marx 21
Nr. 15 | Mai / Juni 2010 Spende 3,50 € | ISSN 1865-2557 www.marx21.de
Magazin für internationalen Sozialismus Interview »Griechenland ist in Aufruhr«
Kirgisistan Revolte durchkreuzt Pläne des Westens Kindesmissbrauch Parallelgesellschaft im Priestergewand Nahostkonflikt Die Verantwortung der deutschen Linken
Elmar Altvater
setzt seine Serie »Marx neu entdecken« fort
Christine Buchholz
über den Programmentwurf der LINKEN
Dietmar Dath
erklärt, warum Rosa Luxemburg aktueller denn je ist
Sind die Kommunen noch zu retten?
Interview mit Georg Fülberth »Schuldenerlass für die Gemeinden« Bürgerhaushalt Armut, demokratisch verwaltet
B
© Christian Mang
undesweit haben am 10. April rund 8000 Atomkraftgegner gegen die Pläne der Bundesregierung demonstriert, die Laufzeiten der Atomkraftwerke auf bis zu 60 Jahre zu verlängern. In 53 Städten bildeten sie Menschenketten, die größte davon in Berlin. Dort protestierten über 2000 Menschen auf einer Länge von 1,2 Kilometern zwischen der Zentrale des Energiekonzerns Vattenfall und der Berliner Niederlassung des RWE-Konzerns. »Das ist ein großartiger Auftakt für die große Menschenkette zwischen den Atomkraftwerken Krümmel und Brunsbüttel am 24. April«, erklärte der Geschäftsführer des Kampagnennetzwerkes Campact, Christoph Bautz. Mit der 120 Kilometer langen Menschenkette durch Hamburg und Norddeutschland wollte ein Bündnis aus Anti-Atom-Initiativen, Umweltverbänden, Gewerkschaften und Parteien am 24. April die Bundesregierung auffordern, den beschlossenen Atomausstieg nicht aufzukündigen. Für die Fahrt zur Großaktion, die nach Redaktionsschluss stattfand, wurden bei den Auftaktaktionen zahlreiche Bustickets verkauft. »Die Proteste zeigen, wie auch alle Meinungsumfragen, dass die große Mehrheit der Bürger die Aufkündigung des Atomausstieges ablehnt«, sagte Bautz. »Die Menschen wollen raus aus einer Technologie, die ein verheerendes Unfallrisiko birgt, den Ausbau erneuerbarer Energien blockiert und tausenden Generationen tödlichen Atommüll aufbürdet.«
Editorial
Liebe Leserinnen und Leser,
W
ir hatten eingeladen, viele von euch sind gekommen: Die »Marx is muss«-Frühjahrskonferenzen in Düsseldorf, Freiburg, Hannover, Frankfurt am Main und Berlin waren gut besucht und wir hatten spannende Diskussionen. Für uns als Redaktion waren die Konferenzen zudem eine gute Gelegenheit, unsere Leser persönlich kennen zu lernen und um Rückmeldungen zum Blatt zu erhalten. Als Konsequenz haben wir mit dieser Ausgabe einige neue Rubriken eingeführt. Zum einen werden wir künftig regelmäßig auf vier Seiten die politischen Grundlagen und Aktivitäten unseres Netzwerks darstellen. Denn marx21 ist mehr als eine Zeitschrift. Hinter dem Magazin steht ein Netzwerk von Aktivistinnen und Aktivisten in der LINKEN. »Wofür steht ihr eigentlich? Was tut ihr? Wo seid ihr?«, waren häufig gestellte Fragen. Diese wollen wir mit den neuen Rubriken »Was will marx21?« und »Was macht marx21?« beantworten. Ebenfalls neu: die Doppelseite »Unsere Meinung« mit zwei kurzen Kommentaren zu aktuellen Themen. Ansonsten findet ihr in diesen Heft drei Schwerpunkte zu den Themen »Sind die Kommunen noch zu retten?«, »Die Krise in Europa« und »Tatort Kirche«. Insbesondere das Thema Kommunalpolitik wollen wir in den nächsten Ausgaben weiter begleiten – denn die finanzielle Misere der Kommunen wird Auswirkungen auf das Leben großer Teile der Bevölkerung haben. Gleichzeitig sind viele Mitglieder der LINKEN kommunale Mandatsträger und stehen vor der Frage, wie linke Politik vor Ort aussehen kann in Zeiten, in denen die Kommunen finanziell ausgeblutet werden. Ebenfalls in Planung befindet sich ein Schwerpunkt zu Gesundheitspolitik. Dieses Jahr sollen die Beratungen über die schwarzgelbe Reform beginnen. Zu befürchten ist ein weiterer Angriff auf das Gesundheitssystem. marx21 will die Lage analysieren und Möglichkeiten für den Widerstand ausloten. Zum Schluss noch ein Dank: Wir hatten euch gebeten, Berichte von interessanten Aktionen und Veranstaltungen für die Rubrik »Neues aus der LINKEN« zu schicken. Die Resonanz war positiv, die Mehrzahl der Texte in dieser Rubrik stammt mittlerweile von Leserinnen und Lesern.
Fragen? Anregungen? Kritik? Lobhudelei? Wir freuen uns auf deine Post. Redaktionsadresse Redaktion marx21 PF 44 03 46 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de Telefon: 030 / 89 56 25 10
www.marx21.de | Mai/Juni 2010 | Nr. 15
Editorial
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inhalt
Griechenland in der Krise
Revolte in Kirgisistan
20
07 36
Aktuelle Analyse 07
Kirgisistan: Bewegung auf dem eurasischen Schachbrett Von Klaus Henning
Sind die Kommunen noch zu retten?
16
Kirche: Von Paulus zum Saulus Von Rosa Luxemburg
19
Zweierlei Maß Kommentar von marx21
Unsere Meinung
Europa gegen die Krise
10
NRW-Wahl: Die Klippen umschiffen Kommentar von Michael Bruns
21
Aufruhr gegen die Krise Interview mit Sotiris Kontogiannis
11
Burkaverbot: Zwang zur Freiheit Kommentar von Marwa Al-Radwany
24
Desaster made in Germany Von Thomas Walter
27
Die Rückkehr der Sozialpartnerschaft Von Werner Halbauer
Tatort Kirche 13
4
»Der Zölibat ist Kern des Problems« Interview mit Maya Mosler Inhalt
Nr. 15 | Mai/Juni 2010 | www.marx21.de
Internationales 29
»Wir verweigern uns der bedingungslosen Solidarität mit Israel« Interview mit Hermann Dierkes
32
Afghanistan: Teil des Problems Von Stefan Ziefle
Sind die Kommunen noch zu retten? 37
»Sinnvoll wäre ein Schuldenerlass für die Gemeinden« Interview mit Georg Fülberth
41
Bürgerhaushalte: Armut, demokratisch verwaltet Von Jürgen Ehlers
Dietmar Dath über Rosa Luxemburg
Tatort Kirche
Kontrovers 46
Anmerkungen zum Programmentwurf der LINKEN Von Christine Buchholz
12
Die Programmdebatte der Linken
58
8. Mai 1945: Befreit, aber nicht frei Kolumne von Arno Klönne
Rubriken Editorial
03
60
Serie: Marx neu entdecken (11) Von Elmar Altvater
Leserbriefe
06
Impressum
06
Weltweiter Widerstand
34
Neues aus der LINKEN
44
Betrieb und Gewerkschaft
Kultur
51
65
»Das bürgerliche Denken ist vergammelt« Interview mit Dietmar Dath
68
Klassiker des Monats: Karl Marx: Der Bürgerkrieg in Frankreich Von Michael Ferschke
Belegschaftsbeteiligung: Kapital in Arbeiterhand? Von Manfred Coppik
Netzwerk marx21 54
Serie: Was will marx21? (1) Sozialismus von unten
70
65
46
neu auf marx21.de
Ein neuer Reformismus?
Vor knapp 30 Jahren starb der griechisch-französische Politologe und Philosoph Nicos Poulantzas. Er gilt als ein wichtiger marxistischer Denker. Colin Barker setzt Lesen, Hören, Sehen sich kritisch mit seiner politischen Theorie auseinander. Ein Blick auf die Webseite lohnt sich also: www.marx21.de | Mai/Juni 2010 | Nr. 15
www.marx21.de
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Impressum
Leserbriefe
marx21 – Magazin für internationalen Sozialismus Nr. 15, Mai/Juni 2010
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe gekürzt zu veröffentlichen. Zusendungen – bitte mit Absender – an die Redaktionsadresse oder per Email an redaktion@marx21.de
ISSN 1865-2557 www.marx21.de Herausgeber Stefan Bornost (V.i.S.d.P.) Redaktion Marcel Bois, Stefan Bornost, Yaak Pabst Ständige Mitarbeit Jan Maas (Neues aus der Linken), Bruce Paenson (Weltweiter Widerstand), Max Steininger (Klassiker des Monats), Volkhard Mosler Mitarbeit an dieser Ausgabe Nils Böhlke, Michael Bruns, Christine Buchholz, Phil Butland, Gabriele Engelhardt, Michael Ferschke, Nicole Gohlke, Werner Halbauer, Klaus-Dieter Heiser, David Meienreis, David Paenson, Rosemarie Nünning , Lucia Schnell, Dirk Spöri, Ben Stotz, Janine Wissler, Luigi Wolf Infografiken Karl Baumann Layout Philipp Kufferath Covergestaltung Yaak Pabst, Bild: Rainer Sturm Redaktion Online Yaak Pabst (verantw.), Frank Eßers, Jan Maas Druck Powerdruck Druck- & VerlagsgesmbH Wienerstr. 114 A – 2483 Ebreichsdorf Abonnement marx21 erscheint fünfmal jährlich. 4 Euro pro Ausgabe (inkl. Porto) Telefon: 030 – 89 56 25 11 Fax: 030 – 56 82 28 84 Mail: abo@marx21.de Bankverbindung Postbank Hamburg BLZ 200 100 20 Konto 662 310 205 Kontoninhaber: S. Bornost Redaktionsadresse Redaktion marx21 PF 44 03 46 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de
Die nächste Ausgabe von marx21 erscheint im Juni 2010 (Redaktionsschluss: 20.05.) 6
Leserbriefe
fältigen Basisorganisationen engagiert und verwurzelt, in der Friedens-, der Anti-AKW- oder in der Frauenbewegung (natürlich gab es da auch »schräge Vögel«). Eine sozialistische Grundausrichtung war klare Mehrheitsmeinung. All diese Eigenschaften haben die Grünen im Laufe ihres »Ankommens« in der Normalität einkassiert. Jutta Ditfurth erklärt das insbesondere mit einem innerparteilichen »Putsch« durch die »Sponti-Fraktion« (der auch Joseph Fischer angehörte). Trotz dieses historischen Scheiterns der Grünen: Ich meine, an einige Inhalte und Formen könnte eine heutige Linke produktiv wieder anknüpfen – in, aber vor allem außerhalb von Parlamenten. Carsten Schmitt, Paderborn
Zum Kommentar »Obamas Gesundheitsreform: Risiken und Nebenwirkungen« (marx21.de, 23.03.2010) Zur Kolumne »Die Distanz überwinden« von Arno Klönne (Heft 14) In seiner Kolumne analysiert Arno Klönne die Verführungen, denen eine »Politik als Beruf« ausgesetzt ist. Diese bewege sich »in einem Handlungsfeld«, das durch »herrschende Strukturen« bestellt sei, durch welche auch linke Politiker – entgegen ihrer rebellischen Ursprungsabsicht – sozialisiert würden. Da sich Profipolitik heute durch eine »antidemokratische Eigendynamik« kennzeichnen ließe, stelle sich für eine linke Politik die grundlegende Frage, wie man einer solchen fatalen Entwicklung entkommen kann. Ich bin der Meinung, dass man Verhaltensweisen von Politikern nicht vornehmlich mit Hintergrundstrukturen erklären kann. Immerhin haben nicht einmal alle SPD-Bundesparlamentarier der Schröderschen Agendapolitik zugestimmt und dies auch durch ihr Votum bekundet. Diese »Abweichler« haben sich – so darf man wohl unterstellen – durch ihre unabhängige Meinungsbildung gegen die Mehrheit gestellt. Man muss die »Anpassungsbereitschaft« (manche nennen sie Opportunismus) der übrigen gewandelten Schröderisten nicht moralisch werten, man kann sie schlicht konstatieren. Wie bricht man aber strukturell das politische System auf? Ich meine, da lässt sich von den Grünen der Gründerzeit – lange vor ihrer Wende hin zur neoliberalen Normalopartei – einiges lernen: Das Rotationsprinzip, das die frühen Grünen für Parteiämter eingeführt hatten, halte ich für durchaus aktualisierbar (auch um »Repräsentanten wieder los zu werden«). Diese grünen, alternativen und bunten Listen unternahmen noch mehr: Sie hielten etwa öffentliche Fraktionssitzungen ab. Sodann waren sie in viel-
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marx21 wird der Gesundheitsreform in den USA nicht gerecht, weil ihr die Reform ausschließlich mit der deutschen Krankenversicherung vergleicht. Außerdem verschweigt ihr gezielt alle positiven Elemente der Reform, die noch dieses Jahr wirksam werden: Kinder sind bis zu ihrem 26. Lebensjahr bei den Eltern mitversichert. Versicherer dürfen für Vorsorgeuntersuchungen keine Extra-Gebühren mehr verlangen. Versicherer dürfen keine Verträge mehr anbieten, die ungültig werden, sobald die Versicherten bestimmte Krankheiten (Krebs, HIV) bekommen. Die Liste ließe sich lange fortsetzen. Auf Grundlage dieser sofortigen Veränderungen hätte man diskutieren können, warum andere wichtige Elemente der Reform erst 2014 gültig werden oder gar nicht mehr vorgesehen sind. Aber die Reform im Vorlauf ausschließlich als »Katastrophe für die arbeitenden Menschen« und »Milliardengeschenk für Konzerne« zu bezeichnen, wird weder dem »Phänomen Obama« noch der Klassenauseinandersetzung in den USA im Allgemeinen gerecht. Hans Krause, Berlin
Zum Kommentar »Parallelgesellschaft im Priestergewand« (marx21.de, 23.03.2010) Guter Kommentar, aber beim Zölibat und den Missbrauchsfällen muss man aufpassen, da darf man nicht Ursache und Symptom verwechseln. Der Zölibat ist nicht der Grund für eine Störung der Sexualpräferenz, sondern wird oft von Menschen mit einer entsprechenden Störung als gesellschaftlich akzeptierter Ausweg gesehen, damit umzugehen. Felix Lucka, via Facebook
Bewegung auf dem eurasischen Schachbrett
© iamelise / flickr.com
Aktuelle Analyse
Klaus Henning meint, die Revolte in Kirgisistan durchkreuzt die Pläne des Westens in Zentralasien
A
nfang April haben Massenproteste in Kirgisistan zum Sturz des autoritären Präsidenten Kurmanbek Bakijew geführt. Ein Bündnis aus oppositionellen Parteien hat eine Übergangsregierung gebildet und sich die Organisation freier Wahlen sowie die Ausarbeitung einer neuen Verfassung zum Ziel gesetzt. Wurden noch vor ein paar Jahren die Bewegungen in der Ukraine und in Georgien als »demokratische Revolutionen« gefeiert und der Mut der Protestierenden gewürdigt, so berichten westliche Medien momentan erstaunlich zurückhaltend. International wurde die neue Übergangsregierung zuerst von Russland »anerkannt«. Erst nachdem die neue Regierung die weitere Nutzung des US-amerikanischen Militärstützpunktes zusichert hatte, war auch die US-Regierung bereit, mit ihr zu verhandeln. Die Proteste entzündeten sich diesmal nicht an einer gefälschten Wahl, sondern explizit an der sozialen Frage. Der spontane Aufstand war eine Reaktion auf eine drastische Erhöhung der Preise für Gas und Strom in den letzten Monaten. Die Mehrheit der Bevölkerung des Landes kämpft ums tägliche Überleben, trotz des Reichtums an Bodenschätzen in der Region. 50 bis 100 Dollar stehen den Kirgisen pro Monat zur Verfügung, sofern sie überhaupt Arbeit haben. Das Ansteigen der Preise (verschiedene
Quellen sprechen von bis zu 200 Prozent), bedeutet, dass ein Großteil des Lohnes allein für Heizung ausgegeben werden muss. Die Proteste, die bereits Anfang des Jahres in ländlichen Regionen begannen, wurden vor allem von den einfachen Menschen getragen, die spontan auf die Straße gingen. Die Oppositionspolitiker sprangen erst spät auf den Zug der Bewegung auf. Bei einer Massenversammlung in der Tradition der Kirgisischen Volkskongresse (Narodny Kurultay) am 17. März stellten die Führer der Oppositionsparteien an die Regierung folgende Forderungen: Die Preissteigerungen bei Energieträgern sollten zurückgenommen, die privatisierten Unternehmen Kirgiztelekom (Telefon) und Severoelektro (Stromversorgung) wieder verstaatlicht werden. Oppositionelle Fernsehsendungen sollten wieder senden dürfen. Alle inhaftierten Oppositionspolitiker sollten freigelassen und die undemokratische Verfassungsreform gestoppt werden, die dem Präsidentenclan die Kontrolle über weite Teile der Wirtschaft und des Staates zugesichert hätte. Bakijew war nicht bereit, über die Forderungen zu verhandeln. Das Regime reagierte auf die Proteste mit Unterdrückung: Am 6. April wurde Bolot Schernijazow, ein bekannter Führer der Oppositionspar-
Der Westen gab dem Präsidenten freie Hand zur Unterdrückung der Opposition
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Aktuelle Analyse
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Kirgisien oder Kirgisistan? In den Medien wird der zentralasiatische Staat häufig »Kirgisien« genannt. Wir haben uns jedoch für die Bezeichnung »Kirgisistan« entschieden. Es ist die Selbstbezeichnung des Landes und steht symbolisch für den Bruch mit der Fremdherrschaft durch das russische Zarenreich und den Stalinismus. Zu dieser Zeit war der Name »Kirgisien« geläufig.
tei Ata Meken in der Stadt Talas kurzzeitig verhaftet. Dies provozierte einen spontanen Massenaufstand: Tausende Demonstranten umzingelten die Polizeistation und besetzten das Gebäude des Gouverneurs. Bakijew bekam Angst und lies weitere Oppositionspolitiker verhaften. Aber dadurch sprang der Protest auch auf andere Städte über und erreichte schließlich die Hauptstadt Bischkek.
renz verhinderten jedoch eine Erholung des Industriewachstums und die Arbeitslosigkeit stieg weiter an. Die Industrieproduktion ist seit 1990 um 70 Prozent gesunken. Um an ausländisches Geld von IWF und Weltbank zu kommen, führte Akajew bis 2005 neoliberale Wirtschaftsreformen durch, kürzte alle staatlichen Ausgaben und erhöhte die Mehrwertsteuer auf 20 Prozent. Dies führte zu einem deutlichen Anstieg der Armut in der Bevölkerung: Laut Zahlen der Weltbank lebten 2001 im reicheren Norden des Landes ca. 50 Prozent in »absoluter« Armut, im ärmeren Süden über 80 Prozent. Über 20 Prozent lebten in »extremer« Armut und waren auf Lebensmittelhilfe angewiesen. Krankheiten und Drogenkonsum breiten sich seitdem aus. Aber die wirtschaftliche Transformation traf nicht alle Menschen gleich hart. Eine kleine Schicht politischer Funktionäre konnte sich in der Transformationsphase bereichern. Der Gini-Koeffizient (die Zahl, die den Grad der Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen darstellt) stieg für Kirgisistan immerhin auf einen Wert von über 30 Prozent.
