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Der vermessene Mensch

Die Verwechslung von Feedback und Fremdbild zieht sich wie ein roter Faden durch gängige Systeme der Unternehmenskommunikation. Dies führt häufig dazu, dass «the dark side of feedback» sich nicht automatisch erschliesst. Statt Menschen zu befähigen, einander zu sagen, was sie voneinander brauchen und wo der Bedarf verfehlt wird – eine Notwendigkeit in der Kooperation –, werden sie systematisch angehalten, einander «den Spiegel vorzuhalten», so als sei es für ihre Entwicklung oder gar zur Erreichung von Organisationszielen relevant, wie man einander bewertet, findet oder aufeinander wirkt – also welche Fremdbilder man übereinander konstruiert. Die begrifflich unsaubere Einordnung dieses Vorgangs als «Feedback» (Feedback im Wortsinn = Rückmeldung von Effekten – nicht ihre Bewertung oder gar die der auslösenden Quelle!) erschwert es, sich dagegen zu wehren: Denn man braucht ja «Feedback»… Wer sich gegen diese gestörte Kommunikation auflehnt, wird nicht selten als «nicht entwicklungswillig» oder «nicht kritikfähig» hingestellt …

Worum gehts?

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In Betrieben ist PersonenEvaluierung vollkommen selbstverständlich geworden. Jeder bewertet jeden – direkt, anonym, mit oder ohne Hilfe von Tools und Formularen, in Mitarbeitergesprächen, Qualitätssystemen, Potenzialeinschätzungsverfahren … Wer diesen Megatrend kritisch hinterfragt, findet sich oft (siehe oben) auf verlorenem Posten … Gleichzeitig nimmt der Anteil psychischer Erkrankungen an Arbeitsunfähigkeit und Frühverrentung dramatisch zu. Eine zufällige Koinzidenz?

In einer komplexen Arbeitswelt werden Personenmerkmale wie etwa soziale Intelligenz, Belastbarkeit, Flexibilität immer wichtiger – und es erscheint sinnvoll, diese Qualitäten in Bewerbungsverfahren neben die Einschätzung der Fachkompetenz zu stellen und zu beachten. Wer jemanden auf einer bestimmten Position einsetzen möchte, wird sich über diese Aspekte ein Bild machen und sie in die Entscheidung z. B. über die Wahl eines Bewerbers einbeziehen. Insofern hat der Einsatz von Beurteilungsinstrumenten, Tests und Methoden der «PersonenEvaluation» bei Selektions und Platzierungsprozessen einen Sinn, wenn die «Entscheidungsqualität», die damit erzeugt wird, der «Nasenauswahl» überlegen ist. Auch wenn es im Bereich der Kompetenzeinschätzung keinen empirischen Beleg dafür gibt, dass Fremdbilder der Selbsteinschätzung grundsätzlich überlegen seien und die

Intelligenz von Menschen schon überschätzt wird, wenn sie eine Brille tragen, kann man wohl von der Prämisse ausgehen: Das Fremdbild des Entscheiders begründet seine Handlungen. Es scheint deshalb sinnvoll, dessen mögliche Fehleinschätzungen durch gute Methoden etwas in Schach zu halten. Doch was bedeutet das für die Kommunikation?

PersonenEvaluierung und Veränderung

Die Diagnose der Kompetenz und Leistung einer Person ist ein Fremdbild und umschreibt die Positionierung der Person im sozialen Vergleich hinsichtlich der bewerteten Aspekte aus Sicht des Beurteilers. Fremdbilder – auch zu Person und Leistung – sind die Grundlage für Handlungsentscheide des Beurteilers. Es ist aber nicht unbedingt sinnvoll, die Fremdbilder selbst zu kommunizieren. Einem Bewerber wird man – etwa bei einer Stellenbesetzung – hoffentlich nicht unaufgefordert die gesamte «Diagnose» zu ihr/ihm selbst mitteilen – sondern man wird sagen, ob man sich für sie oder ihn entschieden hat oder eben nicht.

Wird jedoch die Personen und Leistungsbeurteilung in einer Art «DauerAssessment» unbefangen als «Leistungsfeedback» kommuniziert, womöglich gar um Prozesse zu verbessern oder Entwicklung anzustossen, entstehen Probleme auf mehreren Ebenen.

