science. Kundenund Verhaltensforschung als Grundlage der Planung und Betreibung von Shopping-Centern«. In: Jan Wehrheim (Hrsg.), a.a.O., S. 225. 5 Ebd., S. 225. 6 Ebd., S. 225. 7 Ebd., S. 230. 8 Ebd., S. 230ff. 9 Ebd., S. 233. 10 Legnaro, Aldo und Birenheide, Almut (2007), »Die Mall als Ort kommoder Freiheit«. In: Jan Wehrheim (Hrsg.), a.a.O., S. 266. 11 Ebd., S. 266. 12 Helten, Frank (2007), »Die Sicherheit der Shopping Mall«. In: Jan Wehrheim (Hrsg.), a.a.O., S. 248. 13 Sievers, Karen (2007), a.a.O., S. 225. 14 Ebd., S. 237.
Aldo Legnaro und Almut Birenheide vergleichen diese »drinnen« und »draußen« Strukturen unter dem Gesichtspunkt der Freiheit. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass der ungeregelte Zugang für jedermann und die urbane Freiheit von Selbstdarstellung und Verhalten in der »richtigen« Stadt, also »draußen«, als selbstverständlich gelten20 und sich dadurch von dem »drinnen« in der
52
15 Ebd., S. 228. 16 Ebd., S. 237. 17 Helten, Frank (2007), a.a.O., S. 257. 18 Legnaro, Aldo und Birenheide, Almut (2007), a.a.O., S. 265. 19 Ebd., S. 267. 20 Ebd., S. 265.
(Teil 2)
Der Untersuchungsgegenstand Wenn wir unsere eigenen Analysen zum Raum und zu Öffentlichkeit ernst nehmen wollen, müssen wir unseren theoretischen Befunden in einer empirischen Studie nachgehen. Betrachten wir den „öffentlichen Raum“ einer Shopping Mall als symbolischen Ort von Öffentlichkeit, bedarf es einer Beobachtung, inwiefern eine öffentliche (An)Ordnung von sozialen Gütern und Menschen dort vorherrscht. Interpretieren wir die politische Öffentlichkeit als diskursive Handlung der Abweichung beziehungsweise des kreativ-gestalterischen Handelns, das eine potenzielle Veränderung gesellschaftlicher Praxen darstellt, ergibt sich daraus die Frage nach der Definition des Habitus. In einer Shopping Mall ist der anzunehmende Habitus recht einfach zu erfassen. Nehmen wir die sich dort aufhaltenden Menschen in Augenschein, könnten wir zunächst von einer rein funktionalen Nutzung ausgehen. Es wird ganz brav geshoppt, so wie es sich das Mall-Management ausgedacht hat. Uns interessiert daher wie es sich mit den Handlungen verhält, vor welchen die Mall ihre Kunden zu schützen versucht, aber auch mit allen anderen Handlungen, die über die reine Funktionalität der Mall hinausgehen. Denn in der Annahme, Shopping-Malls seien eine Bedrohung für die Öffentlichkeit, verbirgt sich die Befürchtung, dass die Kontrollmechanismen jegliche Art von Abweichung unterdrücke und unerwünschte Nutzer ausschließe.
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Andererseits wäre bei einer völligen Absenz von Regel und Normen die zwischenmenschliche Kommunikation gar nicht erst möglich. Wäre die Kontaktaufnahme mit einem anderen Menschen mit dem Risiko verbunden, beleidigt zu werden oder Verletzungen zu erleiden, würden wir nicht darauf eingehen. Ausgehend von dieser grundlegenden Abhängigkeit des zwischenmenschlichen Kontakts von vorformulierten Regelwerken könnte man eventuell soweit gehen zu behaupten, dass die Shopping-Mall-Verordnung eine Voraussetzung für das Zusammenführen von Menschen ist. Schließlich kann man dort durch die Präsenz von Sicherheitspersonal auch von einer stringenten Einhaltung von Verhaltensregeln ausgehen. Das suggerierte Sicherheitsgefühl verändert die Art und Weise, wie sich die Menschen begegnen und schafft dadurch bessere Voraussetzungen für Öffentlichkeit. Sandra Huning greift dies als These auf und fragt: „Sind shopping die besseren öffentlichen Räume?“ (2003) In dem Für und Wider um Shopping Malls sind dies zwei Argumentationstendenzen, für welche der Begriff der Öffentlichkeit herhalten muss. Den heiligen Gral der „Öffentlichkeit“ gilt es stets zu schützen und so dient er Gegnern
und Befürworten der Malls als unschlagbares Argument. Für uns war das Grund genug, sich in die Mall zu setzen, um systematische Beobachtungen anzustellen unter genau dieser Fragestellung: Ist die Shopping Mall Garant oder Bedrohung für Öffentlichkeit?
0 - 15 Jahre
15 - 25 Jahre
45 47 58
Allee-Center Höfe am Brühl Promenaden
117 199 237 135
25 - 40 Jahre
40 - 60 Jahre
+60
Jahre
290 347 141 243 299 202 102 233 640
Gesamt
881 1174
Die Beobachtung Mittels einer nicht-teilnehmenden Beobachtung wollen wir versuchen zu erkennen, ob und wie Öffentlichkeit in Shopping Malls funktioniert. Im Sinne einer empirischen Untersuchung müssen wir dazu zunächst Kategorien formulieren, an denen wir Öffentlichkeit ausmachen und eine Beschränkung der zu beobachtenden Handlungen und Zustände einführen. Anschließend entwickeln wir eine Systematik, um ein möglichst umfassendes Bild wiedergeben zu können.1
Masse und Heterogenität Hierzu greifen wir zunächst auf die recht vereinfachte Annahme zurück, dass Öffentlichkeit nicht ausschließen darf. Der Zugang muss allen Bürgern gewährt werden, unabhängig von Klasse, Herkunft, Geschlecht oder politischer Ausrichtung. Diesen Aspekt suchten wir durch die Zählung der Nutzer und der Analyse ihrer proportionalen Verteilung nach Geschlecht, Alter sowie nach rein visuell unterscheidbaren Kategorien zu erfassen. Die Festlegung der rein visuell unterscheidbaren Kategorien lehnt sich an den von Wehrheim formulierten Kategorien von sozialer und kultureller Fremdheit, wurden aber in einem ersten Beobachtungsversuch in der Weimarer Shoppping Mall „ATRIUM“ angepasst.2 Nach einem zwanzigminütigen Aufenthalt an drei unterschiedlichen Ein- und Ausgängen kristallisierten sich folgende Kategorien heraus: Rentner, Modebewusste, Studenten, Nicht-Deutsch-
54
Aussehende, Subkulturelle, Sozial-Schwache, Wohlhabende, Verwahrloste, Konsumenten von Drogen und Alkohol. Diese subjektiv wahrnehmbaren Kategorien beziehen sich auf eine Abweichung des Erscheinungsbildes vom normativen Stereotyp des „deutschen Bürgers“. Rein quantitativ sind in den Promenaden Hauptbahnhof die meisten Besucher zu verzeichnen, was wir auf seine Funktion als Verkehrsknotenpunkt zurückführen. Daraufhin folgen die Höfe am Brühl und Allee-Center in genannter Reihenfolge. Altersspezifisch scheint der Hauptbahnhof den Schnitt der Leipziger Bevölkerung zu repräsentieren. Die Höfe am Brühl werden vor allem von der Gruppe 60+ gemieden, während diese Gruppe im Allee-Center dominant ist. Gestaltung und Geschäftsstruktur der Höfe am Brühl sprechen diese Gruppe jedoch nicht an. Im Allee-Center wiederum ist ihre überproportionale Präsenz durch die besonders hohe Wohndichte von Rentnern im Stadtteil Grünau bedingt. Geschlechtsspezifische Verteilungen sind ebenfalls zu beobachten. Im Allee-Center treffen wir vermehrt Frauen an. Die Funktion des Gebietes als Wohnquartier, lässt vermuten, dass sich dort mehr Hausfrauen aufhalten, was sich aber im Rahmen unserer Untersuchung empirisch nicht belegen lässt. In den Höfen am
592 männliche Personen 5
0
-1
30
429 männliche Personen
e hr
Ja
452 weibliche Personen
2
12
0
125
e hr
Ja
5 -1
92
21 26
28
582 weibliche Personen
107
15 - 25 Jahre
15 - 25 Jahre
170
150
140
177
40 J
ahre
11
53
7
49
25 -
14
3
0
-6
-6
h Ja re
279 männliche Personen 361 weibliche Personen
5
-1
29
0
e hr
Ja
16
54
63
15 - 25 Jahre
59 76
64
77
25
86
116 40 0
-6
Allee-Center
e hr Ja
Ein weiteres Merkmal zur Unterscheidung der Mall-Besucher, das sich in der Probebeobachtung augenscheinlich anbot, ist die Gruppenzusammenstellung. Zum einen ist die Beobachtung, ob jemand alleine, als Paar (nicht ausschließlich Liebespaare), als
Höfe am Brühl
+60 Jahre
Die Ergebnisse zu den optisch differenzierbaren Gruppen sind folgendermaßen ausgefallen: Rentner sind in allen Malls eine deutlich auffallende und stark vertretene Gruppe. Was sich in der Altersverteilung schon andeutete, wurde in dieser Beobachtungskategorie nochmals verstärkt. Dabei meint Rentner nicht vordergründig das Alter, sondern ein bestimmtes optisches Auftreten. Um aber zu klären, wo Rentner ihre Kleidung kaufen, wären Folgeuntersuchungen anzustellen. Allerdings lässt der vergleichbar geringe Anteil an Rentnern in den Höfen am Brühl die Schlussfolgerung zu, dass sie es dort wahrscheinlich nicht tun. Handelt es sich hierbei eine Kausalität? Im Gegenzug ist die Gruppe der Modebewussten in den Höfen am Brühl stark präsent. Für Nicht-Deutsch-Aussehende ist der Bahnhof scheinbar stärker zugänglich und für Subkulturelle gar ein Treffpunkt.
0
re
h Ja
Brühl sind insgesamt auch mehr Frauen anwesend und gerade in der Altersgruppe 40-60 haben sie einen quantitativen Vorsprung, während in der Altersgruppe 25-40 mehr Männer anwesend sind. Nur im Bahnhof konnten wir mehr Männer als Frauen beobachten. Der geschlechtsspezifische Unterschied dieses Standortes bildet sich besonders durch die Altersgruppe 60+ heraus, in der die Männer dominieren.
55
ahre
40
40
Promenaden
40 J
0
+60 Jahre
5
53
108
+60 Jahre
12
25 -
13
- 40
Jah
re
Familie oder als Gruppe die Shopping-Mall betritt, methodisch einfach zu bewerkstelligen. Zum anderen weisen wir der Kategorisierung unterschiedlicher Gruppenkonstellationen eine inhaltliche Relevanz zu, weil sie Aufschluss über die Nutzungsmotivation der Besucher gibt und eine bestimmte Form von sozialer Interaktion darstellt: Eine Einzelpersonen strebt vor allem den Kauf von Waren an, Paare sind bereits potenzielle Bummler, Familien suchen gemeinschaftliche Erlebnisse und Gruppen stechen vor allem durch ein besondere Art der internen Kommunikation hervor. 50
Promenaden
195 22
35
21
12
Promenaden 112
56
411
62
38
21
41
2
40
2
44
0 0
Höfe am Brühl
153 128
Höfe am Brühl
65
18 16
21 10
2 2
1
66
244
0
Alle-Center
109 Anzahl der:
Allee-Center 15 162
Gruppen
Anzahl der:
Einzelpersonen
23
Familie
Paar
75
56
Rentner Modebewusste Personen Studenten nicht-deutsch aussehende Subkultur Sozial Schwache Wohlhabende Personen Verwahrloste Drogen/Alkohol Konsumenten
1
1
Diesbezüglich stellen wir fest, dass die Menschen doch häufig allein die Shopping Mall betreten. Zweithäufigste Konstellation ist das Paar, anschließend die Familie und die Gruppe die seltenste. Die Proportionalität dieser Untersuchung ist noch sehr fragwürdig, zählen wir doch ein Paar als eine Einheit, wobei es doch zwei Menschen sind. Könnten wir diese Untersuchungsfehler bei den Paaren durch die Verdoppelung der Zahl korrigieren, ist das bei Familien und Gruppen schon nicht mehr möglich. Ungeachtet dieses technischen Fehlers, der an dieser Stelle nicht weiter ausschlaggebend sein soll, bleib die Annahme, dass die große Mehrheit der Besucher die Mall aus purer Notwendigkeit aufsucht. Um diese Vermutung bestätigen zu können, ist allerdings eine genauere Analyse der Beweggründe von Einzelpersonen erforderlich (siehe Kapitel: Befragung).