Die Proteste wurden vor allem von den einfachen Menschen getragen
Die Unzufriedenheit hat sich in den letzten 20 Jahren aufgebaut und es wird für die neue Regierung nicht einfach sein, die Massen zu beruhigen. Man kann sogar sagen, dass die gegenwärtige Revolte in vielerlei Hinsicht eine Fortführung jener Bewegung darstellt, die schon vor fünf Jahren den damaligen Präsidenten Askar Akajew aus dem Amt jagte. Der Auslöser der »Tulpenrevolution« von 2005 war der Versuch des Regimes, die Wahlen zu manipulieren und zahlreiche Kandidaten davon auszuschließen. Doch schon damals speiste sich die Wut auch aus den sozialen Problemen. Akajew repräsentierte den typischen Wendehals-Apparatschik: Er begann seine Karriere in der Sowjetunion der 1980er Jahre, zur Zeit der »Perestroika«, und stieg noch damals zum Präsidenten der »Kirgisischen Sozialistischen Sowjetrepublik« auf. 1991 erklärte er die Kirgisische SSR für unabhängig und war in den kommenden 15 Jahren bis zu seinem Sturz für den Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft verantwortlich. Da die Wirtschaft auf den sowjetischen Markt ausgerichtet war, brachte die Trennung von der Sowjetunion schwere ökonomische Probleme mit sich. Die Krise der Landwirtschaft wurde durch die umfangreichen Privatisierungen Akajews nicht überwunden, sondern verschärft. Die landwirtschaftliche Produktion sank um 10 Prozent. Im regionalen Alleingang trat Kirgisistan 1998 der WTO bei und setzte seinen Binnenmarkt direkter ausländischer Konkurrenz aus, während andere Länder in der Region ihre Märkte weiter abschotteten. Kapitalmangel und die ausländische Konkur-
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Aktuelle Analyse
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Die deutsche Presse beschrieb die kirgisische Revolte als »blutigen Machtkampf in Russlands Hinterhof«. Diese Beschreibung ist nur zum Teil zutreffend. In den vergangenen zehn Jahren wurden in der gesamten Region die Karten politisch neu gemischt. Ein wichtiger Unterschied zu den »farbigen Revolutionen« ist, dass es in Kirgisistan von Anfang an keine Illusionen in die westlichen Mächte gab. Diese wurden von den Demonstranten für die blutige Unterdrückung der Proteste mitverantwortlich gemacht. Zentralasien ist für den Westen von enormer strategischer Bedeutung. Für die USA ist die Kontrolle über die rohstoffreiche Region Teil der Strategie, »die Welt zu beherrschen«, wie Zbigniew Brzezinski (heute außenpolitischer Berater von Präsident Obama) es bereits 1997 in seinem Buch »The grand chessboard« auf den Punkt brachte. Deutschland und die EU stehen an der Seite der USA, weil sie ein Interesse an der »Diversifizierung« ihrer Rohstoff-Bezugsquellen
und an der Brechung des Energie-Monopols Russlands besitzen. Noch unter Frank-Walter Steinmeier (SPD) als Außenminister wurde dieses Interesse in einem Papier zur »Zentralasienstrategie für eine neue Partnerschaft« relativ offen formuliert und während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft 2007 versucht umzusetzen. Für die Regime vor Ort ist eine Kooperation mit dem Westen interessant, um eine Alternative zur politischen und wirtschaftlichen Abhängigkeit zu Russland aufzubauen und um finanzielle Hilfe für den Aufbau ihrer eigenen Machtbasis zu erhalten. Um den Menschen die negativen Folgen der Peres troika zu verkaufen, gewährte Akajew anfangs einige politische Freiheiten, die er jedoch schnell wieder zu kassieren versuchte. Aber die relative Schwäche des Staatsapparates, die Differenzen in der Elite zu kitten, verhinderte einen autokratischen Durchmarsch, wie er in anderen Republiken stattfand. Lange Zeit galt Kirgisistan daher als »demokratisches Musterland« in der Region, mit echten Oppositionsparteien und einem begrenzten Maß an Redefreiheit. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass dem Westen die historische Rolle zukam, das Regime darin zu unterstützen, diese Demokratie in eine repressive Autokratie zu verwandeln. Ein wichtiger Wendepunkt war der Beginn des Krieges gegen Afghanistan 2001. Unter dem Vorwand des »Kampfes gegen den Terrorismus« richteten die USA Militärstützpunkte in Usbekistan, Tadschikistan und Kirgisistan ein. Diese wurden nach dem Sturz der Taliban nicht aufgelöst, obwohl Russland immer wieder einen Abzug forderte. Wie die anderen Machthaber in der Region trat auch Akajew 2001 der »Anti-Terror-Allianz« bei und stellte der US-Armee eine Luftwaffenbasis zur Verfügung. Im Gegenzug erhielt er finanzielle Hilfe durch den IWF und außerdem gab ihm der Westen freie Hand zur Unterdrückung der Opposition im eigenen Land. In der Tulpenrevolution 2005 kam Kurmanbek Saliewitsch Bakijew an die Macht. Er war selbst ein Apparatschik, langjähriger Weggefährte von Akajew und bis 2002 sogar Ministerpräsident. Er war jedoch von seinem Posten zurückgetreten, als bei der Niederschlagung einer Demonstration im Süden sechs Menschen erschossen wurden. Er hatte mit Akajew gebrochen und sich der anwachsenden Oppositionsbewegung angeschlossen. Dadurch gelang es ihm 2005 zunächst, die Bewegung für sich zu vereinnahmen. Der neue Präsident avancierte abermals zum zuverlässigen Partner für die Interessen des westlichen Imperialismus. Er verlängerte den Vertrag über die US-Militärbasis und auch er wurde dafür belohnt: Er bekam ebenfalls freie Hand bei der Unterdrückung der Opposition. Er verabschiedete eine neue, undemokratische Verfassung und baute mit westlicher
Hilfe den Geheimdienst aus. Im Süden des Landes spendierten ihm die USA sogar ein Ausbildungszentrum für polizeiliche Spezialkräfte zur Aufstandsund Terrorbekämpfung. Der Sturz Bakijews bedeutet, dass auf die NATOStaaten zu ihrem ohnehin schlecht laufenden Krieg in Afghanistan zusätzliche Probleme zukommen. Die »Manas«-Airbase bei Bischkek ist heute eine der wichtigsten Versorgungsstationen für den Einsatz in Afghanistan. Allein im März 2010 passierten mehr als 50.000 US- und Koalitionstruppen diese Basis. Der Vertrag über die Basis läuft jedoch demnächst aus. Die Obama-Regierung versuchte in den vergangenen Monaten intensiv, ihn zu verlängern. Die USMilitärbasis ist unter den Kirgisen nicht sehr beliebt. Sie ist ein Ort internationaler Auseinandersetzungen, Russland forderte immer wieder ihre Schließung. Sie ist ein Symbol der Unterstützung für den Krieg in Afghanistan. Und sie ist ein Symbol für die Korruption und Vetternwirtschaft im ganzen Land. Die Versorgung der Militärbasis und die Bereitstellung von Dienstleistungen für die Soldaten werden von Unternehmen organisiert, die der Familie des gestürzten Präsidenten Bakijew nahestehen. Die Übergangsregierung ist momentan vor allem damit beschäftigt, Posten unter sich zu verteilen. Mit der Flucht Bakijews und der Bildung der »Regierung des Volkes« (wie sie sich selber nennt) sind die sozialen Probleme jedoch nicht gelöst und mit einer Beruhigung der Lage ist so schnell nicht zu rechnen. Die verschiedenen Lager der alten Nomenklatura kämpfen um das Erbe der Sowjetunion, um Schlüsselindustrien und Ressourcen und sie instrumentalisieren dabei die große Unzufriedenheit für ihre Zwecke. Allerdings sollte man auch die Autonomie und die Kraft der Bewegung nicht unterschätzen, die Forderungen aller Volksgruppen, die der politischen Elite skeptisch gegenüber stehen. Der Sturz Bakijews hat vielen Menschen Mut gemacht – sogar über die Grenzen Kirgisistans hinaus. Auch in anderen Ländern der Region ist die Lage alles andere als stabil: Ein ähnlicher Aufstand fand im Mai 2005 auch in Usbekistan statt. Der dortige Diktator und enge Partner der USA, Islam Karimow, setzte das Militär gegen die Bevölkerung ein. Es gelang ihm noch, die beginnende Revolution im Blut zu ersticken. Kirgisistan ist nun der Beweis, dass die Machthaber gestürzt werden können – selbst wenn sie vom Westen unterstützt werden.
Klaus Henning ist aktiv bei DIE LINKE.Darmstadt und Autor des Buches »Der Aufstieg der Neocons« (Neuer ISP-Verlag 2006). www.marx21.de | Mai/Juni 2010 | Nr. 15
Aktuelle Analyse
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Unsere Meinung Wahl in Nordrhein-Westfalen
Die Klippen umschiffen
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m gegenwärtigen Wahlkampf in NordrheinWestfalen (NRW) sehen wir uns als Mitglieder der LINKEN häufig in einer eigenartigen Situation. In Diskussionen mit Gewerkschaftern, sozial engagierten Mitbürgern, aber auch den »normalen« Bürgern auf der Straße wird deutlich, dass starke Hoffnungen auf Veränderungen durch eine rot-rot-grüne Koalition existieren. Innerhalb der Partei ist die Diskussion allerdings häufig eine ganz andere. So wird jede Äußerung, die eine gewisse Offenheit gegenüber gemeinsamen Projekten mit den »neoliberalen Parteien« als potentieller Verrat an den Idealen der LINKEN gewertet und die SPD zum »Hauptfeind« erklärt. Aber eine linke Partei, die die Wünsche der Bürger und vieler Bündnispartner in den sozialen Bewegungen nicht ernst nimmt, wird nicht als eine Alternative wahrgenommen werden. Wie also mit diesem Widerspruch umgehen? Tatsächlich finden sich beim Vergleich der Programme von SPD, Grünen und LINKEN eine ganze Reihe positiver Forderungen, deren Umsetzung eine klare Verbesserung gegenüber dem Status Quo bedeuten würde. So kämpfen beispielsweise alle drei Parteien für die Abschaffung von Studiengebühren, für ein längeres gemeinsames Lernen in der Schule und für den Ausbau der Mitbestimmung im Öffentlichen Dienst.
Einer linken Landesregierung stünden nicht die Mittel für einen Politikwechsel zur Verfügung Dennoch zeigt die Erfahrung der Vergangenheit und auch der Blick auf die gegebenen Verhältnisse, dass die geäußerten Hoffnungen illusionär sind: Eine progressive Entwicklung mit den Grünen und den Sozialdemokraten ist vermutlich gar nicht oder zumindest nicht ohne massiven Druck von der Straße möglich. Bereits die eben erwähnten Punkte würden in einem Koalitionsvertrag, der »unter Finanzierungsvorbehalt« steht, unter Umständen gar nicht umgesetzt werden. In der Regierung könnte sich DIE LINKE am Aufbau einer außerparlamentarischen
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Unsere Meinung
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Bewegung gar nicht oder nur sehr gehemmt beteiligen, weil es ja immer auch gegen die »eigenen Leute« gehen würde. Die bisherige Linie der Partei wurde durch die von Oskar Lafontaine vorgegebenen »roten Haltelinien« bestimmt. Bei den Bundestagswahlen war klare Vorgabe, dass es eine Koalition mit der LINKEN nur geben könne mit einem »Raus aus Afghanistan«, der Rückkehr zur Rente ab 65, der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns und der Abschaffung von Hartz IV oder zunächst einer substantiellen Erhöhung der Eckregelsätze auf 500 Euro. Da drei dieser vier Punkte mit der SPD nicht zu machen waren, war von vornherein klar, dass DIE LINKE in der Opposition bleiben würde. In NRW ist mit der Formulierung von Haltelinien im Dringlichkeitsprogramm ein ähnlicher Weg versucht worden. In der zukünftigen Debatte wird es notwendig sein, sich zwar positiv auf mögliche progressive Veränderungen gemeinsam mit anderen Parteien zu beziehen, aber eines ganz deutlich zu machen: Die Krisenabwälzungspolitik der schwarz-gelben Bundesregierung läuft vorrangig über die Länderund Kommunalhaushalte. Einer rot-rot-grünen Landesregierung stünden unter den gegebenen Bedingungen überhaupt nicht die Mittel für einen Politikwechsel zur Verfügung. Stattdessen hat Oskar Lafontaine in seiner »Saarbrücker Rede« im Januar einen Hinweis darauf gegeben, wie positive Veränderungen möglich sind. So sei in der Vergangenheit der Ausbau des Sozialstaates vor allem von konservativen Kanzlern wie Bismarck und Adenauer umgesetzt worden. Dies geschah aber nicht, weil die Konservativen eigentlich sozialer eingestellt wären als die Sozialdemokraten, sondern weil letztere es geschafft hätten, massiven Protest auf die Straße und in die Betriebe zu bringen. Damit DIE LINKE in NRW wirkungsmächtig wird, muss dies das Ziel ihrer Politik in den nächsten fünf Jahren werden.
Michael Bruns
kandidiert für DIE LINKE bei der Landtagswahl in NRW. Er ist Direktkandidat im Wahlkreis Soest II.
© Klaus Stuttmann
Burkaverbot in Belgien
Zwang zur Freiheit
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n Belgien haben Abgeordnete aller Parteien für die Einführung eines Burkaverbots gestimmt: Frauen, die einen Gesichtsschleier tragen, können mit Geld- oder gar Haftstrafen von bis zu sieben Tagen belegt werden. Auch in Frankreich prüft die Regierung derzeit einen Gesetzentwurf, der Burkaträgerinnen von sämtlichen öffentlichen Dienstleistungen – also auch Schulen, Krankenhäusern und Behörden – ausschließen will. Das Verbot soll angeblich den entrechteten Frauen zugute kommen. Nur: Mit einem Verbot wird keiner Frau geholfen. Diejenigen, die sich freiwillig verhüllen, werden ihrer elementaren Persönlichkeitsrechte sowie des Rechts auf freie Religionsausübung beraubt. Und denjenigen, die gezwungen werden, entzieht man mit dem Verbot auch noch die letzte Chance, sich von unterdrückenden häuslichen Verhältnissen aus eigener Kraft zu befreien. Denn öffentliche Hilfe können die entsprechenden Frauen dann nicht mehr in Anspruch nehmen: Sie können sich weder im Krankenhaus einer
Ärztin anvertrauen, noch im Sozialamt eine eigenständige Hilfeleistung anfordern, noch einem Anwalt eine Scheidung beauftragen, noch eine polizeiliche Anzeige aufgeben. Sie können auch keine Schule oder Weiterbildung besuchen,
Mit dem Burkaverbot wird keiner Frau geholfen um eine berufliche Qualifikation zu erwerben, die sie potenziell unabhängiger von Männern machen würde. Mit einem Verbot werden solche Frauen also aus der Öffentlichkeit direkt in ihr womöglich repressives Zuhause verbannt. Verbote verstoßen eklatant gegen das Selbstbestimmungsrecht der Frau. Emanzipation kann nicht bedeuten, dass eine Gruppe von Männern und Frauen eine andere für unterdrückt und rückständig erklärt, um dann die Methode ihrer »Befreiung« mit staatlichem Zwang vorzuschreiben. Ein Schleier kann mitunter auch davor schützen, als »Illegale« ohne
sicheren Aufenthaltsstatus identifiziert zu werden. Solange Frauen durch repressive Ausländergesetzgebungen in die Illegalität gezwungen werden, werden sie sich nicht ihrer Freiheitsrechte bedienen können. Was Frauen brauchen, ist Gleichheit vor dem Gesetz, sind höhere Löhne und geschlechtsunabhängige Bezahlung, eine moderne Familienpolitik, die sie nicht auf Mutterrollen und Reproduktionsarbeiten reduziert, Frauenhäuser und Beratungszentren, Zugang zu Bildung und vor allem: solidarische Unterstützung statt Bevormundung und Zwang. Nur dann hat die Beseitigung patriarchaler Symbole und Gesetze eine reelle Chance: wenn sie von den Entrechteten selber bekämpft werden.
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Marwa Al-Radwany
ist Mitglied der LINKEN in Berlin und Vorsitzende der Initiative »GrenzenLos!« e.V.
Unsere Meinung
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Schwerpunkt TATORT KIRCHE
13 Falscher Umgang mit Sexualität Interview mit Maya Mosler
16 Vom Paulus zum Saulus © Eye See Movies
Rosa Luxemburg über die Kirche
19 Zweierlei Maß
Kommentar von marx21
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Tatort Kirche
Nr. 15 | Mai/Juni 2010 | www.marx21.de
»Der Zölibat ist Kern des Problems« Die Häufung von Missbrauchsfällen im Umfeld der katholischen Kirche geht auf deren Umgang mit Sexualität zurück, meint Maya Mosler im Gespräch mit marx21
M
issbrauch bei der katholischen Kirche, in einer reformpädagogischen Schule, in DDR-Jugendheimen – offensichtlich ist Kindesmissbrauch ein breites gesellschaftliches Phänomen. So will es die katholischen Kirche darstellen, um sich ihrer Verantwortung zu entziehen: »Schaut, Missbrauch gibt es überall, warum gesondert über uns reden?«. Darin steckt ein wahrer Kern: Schätzungsweise 75 bis 80 Prozent der Fälle sexuellen Missbrauchs von Kindern finden in der Familie statt. Doch Tatsache bleibt: In pädagogischen Einrichtungen der katholischen Kirche ist im Vergleich zu anderen Einrichtungen der Missbrauch von Kindern überproportional häufig: 3000 bestätigte Fälle in Deutschland, unzählige mehr in Irland und den USA. Das ist schon gesondert erklärungswürdig. Der Papst und die katholische Kirche weisen energisch eine besondere Schuld der Kirche aufgrund ihrer repressiven Sexualmoral und dem Zölibat von sich. Bischof Mixa hatte versucht, die 68er-Bewegung und ihre »sexuelle Revolution« verantwortlich zu machen. Sehr viele der jetzt bekannt gewordenen Missbrauchsfälle sind jedoch in den 1950er und 1960er Jahren geschehen, also vor der sexuellen Revolution.
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MaYa Mosler Maya Mosler ist Diplom-Psychologin und aktiv in der LINKEN Frankfurt.
Zudem hat Kardinal Bertone, der politische Chef des Vatikans und die rechte Hand des Papstes, nicht namentlich genannte Psychologen »zitiert«, die einen Zusammenhang zwischen Pädophilie und Homosexualität festgestellt haben wollen. Diese Äußerungen haben zu Recht einen Sturm der Entrüstung ausgelöst, nicht nur unter Schwulen- und Lesbenverbänden. Ein »Argument« Bertones ist, dass laut Untersuchungen des Vatikans 60 Prozent der Missbrauchsopfer das gleiche Geschlecht wie die Täter hatten. Doch mit der gleichen »Berechtigung« könnte man behaupten, Heterosexualität sei an den restlichen 40 Prozent schuldig. Da bei den Missbrauchsfällen in den Familien die Mehrheit der Opfer Mädchen und die Mehrheit der Täter Männer sind, könnte man umgekehrt auch behaupten, Heterosexualität sei dort die Ursache für den Missbrauch.