Bereits das Diagnostizieren selbst lässt bekannterweise das Feld nicht unbeeinflusst – doch spätestens mit der Kommunikation der Fremdbilder wird das Feld der Diagnose endgültig verlassen und das der Intervention betreten. Die Mitteilung einer Diagnose ist eine Intervention. Der Sinn von Interventionen aber muss sich an ihrer Legitimität und Wirkung messen lassen.

Es gehört nun jedoch zu den durchaus gängigen Vorstellungen, dass die Kommunikation von Fremdbildern und Diagnosen zur Person ein geeigneter Modus zum Anstossen von Prozessverbesserung sei – also eine nützliche Intervention. Dahinter steht häufig ein naiver Glaubenssatz zum Thema Veränderung, der lautet: «Man muss erst mal wissen, wo man steht – und wenn jemand nicht weiss, wo er steht, muss man es ihm sagen …»

Muss man?

Der Volksmund könnte hier einwenden: Die Sau wird nicht fetter, wenn man sie wiegt. Oder auch: Man wird nicht hübscher, wenn man in den Spiegel schaut … Kein Geringerer als Einstein hat (unter anderen) hervorgehoben, dass die Beschreibung und Erklärung eines Status quo nicht unbedingt orientierend für eine Veränderung ist. Orientierung ergibt sich immer aus dem zu Erstrebenden, aus dem Zielzustand – nicht aus dem Problem.

Lösungsorientierung: Grundlage konstruktiver Intervention

Worauf kommt es am Ende an? Welche Schlüsselkriterien charakterisieren das, was es zu erreichen gilt? Also den Unterschied, der den Unterschied macht? Diese Information wäre tatsächlich orientierend für die Prozessgestaltung.

Orientierung in diesem Sinn hat Vorrang vor einer «Spiegelung» des Status quo oder gar Kritik – und erfordert eine

Abstraktionsleistung und die mentale Anstrengung, sich ans Ende der Reise zu stellen, zu erfassen, worauf es «am Ende ankommt» und diese Schlüsselkriterien zu kommunizieren, um sodann einen Weg, ein Wie zu (er)finden.

In diesem Sinn sollte Orientierung in jedem Veränderungsprozess Vorrang vor Kritik eingeräumt werden. Aus einer StatusquoAnalyse ist nur Orientierung zu gewinnen, wenn sie relevante Parameter der Systemumwelt mit erfasst, an die es sich anzupassen gilt. Denn erfolgreiche Anpassung an die Systemumwelt ist für lebende Systeme letztlich immer der Zielzustand im Sinne des Überlebens. Die Kommunikation von Fremdbildern zur Person erfüllt diese Funktion so gut wie nie.

Fremdbilder: Wer will es wirklich wissen?

Wie kommt es dann, dass Menschen so häufig nach Bewertung und Fremdbildern fragen? Wer fragt: «Wie findest du mich?», ist unsicher. Fragt man Menschen nach dem Sinn von Mitarbeiterbeurteilung, Potenzialeinschätzungen oder Fremdbildaustauschsystemen (die irrigerweise FeedbackSysteme heissen), lauten die typischen Antworten deshalb: Man muss doch wissen, wo man steht. Gemeint ist eher: Man muss sich Sicherheit verschaffen, ob der Leistungsabnehmer auch wirklich zufrieden ist und man die Konkurrenz erfolgreich in Schach hält – denn man hängt im Zweifelsfall davon ab.

Sich erfolgreich anzupassen, würde nahelegen, statt retrospektiv nach Bewertung eher zukunftsbezogen nach Bedarf zu fragen. «Was brauchst du von mir, um zu …?» ist in der Zusammenarbeit eine produktivere Frage als «Wie fandest du mich …?». Wer unbedingt wissen möchte, was der andere von ihm hält, kann natürlich fragen – und muss im Zweifelsfall mit der Antwort leben. So gesehen sollte es in der Arbeitswelt das «Recht auf ein Zeugnis» durchaus geben.