Interaktion und Kommunikation zwischen Fremden Im zweiten Teil der Beobachtung wollen wir uns konkreten Handlungen zuwenden, die als prägend für Öffentlichkeit bewertet werden können. Als derartige Handlungen haben wir Interaktion zwischen Fremden und Handlungen außerhalb des vorgegebenen Erwartungsrahmen identifiziert. Interaktion zwischen Fremden In der Interaktion zwischen Fremden sehen wir Züge einer diskursiven Handlung im Sinne einer politischen Öffentlichkeit. Mit der Kontaktaufnahme geht das Erlernen einer Verhaltensnorm einher. Ein Beispiel: Ob man jemanden nun höflich mit Sie anspricht oder das Du wählt, wird dem Gegenüberstehenden sofort in eine Rolle versetzen, auf die eine Reaktion folgen muss. Nun kann Er oder Sie entscheiden, ob die gewählte Ansprache sowohl seinem als auch dem Status des Gegenüberstehenden entspricht.
Uns interessiert daher insbesondere die reflexive Kontaktaufnahme zwischen Fremden. Dies leitet sich zum einen aus der
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Beobachtbarkeit ab, aber auch aus der Tatsache, dass wir der aktiven Kommunikation eine höhere Qualität im Sinne ein öffentlichen Handlung zusprechen als dem bloßen Rezipieren. Dabei beobachten wir: Art der Interaktion, Grund für Interaktion, Dauer, Wer interagiert mit Wem, Wie reagieren die Passanten. Unsere Beobachtung ließ zunächst die nüchterne Feststellung zu, dass rein quantitativ kaum interagiert wird. In dem Beobachtungszeitraum von insgesamt neun Stunden an verschiedenen Standorten und in den drei unterschiedlichen Shopping Malls konnten wir 43 Interaktionen feststellen, anders ausgedrückt 4,8 Handlungen pro Stunde. Die überwiegende Mehrheit der Interaktionen sind verbal, es gibt aber auch rein visuell hergestellte Austausche und reine Handlungen (Hilfestellung beim Aufheben eines heruntergefallenen Gegenstandes). Man kann praktisch immer einen Grund beziehungsweise eine Situation erkennen, welche eine Interaktion provoziert. Beispiele für Situationen sind räumliche Enge während der Ruhepausen auf den Bänken, visuelle Auffälligkeiten, überraschende Ereignisse (Verschmutzungen, Sachen fallen zu Boden, Fehlfunktionen der Installationen der Mall), sowie das Unterhaltungsangebot der Mall (Sich bewegende Dekoration, Fotoshooting mit dem Weihnachtsmann). Wir können bei der kurzen Zeitspanne und auch aufgrund der Art der Interaktion allerdings nicht bestimmen, welchen Inhalt die Interaktion transportiert. Dies bleibt letztendlich von der Wahrnehmung der Involvierten abhängig. Vielleicht führt eine geleistete Hilfestellung dazu, dass eine der betroffenen Personen beim erneuten Auftreten einer solchen Situation zukünftig anders reagiert. Handlungen außerhalb des Erwartungsrahmens Handlungen außerhalb des vorgegebenen Erwartungsrahmens sind ebenfalls diskursiv. Sie stellen die bestehenden Normen in Frage. Erfolgt daraufhin keine Aufforderung, diese Handlung zu unterbinden, wird sie offenbar als Norm angenommen. Ein Beispiel: Eine Person trägt sichtbar eine Waffe mit sich herum. Rufen die Menschen sofort die Polizei, um diese Aktivität zu unterbinden oder lassen sie es zu? Wird eine derartige Handlung toleriert, besteht die Möglichkeit, dass sie Nachahmer findet und
schließlich zu einem neuem Habitus heranwächst.
Schlussfolgerungen
Als vorgegebenen Erwartungsrahmen verstehen wir die vom MallManagement vorformulierten Handlungsmuster: Der Kunde läuft durch die Mall, konsumiert und flaniert, aber vor allem hält er sich an die Hausordnung. Bei dieser Beobachtung interessieren uns insbesondere die Reaktionen von Passanten und Sicherheitsdienst. Wir beobachten: Art der Handlung, Grund für die Handlung, Dauer, Wer ist involviert, wie reagieren Passanten und der Sicherheitsdienst.
Die Ergebnisse der Studie zu Masse und Heterogenität sind eigentlich nicht in derart direkter Form mit Öffentlichkeit in Verbindung zu bringen. Erkennen wir Unterschiede in der Konstellation der Nutzer der Shopping Malls, ist dies doch hauptsächlich auf das gebotene Angebot und auf die Nähe zum Verbraucher im physischen Sinne zurückzuführen. Dennoch bleibt interessant festzustellen, dass verhältnismäßig mehr Menschen sich in Richtung Innenstadt bewegen. Vielleicht birgt Zentralität eine Symbolik, die positiv besetzt wird, wobei aber auch zu bedenken ist, dass schon allein die im Stadtzentrum konzentrierte Infrastruktur das Überwinden räumlicher Distanzen dorthin um ein Vielfaches erleichtert. Es wäre also interessant nach diesen Fragen zu forschen: (a) Wird die Innenstadt als Zentrum identifiziert und erschafft dies ein Gefühl von Nähe (Zentralität als Symbol)? Und (b) Ist die Architektur der Stadt mit ihrer Verkehrsinfrastruktur tatsächlich ausreichend für eine höheren Zentralitätswert der Innenstadt (mögliches Analysenstrument hierfür wäre das Programm Space Syntax)?
Die Anzahl der beobachtbaren Handlungen außerhalb des Erwartungsrahmens ist deutlich höher als die der Interaktionen. Bei 84 Handlungen auf dem Zeitraum von neun Stunden haben wir einen Schnitt von 9,4 Handlungen pro Stunde. Diese erhöhte Anzahl lässt sich darauf zurückführen, dass eine Vielzahl von Handlungen deshalb als abweichend betrachtet wurden, da sie nur im Kontext der umgebenden Homogenität als solche empfunden wurden. Die beobachteten Handlungen lassen sich folgendermaßen kategorisieren: Überraschende Bewegungen (Rennen, Torkeln, Schubsen, Rückwärtslaufen) und überraschendes Aussehen (Kostümierung, Sichtbarkeit von Bierflaschen). Einige der Handlungen sind symbolisch vorgeprägt, zum Beispiel als Mode oder anstößiges Verhalten. Bemerkenswert ist, dass vor allem Kinder und Jugendliche auffällig agierten. Es scheint, dass Kinder noch nicht wissen, was der Habitus impliziert, weil sie noch nicht vollständig sozialisiert sind und dass Jugendliche bewusst mit dem Habitus in rebellierender Weise umgehen. Eine weitere interessante Feststellung ist, dass nur mit einer Ausnahme keine Reaktionen Dritter – ausgenommen von Blicken – zu beobachten waren. Die beobachtete Ausnahme ereignete sich an einem Brunnen, dessen Form zum Anfassen anregte. Hatte jemand es gewagt, ihn zu berühren, folgten weitere Personen, um das Experiment zu wiederholen.
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Auch die Analyse zur Gruppenkonstellation der Besucher lässt nur hypothetische Schlussfolgerungen zu, die nicht eineindeutig mit Öffentlichkeit in Zusammenhang zu bringen sind, aber doch weitere Aspekte hervorbringen, die Folgeuntersuchungen anregen könnten. Welcher Habitus verbirgt sich hinter den vorgefundenen Gruppenkonstellationen? Lassen sich die Vermutungen zur Individualisierung der Gesellschaft empirisch nachweisen und welche Auswirkungen haben sie auf die Nutzung der Stadt? Weitaus interessanter und aufschlussreicher erscheinen die Ergebnisse zur Interaktion zwischen Fremden. Wir konnten beobachten, dass es immer einer Situation bedarf, um Menschen aufeinander aufmerksam zu machen. Die Situation ruft also das Eintreten einer der Kategorien (Einsicht der Notwendigkeit von Veränderung, körperliches Begehren, Handlungsweisen anderer und Fremdheit) hervor, in welcher Abweichungen des Habitus stattfinden. Es muss allerdings hervorgehoben werden, dass die Situationen ihrerseits auch als „zu-erwartende“ zu klassifizieren sind und die Betroffenen daher in der Regel wissen, welche Möglichkeiten sie haben zu reagieren.
Gehen wir des weiteren davon aus, dass ein deviantes Verhalten auch eine Situation darstellt, für welche wir aber keinen Katalog passender Reaktionen haben, erklärt dies wieso die von uns beobachteten Abweichungen nahezu keine erkennbaren Interaktionen hervorriefen. Hier finden wir eine Übereinstimmung mit der von Klamt durchgeführten Studie. Er setzte sich, um der Verortung von Normen im öffentlichen Raum zu untersuchen, mit einem Liegestuhl in eine Shopping Mall. Mit dieser provokativen Art der Untersuchung kreiert Klamt eine Situation, um Reaktionen seitens der Passanten herauszufordern. Ihm wird Aufmerksamkeit geschenkt, jedoch wissen die Menschen nicht mit dieser Situation umzugehen, da sie befremdlich erscheint. Er analysiert dies als eine „mentale Abschottung“ beziehungsweise als eine „emotionale und kognitive Distanziertheit“3. Wegen des Unwissens um die Kette an Reaktionen, die unserer folgen könnte, schotten wir uns ab. Erst eine Verkäuferin aus einem anliegenden Geschäft nimmt sich der Situation an und leitet ein Gespräch mit Klamt ein. Sie fragt : „Wo ist die Sonne?“. Die Situation überrascht sie, aber dennoch entscheidet sie sich, der Sache auf den Grund zu gehen. Dabei nutzt sie die Inszenierung der Situation, um eine Art des Umgangs zu finden (Liegestuhl = Sonne). Sie und Klamt führen daraufhin eine kurze Konversation über den Sinn seiner Handlung und den Komfort seines Liegestuhls. Wir erkennen hier eine Übereinstimmung mit Strategien des Marketings. Eine Werbung schafft durch die Abweichung von den
zu erwartenden visuellen Reizen eine Situation. Die Fremdheit ruft eine Abweichung des Habitus hervor, woraufhin wir versuchen, einen Umgang mit ihr zu finden. Benutzt sie dabei Symbole, die der Betrachter dechiffrieren kann, wird der Umgang mit ihr möglich und die vermittelte Botschaft stellt uns erneut vor eine Situation, für die wir wieder einen Umgang suchen. Um immer wieder eine Situation zu schaffen, muss Werbung sich verändern, da wir schnell in der Lage sind, sie in unserem Habitus aufzunehmen. Darum wechseln Werbungen auch ständig ihre Aufmachung, obwohl sie immer das gleiche Produkt anzupreisen versuchen. Zudem entwickelt Werbung entwickelt immer neue Formen von Situationen. Ein Beispiel dafür, das sicher vielen bekannt vorkommt, ist dieses, wie ich es in der Weimarer Innenstadt erlebte. Ein junger Mann in Freizeitbekleidung sprach mich überraschend an: „Können Sie mir einen Grund nennen, nicht für Amnesty International zu spenden?“. Nach kurzer Überlegung antwortete ich, dass ich nicht von Fremden auf der Straße zu Werbezwecken angesprochen werden möchte. Wenn diese Situation erneut eintritt, werde ich mich hüten, überhaupt in ein Gespräch verwickelt zu werden. Es wiederholt sich die Dramaturgie Situation – Inszenierung – Situation – Inszenierung, um bei uns eine Abweichung bis hin zu einer Veränderung unserer Habitus zu erreichen. Die Shopping Mall funktioniert nach dem gleichem Prinzip: Situation (öffentlicher Ort) – Inszenierung (Gemütlichkeit, Sicherheit, Gestaltung) – Verwirklichung des Spektakel (Veränderung des Habitus4). Quellen
1 Technische Umsetzung der Beobachtung Masse und Heterogenität: Es werden zu dieser Beobachtung immer zwei Beobachter an Ein- und Ausgängen platziert. Sie beobachten zehn Minuten lang den Zustrom an Menschen. Einer notiert Geschlecht und Alter, der andere Gruppenkonstellationen und die optisch Differenzierbaren. Dieser Vorgang wird an drei Ein- und Ausgängen wiederholt. Interaktion und Kommunikation zwischen Fremden und Handlungen außerhalb des Erwartungsrahmens: Der Beobachter ist auf seine subjektive Wahrnehmung angewiesen, das heißt, er kann nicht anders, als bereits interpretierend zu arbeiten. Über einen begrenzten Zeitraum (20-30 Minuten) wird ein Teilraum der Shopping Mall verweilend beobachtet. Dieser Vorgang wird an drei Standorten innerhalb der Mall wiederholt.  Wir waren in der Lage, jeden Beobachtungszyklus dreimal in jeder Shopping Mall durchzuführen, davon zweimal werktags, am Mittwoch, dem 12. Dezember, und einmal am Wochenende, am Samstag, den 15. Dezember 2012. 2 Wehrheim, Jan(2009), „Der Fremde und die Ordnung der Räume“, Verlag Barbara Budrich, Opladen & Farmington Hills, MI, S.61. 3 Klamt, Martin (2007), „Verortete Normen, Öffentliche Räume, Normen, Kontrolle und Verhalten“, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S.237.