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nd was ist deine Erklärung? Eine gängige These besagt, dass die pädagogischen Berufe Menschen anziehen, die sexuelle Vorlieben zu Kindern haben. Pädagogische Berufe gibt es aber viele – das erklärt die Häufung bei der katholischen Kirche nicht. Andere sagen, dass der autoritäre Charakter der kirchlichen Institutionen, das extreme Machtge-
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fälle zwischen Priestern beziehungsweise Erziehern und Kindern sexuellen Missbrauch begünstigt, der ja auch ein Machtmissbrauch ist. Da ist sicher auch etwas Wahres dran, doch auch so erklärt sich die Häufung nicht: Abhängigkeit und Unterordnung sind im kapitalistischen Betrieb der Normalfall. Eine Rolle spielt sicher, dass Klosterschulen und kirchliche Heime geschlossene Räume sind, die keiner öffentlichen Kontrolle unterliegen. Die Kinder sind dem Aufsichtspersonal ausgeliefert. Aber der Schlüssel zum Verständnis der Problematik ist der repressive Umgang mit Sexualität. Die katholische Kirche pflegt
Die katholische Kirche pflegt ein völlig eindimensionales Bild von Sexualität
ein völlig eindimensionales Bild von Sexualität – sie ist Mittel zur Fortpflanzung, alles andere ist Sünde, die über das Ventil der Beichte wieder erlassen wird. Der Zölibat ist Ausdruck dieser repressiven Sexualmoral – und Kern des Problems. Die Priester werden mit ihren sexuellen Problemen und Fantasien alleingelassen, übrigens auch schon während ihrer Ausbildung. So ist eine reife sexuelle Befriedigung mit anderen Erwachsenen quasi gar nicht erfahrbar. Nur 10 Prozent derjenigen, die Kinder als Sexualobjekt begehren, sind tatsächlich pädophil. Nach vorsichtigen Schätzungen sind 80-90 Prozent derjenigen, die sexuellen Missbrauch an Kindern begehen, dem so genannten »regressiven Tätertypus« zuzuordnen: Seine primäre sexuelle Orientierung ist auf Erwachsene gerichtet. Aufgrund der leichten Verfügbarkeit von Kindern, sowie wegen Problemen mit erwachsenen Sexualpartnern greift er zur sexuellen Befriedigung auf Kinder zurück. Man spricht deshalb auch von einem Ersatzobjekttäter. Diese Tätertypologie gibt uns einen Hinweis darauf, warum katholische Priester häufiger Täter werden.
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eife sexuelle Entwicklung« – was soll das sein? Ich ziehe den Begriff »reife Sexualität« dem der »normalen Sexualität« vor. Sexualität beim Menschen unterscheidet sich vom Tier. Nach Sigmund Freud ist der Sexualtrieb zwar eine biologische Größe, die Formen seiner Befriedigung unterliegen aber gesellschaftlichen, historischen Normen, die ihrerseits einem ständigen Wandel unterworfen sind. Bekannter Weise galt im antiken Griechenland die Knabenliebe, also männliche Homosexualität mit Heranwachsenden, als höchste Form der Liebe – die Kehrseite
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davon war, dass die Frau als minderwertig und »schmutzig« angesehen wurde. Den größten Teil seiner Kulturgeschichte hat der Mensch in polygamen Beziehungen zusammengelebt. In unseren Gesellschaften gilt die Monogamie, die Einehe, als »normal«. Die hohe Scheidungsquote und die weite Verbreitung von Prostitution zeigen jedoch, wie brüchig diese »Normalität« ist. Unabhängig von den gerade gängigen Normen definiere ich »reife Sexualität« als ein freiwilliges intimes Verhältnis unter Gleichen. Sado-Maso-Spiele, die auf gegenseitigen Absprachen beruhen, sind für mich auch eine Form reifer Sexualität, »normaler« Beischlaf gegen den erklärten Willen eines Beteiligten hingegen nicht – insbesondere wenn derjenige, der diese Grenze überschreitet, genau dadurch einen Lustgewinn erzielt. Kinder als Objekt sexueller Befriedigung zu betrachten ist eine Form misslungener sexueller Reifung, die Ausprägung einer Perversion.
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st es nicht gefährlich, wenn Linke den Begriff »Perversion« verwenden? Schließlich galt Homosexualität lange Zeit als »pervers«. Freud hat in der Tat jede sexuelle Befriedigung als pervers (widernatürlich oder krankhaft) bezeichnet, die von den zu seiner Zeit geltenden sexuellen Normen abgewichen sind. Als pervers galten damals alle Formen der Sexualität, außer der zwischen Mann und Frau. Die 68er-Bewegung hat zu einer Liberalisierung dieser Ansichten geführt. Jede sexuelle Beziehung, auch gleichgeschlechtliche, die auf Freiwilligkeit unter Gleichen beruht ist meines Erachtens nicht pervers.
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ie soll sich die Linke zum Thema Kindesmissbrauch positionieren? Wir sind gegen Sexualität von Erwachsenen mit Kindern, weil dies keine Sexualität unter Gleichen darstellt und bei den Opfern schwere seelische Schäden hinterlässt. Gleichzeitig sollten wir für einen freien Umgang mit Sexualität eintreten. Nach Bischoff Mixa hat jetzt auch der hessische FDP-Vorsitzende Jörg-Uwe Hahn den liberalen Umgang der 68er-Bewegung verantwortlich für den Missbrauch gemacht. Auch das ist meines Erachtens ein Ablenkungsmanöver von der Verantwortung der Katholischen Kirche.
Die Priester werden mit ihren sexuellen Problemen und Fantasien alleingelassen
Denn es ist gerade die Tabuisierung des Sexuellen, die es Kindern erschwert, sich zu verweigern und sich nach sexuellen Übergriffen erwachsenen Vertrauenspersonen anzuvertrauen. Kinder haben ein Recht darauf, ihre eigene Sexualität zu entdecken und ein Recht auf Neugier in Bezug auf Sexualität zwischen Erwachsenen. Erwachsene sollten ihnen Fragen dazu in kindgerechter Sprache beantworten. Dazu bedarf es einer feinen Balance von Distanz und Nähe. Ich sehe die nötige sexuelle Distanz zwischen Kindern und Erwachsenen nicht mehr gewahrt, wenn Erwachsene Kinder nötigen, sie anzufassen. Anders sieht es aus, wenn Kinder miteinander durch »Doktorspiele« oder allein durch Selbstbefriedung ihre Sexualität entdecken. Das zu unterbinden und den Kindern ein schlechtes Gewissen zu machen, hemmt die Entwicklung.
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as ist jetzt eher eine Frage der Sexualerziehung – aber was ist mit den Tätern und der Bedrohung, die von ihnen ausgeht? Gerhard Schröder empfahl einst angesichts hoher Rückfallquoten: »Wegsperren, und zwar für immer«. Die hohen Rückfallquoten sind ein Mythos. Nach unterschiedlichen Studien liegt die Rückfallquote bei unbehandelten Straftätern bei 18 Prozent, durch eine Therapie kann die Quote auf 9 Prozent halbiert werden – Therapie ist also durchaus nicht vergebene Müh, sondern sinnvoll. Die Wirksamkeit von Therapien hängt stark vom Tätertypus ab. Beim »pädophilen Täter«, der ausschließlich durch Kinder erregt wird, ist die Therapie schwieriger. Auch der so genannte »soziiopathische Täter«, dem das Quälen von Menschen Spaß macht, ist nur sehr schwer therapierbar. Diese Tätergruppen machen zusammen aber nur rund 10 Prozent der Sexualstraftäter aus. Vor ihnen muss die Gesellschaft geschützt werden. Entscheidend ist natürlich die Verfügbarkeit von qualifizierter Betreuung. Ob die knapp 2000 Therapieplätze so auch bestehen blieben, ist aufgrund der Schuldenkrise von Ländern und Kommunen unklar. Die LINKE sollte sich dafür einsetzen, dass diese Therapieplätze erhalten bleiben und ausgebaut werden. Die Fragen stellte Stefan Bornost www.marx21.de | Mai/Juni 2010 | Nr. 15
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Vom Paulus zum Saulus Der Katholizismus steht in der Kritik – nicht erst seit dem Missbrauch skandal. Schon Anfang des 20. Jahrhunderts analysierte Rosa Luxemburg die Kluft zwischen Idealen und Praxis der Kirche. marx21 dokumentiert Auszüge aus ihrer Schrift »Kirche und Sozialismus«
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iner der schwersten Vorwürfe, den die Geistlichkeit den Sozialdemokraten macht, ist der, dass sie den »Kommunismus« einführen wollen, das heißt gemeinsames Eigentum aller irdischen Güter. Es wird hier vor allem interessant sein festzustellen, dass die heutigen Priester, wenn sie gegen den »Kommunismus« wettern, eigentlich gegen die ersten Apostel der Christenheit wettern. Denn gerade sie waren die leidenschaftlichsten Kommunisten.
Die christliche Religion entstand im alten Rom zur Zeit des größten Verfalls
Die christliche Religion entstand bekanntlich im alten Rom zur Zeit des größten Verfalls dieses einstmals starken und mächtigen Reiches, das damals das ganze heutige Italien, Spanien, einen Teil Frankreichs, einen Teil der Türkei, Palästina und verschiedene andere Länder umfasste. Die Verhältnisse, die in Rom zur Zeit der Geburt Christi herrschten, waren den heutigen Verhältnissen in Russland sehr ähnlich. Einerseits eine Handvoll Reicher, die in Müßiggang unermesslichen Luxus und Überfluss genossen, andererseits eine riesige Volksmasse, die in entsetzlicher Not zugrunde ging, und über allem eine Regierung von Despoten, die, auf Gewalt und moralische Verkommenheit gestützt, unsagbaren Druck ausübte und das Letzte aus der Bevölkerung herauspresste; im ganzen Reich Zerrüttung, äußere Feinde, die den Staat von verschiedenen Seiten bedrohten, eine Soldateska, die in wildem Übermut die arme Bevölkerung traktierte, öde und entvölkerte Dörfer mit immer unfruchtbarer werdenden Äckern, die Stadt aber, die Hauptstadt Rom nämlich, überfüllt von abgezehrtem Volk, das voll Hass an den Palästen der Reichen rüttelte, von Volk ohne Brot, ohne Obdach, ohne Kleidung, ohne Hoffnung und Aussicht auf irgendeinen Ausweg aus dem Elend.
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Unter diesen entsetzlichen Bedingungen der verfallenden Gesellschaft, wo es für die riesige Volksmenge keinen sichtbaren Ausweg gab, keine Hoffnung auf ein besseres Los auf Erden, begannen die Unglücklichen, diese Hoffnung im Himmel zu suchen. Die christliche Religion erschien den Verachteten und Elenden als eine Rettungsplanke, als Trost und Linderung, und wurde vom ersten Augenblick an die Religion der römischen Proletarier. Und entsprechend der materiellen Lage dieser Volksklasse begannen die ersten Christen, die Forderung nach gemeinsamem Eigentum – den Kommunismus – zu verkünden.
So waren die Christen im 1. und 2. Jahrhundert leidenschaftliche Bekenner des Kommunismus. Aber dieser Kommunismus des Verbrauches fertiger Produkte konnte keineswegs die Lage der damaligen Gesellschaft verbessern, konnte nicht die Ungleichheit unter den Menschen und die Kluft zwischen den Reichen und dem armen Volk beseitigen. Da die Produktionsmittel, hauptsächlich der Boden, Privateigentum blieben, da die Arbeit für die Gesellschaft weiterhin auf Sklaverei beruhte, flossen also die durch die Arbeit erworbenen Reichtümer weiterhin wenigen Eigentümern zu, das Volk aber blieb der Mittel zum Leben beraubt, die es als Bettelvolk auch nur aus Gnade der Reichen erhielt. Der christliche Kommunismus konnte nicht nur die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht ändern und verbessern, er konnte sogar sich selbst nicht lange halten. Solange es am Anfang noch wenige Bekenner des neuen Evangeliums gab, solange sie nur eine kleine Sekte von Begeisterten in der römischen Gesell-
und wählten jedes Mal einen der Brüder aus ihrer schaft bildeten, solange war es möglich, den Besitz Mitte, der den Gottesdienst leitete und die religiösen zur gemeinsamen Verteilung zusammenzutragen, Handlungen ausführte. die Mahlzeiten gemeinsam einzunehmen und oft Jeder Gläubige konnte damals Bischof oder Presbyter auch unter gemeinsamem Dach zu wohnen. werden, es waren dies zeitlich begrenzte Ämter, die Aber in dem Maße, in dem immer mehr Menschen keine Macht vergaben dem Christentum beitraaußer der, mit der die ten, in dem die GemeinGemeinde sie freiwillig den sich schon über das ausstattete, und sie waganze Reich verbreiteten, ren völlig unbezahlt. In wurde das gemeinsame dem Maße jedoch, wie Zusammenleben der Bedie Zahl der Bekenner kenner immer schwieriwuchs und die Gemeinger. Die Sitte der gemeinden immer größer und samen täglichen Mahlzeireicher wurden, wurden ten verschwand bald volldie Verwaltung der Geständig, und gleichzeitig meindeangelegenheiten nahm auch die Hingabe und das Abhalten der des eigenen Besitzes zum Gottesdienste zu einer gemeinsamen Verbrauch Beschäftigung, die viel einen anderen Charakter Zeit und völlige Hingabe an. erforderte. Da einzelne Da die Christen jetzt christliche Brüder mit schon nicht mehr in einer diesen Aufgaben neben gemeinsamen Familie ihrem privaten Beruf lebten, sondern jeder sich nicht mehr fertig werden um seine eigene selbst konnten, begann man kümmern musste, wurde also, Gemeindemitglieauch schon nicht mehr der für geistliche Ämter die ganze Habe zum geals ausschließliche Tämeinsamen Verbrauch tigkeit zu wählen. der christlichen Brüder abgegeben, sondern das, Im 4. Jahrhundert nach was übrig blieb, nachChristus beginnen die dem die Bedürfnisse der Geistlichen der einzeleigenen Familie gedeckt Die frühen Christen waren »leidenschaftliche Bekenner des Kommunismus«, so Rosa Luxemburg. nen Gemeinden, regelwaren. Hier eine Darstellung der Bergpredigt von dem dänischen Maler Carl Bloch mäßig auf Konzilen zuWas jetzt die Wohlhasammenzukommen; das benden dem christlichen erste derartige Konzil Gemeinwesen abgaben, fand 325 in Nicäa statt. war schon nicht mehr Dadurch wurde der enge Anteil am kommunistiZusammenschluss der Geistlichen zu einem vom schen Zusammenleben, sondern Opfer für andere, Volk abgesonderten Stand vollendet. nicht wohlhabende Brüder, war schon WohltätigGleichzeitig änderte sich auch das ökonomische keit, Almosen. Aber als die reichen Christen aufhörVerhältnis zwischen Volk und Geistlichkeit. Früher ten, selbst den gemeinsamen Besitz in Anspruch zu war alles, was reiche Kirchenmitglieder der Gemeinnehmen, und nur einen Teil für andere abgaben, da schaft opferten, als Fonds für das arme Volk betrachfiel auch dieser Teil, der für die armen Brüder getet worden. Dann begann man, aus eben diesem opfert wurde, verschieden aus, größer oder kleiner, Fonds einen immer größeren Teil dafür abzuzweije nach Willen und Natur der einzelnen Bekenner. gen, die Geistlichkeit zu bezahlen und die BedürfSo entstand allmählich im Schoße der christlichen nisse der Kirche zu bestreiten. Gemeinde derselbe Unterschied zwischen Arm und Als Anfang des 4. Jahrhunderts das Christentum in Reich wie ringsum in der römischen Gesellschaft, Rom zur herrschenden, d.h. zur einzigen vom Staat gegen den die ersten Christen den Kampf aufgeanerkannten und unterstützten Religion ausgerufen nommen hatten. wurde und die Christenverfolgungen aufhörten, fanZu Anfang, als die Zahl der Gläubigen noch klein den die Gottesdienste nicht mehr in unterirdischen war, war eine eigentliche Geistlichkeit gar nicht vorHöhlen oder bescheidenen Kammern statt, sondern handen. In jeder Stadt sammelten sich die Gläubiman begann, immer prächtigere Kirchen zu bauen. gen, bildeten eine selbständige religiöse Gemeinde
Jeder Gläubige konnte damals Bischof werden
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an die Kirche in ihrer letzten Stunde von ihrem sündigen Leben loskaufen wollten. Geld, Häuser, ganze Dörfer samt Fronbauern, einzelne Renten und Arbeitsleistungen, die zum Land gehörten, wurden der Kirche geschenkt und vermacht. So sammelten sich in den Händen der Geistlichkeit riesige Reichtümer an.
Die Ausgaben dafür verminderten den Fonds für die Armen immer mehr. Schon im 5. Jahrhundert nach Christus wurden die Einkünfte der Kirche in vier gleiche Teile aufgeteilt, von denen einen der Bischof erhielt, einen die übrige niedere Geistlichkeit, einer für Bau und Erhaltung der Kirchen abging und nur ein vierter für die Unterstützung des armen Volkes verwendet wurde. Das ganze christliche Armenvolk erhielt zusammen jetzt nur noch so viel wie der Bischof allein. Und mit der Zeit hörte man überhaupt auf, einen bestimmten Teil für die Armen bereitzustellen.