Ohne eine entsprechende Anfrage, also unaufgefordert jemand anderem eine Bewertung oder ein Fremdbild zu kommunizieren, erscheint dagegen nicht von vorneherein legitim. Es mag willkommen sein, wenn es sich um ein Kompliment handelt – ansonsten birgt der Vorgang immer auch die Gefahr, als übergriffig wahrgenommen zu werden.

«Darf ich Ihnen mal ein Feedback geben?»

Wer so angesprochen wird, ahnt deshalb meist schon, womit er zu rechnen hat – nämlich mit einer Attacke auf seine seelische Gesundheit. Denn keinesfalls kündigt dieser Sprechakt wirkliches Feedback an, sondern vermutlich ein Fremdbild. Denn der Sprecher wird mit hoher Wahrscheinlichkeit gleich mitteilen, was er von der Person und ihrer Leistung in einem bestimmten Kontext hält. Besonders perfide erscheint es, wenn dieser «Übergriff» auch noch als «Geschenk» konnotiert wird und die Erwartung damit verbunden wird, dass der oder die so Angesprochene sich für das Traktat bedanken müsse …

Hätte der Sprecher nämlich «Feedback» im eigentlichen Sinn vor, würde er anders beginnen – ohne Umschweife. Er würde vielleicht sagen: «Haben Sie mal einen Moment Zeit? Wir haben hier

folgendes Problem bekommen … brauchen deshalb.» Oder auch: «Ich möchte mich noch mal bedanken, es hat alles geklappt!»

Feedback im eigentlichen Wortsinn ist die Zurückspeisung der Effekte einer Anwendung ins System – der Effekte selbst und nicht ihrer Bewertung. Schon gar nicht ist damit die Ansicht über die auslösende Stelle gemeint. Die Information über Effekte belastet die Beziehung nicht und reduziert sogar empirisch nachweisbar die Reaktanz, wenn vorher negative Bewertungen abgegeben wurden.*

In einem Kooperationszusammenhang bedarf echtes Feedback daher keiner Erlaubnis. Die Kommunikation von Effekten ist durch den Bedarf in einem Kooperationszusammenhang von vorneherein legitimiert, ein «Herumdoktern» am anderen jedoch nicht.

Bestimmte Probleme in Systemen sind natürlich nur von aussen sichtbar. Aussenperspektiven sind deshalb überlebensrelevant – doch nicht jede Aussenperspektive ist gleichermassen relevant. Sie ist es nur, wenn sie relevante Parameter zur Anpassung an die Systemumwelt mitliefert. Auch an dieser Stelle wird nicht gefragt: «Darf ich …?» Wer jemanden wirklich vor einem Risiko warnen möchte, tut es einfach.

Kleines Beispiel aus der «ComicKiste»: Sitzen zwei Küken in unterschiedlichen Schachteln. Auf der einen steht von aussen: «Küken zum Liebhaben 5 €» und auf der anderen: «Haifischfutter 1 €». So wäre eine Aussensicht auf die Schachtelaufschrift für die Küken überlebensrelevant. Vollkommen uninteressant für das Küken ist jedoch ein Fremdbild zu sich selbst …

Hier erliegen auch geübte Systemiker in der Praxis dem einen oder anderen Denkfehler. Im Angebot wären zum Beispiel:

1. Meine Perspektive ist eine Aussenperspektive. 2. Aussenperspektiven sind immer relevant. 3. Deshalb ist auch meine Perspektive relevant. 4. Deshalb ist es per se nützlich, sie mitzuteilen. 5. Das verstört mindestens. 6. Dazu bin ich berechtigt, weil Verstörung konstruktiv ist. 7. Dann entsteht neue Ordnung, und die ist immer besser als die alte («Weisheit des Systems»). 8. Deshalb spiegele ich, bin aber abstinent in der Lösungsaktivität.

Verwechslung mit Folgen

In der Alltagskommunikation gehen Feedback, Fremdbild und Bewertung der Person oft durcheinander. Mit verkraftbaren Folgen – denn auf Basis gesicherter Beziehungen kann man sich Qualitätsmängel in der Kommunikation erlauben, registriert man Kränkung, entschuldigt sich, bessert nach …

Ist die systematische Unternehmenskommunikation jedoch mit dem schweren Fehler der Verwechslung von Feedback, Fremdbild und Beurteilung behaftet, potenzieren sich Schäden und unerwünschte Nebenwirkungen. Systemfehler haben hohe Folgekosten.