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4 In Form des repetitiven Besuchs der Mall und der Platzierung des Symbols „Öffentlichkeit“.
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heile »Die Raumbilder sind die Träume der Gesellschaft. Wo immer die Hieroglyphe irgendeines Raumbildes entziffert ist, dort bietet sich der Grund der sozialen Wirklichkeit dar.«1 Siegfried Kracauer
Die Stadt stellt schon immer den Ort für ökonomische, soziale und kulturelle Paradigmenwechsel dar und ist insofern ein ständiger Austragungsort weitreichender Entwicklungen. Mit der zunehmenden Fragmentierung neoliberaler Gesellschaften geht die Tendenz postmoderner Städte einher, unwillkürlich neue Orte (oder auch Nicht-Orte)2 wie die Shopping Malls, die neuen Bahnhöfe, die Autobahnen und Flughäfen zu formen. Diese Orte zeigen uns allgemeine Prinzipien der gesellschaftlichen Zustände in einer verdichteten Form und offenbaren somit auch die inneren Zusammenhänge unserer Konsum- und Erlebnisgesellschaft, von ihren sozialen Funktionen bis hin zu ihren räumliche Ausprägungen. Ein immer größeres Gewicht bei städtischen Großprojekten, seien es nun neu zu errichtende Bauten oder Revitalisierungen, geht von privaten Investitionsinteressen aus, bei nur begrenzter Kontrolle durch die öffentliche Hand. Die treibende Kraft, die hinter den Investitionsinteressen steckt, liegt in der kontinuierlichen Formung neuer Standorte des Konsums. Das bedeutet, dass die Stadt, vor allem die Innenstädte, in Erlebniszonen für Konsumenten umgewandelt werden, wofür außerdem neue Kontroll- und Ordnungssysteme
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W die
II. VI
der hopping
S
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Mall
notwendig sind, um den ungestörten Konsum zu gewährleisten. Shopping Malls, ganz gleich ob als alleinstehendes Objekt oder integriert in einen Bahnhof, treiben die Stilisierung des Einkaufs zu einer Lebensart voran und sind, so kann behauptet werden, das heile Gegenstück zum Restraum der Stadt. Der negative Raum einer Stadt, wie die Straße (der öffentliche Raum im Verständnis vieler Planer), erlebt in steigendem Ausmaß abwertende oder gar völlig destruktive Assoziationen. Als Gegenentwurf zu diesem »gefährlichen« Raum steht die Shopping Mall, welche die Ästhetisierung des Alltäglichen und eine Überhöhung des Konsums repräsentiert. Es wird das Idyll der Kleinstadt (ohne Obdachlose, ohne Arme und ohne Drogensüchtige) projiziert und so entsteht das Bild der heilen Welt in einem öffentlich wirkenden, jedoch stark abgegrenzten und kontrollierten Raum. An dieser Stelle ist es unerlässlich, auf den größeren Kontext allgegenwärtiger Repräsentation hinzuweisen, welcher der heute allerorts konstatierten Ästhetisierung überhaupt erst einen Wirkungsrahmen zuweist, in welchem sie sich tatsächlich zu einer dominanten Kategorie moderner Gesellschaften entwickeln konnte. Doch schon vormals galt, dass kein Raum unter Ausschluss
der in ihm enthaltenen und von ihm ausgehenden Zeichen und Symbole gelesen werden kann. Nicht etwa, weil es uns nur um die Vollständigkeit aller raumstrukturierenden Komponenten ginge, sondern weil der Gehalt dieser Zeichen- und Symbolträger sich letztlich als handlungsrelevant erweist, aber zunächst wollen wir uns den Prozess in aufeinanderfolgenden Stufen veranschaulichen. Es zeigt sich, dass die Vermittlung von Zeichen oder einer Symbolik direkt an das materielle Substrat gebunden ist. Sie ist darauf angewiesen, sich zu vergegenständlichen, was wiederum nicht heißen soll, dass sie immer einwandfrei einer bestimmten Sache, einem bestimmten Artefakt (also einer von Menschenhand geschaffenen Sache) zugeordnet werden kann, aber immer zwangsweise an Materialität geknüpft ist, jedoch in ihrem weitesten Sinne, also etwa einschließlich Licht oder Geruch.3 Ausgehend von dieser Grundlage muss natürlich die Frage nach der Intentionalität aufgegriffen werden, welche im Fall der Betrachtung von Shopping Malls eine nicht zu leugnende politische Tragweite erreicht, auf welche im Folgenden ausführlicher eingegangen werden soll. An die Stufe der Symbolvermittlung, welche immer interessengeleitet vollzogen wird, schließt sich die Stufe der Wahrnehmung an, welche eine kognitive Fähigkeit des Erkennens der in Zeichen und Symbolen verborgenen sozialen Funktionen unterstellt. Dieser wahrnehmungspsychologische Vorgang erfolgt einerseits spontan-situativ und kann beispielsweise eine affektive Identifikation hervorrufen, andererseits ist er aber auch als Produkt eines darüber deutlich hinausgehenden Normativs zu sehen. Insgesamt gilt dennoch, dass wir zwar die einzelnen Stufen theoretisch unterscheiden können, jedoch für die Praxis keine eineindeutigen Zuordnungen formulieren können werden, da die Bestimmung eines Zeichen- oder Symbolgehalts schließlich immer vom Zusammenwirken des repräsentativen Objektes und des wahrnehmenden Subjektes abhängen wird.4 Dieses Kapitel widmet sich im ersten Teil einer eingehenden Analyse der Intentionen und Instrumente der Raumgestaltung seitens der Betreiber von Shopping Malls, während zudem auch erläutert wird, wie die Steuerung der Besucher mittels ästhetischer Taktiken im Sinne »spezifischer Gebrauchsanweisungen«5 genau funktioniert. In einem zweiten Teil soll gewissermaßen die Perspektive auf die Seite des wahrnehmenden Subjekts gewechselt werden, wozu die in Leipzig durchgeführte empirische Studie zuerst vorbereitend erörtert wird, um anschließend die erzielten Ergebnisse vorzustellen und auszuwerten.
62
(TEIL 1)
Der Bahnhof in neuem Kleid Als Bahnhof versteht man umgangssprachlich meist den Abfertigungsbereich des Personenverkehrs samt Empfangshalle und Bahnsteighalle. Über den Bahnhofsvorplatz und durch die Empfangshalle kommt der Reisende von der Straße hinein zu den Schienen, »[...] [der Bahnhof] ist ein Scharnier, das den Stadtverkehr über den Vorplatz in das Gebäude hinein leitet und den Bahnverkehr über die Bahnsteighalle aus dem Gebäude entlässt.«6 Der Bahnhof eröffnete den Menschen von damals (Die erste Bahnstrecke in Deutschland die „Ludwig-Süd-Nord-Bahn wurde abschnittsweise 1843 eröffnet ) unbekannte Möglichkeiten, denn Zeit und Raum nahmen noch unbekannte Ausmaße an.7 Man erreichte die dreifache Geschwindigkeit wie mit der Postkutsche, sodass im damaligen Verständnis der Raum reziprok um zwei Drittel zusammenschrumpfte. So wurde in einem Artikeln in der »Quarterly Review« die Behauptung aufgestellt, dass es zu einer »allmählichen und schließlich vollständigen Vernichtung von Raum« komme, dass »sich die gesamte Bevölkerung in Bewegung setzt und, metaphorisch gesprochen, ihre Plätze um zwei Drittel der Zeit näher an den Kamin Hauptstadt rückt.«8 Diese Neuartigkeit von Raum und Zeit fand auch Anwendung in einer neuartigen Architektur. Der steinernen Empfangshalle, welche sich der traditionell gewachsenen Struktur der Stadt anpasst und zur Innenstadt orientiert ist, stehen die neuen Materialien der Bahnsteighalle, Stahl und Glas, als ein Sinnbild der Industrialisierung und des Fortschritts gegenüber. Stahl und Glas stehen für eine Umwertung der Masse sowie der Raumgrenzen und eröffnen neue Möglichkeiten, Licht und Schatten zu nutzen. Der Leipziger Hauptbahnhof mit seiner massiven Steinfassade und der dahinter versteckten, aus Metall und Glas bestehenden, sechsbögigen Bahnsteighalle, entstand durch eine Zusammenlegung dreier älterer Bahnhöfe (dem Dresdner Bahnhof, dem Thüringer Bahnhof und dem