Und jetzt hörte der Klerus schon auf, Verwalter des ihm anvertrauten Besitzes der Kirche, d.h. der Gemeinde der Gläubigen und zumindest der armen Brüder zu sein. Im 12. Jahrhundert verkündete die GeistlichJe reicher und mächtikeit schon offen und ger die Geistlichkeit wurstellte es als scheinbar de, desto mehr verlor das aus den Worten der Volk der Gläubigen jede heiligen Schrift herleitKontrolle über Besitz und bares Recht dar, dass Einkünfte der Kirche. Die aller Reichtum der Bischöfe verteilten so viel Kirche nicht Eigentum an die Armen, wie es ihder Gemeinschaft der nen gefiel. Das Volk erhielt Gläubigen sei, sondern schon damals Almosen privates Eigentum der von seiner Geistlichkeit. Geistlichkeit und vor Aber das ist noch nicht das allem ihres OberhaupEnde. tes, des Papstes. Waren anfangs alle GaDas Altargemälde von Carlo Crivelli aus dem 15. Jahrhundert zeigt eine Stadt in den Händen des heiligen Geistliche Ämter waren ben der Gläubigen für die Venetianus. Noch heute besitzt allein der Vatikan Immobilien im Wert von 1,5 Milliarden Euro somit der beste Weg, christliche Allgemeinheit große Einkünfte und freiwillig, so begann die Reichtümer zu erwerGeistlichkeit mit der Zeit, ben, und jeder Geistlibesonders, seit die Religiche, der über den Beon Staatsreligion geworden sitz der Kirche wie über war, zwangsweise Gaben sein Eigentum verfügte, stattete seine Verwandten, zu fordern, und das von allen Gläubigen, begüterKinder und Enkel mit vollen Händen aus. Da die ten und unbegüterten. Im 6. Jahrhundert wurde Kirchengüter sich dadurch beträchtlich verminvon der Geistlichkeit eine besondere Kirchenabgaderten und in den Händen der Familien der Geistbe eingeführt: der Zehnte (d.h. die zehnte Kornählichen zusammenschmolzen, befahlen die Päpste re, das zehnte Stück Vieh usw.). Diese Abgabe fiel also in ihrer Sorge, den Reichtum im Ganzen zu als neue Last auf die Schultern des Volkes und wurerhalten und indem sie sich zu obersten Eigentüde später im Mittelalter eine Gottesgeißel für die mern des ganzen Kirchenbesitzes erklärten, der armen, durch Fronarbeit ausgepressten Bauern. Geistlichkeit den Zölibat, d.h. die Frauenlosigkeit, Als im Mittelalter das arbeitende Volk durch die um zu verhindern, dass der Besitz durch Vererben Fron in immer größere Not fiel, bereicherte sich gemindert wurde. die Geistlichkeit immer mehr. Außer den Einkünften aus dem Zehnten und anderen Abgaben und Der Zölibat wurde ursprünglich schon im 11. Zahlungen erhielt die Kirche zu jener Zeit riesige Jahrhundert eingeführt, aber wegen des großen Schenkungen und Vermächtnisse von frommen Starrsinns der Priester allgemein erst Ende des 13. Reichen oder reichen Wüstlingen beiderlei GeJahrhunderts angenommen. Damit die Kirche auch schlechts, die sich durch reichliches Vermächtnis
Der Zölibat wurde eingeführt, um zu verhindern, dass der Kirchenbesitz vererbt wurde
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nicht den geringsten Teil des Reichtums aus den Händen ließe, gab Papst Bonifatius VIII. 1227 einen Erlass heraus, der jeglichem Geistlichen untersagte, ohne Erlaubnis des Papstes weltlichen Menschen Schenkungen aus seinen Einkünften zu machen. So häufte die Kirche in ihren Händen unermessliche Reichtümer an, besonders Grundbesitz. In allen christlichen Ländern wurde die Geistlichkeit zum größten Grundbesitzer. Gewöhnlich besaß sie den dritten Teil der ganzen Ländereien im Staate,
manchmal noch mehr. Die so begüterte Geistlichkeit bildete mit dem Fronadel zusammen einen Stand, der über das arme Volk herrschte und von seinem ★ ★★ Dieser Text ist ein Auszug aus Rosa Luxemburgs Broschüre »Kosciol a Socjalizm« (»Kirche und Sozialismus«). Er erschien unter dem Pseudonym Jozef Chmura während der Russischen Revolution von 1905. Der vollständige Text findet sich unter: www.tinyurl.com/kirche-sozialismus.
kommentar
Zweierlei Maß von marx21
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nnenminister Thomas de Maizière (CDU) hat kürzlich den »Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland« von einer weiteren Teilnahme an der Islamkonferenz ausgeschlossen. Die Begründung: Eine der Mitgliedsorganisationen, Milli Görüs, wird von der Staatsanwaltschaft München beschuldigt, eine kriminelle Vereinigung zu bilden. Die Anklage bezieht sich auf Vorwürfe der Geldwäsche und der Steuerhinterziehung. Milli Görüs wird seit Jahren vom Verfassungsschutz beobachtet. Kritiker werfen der Organisation vor, ihre konservative Auslegung des Islam ziele auf die Bildung einer »Parallelgesellschaft« ab. Geldwäsche, Steuerhinterziehung, Parallelgesellschaft? Das können auch andere: Erst kürzlich hat das Handelsblatt den Vatikan als »Drehscheibe für Mafiagelder, Schmiergeldzahlungen und Steuerhinterziehung« bezeichnet. Die Vatikanbank gilt als große Geldwaschanlage, durch die jährlich 60 Millionen Euro unbekannter Herkunft fließen. Auch für die katholische Kirche in Deutschland und die ihr nahestehende Partei, die CDU, ist die Zusammenarbeit mit Liechtensteiner und Schweizer Experten für Steuerhinterziehung und Geldwäsche hinreichend dokumentiert. Kein Staatsanwalt käme jedoch auf die Idee, sie der Bildung einer kriminellen Vereinigung zu bezichtigen. Das Gleiche gilt für den Vorwurf der Bildung von Parallelgesellschaften, also sozialen Räumen, in denen geltendes Recht außer Kraft gesetzt ist. Hunderte Fälle von Kindesmissbrauch in christlichen Schulen und Gemeinden sind in den vergangenen Wochen bekannt geworden. Und als sei dies allein nicht schon skandalös genug, kommen nun zahlreiche Details über den Umgang der verantwortlichen Gremien und Bischöfe mit den Missbrauchsfällen ans Licht. Nicht selten handelten die Verantwortlichen
nach eigenen, internen Verfahren jenseits geltenden Rechts. Fast immer waren sie darauf bedacht, die Fälle zu vertuschen und die Täter vor strafrechtlichen Konsequenzen zu schützen. Auffällig gewordene Priester und Ordensleute wurden nicht angezeigt, sondern lediglich in andere Pfarreien und Diözesen versetzt. Auch Papst Benedikt XVI. spielte hier in der Vergangenheit – noch als Kardinal Joseph Ratzinger – eine wenig ruhmreiche Rolle. 2001 übertrug Johannes Paul II. Ratzingers Abteilung die Untersuchung aller Missbrauchsfälle durch katholische Geistliche. Kurz darauf warnte dieser in einem Brief an alle Bischöfe davor, Informationen über Folter- oder Vergewaltigungsfälle an die Justizbehörden oder die Presse weiterzugeben. Die innerkirchliche Untersuchung laufe »unter strengster Geheimhaltung (...), denn es handelt sich um eine Geheimsache des Heiligen Offiziums (...), deren Verrat mit Exkommunikation bestraft wird.« Wo es bei staatlichen und anderen Erziehungseinrichtungen regelmäßig zu polizeilichen Ermittlungen kommt, bleiben Missbrauchsfälle in kirchlichen Einrichtungen erst einmal bei Vorgesetzten und Kirchenbehörden hängen – nach dem Motto: Nur kein Aufsehen erregen. Offensichtlich stellt die katholische Kirche einen rechtsfreien Raum dar, in der staatliche Gesetze und Gerichtsbarkeit nur sehr eingeschränkt gelten. Die gegen Milli Görüs erhobenen Vorwürfe – ob diese berechtigt sind oder nicht, sei hier dahingestellt – treffen ganz sicher auf die katholische Kirche zu. Aber diese gehört zum westlich-abendländischen gemeinsamen »Kulturerbe«. Und da darf man sich offenbar rechtsfreie Räume und Rechtsbruch erlauben. Hier wird augenscheinlich mit zweierlei Maß gemessen. www.marx21.de | Mai/Juni 2010 | Nr. 15
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Schwerpunkt EUROPA GEGEN DIE KRISE
21 Aufruhr gegen die Krise
Interview über die Proteste in Griechenland
24 Desaster made in Germany Warum Griechenland pleite ist
27 Rückkehr der Sozialpartnerschaft 20
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© George Laoutaris
Deutsche Gewerkschaften halten still
marx21 sprach mit dem griechischen Aktivisten Sotiris Kontogiannis über die Schuldenkrise, Korruption und den Widerstand gegen die Kürzungspolitik der Regierung ie griechische Regierung will die Schuldenkrise mit einem drastischen Sparprogramm in den Griff bekommen. Mit Lohnkürzungen, Einstellungsstopp im öffentlichen Dienst und Steuererhöhungen soll der Haushalt saniert werden. Wie reagiert die Bevölkerung darauf? Griechenland ist im Aufruhr. Die Wut auf die harten Kürzungsmaßnahmen, die der Arbeiterklasse von der »sozialistischen« PASOK-Regierung und der EU aufgebürdet werden, steigt. Das griechische Parlament verabschiedete das neue Kürzungspaket am 5. März. Es war bereits das dritte Paket seit der letzten Parlamentswahl, die erst fünf Monate zurück liegt. Ziel ist die Reduzierung des Staatsdefizits um 16 Milliarden Euro, was für ein kleines Land wie Griechenland eine enorme Summe darstellt.
Sotiris Kontogiannis
Sotiris Kontogiannis ist Sozialist und arbeitet als Journalist. Er lebt in Athen.
In den vergangenen Jahren mussten wir häufig erleben, dass die Mobilisierungen zu Protesten schnell aufhörten, sobald die Regierung einen ihrer Angriffe im Parla-
ment durchgebracht hatte. Das war vor zwei Jahren der Fall, noch unter der konservativen Vorgängerregierung. Es gab zwei große Proteste gegen die Rentenreform. Sogar die Zentralbank wurde besetzt, was alle Finanztransaktionen an jenem Tag lahm legte. Die Streikwelle kam aber zu einem abrupten Ende, nachdem der Plan im Parlament Gesetzeskraft erlangte. Noch am gleichen Abend kamen die Gewerkschaftsführer zusammen und entschieden, dass weitere Aktionen in Anbetracht der Parlamentsentscheidung sinnlos seien. Heute läuft es ganz anders. Das Parlament verabschiedete erwartungsgemäß den Kürzungsplan. Das war aber kein Signal für das Ende der Mobilisierungen, sondern für eine neue Streikwelle. Am gleichen Tag nämlich besetzte die Belegschaft der »Nationalen Druckerei« ihren Betrieb, um eine Veröffentlichung des neuen Gesetzes im »Regierungsblatt« zu verhindern. Die Verfassung sieht vor, dass ein Gesetz erst nach Veröffentlichung im »Regierungsblatt« Gültigkeit erlangt.
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Krise
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Am gleichen Tag besetzten die entlassenen Arbeiter der mittlerweile privatisierten Fluggesellschaft Olympic Airways die zentrale Buchhaltung, und Arbeiter der vor einem Jahr bankrott gegangenen Textilfabrik Lanaras zwei Banken in der nördlich gelegenen Stadt Komotini. Die Gerichtsbeamten haben den Entschluss gefasst, täglich zwei Stunden zu streiken, was effektiv einer fast vollständigen Blockade der Gerichte gleichkommt. Die Gemeindearbeiter haben beschlossen, die Müllkippen zu schließen. Die Angestellten einer der angesehensten Verlagshäuser, Lamprakis Press, haben aus Protest gegen geplante Entlassungen 24 Stunden gestreikt. Die Arbeiter des mittlerweile teilprivatisierten Energieunternehmens DEH streikten für 48 Stunden und es kam zu erheblichen Stromausfällen in ganz Griechenland. Wahrscheinlich wird es am 5. und 6. Mai den nächsten Generalstreik geben. Die Linke in Griechenland steht vor großen Herausforderungen.
Die Herrschenden ihre Angriffe gegen die Arbeiterklasse eskalieren lassen
D
ie Bild-Zeitung hier in Deutschland schrieb kürzlich über Griechenland: »Ohne ›Fakelaki‹ geht gar nichts«. Das Wort »Fakelaki« ist die Verniedlichungsform von »Fakelo« (Briefumschlag) und symbolisiert die alltägliche Bestechung. Die nichtstaatliche Antikorruptionsorganisation Transparency International hat ausgerechnet, dass eine Durchschnittsfamilie 1700 Euro Schmiergeld im Jahr zahlt. Warum ist Korruption in Griechenland so weit verbreitet? Ich weiß nicht, woher Transparency International seine Zahlen nimmt. Damit will ich nicht sagen, dass es keine Korruption gibt. Aber sie ist nicht so weit verbreitet, wie die Medien uns glauben machen wollen. Deswegen bin ich sehr vorsichtig, was diese Berichte über »Fakelaki« angeht. Man braucht sich nur anzusehen, wie damit umgegangen wird. Die Medien pushen diese Berichte regelrecht – mit versteckter Kamera werden Ärzte in Krankenhäusern dabei gefilmt, wie sie Bestechungsgelder annehmen. Es werden in den Zeitungen Geschichten über Finanzbeamte verbreitet, die mit einem Packen markierter Banknoten in den Taschen gefasst werden usw. All diese Gruselgeschichten haben etwas gemeinsam: Sie richten sich immer gegen Angehörige des Öffentlichen Diensts. Die Medien führen eine ständige Schmutzkampagne gegen Staatsbedienstete.
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Sie behaupten, es gebe zu viele, ihre Beschäftigung sei nur eine Begünstigung der Regierung, sie würden nicht arbeiten und so weiter. Die »Fakelaki«-Legende ist Teil dieser Schmutzkampagne. Es gibt zwei Gründe, warum die Medien den Staatsbediensteten so feindlich gesinnt sind: Der erste ist das große Staatsdefizit. Die Regierung bemüht sich, die Gehälter im öffentlichen Dienst zu senken (es wird gerade Druck von der Europäischen Kommission ausgeübt, die Zulagen für den Oster- und Sommerurlaub zu streichen) und so viele »unnötige« Arbeitsplätze wie möglich abzuschaffen. Eine der ersten Handlungen der »sozialistischen« PASOK-Regierung nach Machtantritt bestand in der Entlassung der »Stage«-Arbeiter. Das waren junge Leute, die als Zeitarbeiter vom Staat über ein besonderes Ausbildungsprogramm der EU (»Stage«) mit rund 500 Euro im Monat beschäftigt waren, allerdings ohne jede Sozialversicherung. Der zweite Grund für die Schmutzkampagne ist politischer Natur: Angestellte des Öffentlichen Diensts können auf eine lange, kämpferische Tradition zurückblicken und hatten immer einen hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad. Öffentliche Angestellte wie Lehrer, Krankenhauspfleger, Müllarbeiter usw. sind unkündbar. Diese Art der »Privilegien« treiben die herrschende Klasse in den Wahnsinn. Die Ärzte in den öffentlichen Krankenhäusern, die angeblich so korrupt sind, dass Patienten ohne »Fakelaki« nicht behandelt werden, widersetzten sich auch einem rassistischen Gesetz, das sie verpflichtete, die Polizei zu rufen, wenn ein illegaler Immigrant zu ihnen kommt. Statt sie der Polizei zu übergeben, entschieden die Ärztegewerkschaften, Immigranten zu behandeln, ohne sie zu fragen, ob sie sich legal oder illegal im Land aufhalten. Das nächste Mal, wenn du hörst, dass die Ärzte der öffentlichen Krankenhäuser in Griechenland nicht nur korrupt sind, sondern auch keinen Respekt für Gesetze haben, dann weißt du, worum es geht.
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rbeiterkämpfe haben eine lange Tradition in Griechenland. Es gibt durchschnittlich jedes Jahr einen oder zwei Generalstreiks. Wie haben die Gewerkschaften auf die Kürzungspläne der sozialdemokratischen Regierung reagiert?
Giannis Panagopoulos, Generalsekretär der GSEE, verkündete die Unterstützung des Dachverbandes für die Kürzungspläne, die »in die richtige Richtung« wiesen. Doch diese Orientierung stößt an der Basis auf Widerstand.
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as erwartest du für die kommenden Monate? Die herrschende Klasse und die Regierung werden ihre Angriffe gegen die Arbeiterklasse eskalieren lassen. Ihr Kürzungsprogramm lässt sich nur mit dem von Thatcher gegen die britische Arbeiterklasse zu Beginn der 1980er Jahre vergleichen. Tausende kleinerer Betriebe werden bankrott gehen und zehntausende Arbeiter entlassen. Die Deutsche Bank schätzt, dass sich die Arbeitslosenzahlen im Laufe des Jahres verdoppeln werden. Ob diese Vorhersagen eintreten oder nicht, hängt vom Ausmaß des Widerstandes ab. Unsererseits sind wir zu allem bereit, um eine Niederlage der Herrschenden herbeizuführen. Sie sagen immer wieder: »Aber es gibt kein Geld«. Doch es ist genug Geld da. Griechenland gibt Jahr für Jahr 4,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für die »Verteidigung« aus. Das entspricht genau dem Umfang der geplanten Kürzungen. Warum nicht den Verteidigungsetat streichen? Der diesjährige Haushaltsplan umfasst 13 Milliarden Dollar allein an Zinszahlungen für die Banken. Das sind aber genau die Banken, denen die Regierung vorwirft, gegen die »nationale Wirtschaft« zu zocken. Warum die Zinszahlungen an diese Erpresser und Profiteure nicht einfach einstellen? Die Regierung hat den Krieg gegen die »Steuerhinterziehung« erklärt. Die Lohnsteu-
erquote macht nur 7,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus, das sind 5 Prozent weniger als der europäische Durchschnitt. Nach dem neuen Gesetz werden hunderttausende Arbeiter und Rentner herangezogen, die bisher als zu arm galten, um Steuern zu zahlen. Aber die Schiffseigner – Griechenland besitzt die weltweit größte Handelsflotte – bleiben von der Steuerpflicht verschont. Ihr Recht auf Befreiung von der Steuer wurde 1967 unter der damaligen Militärregierung beschlossen und seitdem hat keine Regierung gewagt, dieses Gesetz anzutasten. Reichensteuern wären eine realistische Alternative zum Thatcherprogramm unserer »sozialistischen« Regierung. Das wird kein einfacher Kampf sein. Es wird auch keine kurze Auseinandersetzung sein. Wir werden einen tagtäglichen Kampf führen müssen gegen jeden einzelnen Versuch, uns für die Krise zahlen zu lassen. Gleichzeitig werden wir versuchen, eine starke antikapitalistische Alternative aufzubauen, damit wir für jene großen geschichtlichen Momente, die zweifelsohne auf uns zukommen, gewappnet sind. Die Fragen stellte Yaak Pabst
© apas / flick.r.com
Die Streikwelle gegen die Kürzungspläne begann mit einem »inoffiziellen« Generalstreik am 17. Dezember, der von der Lehrergewerkschaft initiiert worden war. Er wurde jedoch von den beiden Dachverbänden des privaten und öffentlichen Sektors, GSEE und ADEDY, verurteilt. Die Führung der Dachverbände wird politisch von den Sozialdemokraten dominiert. Der Streik mobilisierte dennoch hunderttausende Arbeiter und zwang die Führung von ADEDY, dann doch zu einem 24-stündigen Streik am 10. Februar aufzurufen. Zu ihrer Schande ignorierte die GSEE die vielen Appelle, am gleichen Tag ebenfalls zum Streik aufzurufen. Schlimmer noch, um die Wut zu zerstreuen und die Bewegung zu spalten, rief sie zu einem eigenen, separaten Generalstreik am 24. Februar auf. Der Schuss ging aber nach hinten los. Anstatt sich einfach damit zu begnügen, die GSEE-Führung an den Pranger zu stellen, drängten die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes die ADEDY-Führung, auch zu einem Generalstreik am 24. Februar aufzurufen. Mit Erfolg. Schätzungsweise 2,5 Millionen Arbeiter beteiligten. Das zwang die Führung beider Dachverbände, zu einer außerordentlichen Demonstration vor dem griechischen Parlament am 5. März, dem Tag der Verabschiedung der Kürzungspläne, und zu einem erneuten Generalstreik am 11. März aufzurufen. Die Regierung tut alles in ihrer Macht stehende, um die Mobilisierungen zu vereiteln. Und die herrschende Klasse wird alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen, um der Regierung beizustehen. Die Konservativen unterstützen die Kürzungspläne, die rechtsextreme LAOS unterstützt die Kürzungen, die Medien unterstützen sie. Anstatt den Widerstand zu organisieren, versuchen Teile der Gewerkschaftsbürokratie, die Wut abzulenken. Die GSEE hatte gerade ihre Jahreskonferenz, auf der viel debattiert, aber keine Mobilisierung beschlossen wurde.