Statt Menschen zu befähigen, einander «echtes» Feedback zu geben, d. h., einander zu sagen, was sie voneinander brau

chen und wo der Bedarf verfehlt wird – eine Notwendigkeit in der Kooperation –, werden sie in vielen Betrieben und mit zunehmender Verve systematisch dazu angehalten, einander «den Spiegel vorzuhalten», so als sei es für die Entwicklung oder gar zur Erreichung von Organisationszielen relevant, wie man einander bewertet, findet oder aufeinander wirkt. Die begrifflich unsaubere Einordnung dieses Fremdbildaustauschs als «Feedback» (Feedback im Wortsinn = Rückmeldung von Effekten – nicht ihre Bewertung oder gar die Bewertung der auslösenden Quelle!) erschwert es, sich dagegen zu wehren: Denn man braucht ja «Feedback» … Wer sich dem «Beschuss» mit Fremdbildern entziehen möchte, wird als «nicht entwicklungswillig», «nicht kritikfähig» hingestellt … ein beliebtes Spiel in «FeedbackSystemen», aber auch in Kommunikationstrainings, wo es durch einen Lernrahmen scheinbar legitimiert ist, Menschen mit dieser unerbetenen Form von Rückmeldung zu traktieren. Dieses Framing führt dazu, dass niemand sich artikuliert: Wer gut abschneidet, wird nichts gegen die Methode einwenden, wer schlecht abschneidet und den Mund aufmacht, riskiert, mit dem neuzeitlichen ModeSchimpfwort «unprofessionell» belegt zu werden … Letztlich entsteht so ein gestörtes Kommunikationsschema mit unkalkulierbaren Folgen. Denn Bewertungskulturen bedrohen ununterbrochen die Zugehörigkeit und Identität, indem die Beziehungen strapaziert werden. Bewertung ist ein hierarchischer Kommunikationsmodus: Im Moment des Urteils stellt sich der Beurteiler über den anderen. Dies prägt die Beziehungen auf eigene Art: Es sichert in Abhängigkeitsverhältnissen womöglich diffuse Anstrengung und Konformität – aber zu einem hohen Preis.

Die Risiken von PersonenEvaluierung

Zunächst ein typisches Beispiel: In einer Behörde mit vielen tausend Beschäftigten werden Mitarbeiter systematisch und in regelmässigen Abständen beurteilt. Die Ausgangs«Note» für gute Leistung ist eine 3. Die Vorgesetzten verfügen über ein Notenbudget, welches sie unter Einhaltung der Gaussschen Normalverteilung auch in Teams von etwa 10 Personen vergeben: Die Mitarbeitenden werden innerhalb des Teams «gerankt». Die Führungskräfte werden angehalten, die Möglichkeiten des Rankings auszuschöpfen und auf keinen Fall zu gut zu bewerten. Die Beurteilung ist relevant für künftigen Aufstieg, gegebenenfalls auch für die Geldverteilung, und wird gekoppelt an ein Gespräch. Möglicherweise wird der oder die Mitarbeitende auch aufgefordert, seine Selbsteinschätzung mitzuteilen, damit «falsche» Selbstbilder deutlich werden und direkt korrigiert werden können …

Mit welchen Folgen ist zu rechnen?

PygmalionEffekt

Menschen tendieren dazu, sich in Bilder hineinzuentwickeln, die andere von ihnen haben. Es besteht also das Risiko einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Wie wirkt es sich tatsächlich aus, 80 Prozent der Organisationsmitglieder schriftlich Mittelmass zu

bescheinigen? Die Forschung zum sogenannten Pygmalion oder RosenthalEffekt legt nahe, dass nicht nur Motivationsrisiken entstehen, sondern unter Umständen sogar die Leistung selbst gefährdet wird.

Bei personennaher Arbeit, Tätigkeiten mit hohen Anforderungen an Kommunikation und emotionale Arbeit ist Leistungsrückmeldung nah an einer Bewertung des «Wesens» der Person – und schädigt deshalb im Zweifelsfall durch Bedrohung des Selbstwerts direkt die Leistungsvoraussetzung selbst. Wer zum Beispiel die Leistungsfähigkeit einer Erzieherin «feststellt» (statt sie zu mobilisieren), riskiert sogar, dass dadurch Ressentiments gegenüber den Kindern entstehen.