Magdeburger Bahnhof) und besteht aus der oben erwähnten Verbindung zweier unterschiedlicher Baukünste, welche sonst in keiner Baugattung vorkommt. Vormals dienten Gebäude nur dazu, dass der Mensch sich dort aufhielt und verweilte, ein Bahnhof jedoch ist ein Durchgangsort in einer neuen raumzeitlichen Dimension.9 Sie waren die »Tempel der Technologien« und stellten neben dem Rathaus, der Börse und der Kirche die neuen identitätsstifenden Gebäude einer Stadt dar und gelten zudem als eines der wenigen öffentlichen Gebäuden, die aus der industriellen Revolution hervorgingen. Beim Bau des Leipziger Hauptbahnhofs wurde deshalb auch in der Ausschreibung ausdrücklich festgelegt, »dass dieses Bauwerk als repräsentatives Architekturdenkmal der Messestadt den wirtschaftlichen Aufschwung Deutschlands dokumentieren soll.«10 Obwohl eine strenge Separierung der Fahrgäste vorgenommen wurde, stellte der Bahnhof wohl den »öffentlichsten« und den gesellschaftlich durchmischtesten Ort in der Stadt dar. Im Zuge einer stetigen Intensivierung der Bahnhofsnutzung wurden Befürchtungen laut, welche neuartige Ordnungsmaßnahmen einforderten, sodass schließlich eine speziell für den Bahnhof zuständige Bahnhofspolizei gegründet wurde, welche fortan für den reibungslosen Ablauf des Bahnhofgeschehens verantwortlich war. Nach nur wenigen Jahren galt der Bahnhof aufgrund seiner vielen zirkulierenden Menschenmassen als ein gefährlicher Ort der potentiellen Verführung und Ansteckung, weswegen dem Verlangen nach Kontrolle und Sicherheit stattgegeben wurde. Mit dem Aufkommen des motorisierten Individualverkehrs nahm der Prestigewert des Bahnhofs ab, welcher »nur noch Zwischenstation ohne symbolische Bedeutung« war.10 Mit der Zeit verstärkte sich das Bild des Bahnhofs als einen verrufenen Ort. »Mit steigender Motorisierung und dem relativen Bedeutungsverlust der Bahn veränderte sich auch die einst vitale »Bahnhofkultur«, sie wurde vielerorts vom negativen »Bahnhofsmilieu« abgelöst.«11 Um diesen Ruf abzuschütteln und die Bahnhofsareale in den zentralen Innenstadtlagen wieder zu einem renditestarken Wirtschaftsfaktor zu transformieren, wurden Bahnhöfe grundlegende umgestaltet. »Hell, sicher und sauber – so präsentiert sich heute der Leipziger Hauptbahnhof seinen Besuchern, das Einkaufs- und Dienstleistungszentrum »Promenaden Hauptbahnhof« wird heute rund um die Uhr von Reinigungs- und Sicherheitskräften betreut, sodass der Einkaufsbummel in aller Früh genauso viel Spaß macht wie spät abends.«12 In diesem Glanz, der rund 400 Millionen DM gekostet hat, strahlt vor allem der Hauptinvestor und Eigentümer der Promenaden Hauptbahnof, die ECE-Gruppe. Sie verfügt 70 Jahre lang über die Erbpacht am Hauptbahnhof, zum Eigentum der Bahn gehören jetzt nur noch die Gleise. So verwandelt sich der Hauptbahnhof in ein Objekt der privaten
63
Rendite, wobei aber eben diese hohen Renditeerwartungen, schließlich kann mit seiner absoluten »1a-Lage« (»citynah«) punkten, von einem arrangierten Öffentlichkeitscharakter geschickt kaschiert werden. Die Investoren sehen jedoch keine Gefahr der Exklusion bestimmter Bevölkerungsgruppen, sondern stellen klar, dass durch die Leitparole »Hell, sicher, sauber« der Bahnhof für das allgemeine Publikum zurückgewonnen wird - er wird wieder zu einem öffentlichen Raum. Dass ein öffentlicher Raum jedoch nicht primär das Leitbild Renditeerwartungen zu erfüllen hat und die für den Raum geltenden Normen und Regeln nicht dieser Erwartung unterliegen sollten, was letztlich dazu führt, dass konsumschwache Bevölkerungsgruppen von diesen Orten ferngehalten werden, berücksichtigen die Investoren in ihrer Betrachtung von öffentlichen Räumen anscheinend nicht. Der offen und frei zugänglich gestaltete Raum wird mit unsichtbarer Grenzen neu definiert, mit der Verwendung von bestimmten Materialien wird der Effekt erreicht, dass unerwünschte Gruppen der Bevölkerung eine Hemmschwelle gegenüber beim Benutzen dieses Raumes aufbauen, die baulichen Struktur verunmöglicht bestimmte Handlungen (Trinken auf der Bank, Herumlungern, etc), sodass ein Teil der Bevölkerung gezwungen wird, sich neue Räume in der Stadt zu suchen. Dabei ist zu beachten, dass dies wiederum den Effekt der Negativassoziationen in Bezug auf den Straßenraum (als Sinnbild für den öffentlichen Raum) verstärkt. Der Leipziger Hauptbahnhof oder »Promenaden Hauptbahnhof« stellt eine Art Hybridform dar: er ist ein Raum mit klarem öffentlichen Charakter, zusätzlich jedoch liegt diesem Raum die Erfüllung von Renditeerwartungen zugrunde. Durch seinen öffentlichen Charakter profitieren die Promenaden Hauptbahnhof, gleichzeitig belegen sie diese öffentliche Zugänglichkeit jedoch mit Regulierungen, welche, völlig entgegengesetzt zum Erscheinungsbild des Bahnhofs, ausschließlich dem Schutz der Investoreninteressen dienen.
» Wie bauen Sie so ein Haus um, wie hell ist es in dem Haus, welche Materialien setzen Sie ein. Wenn Sie den City-Tunnel sehen, der im Basement von unserer Ladenstraße in die Innenstadt in die Nikolaistraße führt, der war dunkel, Graffiti, verschmiert, wird als öffentliche Toilette mitgenutzt, kein Mensch mag da mehr durchgehen. Hier, durch den Einsatz von Granit, von Licht, von Diakästen, die beleuchtet sind, nur diese Materialien allein, die bringen schon die ersten 90% und Videokameras bringen die letzten 10%, mehr ist es nämlich gar nicht, muss man ganz klar sagen. Allein durch den Einsatz der Materialien, sie ziehen einfach die Hemmschwelle hoch.«13 Interview ECE Center-Management Leipzig
Shopping Malls eine Welt für sich Liest man die Definition von der Shopping Mall nach Falk (siehe Kapitel II.I.), dann ist diese ein Zusammenschluss von Geschäften mit Parkplätzen, der sich kaum von einer beliebigen Fußgängerzone unterscheidet. Der gravierende Unterschied zur Einkaufsstraße der Innenstadt besteht allerdings in der einheitlichen Planung mit einem eigenen Management. Die Bezeichnung »The world in a shopping mall« von Crawford (1992) zeigt den Anspruch, auf den sich der postmoderne Gebäudetyp stützt. Hier wird die »heile« Welt auf ein handbares Maß komprimiert und ihre Benutzung angeboten. So formen die Shopping Malls mit ihrem architektonischen Ensemble und diverser sozialer/kultureller Veranstaltungen eine Form zur Steuerung ihrer »Weltbürger«. Die größten ihrer Art sind kaum mehr unterscheidbar von einem Urban Entertainment Center, und bieten eine Kombination aus Unterhaltung, Erlebnis, Shopping und Kommunikation.14 Zum Beispiel die West Edmonton Mall in Alberta, Kanada, bietet auf 500.000 Quadratmetern mehr als 800 Läden, über 110 Restaurants und Kioske, 26 Kinos, ein Casino, mehrere Hotels, eine Kapelle und den größten indoor-Wasserpark (mit dem größten künstlich angelegten indoor-See und einem originalgetreuen 1:1 Nachbau des Schiffes »Santa Maria« von Kolumubs). In Anbetracht einer solch erschlagenden Angebotsfülle scheint die Shopping Mall in Sachen Unternehmungen sich alternativlos gegen alle anderen Orte in der Stadt zu behaupten. Thames Walk in London, eine der größten Shopping Malls von Europa, lockt die Konsumenten mit dem Slogan »excitement of shopping in the West End« und sagt damit deutlich, mit wem sich die Shopping Mall vergleicht, nämlich der Stadt. Wieso sollte man noch im Stadtteil West End einkaufen gehen, wenn man doch in unmittelbarer Nähe eine Konzentration von all dem, was die Stadt idealerweise zu sein hat, noch dazu auf die »individuellen« Bedürfnisse zugeschnitten, viel einfacher vorfindet?
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In Deutschland existieren vergleichsweise nur kleine Shopping Malls, die größten davon wurden kurz nach der Wende in Ostdeutschland auf der »grünen Wiese« errichtet. Dazu gehören der Saale-Park in Günthersdorf bei Leipzig mit 125.000m2, das Paunsdorf-Center in Leipzig mit 110.00m2, der Flora-Park in Magdeburg mit 83.000m2 und das Chemnitz-Center in Röhrsdorf mit 82.000m2. Die Größe drückt jedoch nur einen untergeordneten Faktor aus, wichtig ist hingegen, worin die Intention beim Bau einer Shopping Mall liegt: der Anreiz zum Kaufen und Verweilen. »Shopping« soll ein Synonym für Freizeit werden, für einen sinnvollen und angenehmen Zeitvertreib.15 Unterhaltung spielt eine immer wichtigere Rolle und der heute fast anrüchig klingende Versorgungseinkauf muss dem Erlebniseinkauf weichen. »The design of shopping centers has also changed very much to create a more fun place to shop. They now use a lot of skyligths, artificial ponds, plants, ornamental flowers, and trees. The aim is to create an outdoor feeling or space like that of a fantasy.«16 bemerkt Taguchi und trifft genau, worum es einer Mall geht, nämlich eine Aura zu generieren, welche eine »schöne« Tätigkeit in einer »schönen« Umgebung ermöglicht. Durch die Zentralität des Erlebniswertes wird eine soziale Komponente hervorgebracht. Wenn eine Vielzahl an Menschen durch die Gänge der Mall flaniert, wird beim einzelnen Individuum das Bedürfnis geweckt, daran teilnehmen zu wollen, mit dabei zu sein, auch zeigen zu können, dass man zu dieser schönen Welt gehört. Für die Besucher ist die Shopping Mall keine »überdachte Innenstadt«, sondern ein eigenständiger Ortstypus und eine neue kulturelle Form der Betätigung.17 In unserer Konsumgesellschaft hat diese aber wohlgemerkt einen sakralen Charakter angenommen und eine Traumwelt wird prophezeit, geknüpft an das, mit Verlaub, unwirkliche Versprechen, Konsum würde uns erlösen.