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Desaster made in Germany Griechenlands Wirtschaftsdaten sind nicht viel schlechter als die anderer Staaten. Thomas Walter erklärt, warum das Land trotzdem im Zentrum der Krise steht
Thomas Walter ist Ökonom und Mitglied der LINKEN in Berlin.
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ie seit 2007 anhaltende Finanzkrise führt zu heftigen Auseinandersetzungen darüber, wer die Folgen zu tragen hat. Die britische Wirtschaftszeitung Economist erklärte, dass stets folgendes Muster zu beobachten sei: Auf der einen Seite kämpften die Gewerkschaften dafür, die Reichen zu besteuern. Auf der anderen Seite wollen die Reichen, die laut der Zeitung »oft das Ohr der Politiker haben«, dass der Staat »spart«. Er soll die Ausgaben für den Sozialstaat und den Öffentlichen Dienst kürzen. Dieser Kampf ist nun in Griechenland voll entbrannt. Zu Krisen kommt es im Kapitalismus, wenn sich Investitionen als nicht profitabel erweisen. Die Investoren können dann ihre Kredite an die Banken nicht zurückzahlen. Banken wiederum müssen dann den Sparern mitteilen, dass deren Einlagen verloren sind. So sind Krisen der produzierenden Wirtschaft und der Finanzwirtschaft wechselseitig miteinander verbunden. Auch Staaten bleiben nicht verschont. Ihnen brechen die Steuereinnahmen und die Beiträge zur Sozialversicherung weg. Dementsprechend stehen sie unter Druck, ihre Ausgaben den sinkenden Einnahmen anzupassen. Aufgrund der Tatsache, dass der Staat immer auch im Interesse des Kapitals handelt, greifen Regierungen zu der vermeintlichen »Lösung«, im Öffentlichen Dienst und bei sozialen Leistungen zu kürzen. Doch solche Maßnahmen verstärken die Krise nur, so geschehen während der letzten großen Depression 1929. Dieses Mal haben die Staaten – wenigstens zunächst – anders reagiert. Wenn in der Krise die Privaten, also Unternehmen einschließlich der Banken und Haushalte, ihre Kreditwürdigkeit verloren haben, bleibt noch der Staat kreditwürdig. Er kann Kredite aufnehmen und so mit seinen Ausgaben die Gesamtnachfrage stützen. Dies beseitigt nicht die Ursachen der Krise, kann aber eine Abwärtsspirale verhindern.
Vorerst ist damit die private Wirtschaft gestützt, aber die Staatsverschuldung steigt an. Die deutschen Staatsschulden lagen in den letzten Jahren etwa bei 66 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), die griechischen bei rund 100 Prozent. Die deutschen Schulden steuern derzeit auf das bisherige griechische Niveau zu, für Griechenland wird ein Anstieg auf über 120 Prozent erwartet. Inzwischen hat die EU-Kommission gegen 24 der 27 EU-Staaten, darunter auch Deutschland und Griechenland, so genannte Defizitverfahren eingeleitet, weil diese sich stärker verschuldet haben, als es der Vertrag von Maastricht erlaubt.
Die Situation Griechenlands ist keineswegs außergewöhnlich
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Im internationalen Vergleich steht Griechenland also nicht viel schlechter als andere Staaten da. Dementsprechend wundert sich der Ökonom Carsten Hefeker: »Bei aller Aufregung über die griechische Situation stellt sich die Frage, warum gerade Griechenland herausgesucht wird. Die Situation des Landes ist keineswegs außergewöhnlich. Die Gesamtschuld steht bei 110 Prozent – das ist nicht viel mehr als die USA haben, gut die Hälfte dessen, was Japan hat und auch nicht wesentlich mehr, als Italien aufweist. Und das [Staats-]Defizit von über 12 Prozent im Jahre 2009 ist vergleichbar mit dem Irlands und Großbritanniens. Das ist nicht wenig, aber eben auch nicht einzigartig in der jetzigen Situation.« Bei Griechenland und einigen anderen EU-Staaten kommt aber zur Staatsverschuldung auch noch eine hohe Auslandsverschuldung der Wirtschaft des Landes hinzu. Die griechische Volkswirtschaft war 2008 mit rund 76 Prozent des BIP per Saldo gegenüber dem Ausland verschuldet, während die deutsche Wirtschaft ein Auslandsvermögen in Höhe von 35 Prozent vorweisen kann. Deutschland konnte als »Exportweltmeister« sein Auslandsvermögen anhäufen. Diese Überschüsse sind das Gegenstück zu
© Dimitris Papazimouris
Im Regen stehen gelassen: Für die griechische Bevölkerung ist kein Geld da - aber für die Banken. Die erhalten allein dieses Jahr 13 Milliarden Dollar Zinsen
den Defiziten von Ländern wie Griechenland. Das deutsche Kapital drückte besonders stark die Löhne und Sozialausgaben und stärkte so seine internationale Konkurrenzfähigkeit. Deutschland erzielte jährlich einen Exportüberschuss von rund 5 Prozent des BIP, während Griechenland 10 bis 15 Prozent mehr importiert als exportiert hat. So genannte außenwirtschaftliche Ungleichgewichte sieht die Deutsche Bundesbank als den »makroökonomischen Nährboden« der Finanzkrise an. Die EU rechnet zwar aus, dass eine Volkswirtschaft keine staatliche Neuverschuldung von über 3 Prozent des BIP und keine staatlichen Gesamtschulden von über 60 Prozent des BIP dauerhaft verkraften kann (Maastricht-Kriterien), übersieht aber, dass logischerweise dies auch für die Volkswirtschaften gegenüber dem Ausland gelten müsste. Auch Importüberschüsse müssten, folgt man der EU-Logik, durch Kriterien ähnlich den Maastrichtkriterien reguliert werden.
bereit, dem griechischen Staat ohne hohe Risikoaufschläge Geld zu leihen. Ein Teufelskreis: Die hohen Zinsen erhöhen die Staatsverschuldung erst recht. Die Staatspleite rückt näher, wenn es keine Hilfe gibt. Doch die europäischen Eliten stecken in einem Dilemma. Sie haben selbst eine steigende Staatsverschuldung. Außerdem warten andere Mitgliedsländer, insbesondere die so genannten PIGS- oder PIIGS-Staaten (Portugal, Irland, Italien, Griechenland und Spanien) auch auf Hilfe. Unter dem Stichwort »moral hazard« (»moralische Gefährdung«) diskutieren die Eliten das Problem, dass staatliche Hilfen
© Infografik marx21
Die doppelte Verschuldung des griechischen Staates gegenüber den Privaten einerseits und der griechischen Wirtschaft gegenüber dem Ausland andererseits schadet der Kreditwürdigkeit des Landes. Es reicht vielleicht schon aus, wenn ein großes Finanzinstitut sich gegen den Ausfall von griechischen Staatspapieren versichert. Dann ist niemand mehr www.marx21.de | Mai/Juni 2010 | Nr. 15
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Alex Callinicos beschreibt auf marx21.de, wie die Auseinandersetzungen in Griechenland ein Licht auf die tiefe Krise in Europa werfen: www.tinyurl.com/ griechenland-desaster.
die »Eigenverantwortung« unterlaufen, weil Staaten und Unternehmen Profite privat einheimsen, Verluste aber über Staatshilfen sozialisieren. Doch was passiert, wenn nicht geholfen wird? Der Ökonom Max Otte schreibt: »Zwar macht die griechische Wirtschaft nur 2,7 Prozent der EU-Wirtschaftsleistung aus (zusammen mit Portugal, Spanien und Irland 17,9 Prozent), aber wie bei der Bankenkrise geht es auch um Dominoeffekte: Nach Griechenland könnten andere Problemländer zahlungsunfähig werden. Die deutschen Banken sind mit 522 Milliarden Euro in den PIIGS-Staaten engagiert (davon mit 31,8 Milliarden Euro in Griechenland), das sind Forderungen in Höhe von 20 Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts. Sollte ein Teil dieser Forderungen ausfallen, stehen auch etliche deutsche Banken wieder vor der Insolvenz und müssten erneut gerettet werden. Die Weltwirtschaft stünde dann wahrscheinlich – ähnlich wie schon im Herbst 2008 – vor dem Kollaps.«
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Griechenlands Krise legt die Uneinigkeit der Herrschenden offen. Die Eliten der europäischen Zentralbanken beispielsweise sind wütend darüber, dass der Internationale Währungsfonds hinzugezogen wird. Im Falle Griechenlands befürchten sie, dass die USA als Konkurrent der EU auf ein mildes Vorgehen hinwirken, zumal die USA in Griechenland Militärbasen haben. Streitereien in den Führungsetagen helfen, sich gegen die sozialen Angriffe zu wehren. Doch wofür sollen wir kämpfen? Zum »Sparen« gibt es Alternativen, wie viele linke Ökonomen schon lange betonen. Die gegenwärtige Krise hängt mit einer ganzen Reihe von Fehlentwicklungen zusammen. Die Löhne halten mit der Gesamtwirtschaft nicht Schritt. Hinzu kommt, dass die Kapitalisten immer weniger und die Arbeiter immer mehr besteuert werden. Konsum wird aber in erster Linie aus den Lohneinkommen finanziert. Die Gewinneinkommen sollen laut ökonomischer Theorie Investitionen finanzieren. Doch wer investiert, wenn die Konsumnachfrage immer weiter zurückfällt? Der Export bietet keine Lösung. Die Krise hat ja gezeigt, dass die Importeure sich nicht unbegrenzt verschulden können. Löhne und soziale Leistungen, die mit der Wirtschaft Schritt halten, könnten Konsum und Nachfrage insgesamt stützen. Deutschland wäre weniger vom Export abhängig. Die Nachfrage der deutschen Bevölkerung käme den Exporten anderer Länder zugute. Dies würde außenwirtschaftliche Ungleichgewichte abbauen. Letztendlich werden aber auch höhere Löhne und mehr Sozialstaat die kapitalistische Wirtschaft nicht stabilisieren. Auch wenn die Nachfrage ausreichte, um die Produktionskapazitäten auszulasten, würde dies die Unternehmer nicht daran hindern, Arbeitsplätze wegzurationalisieren. Auch wird der Konkurrenzkampf der Konzerne gegeneinander weiter zur Zentralisation des Kapitals führen, sodass immer weniger Konzerne die Weltwirtschaft beherrschen. Gerade dies trägt zur Stagnation der Weltwirtschaft bei. Die momentane Gegenwehr in Griechenland und Europa ist also nicht nur ein vorübergehender Abwehrkampf, sondern hat längerfristige und weitergehende Ziele. Es geht darum, die kapitalistische Logik in Frage zu stellen.
Griechenlands Krise legt die Uneinigkeit der Herrschenden offen
Deutschland bremst bei Hilfen für Griechenland und will am bisherigen Weg des Lohndumpings und der »Exportorientierung« festhalten. Um den Druck auf die Löhne und den Sozialstaat noch einmal zu verstärken, hat die letzte schwarz-rote Koalition eine »Schuldenbremse« in die Verfassung schreiben lassen, die noch strenger ist als der Vertrag von Maastricht. Der Staatshaushalt soll für den Bund ab 2016, für die Länder ab 2020 ausgeglichen sein. Gleichzeitig will die derzeitige schwarz-gelbe Koalition Steuern senken. Damit soll vorgegeben werden, dass der Staat trotz anhaltender Krise seine Ausgaben, gemeint sind die Sozialausgaben, senken muss. Wenn aber die anderen EU-Länder und die USA überschuldet sind: Welche Regionen kommen dann noch als Absatzmärkte für die deutschen Exporte in Frage? Das vorgebrachte Argument, Deutschland müsse Exportüberschüsse erzielen, um so für seine Altersvorsorge Kapital anzusparen, alarmiert. Die Beiträge der Arbeitnehmer zur kapitalgedeckten Altersvorsorge, die gegen die bisherige umlagefinanzierte Altersvorsorge von den Regierungen vorangetrieben wird, sollen also als Kredit im Ausland angelegt werden und so die Exporte finanzieren. Eine Finanzkrise macht diese Anlagen womöglich zunichte. Den Arbeitnehmern sollen so die Risiken der Weltwirtschaft aufgebürdet werden. Die griechische Regierung will der Bevölkerung einen Sparkurs aufzwingen, zu dem es angeblich aufgrund der Zwänge des Weltmarktes und des Auslands keine Alternative gibt. Doch schon juristisch ist die Lage nicht eindeutig. Zwar verbietet der Vertrag von Maastricht, dass die EU-Länder sich gegenseitig bei Staatsverschuldung zu Hilfe kommen, doch der
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Artikel 122 des Vertrages von Lissabon lässt dies bei »außergewöhnlichen Ereignissen, die sich seiner Kontrolle [des Staates] entziehen«, zu. Das Kräfteverhältnis entscheidet, welche Lasten die drei Parteien (die griechische Bevölkerung, das griechische und schließlich das ausländische Kapital) übernehmen müssen. Entsprechendes gilt für Europa insgesamt.
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Die Rückkehr der Sozialpartnerschaft In Griechenland mobilisieren die Gewerkschaften gegen die Krisenfolgen, in Deutschland nicht. Werner Halbauer sucht nach den Ursachen
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m Gegensatz zu anderen europäischen Staaten mussten die Lohnabhängigen in Deutschland in den letzten Jahren herbe Reallohnverluste hinnehmen (siehe Infografik). Nach Auffassung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung ist diese Lohnentwicklung eine wichtige Ursache für die lahmende Binnenkonjunktur. Zwar hat sich die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Exportwirtschaft deutlich verbessert, aber die negativen Auswirkungen auf die Binnennachfrage haben diesen Vorteil wieder zunichte gemacht. Eine Stärkung der Nachfrage setzt nach Ansicht der WSI-Forscher eine Lohnpolitik voraus, die den Verteilungsspielraum aus absehbarer Preissteigerung und Produktivitätsentwicklung ausschöpft. Diese Position wird auch immer wieder von den Gewerkschaftsführungen vor Tarifverhandlungen vertreten. Doch während die Gewerkschaften in zahlreichen
anderen Ländern Europas mithilfe von Streiks höhere Löhne durchsetzten und durch Generalstreiks und Massenmobilisierungen radikale Kürzungen bei Sozialleistungen abschwächen oder verhindern konnten, war die Kampfbereitschaft der mitgliederstarken deutschen Gewerkschaften zuletzt außerordentlich schwach ausgeprägt. Mit 5,2 Streiktagen auf 1000 Beschäftigte pro Jahr (2008) liegt Deutschland am unteren Ende der internationalen Vergleichsstatistik. Das ist ein wichtiger Grund für die negative Reallohnentwicklung: Wer nicht kämpft, kann auch nichts von den Kapitalisten gewinnen. Gleichzeitig wurden in den letzten Jahren – wohlgemerkt jenen des Wirtschaftswachstums und nicht der Krise – die Flächentarifverträge systematisch ausgehöhlt. Die Gewerkschaften trugen diesen Prozess mit, indem sie Haustarifen und Öffnungsklauseln zustimmten und die Auslagerung von Arbeits-
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bereichen an Billiganbieter mit Dumpinglöhnen kampflos hinnahmen. All das geschah im Namen der Sicherung der betriebseigenen oder nationalen Konkurrenzfähigkeit. In den diesjährigen Tarifverhandlungen verzichtete die Führung der IG Metall gar im Interesse der »Beschäftigungssicherung« auf jede Lohnforderung und damit auf die Mobilisierung der Belegschaften. Die Beschäftigungssicherung durch Kurzarbeit zahlen aber nicht die Konzerne, sondern die Steuerzahler, in der Mehrzahl die Lohnabhängigen. Dabei sollte eigentlich klar sein, dass die Konzerne auch weiterhin Lohn- und Arbeitsplatzabbau betreiben werden, um die Profitinteressen der Aktionäre zu bedienen. Während ver.di letztes Jahr noch forderte, die Binnennachfrage durch Lohnerhöhungen zu stärken und einen »Schutzschirm für die Menschen statt für die Banken« aufzuspannen, sieht der Tarifabschluss für die rund 1,3 Millionen Angestellten des Bundes und der Kommunen eine schrittweise Gehaltserhöhung um nur 2,3 Prozent bei einer Laufzeit von 26 Monaten vor. Bei einer jetzt geschätzten Inflationsrate von jährlich 1,2 Prozent und geplanten sozialen Einschnitten bedeutet dies einen Reallohnverlust. Die Gewerkschaften pflegen also die Rückkehr zur Sozialpartnerschaft, während sich Regierung und Unternehmer auf Angriffe vorbereiten.
nicht nur wegen der Massenarbeitslosigkeit an Mitgliedern verloren, sondern auch wegen ihrer Verzichtspolitik der letzten Jahre. Eine solche Haltung macht die Losung »Lohnverzicht sichert keine Arbeitsplätze« nicht nur unglaubwürdig, sondern viele Mitglieder fragen sich, warum sie in eine Streikkasse einzahlen sollen, wenn diese zur Durchsetzung ihrer Interessen nur wenig genutzt wird. Zwar sind in Krisenzeiten Kampfmaßnahmen schwieriger durchzuführen, da viele Arbeitnehmer eingeschüchtert sind und um ihren Arbeitsplatz bangen. Aber der erfolgreiche Streik der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) für eine Lohnerhöhung und angemessene Arbeitszeiten und der Ausstand der Gebäudereiniger im Niedriglohnsektor zeigen, dass die Kampfbereitschaft der Belegschaften auch von der Entschlossenheit ihrer Führung abhängt.
Die Sozialpartnerschaft führt die Gewerkschaften in die Sackgasse
Diese Politik führt die Gewerkschaften in die Sackgasse, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Indem sie kampflos Lohnverzicht im Interesse der Wettbewerbsfähigkeit üben, nehmen die Arbeitnehmervertreter hin, dass die Spirale der Lohnsenkungen und des Sozialabbaus beschleunigt wird. Denn wenn ein Betrieb kürzt, werden die Belegschaften von Konkurrenzbetrieben unter Druck gesetzt, ebenfalls Kürzungen hinzunehmen. Ähnliches gilt auch für die nationale Wirtschaft. Die Reallohnsenkungen in Deutschland setzen konkurrierende Staaten unter Druck, ebenfalls Löhne zu senken und Sozialabbau zu betreiben. Damit wird gleichzeitig auch die Kaufkraft in den Ländern geschwächt, in die man mehr exportieren will. Der Sinn der Gewerkschaften ist es, die Konkurrenz zwischen den Lohnabhängigen untereinander aufzuheben, um gemeinsam und solidarisch für deren soziale Interessen gegen das Kapital zu kämpfen. Mit der Politik der Standortsicherung werden die Beschäftigten mittelfristig immer verlieren. Darüber hinaus führt diese Politik aber auch zu einer Schwächung der Gewerkschaften als Kampforganisation der Lohnabhängigen. Diese haben
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Die Gewerkschaften sind zwar nicht homogen. Aber ihre Führungen sind nach wie vor politisch und personell eng mit der SPD verbunden. Deren erklärtes Ziel in den letzten beiden Regierungen war es jedoch, die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft durch Sozialabbau und Reallohnsenkung zu stärken. Unterstützung erhielt sie dabei von ihren Vertretern an der Spitze der Gewerkschaften. Diese taten alles, um die Regierung nicht zu sehr durch Demonstrationen oder gar Streiks unter Druck zu setzen. Dennoch gab es massenhaft Proteste gegen diese Politik. Diese führten schließlich zur Gründung der LINKEN. Als stärkste Kraft links von der SPD hätte die neue Partei die Möglichkeit, den Einfluss der sozialdemokratischen Standortsicherungslogik in den Gewerkschaften zurückzudrängen. Voraussetzung dafür ist praktische Solidarität mit gewerkschaftlichen Kämpfen – aber auch öffentliche Kritik an zu niedrigen Lohnabschlüssen. Bislang findet sich diese Herangehensweise jedoch zu wenig in der Praxis der LINKEN. Die Trennung von Politik und Ökonomie – hier das Parlament und die Partei und dort die Gewerkschaften – muss überwunden werden, damit die Arbeitnehmer in Deutschland bald auch so kämpfen wie ihre griechischen Kolleginnen und Kollegen.