Geschlechtstypische Attributionsmuster im Leistungsbereich legen nahe, dass Beurteilung in Betrieben mit hohem Frauenanteil ein besonderes Risiko birgt. Frauen tendieren noch stärker als Männer dazu, Rückmeldungen auf der Beziehungsebene einzuordnen, persönlich zu nehmen und negative Leistungsrückmeldungen selbstwertschädigend zu verarbeiten. Das Risiko der Gesundheitsschädigung durch Kränkung ist deshalb möglicherweise höher.

Fehlgeleitete Iteration

Der Unternehmensberater Fritz Simon hat schon vor Jahren auf das beurteilungsimmanente Vertuschungsrisiko hingewiesen, das zu extremen Fehlsteuerungen führen kann.* PersonenEvaluierung erzeugt nahezu zwingend Konkurrenz und Rangordnungskämpfe um die Positionierung im System. Im Zweifelsfall wird es wichtiger, beim Arbeiten gut auszusehen, als tatsächlich gut zu arbeiten. Die Energie wird in Selbstpositionierung gezogen – für Individuen, aber auch Teams oder Abteilungen. Nicht nur fördert dies Konkurrenz nach innen und «SiloDenken», es kann auch dramatische Konsequenzen haben. Ein drastisches Beispiel dafür sind Millionen Hungertote nach einer chinesischen Landwirtschaftskampagne in den 50erJahren: Die Kader hatten unter dem Druck personenbezogener Beurteilung die Lebensmittel in den Speichern gelassen, um bei den Kontrolleuren einen guten Eindruck zu machen …

Kommunikationsstörungen und Schädigung der Kultur

Schleicht sich der Denkfehler der Verwechslung von Fremdbild und Feedback in Versuche zur Prozessverbesserung ein, ist mit absurden Kommunikationsprozessen zu rechnen. Wenn in der «Qualitätsentwicklung» von Schulen etwa Schüler offiziell dazu eingeladen werden, statt echtem Feedback («ich verstehe es nicht») Fremdbilder über ihren Lehrer («der Lehrer erklärt nicht gut, macht langweiligen/unterhaltsamen Unterricht») abzugeben, so ist das nicht nur sinnlos (keine steuerungsrelevante Information), sondern gleich auf mehreren Ebenen brisant.

Nicht nur wird der Schüler direkt dazu eingeladen, etwaige Probleme automatisch dem Lehrer anzulasten. Auch die Rangordnung wird ohne jegliche Reflexion umgekehrt. Alle Bewertung, auch «das Loben kommt von oben». Der Lehrer wird also in seiner Autorität direkt angegriffen – und letztlich gedemütigt.

Denn nicht etwa er selbst behält die Souveränität über diesen Vorgang, sondern wird ihm durch Dritte ausgesetzt. Wo tatsächlich Veränderungsbedarf besteht, ist Kränkung und dadurch eine weitere Gefährdung der LehrerSchülerBeziehung die Regel. Der Demütigung und Attacke auf den Selbstwert (Lehrerseite) steht ein frühes Training in Hochmut und Anmassung (Schülerseite) gegenüber. Gestörte Beziehungen werden verschlechtert, gute in riskantester Weise angegriffen. Anonymität – wie auch im 360 Grad «Führungsfeedback» – rettet das Ganze nicht. Im Gegenteil: Obendrein wird auch noch gelernt, dass offene Kommunikation kritisch sei. Dem Lehrer bleibt bestenfalls die in anonymen Vorgesetztenbeurteilungen übliche Praxis erspart, auch noch seine Selbsteinschätzung vor den Schülern veröffentlichen zu müssen.