Bauliche Gestaltung einer Shopping Mall Im Unterschied zum Bahnhof, welcher sich schon seit seiner Entstehung durch eine repräsentative, nach außen gewandte Ausgestaltung charakterisiert und nun lediglich die innere Funktion neuen Anforderungen gerecht werden muss, zeigt sich eine Shopping Mall in ihrer baulichen Konstruktivität ganz anders und besticht geradezu durch ihre Fassaden-Nichtgestaltung. Die Mall präsentiert sich ihrer Umgebung meist als ein fremdartiger Klotz ohne jederlei Bezug zur Struktur und Materialität der Stadt und stellt somit nach Marc Augé einen identitätslosen Nicht-Ort dar. Das Augenmerk der baulichen Ausgestaltung ist dem Inneren zugewandt, wobei dafür als Äquivalent eine idealisierte Vorstellung von der Fußgängerzone der Innenstadt dient. Was sie jedoch von der Innenstadt
unterscheidet, ist wiederum die Ganzheitlichkeit einer alles umfassenden, zielgesteuerten Planung: muss in der Innenstadt ein Bebauungsplan, unterschiedliche Bauepochen, der Denkmalschutz und diverse Meinungen sowie Interessen privater Bauherren unter einen Hut gebracht werden, kann die Mall durch ihr einheitliches Management zufällige und unerwünschte Entwicklungen komplett ausblenden und den konstruktiven Prinzipien von Funktionalität, Sicherheit und Ökonomie vollste Aufmerksamkeit schenken. Obwohl sich die Shopping Mall das Prinzip der alten Innenstadt zum Leitbild genommen hat, verfolgt sie dennoch eine andere Ausprägung. Verwinkelte kleine Gassen findet man in einer Mall nicht, stattdessen gibt es klar strukturierte, breit angelegte Fußgängerbereiche, umrahmt von einladend dekorierten Schaufenstern, Sitzgelegenheiten mit Wasserbrunnen und schmückenden Pflanzen sowie Cafés und Restaurants an allen Ecken und Enden. Die gute Erreichbarkeit mit dem Auto und die flüssige, zirkuläre Bewegung innerhalb des Gebäudes bilden die wichtigsten Faktoren der baulichen Ausgestaltung, eingebettet in eine angenehme und saubere Gesamtatmosphäre, welche als warme und komfortable Aura den Gast dazu verleitet, die Zeit und sich selbst in der Shopping Mall zu verlieren. oben / Höfe am Brühls // unten / Promenaden am Bahnhof // eigene Aufnahmen
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Hierfür können eine Vielzahl von architektonischen Gestaltungsmitteln zum Einsatz kommen, dem übergeordnet steht jedoch die Funktionalität der Wege- und Sicherheitsbeziehungen an erster Stelle. Die häufigste angewandte architektonische Grundrissgestaltung ahmt hierzu die Form eines Knochens nach. Eingefasst von »Ankermietern«, auch »Magnetmieter« genannt, an beiden Enden des Knochen, entsteht im mittleren Teil des Knochens ein stark frequentierter Durchgangsbereich, an dessen Seiten die Untermagneten, welche die Produktvielfalt komplementieren, angesiedelt werden. Um die Ordnung im Raum kontrollieren zu können, nimmt die Sicherheit in der Planung einen bedeutenden Punkt ein. Dunkle Ecken, unübersichtliche Bauformen werden vermieden, um von vornherein jegliche Nicht-Berechenbarkeit und Vielfalt zu unterdrücken. Die Produktion des Raums gemäß dieser Richtlinien ist von prioritärer Bedeutung, denn nur so kann die Kontrolle über die Aktivitäten des Publikums gewährleistet werden.18 Selbst die Bank, ein Ort des Ruhens, ist auf das nächste Schaufenster gerichtet, statt ein kurzes In-Sich-Kehren zu ermöglichen. Wenn Foucault Schulen in ihrer Ausgestaltung mit Gefängnissen vergleicht, trifft dieser Vergleich noch viel drastischer auch auf die Shopping Mall zu. Lange Gänge mit links und recht angebrachten »Zellen« (Geschäfte), um den »Gefangenen« (Besucher) möglichst lange »inhaftiert« zu halten. Natürlich muss die Mall sicherstellen, dass viele Menschen hinein finden und in den langen Gängen nicht ermüden oder sie als zu leer oder zu voll empfinden. Dennoch
lässt sich die Parallele zur Gefängnisarchitektur nicht leugnen, Shopping Malls sind sozusagen »synoptisch« ausgebaut, was den Panoptismus19 keinesweg ausschließt. Die Funktion der Ausgestaltung unterliegt allein der Maßgabe, die Aktivitäten des Publikums ausschließlich auf den Konsum zu konzentrieren. Auch die Höhe der Wände wird in die Planung einbezogen, denn die Aura eines normalen Innenraumes soll vermieden werden, stattdessen der Eindruck eines Straßenbildes generiert werden. Die Höhe der Geschäfte liegt meist etwas über der normalen Geschosshöhe, so wie man es von der Mehrheit städtischer Straßenzüge gewohnt ist. Die Shopping Mall unterliegt verschiedensten, genau präzisierten Gestaltungskalkülen, neben den bereits erwähnten gehört dazu auch die Bevorzugung der mit dem Auto Anreisenden. In vielen Malls, so auch in den Höfen am Brühl, befindet sich der Eingang von den Parkdecks zum Einkaufsbereich im ersten Obergeschoss, wodurch der Autofahrer-Gast nicht die Mühsal, eine Treppe hochzusteigen, erleiden muss. Ganz im Gegenteil, kommt er sogar in den Genuss, gleich einem Adligen, die Treppen hinabzusteigen, mit dem erwünschten Nebeneffekt, direkt beim Betreten der Mall über eine leichtere Orientierung zu verfügen, sodass er sich getrost auf die vorgeplante Routenführung einlassen kann. Die Shopping Mall imitiert das städtische Prinzip und seine architektonische Ausprägung, modernisiert und funktionalisiert dieses aber, um eine vorgetäuschte Konsumentensouveränität herzustellen, was wiederum in dem Ziel der Shopping Mall, der ungebremsten Kauflust, mündet. Den Vergleich der Shopping Mall mit einem in der Stadt gelandeten Ufo scheint nicht nur uns Urbanisten zutreffend anzumuten, sondern auch für die Managements dieser »Ufos«. Ein wichtiger Bestandteil ihrer Erfolgsstrategie ist die Generierung einer Lokalisierung ihrer Mall mit der Stadt. Fest steht, dass die Mall sich als das gesäuberte, gesicherte und gestylte Gegenstück zur Innenstadt präsentiert. Zugleich muss jedoch auch eine Identität hergestellt werden, wofür die Mall sich in die umgebende Stadt integrieren muss oder zumindest vereinzelte Punkte herstellen muss, welche von den Konsumenten als etwas Vertrautes angenommen werden. Hierzu stehen dem jeweiligen Management drei beliebte Mittel zur Verfügung. Zum einen wird darauf geachtet, einen vertrauten Name auszuwählen. Das »Allee-Center«, so scheint es durch den Namen, ist nur die verbesserte Weiterführung der Stuttgarter Allee, die »Promenaden Hauptbahnhof« bedienen sich dem Begriff der Promenade, ein Ort des Flanierens und des Gesehenwerdens, wo man in Kontakt mit seinen Mitmenschen tritt und Gespräche sich auftun, soweit zumindest die alte Interpretation oder die des Managements, was seinen Slogan wie folgt, »Man trifft sich in den PROMENADEN!«, verkündet. Die »Höfe am Brühl« scheinen
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dagegen ein fester Bestandteil der Stadt zu sein und greifen mit ihrem Namen eine Verbindung zu einer alten Straße auf. Wer kennt nicht den Brühl und seine Höfe dazu? Des weiteren werden bewusst architektonische Stilmittel benutzt, die einen lokalen oder regionalen Ursprung aufweisen. Die Implantation einer Mall in eine gewachsene und im Alltag ge- und erlebte Struktur wie den Bahnhof ist für diese Herangehensweise wohl das beste Beispiel. Das letzte Mittel zum Suggerieren von Vertrautheit, jedoch vielleicht auch das mit der meisten Aussagekraft, sind die zahlreichen Events. Durch kulturelle Veranstaltungen, welche normal in der Innenstadt ihren Austragungsort finden, wird eine lokale Identität aufgebaut. Wie groß die Bedeutung einer Lokalisierung für den Erfolg einer Shopping Mall ist, belegt die diesbezügliche Leitparole des ECEManagements »Standort, Standort, Standort«, was eindeutig zeigt, wie ernst das lokale Auftreten an jedem Standort genommen wird.20
Quellen: 1
entnommen aus Ipsen, Detlev (1997), »Raumbilder«, Pfaffenweiler: Centaurus-Verl.-Ges., S.7.
2
Marc Augé Theorie sagt das, im Gegensatz zu den Orte, zu öffentlichen Orte, die Nicht-Orte der Postmoderne kontrollierte Orte sind die eine Inszenierung von Öffentlichkeit betreiben. Zudem stellt er hervor, dass der Raum des modernen Konsums unter die Kategorie des Nicht-Ortes fällt, »Nur wer unschuldig ist, erlangt Zutritt« aus: Marc Augé (2012), »Nicht-Orte«, München: Beck, S. 103.
3
Natürlich sind das Material und der an sie geknüpfte Symbolgehalt nicht identisch und unterliegen gesellschaftlichen Wandlungserscheinungen. Vgl. dazu Ipsen, Detlev (1997), a.a.O., S. 9.
4
Böhme, Gernot (1995) »Atmosphäre«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
5
Linde, Hans (1972), »Sachdominanz in Sozialstrukturen«, Tübingen: J. C. B. Mohr, S. 9.
6
Legnaro Aldo, Birenheide Almut (2005), »Stätten der späten Moderne«, Wiesbaden SV-Verlag, S. 51.
7
Schivelbusch Wolfgang (2004), »Geschichte der Eisenbahnreise«, Frankfurt/Main: Fischer Verlag GmbH, S. 35.
8
Zitiert die “Quarterly Review” (1939). Ebd. S.22.
9
Ebd. S. 53.
10 Berger Manfred (1990), Hauptbahnhof Leipzig. In: Aldo Legnaro, Almut Birenheide (2005), »Stätten der späten Moderne«, Wiesbaden SV-Verlag, S. 51 11 Radlbeck Karl (1981), »Bahnhof und Empfangsgebäude«, Dissertation TU-München, S.70 12 Klimmt Reinhard (2000), »Bilder und Informationen aus den Colonaden 6«, Bundesminister für VerkehrBau- und Wohnungswesen, S.3. 13 Interview ECE Center-Management Leipzig. In: Aldo Legnaro, Almut Birenheide (2005), »Stätten der späten Moderne«, Wiesbaden SV-Verlag, S.68. 14 Aus dem Vermietungsprospekt der ECE für Die Promenaden – Hauptbahnhof Leipzig Stand 1.1.2000 15 Bernd Falk (1998), »Shoppin-Center – Grundlagen, Stand und Entwicklungsperspektiven«. In: Bernd Falk (Hrsg.), Das Grosse Handbuch Shopping-Center, Verlag Moderne Industrie, Landsperg/Leel, S. 13 - 45. 16 Aldo Legnaro, Almut Birenheide (2005), »Stätten der späten Moderne«, Wiesbaden SV-Verlag, S. 101 17 Taguchi Yasuhiko (1996), »New Movement in American Shopping Centers«, In: Aldo Legnaro, Almut Birenheide (2005), »Stätten der späten Moderne«, Wiesbaden SV-Verlag, S. 6 18 Legnaro Aldo, Birenheide Almut (2005), »Stätten der späten Moderne«, Wiesbaden SV-Verlag, S. 104. 19 Ebd. S. 110.
links und oben / Höfe am Brühls // unten / Allee-Center // eigene Aufnahmen
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Inwiefern wird »Öffentlichkeit« in Shopping Malls wahrgenommen?
(TEIL 2)
Um Aussagen über die spezifische Wahrnehmung des Raumes in Shopping Malls in Bezug auf »Öffentlichkeit« treffen zu können, entwickelten wir ein Schema zur Kurzbefragung der Nutzer vor Ort. Innerhalb von zwei Werktagen, dem 12. und 13. Dezember 2012, wurden in den einzelnen Standorten jeweils 27 bis 31 Personen zu jeweils vier Fragestellungen interviewt. Hierbei wurde, so gut es ging, darauf geachtet, alle Altersgruppen und beide Geschlechter gleichermaßen anzusprechen. Zu Anfang sollen nun die der Befragung zu Grunde liegenden Annahmen und Thesen sowie die fragenspezifischen Überlegungen dargelegt werden, um Missverständnissen bei der Ergebnisvorstellung und -auswertung vorzubeugen.
Grundlegendes
Diese Untersuchung unternimmt nicht den Versuch, einen »faktischen« Grad von »Öffentlichkeit« in Shopping Malls zu ermitteln, sondern analysiert, inwiefern Shopping Malls von den Nutzern als »öffentlich« empfunden werden, weswegen beispielsweise die reinen Eigentumsverhältnisse hierbei zunächst keine Rolle spielen. Dabei musste allerdings auf eine vorausgehende Studie, in welcher überprüft werden müsste, welches Verständnis von »Öffentlichkeit« unter den Nutzern vorherrscht, aufgrund des begrenzten Zeitrahmens verzichtet werden. Folglich stützt sich die Methodologie der Kurzbefragung auf die stichprobenartige Feststellung der Wahrnehmung von einzelnen Faktoren, deren Relevanz als Charakteristika von »Öffentlichkeit« nachfolgend näher erläutert werden soll (siehe Interview-Fragen). In dieser Hinsicht ist die Studie natürlich leicht anfällig für Ungenauigkeiten, doch durch die detaillierte Erläuterung jeder Frage in ihrer spezifischen Bedeutung für den Öffentlichkeitsdiskurs soll die nötige Transparenz gegeben werden, die nötig ist, um die Einordnung der Antworten zu einem »öffentlichen« oder »nicht öffentlichen« Empfinden seitens der Nutzer nachvollziehbar zu präsentieren. Aus diesem Grund wurde im Vorfeld ein Spannungsfeld der zu erwartenden Antworten formuliert, in welchem die Zuordnung der Antworten vereinfacht vorgenommen werden konnte, um schließlich eine aussagekräftige Auswertung zu ermöglichen.