Werner Halbauer ist Mitglied im Bezirksvorstand der LINKEN in Berlin-Neukölln.
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»Wir verweigern uns der bedingungslosen Solidarität mit Israel« Ein Gespräch mit Hermann Dierkes über den Nahostkonflikt und die Verantwortung der Linken in Deutschland
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sraels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sagt, dass er sich für Frieden im Nahen Osten einsetze. Aber gleichzeitig lässt er mehr Siedlungen im palästinensischen Ostjerusalem bauen. Wie schätzt du die Situation ein? Die gegenwärtige israelische Regierung verhält sich nicht anders als viele andere vor ihr. Sie agiert als Besatzer, Unterdrücker und Kriegstreiber, sie schert sich einen Dreck um Völkerrecht, UNResolutionen und Menschenrechte. Sie will »Frieden« – aber ausschließlich zu ihren Bedingungen als kolonialistische Regionalmacht. Ihr Frieden meint Friedhofsruhe. Netanjahu und seinesgleichen wollen die Selbstaufgabe der Palästinenser und ihrer Hoffnung, einmal selbstbestimmt leben zu können. Das ist für die palästinensische Seite natürlich unakzeptabel und sollte es auch für die internationale Linke sein. Der Weg zu einem gerechten und dauerhaften Frieden führt nur über eine sofortige Einstellung des fortgesetzten illegalen Siedlungsbaus, die Beendigung jeder kriegerischen Handlung gegen die palästinensische Seite, nur über ein Ende der nun fast 43 Jahre andauernden Besatzung, Kontrolle und teilweisen Annexion des Gazastreifens, des Westjordanlands und der syrischen Golanhöhen, und zwar ohne jede Vorbedingung. Dazu gehört ohne Wenn und Aber, dass sich eine israelische Regierung mit den aktuellen Vertretern der palästinensischen Seite an den Verhandlungstisch setzt – also sowohl mit der Autonomiebehörde im Westjordanland unter Mahmud Abbas als auch mit der gewähl-
Hermann Dierkes
Gedenken an den Kolonisierungsprozess (d.h. aus palästinensischer Sicht die Nakba) unter Strafe stellt, Menschenrechtsorganisationen drangsaliert und den Widerstand gegen die Mauer militärisch zu unterdrücken versucht.
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Hermann Dierkes ist Vorsitzender der Duisburger Ratsfraktion der LINKEN . Nach dem Einmarsch der israelischen Armee in den Gaza-Streifen im Winter 2008/09 rief er zur Unterstützung der Kampagne Boykott, Desinvestment und Sanktionen (BDS) gegen Israel auf. Dafür wurde er, auch innerhalb der LINKEN, scharf kritisiert.
ten Hamas-Verwaltung im Gazastreifen. Die Regierung betreibt aber das Gegenteil von Konfliktlösung. Auch innenpolitisch verschärft sie die Konfrontation mit dem arabischstämmigen Bevölkerungsteil und der entschiedenen Opposition, indem sie – zusätzlich zu der faktischen Apartheid – strikte Loyalität zum »jüdischen Staat« Israel einfordert, jegliches
at sich die Situation im Nahen Osten durch die Wahl von US-Präsident Barack Obama verändert? Bisher leider nicht. Sein Amtsantritt war mit großen Erwartungen verbunden. Große Teile der Bevölkerung in den USA wollen angesichts der verfahrenen, verlustreichen und kostspieligen Lage im Irak und in Afghanistan und der drohenden Konfrontation mit dem Iran eine andere Politik im Nahen und Mittleren Osten. Ein Teil des Establishments sieht diese Notwendigkeit offenbar auch, wie beispielsweise Denkschriften führender Militärs bezeugen. Sie haben begriffen, dass die Lösung der Palästinafrage ein Schlüsselelement für die Zukunft der gesamten Region und das Verhältnis zur arabischen Welt ist. Letztlich geht es aber nur um eine Neujustierung der Verhältnisse im Rahmen ihrer Weltmachtstrategie zur Kapitalverwertung und Ressourcenkontrolle. Obama – das lässt sich nach knapp anderthalb Jahren Amtszeit feststellen – ist sprichwörtlich als Tiger gestartet und als Bettvorleger gelandet. In Irak und Afghanistan setzt er die Politik seines Vorgängers George Bush mit »erhöhter Dosis« fort. Die Hoffnung weckende Kairoer Rede, in der er eine Kurswende in Aussicht stellte, ist fast schon vergessen. Sein Vize Joe Biden, der neue
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Verhandlungen zwischen der israelischen und palästinensischen Seite vorbereiten sollte, wurde von Netanjahu buchstäblich vorgeführt: Als er kürzlich Israel besuchte, wurde zur gleichen Zeit von einem israelischen Minister ein Weiterbau der illegalen Siedlungen angekündigt, was
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s gibt viele Bücher zur Situation in Israel und Palästina. Jetzt hast du zusammen mit Sophia Deeg ein weiteres heraus gegeben. Was wollt ihr damit erreichen? Wir haben uns nach den massiven Antisemitismusvorwürfen gegen DIE LINKE und der Rufmordkampagne gegen mich im Frühjahr vergangenen Jahres für das Buchprojekt entschieden. Mit den darin enthaltenen Beiträgen von rund zwanzig Autoren aus Palästina, Israel und weiteren Ländern wollen wir entscheidende Aspekte der Nahost-Konflikte sowie die besondere deutsche Verwicklung – etwa durch ständige Rüstungsbeziehungen – und Verantwortung deutlich machen und diskutieren. Vergleichbare Publikationen gibt es auf dem deutschsprachigen Buchmarkt bisher nicht. Wir wollen zeigen, dass das Niveau der politischen Diskussion über Nahost und über ernsthafte Lösungsstrategien und Aktionsperspektiven global gesehen viel höher ist als hierzulande. Wir verweigern uns mit
© Alle Bilder: Edo Medicks
»Die israelische Regierung agiert als Besatzer, Unterdrücker und Kriegstreiber«
natürlich auch von der palästinensischen Seite nur als Affront verstanden werden konnte. Trotzdem verhielt sich die Obama-Regierung wie jemand – um den israelischen Kritiker Uri Avneri zu zitieren – dem ins Gesicht gespuckt wird und der dann behauptet, es regne. Nachdem etwas genölt wurde, versicherte US-Außenministerin Hillary Clinton der Regierung Netanjahu umgehend, Israel sei einer der besten Freunde der USA. Obama steht massiv unter Druck der Neocons (der Neokonservativen, Anm. d. Red.), sowohl der Republikanischen als auch seiner eigenen Demokratischen Partei, sowie der christlichen Fundamentalisten und der Israel-Lobby. Bei wichtigen Personalentscheidungen war er schon früh eingeknickt. All das ist übrigens nur ein Spiegelbild seiner innenpolitischen Schwierigkeiten und gebrochenen Versprechen.
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Auf der Flucht: Junge Palästinenser protestieren gegen israelische Siedler, die die Wasserquelle ihres Dorfes besetzt haben – bis die Grenzpolizei anrückt (M.) und Tränengas gegen die Jugendlichen einsetzt (u. und o.).
guten Argumenten einer Staatsräson der bedingungslosen Solidarität mit Israel. In diesem Zusammenhang diskutieren wir die inkonsequente – oder sogar falsche – Haltung der deutschen Linken allgemein und ihre mangelnde internationalistische Praxis. Einige Beiträge greifen direkt in die Positionsbildung der Partei DIE LINKE ein. Und schließlich dokumentieren wir noch einmal die Auseinandersetzung vom Frühjahr 2009 um die BDS-Kampagne. Wir sind sicher, dass wir alle aus den Beiträgen in dem Buch viel lernen können.
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ie Frage Israel/Palästina ist in der LINKEN sehr umstritten. Was sagst du den Leuten, die eine gewisse Skepsis gegenüber der Partei haben? Die Skepsis scheint mir begründet zu sein, weil es um politische Glaubwürdigkeit geht. DIE LINKE hat sich in der Nahostfrage bisher sowohl in der politischen Positionsbildung wie in der praktischen Aktion nicht mit Ruhm bekleckert. Ein Teil ihres Führungspersonals steht mehr oder weniger offen auf Seiten Israels, wenngleich dies mit der Behauptung von der »doppelten Verantwortung« – gegenüber Israel und den Palästinensern – kaschiert wird. Mit der Nahostfrage sind jedoch zahlreiche programmatische Essentials der LINKEN verbunden: das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Antirassismus und Antikriegspositionen. Sie gelten entweder universell oder gar nicht. Wenn wir Israel davon ausnehmen und das mit der deutschen Geschichte und dem – ohne jeden Zweifel – untilgbaren Völkermord der Nazis an den europäischen Juden begründen, ziehen wir die falschen Lehren aus der Geschichte. Als Linke in einem mächtigen und international einflussreichen Land wie Deutschland müssen wir Unterdrückung und Unrecht überall auf der Welt bekämpfen und unserer Regierung in den Arm fallen, wo sie mitverantwortlich ist. Wir können und dürfen uns der historischen Schuld nicht dadurch »entledigen«, dass wir die brutale Unterdrückung der Palästinenser geschehen lassen bzw. auch noch unterstützen. Die Aufweichung oder der offene Bruch von programmatischen Essentials in der Nahostfrage wäre eine gefährliche Rutschbahn. Sie hätten darüber hinaus auch verheerende Auswirkungen auf den innenpolitischen Kurs der
LINKEN. Wir würden schnell den Weg der Grünen gehen und die großen Erwartungen von Millionen Menschen an unsere Partei enttäuschen. Auch deshalb müssen wir für programmatische Kontinuität, Präzisierung und Klarheit sorgen.
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iele Aktivistinnen und Aktivisten solidarisieren sich mit den Palästinensern und wollen etwas gegen deren Unterdrückung tun. Habt ihr konkrete Vorschläge, was sie jetzt machen können? Die Solidarität muss noch sehr viel stärker werden. Im Unterschied zu anderen
»Druck kann
die öffentliche Meinung beeinflussen« Nahost-Publikationen der letzten Zeit informieren wir deshalb ausführlich über die internationale BDS-Kampagne (Boykott, Desinvestment und Sanktionen), die sich das Weltsozialforum 2009 zu eigen gemacht hat. Insofern hat unsere Publikation auch etwas von einem Aktionshandbuch. Diese Kampagne, die alle Profiteure von Besatzung, Unterdrückung und Mauerbau in Israel/Palästina treffen soll, ist derzeit die zentrale Widerstandsperspektive der palästinensischen Zivilgesellschaft. Sie lehnt sich an den weltweiten Boykott von Südafrika an, der sehr wirksam war, um die rassistische weiße Herrschaft zu stürzen. Sie verdient unsere Unterstützung, genauso wie es bereits in Britannien, Frankreich, Skandinavien, den USA und in vielen weiteren Ländern der Erde der Fall ist. Als Herausgeber vertreten wir klar die Meinung: Versagen wir als Linke dieser Kampagne unsere Unterstützung, indem wir uns die unsägliche und heuchlerische Gleichsetzung mit dem Nazi-Boykott gegen Juden aufnötigen lassen, dann schwächen wir die internationale Kampffront. Wenn wir dann auch noch in einem Atemzug »jede bewaffnete Auseinandersetzung« verurteilen – wie es leider in offiziellen Dokumenten der LINKEN getan
wird – lassen wir die unterdrückten Palästinenser in Wahrheit nicht nur im Stich. Man könnte uns angesichts der wichtigen Rolle Deutschlands und der EU für Israel in Wirtschafts-, Rüstungs- und diplomatischen Beziehungen sogar eine gewisse Komplizenschaft vorwerfen. Wir räumen gerne ein, dass es aufgrund der deutschen Geschichte bei uns schwieriger ist, die BDS-Kampagne umzusetzen, weil der Spielraum für die angesprochene unredliche Gleichsetzung und Diffamierung durch die so genannte Israel-Lobby, durch Mainstream-Politik und -Medien viel größer ist als in anderen Ländern. Eine glaubwürdige Linke in Deutschland muss aber zumindest offensiv für ein Ende der Rüstungsbeziehungen zu Israel eintreten, gegen den (zollbegünstigten) Import von angeblich israelischen Waren aus den besetzten Gebieten, wie es unlängst der Europäische Gerichtshof entschieden hat; gegen jede weitere Aufwertung der Handelsbeziehungen Israels mit der EU, gegen die Aufnahme Israels in die OECD, für eine Befassung des Bundestages mit dem Goldstone-Bericht (Bericht des UNMenschenrechtsrats über den Gaza-Krieg, Anm. d. Red.) und die Umsetzung der darin enthaltenen Empfehlungen. Der Druck auf die israelische Regierung muss so lange verstärkt werden, wie sie UNBeschlüsse, Völker- und Menschenrecht brutal missachtet. Diese Forderungen dürfen nicht nur auf dem Papier stehen, nicht nur in parlamentarischen Gremien vertreten werden, sondern sie müssen durch Mobilisierungen durchgesetzt werden. Das erwarten die Palästinenser von uns und auch die linken Israelis, wie es Briefe und Beiträge zeigen, die wir ebenfalls in unserem Buch veröffentlicht haben. Massiver internationaler Druck – das zeigen historische Erfahrungen – würde große Auswirkungen auf die öffentliche Meinung in Israel, Palästina und in Deutschland haben. Das wäre die entscheidende Vorbedingung für einen politischen Kurswechsel der jeweiligen Regierungen bzw. Vertretungen. Die Fragen stellte Phil Butland ★ ★★ Weiterlesen Hermann Dierkes, Sophia Deeg (Hrsg.): Bedingungslos für Israel? Positionen und Aktionen jenseits deutscher Befindlichkeiten (Neuer ISP-Verlag 2010).
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Teil des Problems Die Bundesregierung will mehr afghanische Polizisten ausbilden. Das Projekt ist zum Scheitern verurteilt, meint Stefan Ziefle
Stefan Ziefle ist Mitglied des Koordinierungskreises der Bundesarbeits gemeinschaft Frieden und Internationale Politik der LINKEN und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Linksfraktion im Bundestag.
Die neue NATO-Strategie sieht vor, ein Gebiet nach dem anderen zu »befreien«. Dafür sind vier Phasen geplant: »shape«, »clear«, »hold« und »build« (»formen«, »reinigen«, »halten« und »aufbauen«). Die NATO will das Gebiet durch Kommandoaktionen und Aufklärung vorbereiten. Das beinhaltet sowohl
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© U.S. Army / Foto: Sgt. Stephen Decatur
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n Karfreitag töteten Aufständische in der Nähe von Kundus bei einem Schusswechsel drei deutsche Soldaten und verletzten fünf weitere schwer. Wenige Stunden später eröffnete ein deutscher Soldat mit seinem Schützenpanzer das Feuer auf zwei Jeeps und tötete sechs Afghanen. Hinterher stellte sich heraus, dass sie Angehörige der afghanischen Armee waren. Diese Ereignisse sind keine Einzelfälle, nur sind diesmal auch deutsche Soldaten gestorben. Die Abgeordneten des Bundestags wurden informiert, dass acht ISAF-Soldaten »gefallen« seien und weitere 86 verwundet wurden. Landesweit gab es laut ISAF 451 Vorfälle, darunter 296 Schusswechsel und Gefechte. All das in einer einzigen Woche im März 2010. Der Raum Kundus, wo die Bundeswehr stationiert ist, ist Kriegsgebiet. In der Region von der Größe des Saarlands kontrolliert die deutsche Armee genau drei Orte: ihr Feldlager (das sogenannte Provincial Reconstruction Team, PRT), den anliegenden Flughafen und einen Hügel rund zwölf Kilometer entfernt. Mit der Sicherung dieser drei Stellungen sind die etwa 1300 Soldaten des PRT Kundus ausgelastet. Wenn die Soldaten ausrücken, dann mindestens in Kompaniestärke (etwa 60 bis 100 Soldaten) und in Begleitung von gepanzerten Fahrzeugen. Für die rund 12 Kilometer zu dem Außenposten auf dem Hügel brauchen die Truppen normalerweise einen ganzen Tag, weil sie sich auf dem Weg dorthin mehrstündige Feuergefechte mit Aufständischen liefern. Das ist der Hintergrund, vor dem Oberst Klein im September vergangenen Jahres beschlossen hatte, die Luftwaffe einzusetzen anstatt mit Soldaten zu den gestohlenen Tanklastern vorzudringen.