Psychologen sind mit der Implementierung derartiger Systeme befasst. Bisweilen verfeinern sie diese auch. Ist die Weiche jedoch falsch gestellt, richtet Genauigkeit und Validität noch mehr Unheil an. Es ist vermutlich gravierender, «wissenschaftlich fundiert» den Verstand oder das Potenzial abgesprochen zu bekommen als im Rahmen einer persönlichen Meinung …

Spätestens dann wird es auch gesundheitlich brisant – denn eine solche Bedrohung triggert Angst, Stresskrankheiten und Depression. Unterschwellig wird durch das Framing der «Prozessverbesserung» suggeriert und gelernt, dass es hilfreich sei, andere zu bewerten. Verlernt wird, wie man echtes Feedback gibt. Denn es ist nicht ganz einfach, aus einer Kritik eine Bedarfskommunikation zu machen, es ist anstrengend, aus dem unproduktiven Modus der Kritik auszusteigen und sich stattdessen zu bemühen, dem anderen in freundlicher Weise zu vermitteln, was man braucht. Es erfordert eine Abstraktionsleistung und einen Perspektivwechsel, das eigene Problem nicht mit einer Fehlleistung des kooperierenden Milieus zu verwechseln.

Stattdessen?

Diese Anstrengung einzufordern, ist jedoch ein Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung und zu einem zivilisierten, wertschätzenden Umgang miteinander – sie ist eine Voraussetzung für Synergie.

Alternativen existieren – nicht im Reich der Fantasie, sondern in der Realität. Viele Betriebe schreiben ohne jede Mitarbeiterbeurteilung schwarze Zahlen. Stattdessen praktizieren sie verbindliche jährliche Mitarbeitergespräche, in denen über Bedarfe und Entwicklungsmöglichkeiten gesprochen wird. Systematische Führungsbedarfsklärung ist eine empirisch erprobte und erfolgreiche Alternative zur hochproblematischen anonymen Vorgesetztenbeurteilung. Sie korreliert hoch mit dem LMXIndex für die Qualität der Führungsbeziehung, welcher seinerseits hoch mit Performance korreliert.

Auch für Nachfolgeplanung und interne Rekrutierung braucht man weder Beurteilungssysteme noch Potenzialeinschätzungen. Mitarbeiterdurchsprachen und Selbstbeschreibung von Kompetenzen sowie sorgfältige Auswahl bei der Besetzung einer vorhandenen Stelle können dies ersetzen. Bühnen, auf denen Mitarbeitende ihre Talente darstellen können, sind eine freund

Fazit

liche Ergänzung. Lern und Exzellenzkulturen erweitern das Repertoire, wenn die Energie auf Abschauen von Lösungen statt auf Bewertung von Kollegen gelenkt wird. Nützliche kritische (Selbst)Einschätzungen entstehen dadurch von selbst und diskret. Die selbstverständliche Einforderung von Leistung und Qualität mit dem Grundgehalt, die gesonderte Honorierung von abgrenzbaren Zusatzleistungen, aber auch eine direkte Partizipation am Gewinn wäre in weiten Teilen eine Alternative zu platten und im Zweifel sogar beleidigenden Incentive und Bewertungslogiken bei der Geldverteilung.

Es deutet vieles darauf hin, dass wirkliche Exzellenz in Unternehmen mit gängigen Methoden der PersonenEvaluierung unvereinbar ist. Angesichts der alarmierenden Zunahme des Anteils psychischer Störungen an Arbeitsunfähigkeit und Frühverrentung in den meisten Berufsgruppen könnte es sinnvoll sein, sich die geschilderten Alternativen auch aus psychologischer Perspektive unter dem Gesichtspunkt der betrieblichen Gesundheitsförderung/Salutogenese näher anzusehen.

Sogenannte Feedback, Beurteilungs, TalentManagement und PersonalentwicklungsSysteme in Unternehmen bedürfen meines Erachtens keiner Optimierung, sondern eher einer grundlegenden Innovation, wenn es gelingen soll, das Miteinander für Synergie, Leistung und Gesundheit in tragfähigen Gemeinschaften zurückzuerobern. Die geschilderten Alternativen zur Beurteilungspraxis können dabei hilfreiche Denkanstösse geben. Für manch einen Berater würde das jedoch erfordern, ein Geschäftsfeld preiszugeben – nämlich das, «mit System» ein Problem zu erzeugen, für das man im Anschluss die Reparatur verkaufen kann.

«Der vermessene Mensch» erschien in der Zeitschrift «systema» (IF Weinheim)

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