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Für das Verständnis der Studie erscheint es wichtig, eingangs unsere Grundannahmen nochmals deutlich zu machen:
1. Es wird davon ausgegangen, dass die Bevölkerung mehrheitlich darüber informiert ist, dass Shopping Malls von privaten Betreibern unterhalten werden und deswegen nicht im konventionellen Sinne – von den Eigentumsverhältnissen ausgehend – als öffentlich Räume bezeichnet werden können. Insofern meint »öffentlich« in dieser Studie eine Überlagerung anderer Komponenten, die für das Empfinden dennoch ausschlaggebend sein können. 2. Es wird die Meinung vertreten, dass, trotz des Wissens um die Rechtsform von Shopping Malls als Privateigentum, deren Anspruch, dennoch »Öffentlichkeit« zu suggerieren (»quasi-urban«, »quasi-öffentlich« zu wirken), von den Nutzern zu erkennen sein sollte.
Die zu erzielende Bedeutung der Studie ergibt sich indes aus folgender Hypothese: Je verbreiteter sich die Wahrnehmung von »Öffentlichkeit« in Shopping Malls ermitteln lässt (bzw. je deutlicher und öfter den Shopping Malls von ihren Nutzern Attribute zugeschrieben werden, welche später als Indikatoren für Öffentlichkeit ausgewertet werden), desto bereitwilliger wird das Konzept »Shopping Mall« angenommen, indem bewusst oder unbewusst über die Überformung der städtischen Öffentlichkeit durch eine Schein-Öffentlichkeit hinweggesehen wird.
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Fragenspezifische Erläuterungen und Auswertung
(A) Was ist Ihre Motivation, die /Shopping Mall/ zu
besuchen? (beziehungsweise: Welche Funktionen sehen Sie erfüllt? Warum sind Sie heute hier?)
Mit der ersten Frage musste vor Ort natürlich der Einstieg in das Gespräch gelingen, welches in der Regel fünf bis zehn Minuten beanspruchte und nur in Einzelfällen länger dauerte. Dementsprechend sollte zunächst nach der greifbarsten Information, dem Grund für den momentan stattfindenden Besuch, gefragt werden, wofür keine weiteren Erklärungen notwendig waren und somit unmittelbare Antworten zu erhalten waren. Auf diese Art und Weise erhielten wir zum Teil ausführliche Auskunft über die Nutzungsmuster der Besucher, was sich wiederum in einem direkten Zusammenhang mit der Empfindung von »Öffentlichkeit« betrachten lässt. Es sei eine kurze Reminiszenz an das traditionelle Bild »bürgerlicher Öffentlichkeit« erlaubt, welche sich vornehmlich in Parks, in den damals aufkommenden Boulevards sowie natürlich auf offenen Plätzen, zumeist in Nachbarschaft zu Gebäuden mit Verwaltungsfunktionen, versammelte. Was dabei für uns relevant erscheint, ist die Tatsache, dass es sich jeweils um attraktiv gestaltete Orte mit hoher Aufenthaltsqualität handelte, weshalb es nicht verwundert, dass das Zusammenkommen und vor allem das Zusammenbleiben jeweils eine zentrale Stellung in den berühmtesten
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Definitionen von »Öffentlichkeit« einnehmen.1 Vor diesem Hintergrund zielte die Frage darauf ab, festzustellen, ob die Befragten einem zielgerichteten Einkauf nachgingen oder, als eine Art Freizeitaktivität, länger in der Shopping Mall verweilten, was natürlich auch mit der Akzeptanz von beziehungsweise mit der Aufmerksamkeit für zusätzliche Angebote (Aktionstage etc.) einhergeht und sich teilweise auch darin äußert, dass die Mall als fester Treffpunkt innerhalb des Freundes- oder Familienkreises integriert wird. Insofern ergab sich ein Spannungsfeld zwischen der Kategorie »funktional/pragmatisch«, welche dem Öffentlichkeitscharakter der jeweiligen Shopping Mall eher zuwiderliefe, und der Kategorie »zielloser Zeitvertreib«, welche eher dem konventionellen Öffentlichkeitsbild entspräche.
(A)
15 6
6 Sonstiges
3
Nicht-öffentlich
2
6
8
Bahnhofsnutzung
10
(B) Könnten Sie die Atmosphäre in drei Adjektiven beschreiben?
Öffentlich
8 8
Der hohe Anteil der rein funktionalen Nutzung der Promenaden Hauptbahnhof erklärt sich zu einem Großteil (40%) durch die Bahnhofsnutzung, während er insgesamt weniger zum Verweilen einlädt als die anderen Standorte. Ein junger Mann gab als Motivation für seinen Besuch des Bahnhofs hingegen an: »Ich will ein Mädchen finden, flirten.« Im Fall der Höfe am Brühl äußerten viele Besucher Neugier, weswegen sie sich zielgerichtet zum Schauen und Bummeln in die erst vor kurzem eröffnete Mall begaben.
Höfe am Brühl Allee-Center
Promenaden
1
(B)
2
18
17
Im Allee-Center reichten die genannten Beschreibungen von »angenehm«, »schick«; »hat immer was zu bieten (Aktionen)«; »Man kann den ganzen Tag hier verbringen.« bis »putzige Deko, kulturell engagiert«. Im Fall des Hauptbahnhofs wurden Eigenschaften wie »super«, »perfekt«, »wunderschön«; aber auch Kommentare wie »eigentlich ein Einkaufszentrum wie überall, nur etwas in die Jahre gekommen« geäußert. Bei den Höfen am Brühl, die deutlich weniger Zuspruch fanden, verlief das Spektrum der Antworten von »edel«, »glamourös«, »einmalig« bis hin zu »schwierige Gestaltung«, »steril«, »konsumgeil«, »geleckt«, »nutzlos/unnötig«.
10
10
Höfe am Brühl Allee-Center
71
Promenaden
Die zweite Frage forderte den Befragten dazu auf, die in diesem Moment empfundene Atmosphäre präzise und knapp zu beschreiben, was angesichts der Spontanität der Situation nicht immer leicht fiel. Zudem wissen wir, dass Atmosphären nichts sind, worüber wir tatsächlich nachdenken, vielmehr erschließen wir sie uns ganz unwillkürlich, indem wir sie erfahren.2 Nichtsdestotrotz verbirgt sich hinter dieser auf den ersten Blick harmlos anmutenden Unentschlossenheit beim Beantworten der Frage, so wissen wir es aus dem vorangegangenen Teil des Kapitels, das enorme Bemühen einer groß angelegten Maschinerie von der Namensgebung der Shopping Mall über die Wegeführungen bis hin zu den Lichtstimmungen. Wenn also die Ästhetik des Ortes derart aufwendig und allumfassend kalkuliert wird, würde es verwundern, wenn sich davon kein Fünkchen in der Wahrnehmung der Besucher wiederfinden lassen würde. Miittels dieser Frage sollten nun Anhaltspunkte ermittelt werden, welche Rückschlüsse auf die Bewertung der Gestaltung zulassen würden, denn, ausgehend von der Shopping Mall als materialisierter Wertvorstellung, interessiert uns, wie sich die Besucher zu diesen impliziten Wertäußerungen positionieren. Aus diesem Grund bildete sich das Spannungsfeld zwischen »Ablehnung« und »Zuspruch«. Entweder die Person fühlte sich an dem Ort repräsentiert und empfand ihn als Teil ihrer ästhetischen Lebenswelt oder eben nicht. Daraus lässt sich wiederum ablesen, ob eine ästhetische Akzeptanz des Ortes als ein »öffentlicher«, denn das suggeriert er zu sein, oder seine ästhetische Ablehnung und damit einhergehend die Ablehnung seiner Suggestion vorherrscht.
Fragenspezifische Erläuterungen und Auswertung
(C)
Was stört Sie beim Aufenthalt hier? (bzw. Was möchten Sie hier nicht erleben?) / Glauben Sie, dass „so etwas“ (je nach dem, was die Person geantwortet hat) in einer Stadt dazugehört?
Die dritte Frage diente zur Feststellung der Erwartungshaltung der Benutzer an das gesellschaftliche Zusammenleben im Ort der Shopping Mall selbst, aber auch zur Klärung, inwiefern diese auf die Gesamtstadt übertragen wird oder nicht. Dazu muss angemerkt werden, dass für die Auswertung die eine grundlegende Differenzierung der Antworten vorgenommen wurde: in solche, welche sich auf »soziale Störungen« bezogen und solche, die technische oder infrastrukturelle Aspekte ansprachen. Es fiel außerdem auf, dass diese Frage die am schwersten zu beantwortende darstellte, da oft kein Störpotential benannt werden konnte, sondern zu einem beachtlichen Anteil alles als vollkommen störungsfrei empfunden wurde. Dennoch konnten, mittels der Frage nach Störungen, Informationen darüber erhoben werden, was als Abweichung von der persönlichen Norm wahrgenommen wird, wobei wir uns hierbei natürlich dessen bewusst sein müssen, dass diese »persönlichen« Normen durch den generellen Verhaltenskodex in Shopping Malls, basierend auf der ästhetischen Suggestion sowie der Hausordnung, konditioniert sein können. Aus Sicht der Betreiber von Shopping Malls ist leicht festzumachen, welche Personengruppen als »soziale Störungen« oder gar als »Träger sozialer Infektionen«3 identifiziert werden: vornehmlich Alkoholabhängige und Bettler. Dass tatsächlich einige der Besucher die Frage ad hoc genau mit diesen oder ähnlichen, meist abfälligen Wortlauten beantworteten, ist insofern als radikal zu begreifen, als dass für sie, im Gegensatz zu den Betreibern, diese Personengruppen zumindest keine direkte ökonomische Beeinträchtigung bedeuten. Natürlich soll hier keine Legitimationsgrundlage für die Exklusionspraxis der Betreiber geliefert werden, stattdessen lässt sich aus dieser empirischen
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Augenfälligkeit ableiten, dass durchaus eine Radikalisierung der Wahrnehmung der sozialen Umwelt zu konstatieren ist. Folglich erschien es uns sinnvoll, die Antworten in dem Spannungsfeld zwischen »Komfortbedürfnissen« und »Kontrollbedürfnissen« zu klassifizieren, welche sich zwar nicht direkt als »öffentlich« oder »nicht öffentlich« interpretieren lassen, wohl aber eine Unterscheidung zwischen »gemäßigten Wünschen« (Komfort) und »radikalen Wünschen« (Kontrolle) zulassen. Des weiteren konnte in einigen Fällen erfragt werden, ob die Ausweitung derartiger Kontrolle auf die Gesamtstadt für angebracht gehalten wird (nur bei entsprechenden Kontrollwünsche-Antworten wurde der zweite Frageteil von C überhaupt gestellt), was einer wiederum einer weiteren Radikalisierung entspräche.
(D)
Was glauben Sie, wo würden Ihre Veränderungsvorschläge eher gehört werden - in der / Shopping Mall/ oder in der /Stadt/ (jeweils die an der Shopping Mall anliegende Straße, also Stuttgarter Allee, Nikolaistraße und Hainstraße)?