Polizeiausbildung im afghanischen Herat: 90 Prozent können nicht lesen und schreiben
die Warnung der Zivilbevölkerung vor kommenden Angriffen als auch die gezielte Tötung von Kommandeuren der Aufständischen. Danach dringen die NATO-Truppen und ihre Verbündeten von der afghanischen Armee (ANA) und der Polizei (ANP) massenhaft in das Gebiet ein und ersticken jeglichen Widerstand, durchsuchen Häuser, beschlagnahmen Waffen. Anschließend setzen sie einen Statthalter der afghanischen Regierung ein und stationieren eine möglichst große Zahl von Polizisten. Im vierten Schritt sollen gezielt Projekte des Wiederaufbaus durchgeführt werden, um die Bevölkerung für die
Karzai-Regierung und die Besatzer zu gewinnen. Ist Phase zwei beendet, beginnt die NATO bereits mit der Planung der gleichen Aktion in der nächsten Region. Solange aber Phase vier nicht erfolgreich abgeschlossen ist, also die Bevölkerung nicht gewonnen wurde, ist eine massive Präsenz von Sicherheitskräften erforderlich. Diese Aufgabe kann nicht die NATO erfüllen, denn dafür hat sie schlicht viel zu wenig Soldaten. Hier kommt die Polizeiausbildung ins Spiel. Die Bundesregierung hat sich verpflichtet, in den nächsten fünf Jahren 30.000 afghanische Polizisten auszubilden. Dafür will sie die Zahl der Ausbilder auf 260 aufstocken. Selbst in der Logik der Regierung ergibt sich ein Problem, denn sogar unter optimalen Rahmenbedingungen wäre bei einem Verhältnis von einem Ausbilder zu über hundert Auszubildenden keine qualitativ hochwertige Polizeiausbildung möglich. Aber die Bedingungen sind nicht optimal. Das Land ist arm und befindet sich seit Jahrzehnten im Krieg. Neunzig Prozent der Rekruten können nicht lesen – mehr als im Landesdurchschnitt. Viele der Bewerber haben wegen Unterernährung in der Kindheit oder anderen kriegsbedingten Einflüssen motorische oder psychische Störungen. Zwanzig Prozent sind drogensüchtig. Im Normalfall kommen nur die Verzweifelten zur Polizei. Diese Rekruten werden in Schnellkursen ausgebildet. Die von der US-amerikanischen Regierung engagierten privaten Sicherheitsfirmen schleusen sie in drei Wochen durch die Lehrgänge. Die deutschen Ausbilder haben immerhin acht Wochen Zeit. Das hat offenkundig nichts mit einer Polizeiausbildung zu tun, wie wir sie aus Deutschland kennen. Kriminalistik, Tatortsicherung, Verbrechensbekämpfung, ja selbst das Regeln des Verkehrs gehören nicht zum Programm. Wegen der hohen Analphabetenrate gibt es keine schriftlichen Unterlagen. Gesetzeskenntnisse können nicht vermittelt werden, und der gesamte Unterricht muss mithilfe von Dolmetschern laufen, da die Ausbilder die Landessprache nicht beherrschen und die Rekruten weder Deutsch noch Englisch sprechen. Die angehenden Polizisten lernen, wie sie ihre Uniform richtig tragen, woran sie Vorgesetzte erkennen, wie sie ihre Waffe gebrauchen und wie man an einem Checkpoint Personen stoppt und dabei deren Hände im Blick behält. Außerdem lernen sie, einen gültigen Pass zu erkennen. Die tatsächliche Überprüfung von Personalien ist für Analphabeten aber unmöglich. Nach Ende ihrer Ausbildung dienen viele Polizisten lediglich als Kanonenfutter für die Armee. Bei militärischen Offensiven stehen sie in der ersten Reihe. Entsprechend hoch sind die Verluste. Nach einem im Spiegel zitierten vertraulichen Bericht des Aus-
wärtigen Amtes starben 2007 rund 1200 afghanische Polizisten, 2008 waren es 1150 und bis zum Herbst 2009 weitere 740. Während die deutschen Ausbilder täglich 110 Euro Auslandszulage erhalten, verdienen einfache Polizisten in Afghanistan rund 250 US-Dollar im Monat. Das ist selbst für afghanische Verhältnisse nicht viel. Um eine fünfköpfige Familie in Kabul zu ernähren, reicht
Ein Drittel der Polizisten ist tot, ein weiteres Drittel verschwunden es nicht. Nicht selten suchen die Polizisten nach Möglichkeiten, etwas hinzuzuverdienen. Bei jeder Gelegenheit pressen sie Leuten »Gebühren« ab. »In der Bevölkerung sind die als Wegelagerer verschrien,« zitiert der Spiegel einen deutschen Ausbilder. Ebenfalls zum täglichen Geschäft gehört der Drogenhandel, wenn auch nur im kleinen Rahmen. Für die großen Geschäfte sind Minister, Polizei- und Armeeführung sowie die Familie von Ministerpräsident Hamid Karzai zuständig. Andere Verdienstmöglichkeiten sind der Verkauf der Dienstwaffe oder die Verrichtung von »Sicherheitsdienstleistungen«, sprich: die Polizisten verdingen sich als Söldner. Ganze Einheiten sind wegen der besseren Bezahlung zu Aufständischen übergelaufen. Von den bis 2005 von deutschen Beamten ausgebildeten Polizisten ist mittlerweile ein Drittel tot und ein Drittel verschwunden, also desertiert oder übergelaufen. Neben dem Geld spielt auch die Familienloyalität eine große Rolle. Man hilft sich untereinander. Dazu gehört, dass man keine Verwandten verhaftet. Und die Familien sind groß und verzweigt. Deswegen werden zur Aufstandsbekämpfung bevorzugt Polizisten aus anderen Regionen des Landes eingesetzt, was wiederum die ethnischen Konflikte anheizt. Die unter anderem von deutschen Beamten ausgebildete Polizei ist Teil des Problems in Afghanistan und nicht Teil einer Lösung. Sie ist einer der Gründe, warum die Regierung Karzai so unbeliebt ist und die Aufständischen Zulauf bekommen. Ihre Existenz trägt zur Unsicherheit der Menschen im Alltagsleben bei und heizt den Krieg weiter an. Das PolizeiAufbauprogramm erhöht lediglich den Anteil von Männern, die über Waffen verfügen und deren einzige »Qualifikation« der Umgang mit diesen ist. Die Polizei ist nicht die »zivile«, »humanitäre« Alternative zum Militär, sondern dessen logische Ergänzung. Und sie wird Afghanistan selbst im Sinne der NATO nicht »befrieden«. www.marx21.de | Mai/Juni 2010 | Nr. 15
Internationales
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WELTWEITer WIDERSTAND
Belgien Ende März haben etwa tausend Menschen in Antwerpen gegen das Kopftuchverbot an Schulen demonstriert. Ab September wird das Tragen religiöser Symbole an allen 700 öffentlichen Bildungsanstalten im flämischen Teil Belgiens verboten sein. Organisiert wurden die Proteste von BOEH (Baas Over Eigen Hoofd – Chef über den eigenen Kopf), einer feministischen Organisation, die sich für die Wahlfreiheit muslimischer Frauen einsetzt.
Debatte
Nr. 15 | Mai/Juni 2010 | www.marx21.de © Mehran Khalili
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8NEWS
Thailand
Klassenkampf im Königreich In Thailand geht es um mehr als nur den Konflikt zwischen einer alten und neuen Elite, schreibt Giles Ji Ungpakorn
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underttausende »Rothemden« sind in den vergangenen Wochen für mehr Demokratie durch die Straßen Bangkoks und anderer thailändischer Städte gezogen. Damit wollten sie ihre Stärke demonstrieren und der Lüge der royalistischen Regierung und der Medien entgegentreten, dass die Rothemden nicht die Mehrheit der Bevölkerung repräsentieren. Das erklärte Ziel der Bewegung ist, die vom Militär installierte Regierung von Abhisit Vejjajiva zur Durchführung von Neuwahlen zu zwingen. Es ist jedoch schwer zu erkennen, wie die Führung der Rothemden die großen Demonstrationen in eine Kraft verwandeln will, die sich dem Militär, das 2006 einen Putsch organisiert hat, entgegenstellen und es besiegen kann. Denn die Führung der Bewegung ist nicht bereit, das Militär und die Monarchie entschlossen anzugreifen. Neuwahlen werden dieses Problem nicht lösen. Die großen Teilnehmerzahlen der Demonstrationen bedeuten dennoch einen wichtigen Fortschritt. Die überwältigende Mehrheit der Rothemden sind arme Leute und ihre Führung spricht öffentlich vom »Klassenkampf« zwischen den einfachen Menschen und der Elite. Die Bewegung wird allerdings weiter gehen und unter den städtischen Arbeitern und den unteren Rängen der Armee agitieren müssen, um genug Kraft für eine wirkliche Veränderung zu gewinnen. Jeder Kompromiss wird die Macht der royalistischen Elite, die durchgängig alle Schritte Richtung Demokratisierung blockiert hat, erhalten. Die politische Krise, die wir in Thailand seit dem Putsch vom 19. September 2006 gegen die gewählte Regierung von Thaksin Shinawatra erleben, ist Ausdruck eines ernsthaften Klassenkampfes zwischen den reichen Konservativen einerseits und den städtischen und ländlichen Armen andererseits. Das Vakuum auf der Linken nach dem Zusammenbruch der Kommunistischen Partei Thailands gab dem Millionär Thaksin und
seiner Partei »Thai Rak Thai« (»Thais lieben Thais«) die Möglichkeit, Millionen einfacher Thailänder zu begeistern. Obwohl viele Kommentatoren behaupten, dass der gegenwärtige Konflikt nur eine Auseinandersetzung zwischen Thaksin und den Konservativen sei – also zwischen »der modernen kapitalistischen Klasse« und »der alten Feudalordnung« – geht es um etwas anderes. Thaksin baute durch seine sozialpolitischen Maßnahmen, zu denen die erste allgemeine Gesundheitsversorgung des Landes ebenso zählte wie Programme zur ländlichen Entwicklung, eine Allianz mit Arbeitern und ländlichen Armen auf. Die Rothemden mögen Thaksin, aber sie kämpfen nicht ausschließlich für seine Rückkehr. Sie wollen vor allem echte Demokratie und soziale Gerechtigkeit. Sowohl Thaksin als auch seine konservativen Gegner sind insofern moderne Royalisten, als sie alle versuchen, die Institutionen der Monarchie zu benutzen, um eine kapitalistische Klassenherrschaft zu stützen. Die Konservativen wandten sich schrittweise von Thaksin ab, weil sie fürchteten, durch seine weitreichenden Modernisierungsprogramme, die sich breiter Unterstützung in der Bevölkerung erfreuten, ihre Privilegien zu verlieren. Derzeit fängt die Demokratiebewegung an, die gesamte Elitenstruktur einschließlich der Monarchie in Frage zu stellen. Nennenswert ist auch die Selbstorganisation und die eigenständige Finanzierung der Rothemden durch ihre Mitglieder. Dieser Klassenkampf führt zu einer Veränderung politischer Einstellungen und stellt alle Teile der Gesellschaft auf die Probe. Die zentrale Frage, vor der die Bewegung nun steht, ist die, wie die Anliegen der Arbeiterklasse aufzugreifen sind und wie die Staatsmacht zu ergreifen ist. Giles Ji Ungpakorn ist thailändischer Sozialist und ein in seinem Heimatland bekannter Globalisierungskritiker. Seit Februar 2009 lebt er in Großbritannien im Exil.
8 GroSSbritannien Nach zwei erfolgreichen Streikserien kämpft das Flugbegleitpersonal von British Airways (BA) weiter. Die Mitglieder der Gewerkschaft Unite wehren sich gegen Kürzungen, Entlassungen und Versuche, die Gewerkschaft zu sprengen. BA-Geschäftsführer Willie Walsh ist nicht bereit zu verhandeln: »Ich schlafe ruhig und erscheine wie immer motiviert zur Arbeit.« Zunächst hatte auch die Führung von Unite keinen Termin für weitere Streiks festgelegt – mit dem Argument, dem Unternehmen sollten »unnötige Kosten erspart bleiben«. Doch nachdem der Druck von der Basis immer stärker wurde, änderte sich der Ton. Nun heißt es: »Die Firma muss verstehen, dass wir nicht kapitulieren werden.«
8 Bolivien Vom 19. bis zum 22. April 2010 fand im bolivianischen Cochabamba eine »Weltkonferenz der Völker zum Klimawandel und die Rechte der Mutter Erde« statt. Einberufen wurde sie von Präsident Evo Morales, um ein Gegengewicht zum gescheiterten Kopenhagener Klimagipfel zu schaffen. Verschiedene soziale Bewegungen, unter anderem Attac und die Heinrich-Böll-Stiftung, unterstützten den Aufruf. Weitere Infos unter: http://cmpcc.org. USA
Keine Sterne fürs Hilton Anfang April streikten 850 Bedienstete des Hilton-Hotels in San Francisco. Die Aktionäre der Hotelkette wollen Löhne, Renten und Sozialleistungen kürzen, obwohl das Unternehmen riesige Gewinne macht. Die Mitarbeiter wehren sich mit dem nun vierten Streik seit November. Einer von ihnen, Jacov Awoke, sagt: »Wir glauben, es ist der einzige Weg, ihre Aufmerksamkeit zu bekommen: Streiks, Boykotts, Besetzungen, was auch immer. Vielleicht unterschreiben sie ein anständiges Abkommen, wenn sie anfangen Geld zu verlieren.«
www.marx21.de | Mai/Juni 2010 | Nr. 15 Weltweiter Widerstand
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Schwerpunkt Sind die Kommunen noch zu Retten?
37 Kommunaler Schuldenerlass Interview mit Georg F端lberth
41 Was bringen B端rgerhaushalte? 36
Schwerpunkt
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息 Christian Mang
Analyse von J端rgen Ehlers
»Sinnvoll wäre ein Schuldenerlass für die Gemeinden« Kaltes Wasser in den Schwimmbädern, Löcher im Asphalt, geschlossene Theater, dunkle Straßen – den Kommunen in Deutschland fehlt das Geld. Georg Fülberth im Interview über die Ursachen der Finanzmisere und linke Gegenstrategien
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ie öffentlichen Kassen sind hoch verschuldet. Städte und Kommunen erwarten für 2010 ein Rekordminus von zwölf Milliarden Euro. »Das wäre fast die Hälfte mehr als das Defizit von 8,4 Milliarden Euro in der bisher schwersten kommunalen Finanzkrise im Jahr 2003«, mahnt der Deutsche Städtetag. Woher kommt die chronische Unterfinanzierung der Kommunen? Letztlich von einem grundsätzlichen Defekt in der deutschen Finanzverfassung. Die Gemeinden haben zwar unverzichtbare Aufgaben im Infrastruktur- und Sozialbereich, aber keine Möglichkeiten, an der Gesetzgebung mitzuwirken, die ihren Handlungsspielraum bestimmt – anders als die Länder, die über den Bundesrat Macht ausüben.
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ie finanzieren sich die Kommunen denn? Artikel 28 des Grundgesetzes gewährleistet den Gemeinden »auch die Grundlagen der finanziellen Eigenverantwortung; zu diesen Grundlagen gehört eine den Gemeinden mit Hebesatzrecht zustehende wirtschaftskraftbezogene Steuerquelle«. Gemeint ist in erster Linie die Gewerbesteuer. Sie macht mit 40 Prozent den größten Teil der kommunalen Einnahmen aus. Erhoben wird sie nur bei Unternehmen. Diesen ist es möglich, ihren offiziellen Sitz an einen von ihnen frei gewählten Ort zu verlegen. Gerade von so genannten Weltfirmen wird daher die Gewerbesteuer oft nicht an ih-
Georg Fülberth
Georg Fülberth war von 1972 bis 2004 Professor für Politikwissenschaft an der Universität Marburg. Er ist Autor mehrerer Bücher. Zuletzt erschienen von ihm die beiden Bände »Sozialismus« und »Kapitalismus« (PappyRossa 2010).
rem realen Produktionsort gezahlt, sondern dort, wo sie besonders niedrig ist. Infrastruktur muss dennoch für sie am Standort bereitgestellt werden, und die Kommunalverwaltungen dürfen sich da nicht zieren: Selbst wenn keine Gewerbesteuer anfällt, bleibt das Argument der Arbeitsplätze. Weiterhin stehen den Gemeinden die Grundsteuern zu. Sie treffen nicht nur Unternehmen und die Besitzer großer
Immobilien, sondern auch die von Eigentumswohnungen sowie, da sie in der Regel abgewälzt werden, alle Mieter. Die so genannten Bagatellsteuern – z.B. Hunde-, Pacht-, Vergnügungs- und Jagdsteuern – fallen quantitativ nicht ins Gewicht, sind aber ein beliebtes Thema für kommunale Nebenstreitigkeiten. Gebühren hingegen sind schon von ihrer Definition her Teil eines Nullsummenspiels: Sie sind ein Entgelt für von der Gemeinde erbrachte Dienstleistungen, führen dem Haushalt also nichts zu. Gleiches gilt für die Erträge der kommunalen Betriebe. Sie dienen dem örtlichen Bedarf, etwa dem öffentlichen Nahverkehr, sind also nur kostendeckend.
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ie lokalen Geldquellen der Kommunen reichen also bei weitem nicht aus, um den Bedarf zu finanzieren... Richtig. Das beachtet schon das Grundgesetz. Artikel 106, Absatz 5 sieht vor: »Die Gemeinden erhalten einen Anteil an dem Aufkommen der Einkommensteuer, der von den Ländern an ihre Gemeinden auf der Grundlage der Einkommensteuerleistungen ihrer Einwohner weiterzuleiten ist.« Die Kommunen sollen an den so genannten Gemeinschaftssteuern beteiligt werden, die von Bund, Ländern und Gemeinden erhoben werden. Neben den Einkommensteuern gehören dazu u.a. die Lohn-, die Körperschafts- und die Umsatzsteuer. Die Gewerbesteuer wird in die Umlage zwi-
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Kommunen
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schen den drei Ebenen einbezogen. Die Gestaltung des Finanzausgleichs wird zwischen Bund und Ländern ausgehandelt, die Kommunen sind da nur Bittstellerinnen. In Boomphasen können ihre Einnahmen die Ausgaben übersteigen, in Krisenzeiten ist es umgekehrt. Geht es den Gemeinden gut, versuchen sie, in die Infrastruktur zu investieren. Fallen in der Krise Einnahmen weg, müssen sie Schulden aufnehmen und kassieren dafür häufig Einspruch von der Finanzaufsicht.
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elche Rolle spielte die rot-grüne Bundesregierung bei der Plünderung der kommunalen Finanzen? Eine verhängnisvolle. Nach Lafontaines Rücktritt 1999 wurden unter dem Finanzminister Eichel (SPD) die Einkommensteuern gesenkt. Das verringerte die Einnahmen der Gemeinden. Zugleich wurden Veräußerungsgewinne von Aktienpaketen steuerfrei gestellt. Dies heizte die Spekulation an. Dadurch kam es zur Blase an den Immobilien- und Finanzmärkten. Als diese platzte, reagierte Schwarz-Rot 2009 mit der so genannten Schuldenbremse, die die Finanzierungsmöglichkeiten der Gemeinden weiter einschränken wird. Die Finanzpolitik von Rot-Grün hat diese unerfreuliche Kontinuität mit ausgelöst.
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ie reagierten die Kommunen auf die finanzielle Notlage? Mit Sparmaßnahmen und Gebührenerhöhungen, die vor allem die ärmeren Einwohnerinnen und Einwohner treffen. Die kommunalen Spitzenverbände verfassen
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eine Protest-Resolution nach der anderen. Dass sie damit nichts ändern, wissen sie selbst. Dennoch empfinden die Kämmerer solche Entschließungen als hilfreich. Sie können dann auf sie verweisen, wenn sie von den Gremien ihrer eigenen Kommunen immer neue Einschnitte verlangen – mit Verweis auf die miese Lage, die doch schon z.B. vom Deutschen Städtetag genehmigt sei. Sehr beliebt war bei den Kämmerern in den vergangenen Jahren die Privatisierung kommunalen Eigentums. Eine Variante sind so genannte Sale-and-leaseback-Geschäfte: Versorgungsbetriebe und gemeindeeigene Gebäude (zum Beispiel Schulhäuser) werden verkauft und anschließend zurückgemietet. Der Investor hat einen Steuervorteil, den er sich mit der Kommune teilt. Der Begriff Cross-border-leasing bezeichnet dasselbe Geschäft, diesmal mit einem ausländischen »Investor«. Soweit es um Anleger in den Vereinigten Staaten geht, ist es in dieser Branche inzwischen etwas stiller geworden: Der US-amerikanische Gesetzgeber ist nämlich auch nicht blöd und hat dieses Steuerschlupfloch gestopft. In einigen Fällen sind die Käufer öffentlichen Eigentums im Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise in Zahlungsschwierigkeiten geraten und damit auch ihre kommunalen Partner. In einigen Städten haben Bürgerbewegungen Privatisierungen stoppen können. Eine andere Form des kapitalistischen Zugriffs ist die Public Private Partnership (PPP): Gemeinden übertragen einige ihrer Aufgaben, für die sie
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selbst kein Geld mehr haben, an Unternehmen, die daraus dann ihren eigenen Vorteil ziehen.