Die vierte und das Kurzinterview abschließende Frage mag nun vielleicht etwas idealistisch klingen, gleichwohl sie doch Anhaltspunkte für ein ausschlaggebendes Kriterium offenbart. Zwar ergaben sich bisweilen leichte Probleme bei der Beantwortung der Frage, da oft kein Veränderungsbedarf gesehen wurde, ähnlich wie bei Frage C. Mehrheitlich wurde jedoch der hypothetische Charakter der Frage verstanden, woraufhin der Befragte abwägen musste, an welchem Ort er sein Mitspracherecht höher einschätze. Da an dieser Stelle der Befragung keine Erklärungen abverlangt wurden, also nicht weiter nach den Gründen für die getroffene Entscheidung
11
(c)
2
10 6
4
15
0
2 Ohne Aussage Nichts stört
5
3
2
8
Übertragung auf die Stadt Kontrolle
8
Komfort Nur in den Höfen am Brühl überwiegen die Komfortwünsche die Kontrollwünsche. Augenscheinlich ist außerdem, dass die meisten Kontrollwünsche mit Abstand im Hauptbahnhof geäußert wurden. Anscheinende vermittelt das neueste Center mehr Sicherheit. Bezeichnend ist, dass die Übertragung der Kontrolle auf die Stadt ausschließlich im Allee-Center gewünscht wurde. Aber es gab auch eine eher überraschende Antwort: diese: »Ich mag einkaufen nicht, aber es muss sein.«
Höfe am Brühl 12
Promenaden
8
Allee-Center 4
9 10
10
(D) In den innerstädtischen Centern wurde das Mitspracherecht bezüglich eines Straßenraums vergleichsweise hoch eingeschätzt, obwohl in allen drei Fällen die Stimmen für die Shopping Malls überwiegen. Meistens scheint ein Center-Management »näher« am Bürger zu sein. Im Allee-Center trafen wir auf einige pessimistische Stimmen: »Keine Voraussetzungen für Mitbestimmung«, »Antipathie der Stadtverwaltung gegenüber, die sind gegen Bürgerbeteiligung«. Im Hauptbahnhof kam ein Befragter zu diesem Schluss, »ECE ist sehr professionell«, auch hinsichtlich der Mitsprache. In den Höfen am Brühl wurde sich auch wie folgt geäußert: »Interessiert sowieso keinen.«
Quellen: 1 Pachenkov, Oleg und Voronkova, Lilia (2010), »Workshop introductory speech« der Veranstaltung »Urban public space in the context of mobility and aestheticization«, Humboldt Universität Berlin, S. 1.
Höfe am Brühl
Nicht-öffentlich Öffentlich
nachgehakt wurde, kann also nur gemutmaßt werden, aus welchen Annahmen oder Erfahrungen sich das geglaubte Mitspracherecht bei den einzelnen Personen nährt. Es ist hingegen unbestreitbar zu belegen, dass von den Betreibern sehr klare Bemühungen ausgehen, als eine Art Dienstleistungsunternehmen aufzutreten, welches den aufopferungsvollen Kundenservice als oberste Priorität sieht, frei nach dem Motto »Wir sind immer für Sie da!«. Wenn wir hier also von Transformationspotential, Interaktionsmöglichkeiten und Diskursivität sprechen, wie sie vor allem als Merkmale in Theorien von »politischer Öffentlichkeit« auftauchen (so auch in dem wohl einflussreichsten Werk der Öffentlichkeitsdebatte »Strukturwandel der Öffentlichkeit« von Jürgen Habermas aus dem Jahr 1962), liegt dennoch klar auf der Hand, dass es sich dabei in Shopping Malls nur um eine Inszenierung, um einen weiteren Bestandteil der weitreichenden Suggestion handeln kann. Das heißt, innerhalb nicht offen gelegter Grenzen sind Anregungen und Forderungen sicherlich erwünscht und zwar, weil diese »in Begriffen von KonsumentInnengruppen vermessen werden, als Marktsegmente mit besonderen Bedürfnissen und Wünschen, die zu beliefern und kommodifizieren sind«.4 Gleichsam »demokratisch« verpackt, erreicht die Botschaft den Besucher, der sich gut aufgehoben, ja fast schon geborgen fühlt, obwohl er in den seltensten Fällen von seinem geglaubten Mitbestimmungsrecht Gebrauch machen wird. Zur Veranschaulichung der Frage wurde als Vergleichsort eine jeweils direkt an der Shopping Mall anliegende Straße genannt, um eine konkrete städtische Assoziation zu schaffen, sodass sich das Spannungsfeld der Diskursivität schließlich zwischen der »Stadt« und der »Shopping Mall« auftat und nur wenn die Entscheidung auf die Mall fiel, wäre dies als Punkt für ihre Wahrnehmung als »öffentlichen« Ort zu werten.
Allee-Center
Promenaden
2 Böhme, Gernot (1995), a.a.O., S. 29. 3 Legnaro, Aldo und Birenheide, Almut (2005), a.a.O., S.24.] 4 Sheikh, Simon (2005), »Anstelle der Öffentlichkeit?«. In: Gerald Raunig, Ulf Wuggenig (Hrsg.), Publicum, Theorien der Öffentlichkeit, Wien: Verlag Turia + Kant, S. 86.
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III. apitel K
III. I Handlungskonzept / Aktion
Ö
ffentlicher Raum?
Öffentlicher Raum ist die symbolische Platzierung der
»
»
Ö
Öffentlichkeit an einem Ort, womit sie diese jedoch zugleich verunmöglicht. Öffentlichkeit kann nirgendwo sein, sondern nur passieren. Akzeptieren wir »öffentliche Orte« beziehungsweise „öffentliche Räume«, wie sie in der Urbanistik klassischerweise genannt werden, lassen wir zu, dass die symbolische Repräsentation die seiende Präsenz zerstört. Und das bedeutet in der Praxis eine drastische Verengung des Blicks. Wie wir in den vorhergehenden Kapiteln beschrieben, widmeten wir uns genau diesem Unterfangen, welches gar nicht anders konnte, als sich selbst zu verfehlen: wir begaben uns in den öffentlichen Raum der Shopping Mall, um dort Öffentlichkeit zu untersuchen, denn
75
ffentlicher Raum
uns reizte der Konflikt, den wir dort – also vor Ort – vorzufinden glaubten. Jetzt wissen wir, dafür hätten wir auch überall anders hingehen können. Nichtsdestotrotz brachte die Erfahrung der Shopping Mall als Untersuchungsgegenstand unweigerlich die entscheidenden Punkte des »Spektakels« und der »Konstruierten Situation« hervor, welche sich vor allem für die Betrachtungsweise der Urbanistik als Schlüsselelemente erweisen. Denn, so sei hier behauptet, muss der Urbanist sich in seiner spezifischen Rolle des Planers, die mitnichten der des konventionellen Stadtplaners entspricht, nicht insbesondere dem alltäglichen Zusammenleben der Menschen in der Stadt verpflichtet fühlen?
Shopping Mall – Tempel des Spektakels »[...] so dass der höchste Grad der Illusion für sie auch der höchste Grad der Heiligkeit ist.« Feuerbach, »Das Wesen des Christentums«, Vorrede zur zweiten Auflage.1
Um zu verdeutlichen, was wir uns unter der Illusion im Fall der Shopping Mall vorzustellen haben, wollen wir in Erinnerung rufen, was in den einzelnen, detailreich zusammengestellten Artikeln des zweiten Kapitels dieser Arbeit ausführlich behandelt wurde: Die Geschichte des Baukörpers der Shopping Mall; Die historisch ansetzende Beschreibung des Konsums, auch hinsichtlich seiner sozialen und politischen Strukturen zur Herleitung des heute vielfach verwendeten Begriffs einer zeitgenössischen Konsumgesellschaft; Die Festlegung eines normativ wirkendes Regelwerks, dessen Einhaltung gar nicht im vollen Umfang gewährleistet werden kann, während aber genau dies erfolgreich suggeriert wird. Die manipulative Kraft der symbolischen Raumgestaltung, welche sich letztlich nicht nur auf die Wahrnehmung innerhalb der Shopping Mall selbst beschränkt, sondern teilweise in die unbewusste Übernahme dieser ästhetisch vermittelten Werte in den Stadtraum mündet. Die Ausführungen der einzelnen Themen wurden in Anlehnung an einer der Raumtheorie entnommenen Matrix realisiert, um erkennbar werden zu lassen, welch vielschichtige Räume sich am Ort der Shopping Mall überlagern und wie sie auf uns wirken. Dennoch liegt die Essenz dieser Informationen im eigentlichen Leben und Erleben der Shopping Mall im Stadtalltag. Und die alltägliche Erscheinung der Shopping Mall ist schlicht und
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ergreifend die der »besseren Straße«, so zumindest die Intention und in nicht geringem Maße zeugen sowohl die quantitative Auslastung als auch die unreflektierte Wahrnehmung seitens der Besucher von ihrem Erfolg. Das Gewand des Scheins, in dem sie sich kleidet, setzt sich aus vielerlei zusammen: viele Funktionen unter einem Dach; zusätzliche Aufenthaltsqualitäten wie Wetterschutz, Sicherheit, Komfort und kulturelle Freizeitangebote wie Ausstellungen sind sogar kostenlos. Dieser Schein lädt dazu ein – schreit geradezu danach – sich bedenkenlos der kurzfristigen Befriedigung immer wiederkehrender Bedürfnisse hinzugeben. Die Suggestion der Mall geht so weit, sich selbst als idealen Zustand zu präsentieren, der wiederum kein weiteres Verlangen nach Veränderungen aufkommen lässt. In diesem Sinne möchten wir von einer totalen Verräumlichung sprechen, welche ausschließlich dem sicheren Fortbestand eines konkreten Ideals zu dienen sucht, was zwangsläufig den Ausschluss anderer Ideale sowie die Verunmöglichung von Öffentlichkeit impliziert. Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Shopping Mall versucht, durch die Inszenierung von Öffentlichkeit, die Verortung der Symbolik der Öffentlichkeit als »öffentlicher Raum« zu monopolisieren, was letztlich nichts anderes als Mittel zum Zweck ist, für die ständige Ankurbelung des Konsums.
»Das Spektakel ist, in seinen eigenen Kategorien betrachtet, die Bestätigung des Scheins und die Bestätigung allen menschlichen, d.h. gesellschaftlichen Lebens als einfacher Schein.«2
Aber welche konkreten Planungen mag nun ein Urbanist angesichts dieser Problematik erwägen? Weder kann man sagen, dass »öffentlicher Raum« durch die Privatisierung und Überdachung desselben zerstört würde, noch kann man behaupten, dass vor dem Ende der Öffentlichkeit stünden. Da
wären die klassischen Instrumente der aktuellen Stadtplanung wie etwa städtische Vorgaben zur Einrichtung von Wohneinheiten in der Shopping Mall, die kulturelle Bespielung des »öffentlichen Raumes« in der Mall (des Nicht-Geschäftraumes) durch die Stadtverwaltung oder, in umgekehrter Richtung gedacht, der Umbau der Innenstadt nach den Gestaltungsprinzipien einer Mall, welche allesamt das eigentliche Problem nicht lösen können. Derartige Maßnahmen muten insofern althergebracht an, als dass gerade sie zu einer Stärkung der Symbolik der Shopping Mall als Ort der Öffentlichkeit führen werden – was sich für uns nicht als Option stellt. Wir könnten natürlich dem Kapitalismus die Schuld geben, nichts mehr kaufen und im Straßenkampf den »Öffentlichen Raum« heldenhaft zurückerobern! Was hätten wir damit gewonnen? Wäre das dann die Verwirklichung unserer geliebten Öffentlichkeit? Das Spektakel des Scheins ist dann im Gange, wenn wir uns ihm anschließen, was für unsere Betrachtung der Shopping Malls bedeutet: Wenn wir uns nicht der bisherigen und nunmehr widerlegten Auffassungen von »öffentlichen Räumen« entledigen, welche sich in immer wieder neuen Tempeln des Spektakels materialisieren ließen, entheben wir uns automatisch der Möglichkeit, Öffentlichkeit geschehen zu lassen. Angesichts dieses Dilemmas sehen wir nur noch einen Weg: Wir müssen einfach Berge versetzen!
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Wenn Glaube Berge versetzen kann / When faith can move mountains Der Aktionskünstler Francis Alys nahm in einem seiner Projekte die symbolische Platzierung von Orten sprichwörtlich auf die Schippe. Mit 500 Freiwilligen bewegte er eine 488 Meter hohe Sanddüne. Dazu stellten sich die Freiwilligen in einer Reihe vor die Düne und fingen an, rhythmisch zu schaufeln, bis sie auf die andere Seite der Düne gelangt waren. Sie versetzen den Berg somit um ungefähr zehn Zentimeter. Mit dem Versetzen des Berges erreicht er zwei Dinge: Er schafft durch die Veränderung des materiell-physischen Substrats einen Ort und besetzt ihn gleichzeitig mit der Symbolik, dass der Glaube Berge versetzen kann. Der Erfolg seiner Inszenierung begründet sich für uns im wesentlichen darin, dass die freiwilligen Teilnehmer durch ihr bewusstes, vom Habitus abweichenden Handeln den »Akt einer politischen Öffentlichkeit« vollzogen.
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Konstruierte Situationen – wenn uns die Satire hilft Hiermit gelangen wir an den Punkt, an dem es gilt, Konsequenzen für einen konkreten Handlungsvorschlag zu ziehen, welcher sich explizit auf die Dimension des Alltäglichen bezieht. Zur Erfassung eben dieser soll uns hierbei eine zwar reduzierte, aber doch überaus zutreffende Art der Anschauung weiterhelfen. Einerseits verschwimmt ein Großteil der erlebten Geschehnisse zu einem seltsam ausdruckslosen Brei, für den der Begriffs des »Alltags« eigentlich geläufig gebraucht wird. Andererseits liegt unsere »Fähigkeit, das natürliche und gesellschaftliche Leben zu genießen«3 in den Momenten verborgen, welche
zwar ausdrücklich Teil dieser Alltäglichkeit sind, jedoch durch wesentliche Eigenschaften hervorstechen. Ohne im Detail auf Lefèbvres Theorie der Momente eingehen zu können, wollen wir vor allem das betonen, was sich in Beziehung zur eingangs beschriebenen Problematik setzen lässt. Moment im Sinne Lefèbvres meint das Resultat einer freien Handlungsentscheidung, welche sich zwar aus dem Gegebenen bildet, dieses aber durch das bewusste Ausführen der Wahlfreiheit verändern oder gar neu erschaffen kann. Insofern sind sie immer einzigartig, da im direkten Bezug zum Gegenwärtigen stattfindend, und doch allgemein, denn sie können sich wiederholen, wie etwa Lefèbvres favorisiertes Beispiel vom »Moment der Liebe«. In der Rezeption und Verarbeitung dieser Theorie gehen die Situationisten einen entscheidenden Schritt weiter, indem sie die »Situation« als »gestalteten und organisierten Moment« entwerfen.4 Das erhöhte Handlungsbewusstsein, welches den Situationen zugrunde liegt, zeigt sich in dem Maße, in welchem sie die Konstruktion und Gestaltung derselben in den Vordergrund zu rücken bestrebt sind. Basierend auf der Willensfreiheit, die sowohl den Momenten als auch den Situationen inhärent ist, gesellt sich für die »situationistische Kultur« der Anspruch »eine Kunst des Dialogs und der gegenseitigen Beeinflussung [zu] sein.«5 Schließlich muss gesagt werden, dass die Konstruktion von Situationen als das ausschlaggebende Mittel zu sehen ist, welches dem Fortbestehen des Spektakels entgegenwirkt.
»Gegen das Spektakel führt die verwirklichte situationistische Kultur die totale Beteiligung ein.«6
Wir sehen uns vor die Notwendigkeit gestellt, das »Spektakel der öffentlichen Räume«, wie wir es in seiner spezifischen Ausprägung in Shopping Malls erlebt haben, mittels der Konstruktion von Situationen zu beenden, wobei wir uns außerdem vornehmen »das Maximum des konstruierten Moments« zu erreichen, welches »die an dasselbe Thema geknüpfte Situationenfolge«7
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darstellt. Die Kategorie der Satire liefert uns die dramaturgischen Werkzeuge zur Gestaltung des Situation, die die Demaskierung des Spektakels provozieren muss. Des weiteren erachten wir es als genauso notwendig, diese Situtationenfolge sofort einsetzten zu lassen und keine weitere Aufschiebung zu dulden.
www.youtube.com/watch?v=Wsqsh6wsdOo
ÖR
Wir brauchen zunächst die symbolische Repräsentation des Raumes an einem Ort. Als solche wählen wir ein leeres Konservenglas. Des weiteren benötigen wir die Öffentlichkeit. Leider hat sie sich in der Shopping Mall verirrt. Um sie dort wieder heraus zu bekommen, müssen wir sie behutsam einfangen und sie zu Transportzwecken in unserem Ort einschließen. Um das hiermit zum »öffentlichen Raum« gewordene Gemüseglas wieder in Öffentlichkeit zu verwandeln, bedarf es der Konstruktion einer Situation. Durch die Kommerzialisierung des öffentlichen Raumes kreieren wir eine Situation, die eine erste Abweichung des Habitus darstellt, denn im Grunde kann man einem leeren Glas nicht viel abgewinnen und die Begrifflichkeit des »öffentlichen Raumes« wird zugleich ad absurdum geführt. Aber durch eine kollektive und repetitive Inszenierung der Öffentlichkeit mittels der Symbolik des Glas-Öffnens wollen wir eine völlige und grundlegende Veränderung des Habitus erreichen. Hierzu stellen wir uns als Planer mit unserer Zeit zur Verfügung und helfen dem Öffner des Glases, eine von ihm frei bestimmte Aktion an einem Ort seiner Wahl zu inszenieren. Durch Wiederholung des Vorgangs (einmal im Monat) vervollständigen wir die Veränderung und das Öffnen des Glases wird zu »Öffentlichkeit«, zumindest zu dem kurzen Moment, in welchem wir sie zu verwirklichen ganz nah sind. Im eigentlichen Sinn einer »politischen Öffentlichkeit« bleibt sie jedoch nicht zu halten, diese liegt ausschließlich im Vorgang der Veränderung. Denn in dem Moment, in dem die Veränderung im Habitus integriert wird, erleben wir »soziale Öffentlichkeit«, welche erst durch erneute Abweichungen abermals verwirklicht werden kann.
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»Die Situation ist jedoch niemals als unteilbarer und isolierbarer Augenblick [...] dargestellt worden, sondern als ein Moment innerhalb der Bewegung der Zeit, der seine eigenen Auflösungsfaktoren, seine Negation enthält.«8
Quellen: 1 2
Zitat entnommen aus: Debord, Guy [1967] »Die vollendete Trennung«. In: SI-Revue, deutsche Zweitausgabe, Band 2, Nummer 11, S. 191. Ebd., S. 192.
3
Zitiert nach: Lefèbvre, Henri, »Die Summe und der Rest«. Entnommenen aus: »Die Theorie der Momente und die Konstruktion von Situationen«, in: SI-Revue, deutsche Zweitausgabe, Band 1, Nummer 4, 1960, S. 111.
4
Ebd.
5
»Manifest«, ebd., S. 136.
6
Ebd.
7
»Die Theorie der Momente und die Konstruktion von Situationen«, a.a.O., S.112.
8
Debord, Guy, »Über einige Interpretationsfehler«, in: SI-Revue, deutsche Zweitausgabe, Band 1, Nummer 4, 1960, S. 130.
81
Abbildungsverzeichnis soweit nicht direkt angegeben oder eigene Aufnahme (A1) http://tectonicablog.com/wp-content/uploads/2012/12/ millirons3.jpg (A2)
Quelle: http://www.flickr.com/photos/26329029@N06/7173768083/
(A3) http://www.minnpost.com/macro-micro-minnesota/2012/04/retailerspast-best-buy-will-have-adapt-survive&docid=dIN5rgYVmkKQeM&i mgurl=http://www.minnpost.com/sites/default/files/images/articles/ southdalecenteropening_640.jpg&w=640&h=427&ei=xY4CUYeFJceKswbw 2oG4Dw&zoom=1&iact=hc&vpx=254&vpy=411&dur=9511&hovh=183&ho vw=275&tx=75&ty=88&sig=112979566316080521921&page=1&tbnh=141& tbnw=235&start=0&ndsp=34&ved=1t:429,r:15,s:0,i:128 (A4)
http://en.wikipedia.org/wiki/File:Victor_Gruen_-_Image_ from_the_American_Heritage_Center.jpg
(A5) http://en.wikipedia.org/wiki/ File:Victor_Gruen_-_Image_from_ the_American_Heritage_Center.jpg (A4) http://kek.org.hu/filmnapok/‘wp-content/uploads/2012/03/gruen-Southdale-Daytons.jpg (A5) http://davidcobbcraig.blogspot.com/2011/05/more-mall-postcards-stairs-and. html&docid=WTjLGqhrGx8gVM&imgurl=http://3.bp.blogspot.com/NEJ5ofx7R2w/TdJ37efmFkI/AAAAAAAAByQ/R_A36D7tqmo/s1600/Fourth%25 2Band%252BFifth%252BMall%252BPost_NEW_0005. jpg&w=1600&h=1008&ei=P30VUcLtIqXJ4ASm7IFw&zoom=1&iact=hc&vpx=66 3&vpy=444&dur=844&hovh=178&hovw=283&tx=151&ty=93&sig=117575669394 245945060&page=2&tbnh=14 (A6) http://davidcobbcraig.blogspot.com/2011/05/more-mall-postcards-stairs-and. html&docid=WTjLGqhrGx8gVM&imgurl=http://2.bp.blogspot.com/Z8mqQBGt2rg/TdJ_9n12JJI/AAAAAAAAByc/UJidZ8Sa0IY/s1600/Fourth%252Ba nd%252BFifth%252BMall%252BPost_0002_NEW_0001.jpg&w=1600&h=1015&ei= P30VUcLtIqXJ4ASm7IFw&zoom=1&iact=hc&vpx=1213&vpy=219&dur=1345&hov h=179&hovw=282&tx=168&ty=123&sig=117575669394245945060&page=2&tbnh =137&tbnw=205&start=50&ndsp=60&ved=1t:429,r:58,s:0,i:263 (A7) http://ploenzeile.de/2011/09/03/die-grenzen-des-wachstums-herbst-2011/supermarkt/
(A8) http://www.fotocommunity.de/pc/pc/display/23396571
(A9)
(A10)
http://www.ploync.de/allgemein/318-konsum-und-einzelhandel-in-der-ddr-zur-wendezeit-1990.html
http://www.takraf.com/images/locations_history/leipzig_messehalle_1924_gross.jpg (zugegriffen am 29.01.2013)
(A11) http://www.stadtbild-deutschland.org/forum/index. php?page=Thread&postID=50139 ) (A12) http://www.flickr.com/photos/87367171@N05/8223118402/sizes/l/in/photostream/
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Herzlichen Glückwunsch zum Erwerb von „öffentlichem Raum“. Dieses Produkt wird Ihnen auf dem Weg der Erschaffung eines „Himmels auf Erden“ ein nützliches Werkzeug sein. Bitte beachten Sie, dass es sich hier um ein Einwegprodukt handelt. Beim Öffnen des „öffentlichen Raumes“ verwandelt sich dieser in Öffentlichkeit und ist damit nicht mehr funktionsfähig. Einmal verbraucht, sollte der Behälter fachgerecht entsorgt werden. Denken Sie an unsere Umwelt.
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Gebrauchsanweisung: Hiermit haben Sie einen Gutschein für die Inszenierung ihrer persönlichen Öffentlichkeit erworben. Einfach mal meckern, etwas mit anderen Menschen unternehmen oder gar durchdrehen? Dann kontaktieren Sie uns unter folgender Adresse: fang.die.oeffentlichkeit@gmail.com. Wir inszenieren die Öffentlichkeit nach Ihren Wünschen. Alle Orte und Arten der Öffentlichkeit sind bei uns erhältlich. Mit dem Öffnen des Glases setzen Sie, nach vorheriger Absprache mit dem Service- Team, Ihre Öffentlichkeit frei.
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Wir wünschen Ihnen viel Spaß mit dem „öffentlichen Raum“ und hoffen, dass Sie bald wieder unser Kunde sein werden auf Ihrem Weg des Streben nach einem „Himmel auf Erden“.
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ÖR Zu Risiken und Nebenwirkung lesen Sie das Kleingedruckte oder fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker.
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