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ie Kämmerer verteidigen den Verkauf von öffentlichem Eigentum, wie beispielsweise Wohnungen, weil sie damit einen Beitrag zur Senkung der Schulden leisten. So hätten sie wieder mehr Spielraum für Investitionen in Soziales und Kultur. Warum kritisierst du den Verkauf von öffentlichem Eigentum? Weil man es immer nur einmal verkaufen kann. Man kann dann vielleicht einmal einen Haushalt etwas aufbessern, aber wenn das Tafelsilber erst einmal weg ist, zeigt sich in den folgenden Jahren, dass die strukturell bedingten Lücken, die dann unvermeidlich wieder auftreten, nicht mehr geschlossen werden können. Grotesk ist, was jetzt einigen Gemeinden passiert, die ihre Wasserwerke verkauft haben. Die Erwerber haben untereinander Absprachen getroffen und dadurch die Wasserpreise künstlich hoch gehalten. Jetzt ist ihnen das Bundeskartellamt auf die Schliche gekommen und hat das verboten. Für einige private Betreiber sind die Wasserwerke daraufhin nicht mehr rentabel. Sie stoßen sie ab, und die Gemeinden, die ja die
Versorgung der Bevölkerung mit Wasser sicherstellen müssen, müssen sie notgedrungen zurückkaufen und diese Betriebe mit Verlust weiterführen.
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o kommunale Betriebe noch nicht verkauft sind, bekommen sie immer häufiger eine private Rechtsform, zum Beispiel als GmbH. Wie schätzt du diese Entwicklung aus linker Perspektive ein? Formal könnte man einwenden, dass die Stadtverordnetenversammlungen, Stadträte und Gemeindevertretungen keinen Einfluss auf das operative Geschäft dieser Unternehmen mehr haben. Tatsächlich haben sie diesen in der Vergangenheit aber kaum ausgeübt, denn die Geschäftsvorgänge sind oft sehr komplex, und Entscheidungen müssen oft schneller getroffen werden als eine kommunale Körperschaft zusammentreten kann. Insofern kann man schon Verständnis dafür haben, dass privatrechtliche Unternehmensformen gewählt werden, wenn gesichert ist, dass die Kommune hundertprozentige Eigentümerin z.B. einer GmbH bleibt. Missbrauch wird aber oft durch internes Outsourcing betrieben: Stadtwerke gliedern zum Beispiel den Öffentlichen Personen-Nahverkehr (ÖPNV) aus und überführen ihn in eine Tochtergesellschaft, die niedrigere Löhne zahlt. Um die Einkommen ihrer Beschäftigten zu drücken, treten Städte zuweilen aus dem kommunalen Arbeitgeberverband aus. Lohndumping wird häufig mit verschärftem Wettbewerb unter dem Druck
des EU-Wettbewerbsrechts begründet, häufig zu Unrecht. Noch gibt es keine europaweite Konkurrenz kommunaler Kindergärten. Bedenklicher ist es schon im ÖPNV: Verkehrskonzerne klagten bereits vor dem Europäischen Gerichtshof gegen Quersubventionierung z.B. der Stadtbusse, unterlagen bisher aber immer wieder einmal.
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u sprichst vom »Konzern Kommune«. Was bedeutet die zunehmende Verbetriebswirtschaftlichung der Kommunalverwaltungen konkret? Dass Entscheidungen nur noch unter dem Gesichtspunkt der Kostensenkung
»Entscheidungen werden nur noch unter dem Gesichtsichtspunkt der Kostensenkung getroffen«
Kein Geld da: Das alte Stadtbad in Frankfurt am Main wurde schon in den neunziger Jahren geschlossen
getroffen werden. Ein Ausdruck davon ist beispielsweise die Ersetzung der bisherigen kameralistischen Buchführung durch die so genannte Doppik (doppische Buchführung): In den Etats stehen dabei nicht mehr nur Einnahmen und Ausgaben, sondern Zu- und Abflüsse eines kommunalen Vermögens, das oft aber nur fiktiv oder zumindest schwer zu berechnen ist. Zum Beispiel: Welchen Wert hat in einer Eröffnungsbilanz der denkmalgeschützte Frankfurter Römer? Die einzelnen Ämter und Fachdienste der Städte und Gemeinden stellen sich gegenseitig Rechnungen aus und bezeichnen ihre Dienstleistungen als »Produkte«. Wozu das gut sein soll, hat noch niemand so recht herausgefunden, angeblich dient das der Flexibilisierung und Effizienzsteigerung der Verwaltung. Wichtiger als das konkrete Resultat der Umstellung ist der Geist der Betriebswirtschaft, der zum ausschließlichen Paradigma in Städten und Gemeinden wird. Landauf, landab werden jetzt den Städten und Gemeinden von der Kommunalaufsicht (den Regierungspräsidien) Finanzsicherungskonzepte abverlangt. An erster Stelle der Forderungen steht dann immer die Streichung so genannter freiwilliger Leistungen. Das sind vor allem Aufwendungen für Soziales und Kultur, die nicht im gesetzlich angeordneten Pflichtkatalog stehen. Die alte kameralistische Buchführung mag wirklich manchmal etwas starr gewesen sein. Die Doppik aber ist nicht besser. Die richtige Lösung wäre wohl die – rechtlich immerhin mög© moryce / flickr.com
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liche – so genannte erweiterte kameralistische Buchführung.
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as passiert, wenn Kommunen sich weigern, diese Kürzungs- und Ausgabenvorschläge umzusetzen? Werden angeordnete Finanzsicherungskonzepte nicht vorgelegt, droht eine Art Zwangsverwaltung. Es kommt eine Art Staatskommissar, und der dekretiert einen von ihm selbst aufgestellten Sparhaushalt. Wer sich gegen solche Zumutungen zur Wehr setzen will, sollte sich erst einmal das eigene Hirn freipusten: Weg mit den Sachzwang-Parolen! Zwangsverwaltung (oder auch nur die Drohung mit ihr) dient der Entdemokratisierung. Sinnvoll wäre dagegen ein Schuldenerlass für die Gemeinden. Dann müsste eine Reihenfolge der Gläubiger festgelegt werden. Vorne stehen die kommunalen Bediensteten, die weiter ihr Geld erhalten müssen. Auch die Kredite der örtlichen Sparkassen sollten bedient werden. Leer ausgehen können dagegen die großen Finanzdienstleister, die Privatisierungsgewinner und PPP-Geschäftsfreunde. Ihr Reichtum (= ihre Außenstände) ist die Armut (= die Schulden) der Städte und Gemeinden.
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ie können die »leeren Kassen« gefüllt werden? Durch eine Änderung der Bundesgesetzgebung: Einführung einer scharf progressiv gestaffelten Einkommensteuer mit hohen Sätzen für die Reichen, Wiedereinführung der Vermögenssteuer und einer wirklichen Umsatzsteuer, Einführung
einer Kapitaltransaktionssteuer – all dies auch mit Überweisungen zugunsten der Kommunen. Weiter: Erhöhung des Anteils der Gemeinden an den so genannten Gemeinschaftssteuern. Das sind neben den Einkommensteuern u.a. die Lohn-, die Körperschafts- und die Umsatzsteuer. Letztlich ist eine solche Neuverteilung zugunsten der Kommunen auf Dauer nur dadurch zu sichern, dass eine Gemeindekammer auf Bundesebene als dritte Kammer neben Bundestag und Bundesrat geschaffen wird. Alle Gesetze, die die kommunalen Finanzen betreffen, müssen ihr zum Veto vorgelegt werden. Bis dahin ist es noch ein langer Weg. Bevor eine Verbesserung der Finanzverfassung zugunsten der Kommunen erreicht ist, muss das Nächstliegende getan werden: Erhöhung der Gewerbesteuer. Hier haben die Gemeinden das ausschließliche Heberecht. Allerdings ist die Bemessungsgrundlage der Gewerbesteuer zu schmal, sie erfasst meist nur größere Unternehmen. Hinzukommen müsste eine Gemeindewirtschaftssteuer, die auch von Selbständigen (z.B. Anwälten, Ärzten, Steuerberatern) und den Beziehern von Mieten zu bezahlen wäre.
»Das Grundsätzliche hierzu liest man bei Marx«
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Schwerpunkt
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as muss linke Kommunalpolitik angesichts der Rahmenbedingen von Wirtschaftskrise und »leeren Kasse« deiner Meinung nach leisten? Zunächst sind Abwehrkämpfe gegen Gebührenerhöhungen, Leistungskürzungen und Privatisierungen zu führen. Zugleich sollte für die Umstülpung der Hierarchie der öffentlichen Finanzen gekämpft werden mit dem Grundsatz: die Gemeinden zuerst! Sie sind wichtige Trägerinnen der Daseinsvorsorge. Nach den Gemeinden kommen die Länder: wegen ihrer Infrastrukturleistungen insbesondere im Bildungsbereich. Die Bundesspitze ist steuerpolitisch zu kappen. Neuerdings vertritt der Oberbürgermeister von Kiel, Torsten Albig (SPD), solche Auffassungen. Das Grundsätzliche hierzu liest man am besten in Karl Marx’ Schrift »Der Bürgerkrieg in Frankreich« von 1871: Er entwirft da anlässlich der Pariser Kommune die Perspektive einer Gesellschaft, in welcher der Staat abstirbt und die Gesellschaft von den Gemeinden her organisiert ist. Die Fragen stellte Yaak Pabst
Armut, demokratisch verwaltet Jürgen Ehlers meint, Bürgerhaushalte führen nicht zu mehr Mitbestimmung
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nde der 1980er Jahre führten in Brasilien starke soziale Gegensätze zu politischen Spannungen, die im ersten großen Wahlerfolg der Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores) im Bundesstaat Rio Grande do Sul mündeten. Kaum im Amt führte die neue Regierung 1989 in dessen Hauptstadt Porto Alegre den weltweit ersten Bürgerhaushalt ein: Die Einwohner bekamen die Möglichkeit, zumindest über einen Teil des Haushalts der Kommune mitzubestimmen. Bis heute übt der Bürgerhaushalt von Porto Alegre eine große Anziehungskraft aus, weil sich seitdem die Lebensverhältnisse vieler Menschen verbessert haben und ein Großteil der Stadtbewohner zum ersten Mal die Möglichkeit bekam, ihre Vorstellungen zu artikulieren und Gehör zu finden. Für viele Linke in Deutschland ist Porto Alegre zum positiven Symbol für die Demokratisierung von kommunalpolitischen Entscheidungsprozessen geworden. So heißt es auf der Homepage der LINKENLandtagsfraktion Brandenburg: »Bürgerhaushalte, die eine radikale Demokratisierung von politischen Entscheidungsprozessen zum Ziel haben, sind auf Partizipation und direkte Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern an der Aufstellung, Umsetzung und Kontrolle der Umsetzung des Haushaltsplanes gerichtet.« Mittlerweile wurden auch in einigen deutschen Städten Bürgerhaushalte eingeführt. Die Verbesserung der Lebensverhältnisse in Porto Alegre durch die Einrichtung einer medizinischen Grundversorgung, die Errichtung neuer Schulen und Kindergärten und der Ausbau des Trink- und Abwassernetzes war aber nicht das Ergebnis des Bürgerhaushaltes. Vielmehr nahm die Regierung der Arbeiterpartei eine Umverteilung zugunsten der bisher besonders benachteiligten Stadtviertel und deren Bewohner vor. Erst diese Maßnahme hat auch den finanziellen Spielraum eröffnet, der das Engagement der Einwohner in den Armenvierteln von Porto Alegre für den Bürgerhaushalt zur Folge hatte. Zudem hatten die Reformbemühungen, die Bewohner über ihre unmittelbaren Belange im Stadtteil entscheiden zu lassen, ihre Grenzen. So resümierte die Wochenzeitung Freitag im Februar 2003: »Nach 13 Jahren Bürgerhaushalt hat die Armut in Porto Aleg-
re nicht abgenommen. Der Bürgerhaushalt ist nicht in der Lage – von Ausnahmen abgesehen – Arbeit und Einkommen für die Bürger zu schaffen.« Auch in Deutschland ist die Bilanz keineswegs positiv. Ein Problem hierbei ist die Tatsache, dass nur ein kleiner Teil eines kommunalen Haushaltes überhaupt zur Diskussion gestellt wird. Die Einnahmeseite, hier vor allem die Gewerbesteuerhebesätze, bleiben ganz außen vor. Allen Beteiligungsmodellen ist gemeinsam, dass von der Verwaltung in unterschiedlicher Form eine Auswahl von Themenbereichen vorgegeben wird und in dieser dann Prioritäten durch die Bürger gesetzt werden können. Das letzte Wort hat jedoch die Stadt- oder Bezirksverordnetenversammlung. Dementsprechend hat das Ganze den Charakter einer Anhörung. Im Kern geht es darum, den Bürgern die dramatischen Haushaltsdefizite vieler Kommunen als Sachzwang zu verkaufen und sie dazu zu bewegen, sich des Problems durch Kürzungsvorschläge und Umschichtungen anzunehmen und nicht dagegen zu protestieren. Die Einführung des Bürgerhaushaltes soll Protestpotential integrieren. Der Sozialwissenschaftler Carsten Herzberg, der sich intensiv mit der Entwicklung von Bürgerhaushalten auseinandergesetzt hat, bringt es mit Blick auf die Bildung des Berliner Regierungsbündnisses von SPD und PDS im Jahr 2001 auf den Punkt: »Alles in allem hat Berlin gute Voraussetzungen, mit einem Bürgerhaushalt anzufangen bzw. allen Grund dazu. Das Land ist hoch verschuldet. Um eine tragbare Vision für die Zukunft zu erarbeiten, sollten die gewählten Repräsentanten mit den Bürgern reden. Angesichts der bevorstehenden Einschnitte wäre es hilfreich, mit den Bürgern Prioritäten abzustimmen.« Herzberg hat auch das Regelwerk entwickelt, nach dem der Bürgerhaushalt im Berlin-Lichtenberg funktioniert. Innerhalb der LINKEN wird dieses Projekt als beispielhaft bezeichnet, denn die dortige Bezirksregierung, die von der LINKEN gestellt wird, gibt sich viel Mühe, die Bewohner durch Veranstaltungen, Werbekampagnen und persönliche Besuche zum Mitmachen zu bewegen. www.marx21.de | Mai/Juni 2010 | Nr. 15
★ ★★ Weiterlesen Sebastian Klus u.a. (Hrsg.): Wohnen ist Menschenrecht. Ein erfolgreicher Bürgerentscheid in Freiburg (Ag Spak 2007).
Kommunen
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Das Beispiel Freiburg ist besonders interessant, weil nur zwei Jahre vor dieser von oben organisierten Diskussion ein erfolgreicher Bürgerentscheid mit der Forderung »Wohnen ist ein Menschenrecht« organisiert worden war. An diesem hatten sich 59.211 Einwohner beteiligt. Davon stimmten 41.581 (70,5 Prozent) gegen die Privatisierung kommunaler Wohnungen. Damit war der Plan des grünen Oberbürgermeisters Dieter Salomon gescheitert, die 7.900 städtischen Wohnungen zu verkaufen. Die Freiburger sendeten damit ein starkes politisches Signal aus, das in ganz Deutschland sofort verstanden wurde. Nach diesem Erfolg sind alle ähnlichen Verkaufspläne zurückgestellt worden, weil auch in anderen Kommunen mit einem ähnlichen Widerstand gerechnet wurde. Möglich war dieser Erfolg, weil sich ein breites Bündnis aus Mietern, Kirchengemeinden, Gewerkschaften, Bürgervereinen, Stadtteilinitiativen, Parteien usw. gebildet hatte. Von April bis November 2006 zog sich die Auseinandersetzung hin und es gelang den Initiatoren, viele von denen zu mobilisieren, die sich sonst nicht engagieren. In einer Dokumentation des Bürgerentscheids heißt es: »Die Wahlbeteiligung von insgesamt 39,9 % ist auf den ersten Blick nicht besonders hoch. Bei den Kommunalwahlen 2004 hatte sie beispielsweise bei 50 % gelegen. In einzelnen Stadtbezirken gab es jedoch deutlich Veränderungen im Vergleich zu Kommunal- oder auch Bundestagswahlen. So gab es in mehreren Gebieten, die bei Wahlen in der Regel unterrepräsentiert sind, eine beeindruckende Beteiligung am Bürgerentscheid. Dies waren vor allem Stadtteile, in denen es vergleichsweise viele Wohnungen der kommunalen Wohnungsbaugesellschaft Stadtbau GmbH gibt. Der
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Umverteilung von Arm zu Reich. Das Geld fehlt unter anderem den Kommunen.
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Ein Jahr nach Einführung des Lichtenberger Bürgerhaushalts kam Herzberg zu folgendem Schluss: »Die soziale Frage ist abwesend, einen Verteilungsschlüssel für Investitionen gibt es auch hier nicht. Im Zentrum des Verfahrens stehen die zu ›Produkten’ aufbereiteten Leistungen der Verwaltung, die von den Bürgern bewertet werden. (...) Was zu einer partizipativen Demokratie fehlt, ist eine organisierte Bürgerschaft mit dem Potential einer Gegenmacht.« Das Interesse, sich am Beteiligungsverfahren zum Bürgerhaushalt zu engagieren, ist unter den Einwohnern gering. Dies wurde beispielsweise in Friedrichshain-Kreuzberg deutlich, dem zweiten Berliner Bezirk nach Lichtenberg, der einen Bürgerhaushalt initiierte. Dort kamen zu den Veranstaltungen, bei denen Vorschläge gesammelt und diskutiert worden sind, anfangs nur zwischen 30 und 100 Teilnehmer – bei immerhin 260.000 Einwohnern im gesamten Bezirk. Auch in anderen Kommunen bewegt sich die Beteiligung auf ähnlich niedrigem Niveau. In Freiburg beteiligten sich lediglich 1863 Menschen an einer Online-Diskussion zum Beteiligungshaushalt 2009/2010.
Stadtbezirk Weingarten erreichte beispielsweise mit 42,9 % Wahlbeteiligung den zweithöchsten Wert. Bei der letzten Kommunalwahl hatte die Wahlbeteiligung dort bei gerade einmal 28,8 % gelegen.« So groß der Erfolg zunächst auch war, hat er jedoch nicht verhindern können, dass die Stadtbau GmbH auf Beschluss der schwarz-grünen Stadtregierung nach der Niederlage die Mieten kräftig erhöhte und Personal abbaute. Die Mitarbeiter der Stadtbau hatten sich stark im Bündnis »Wohnen ist Menschenrecht« engagiert, weil sie bei einem Verkauf zu Recht um ihren Arbeitsplatz fürchteten. Die Gewinne der Stadtbau sollten nach Vorstellung der schwarz-grünen Mehrheit einen Beitrag leisten, um das Haushaltsdefizit der Kommune zu ver-
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ringern. Die Schwäche des Widerstandes gegen die Privatisierungspläne lag darin, dass ein Teil der Bewegung bereit gewesen ist, sich an Lösungen zur Konsolidierung des kommunalen Haushaltes zu beteiligen. So heißt es am Ende der Dokumentation »Wohnen ist Menschenrecht«: »Eine zweite kalte Dusche, die mich sprachlos machte: Für die Gemeinderatssitzung direkt nach dem Bürgerentscheid war eine Debatte über den Abstimmungsausgang angesetzt. Viele Schüler, Presse und Fernsehen waren anwesend. Unserem OB und seiner schwarz-grünen Gefolgsmannschaft gelang es, kurzerhand die Debatte als kontraproduktiv und inopportun abzusetzen. Die Hoffnungen auf gemeinsame Diskussionen mit allen Beteiligten, um gute Entschuldungskonzepte im Konsens zu finden, verflog schnell. Ein kommunales Trauerspiel in Sachen Demokratieverständnis.«
Die Einrichtung eines Bürgerhaushaltes führt nicht zur Emanzipation von angeblichen Sachzwängen
Seit den 1990er Jahren ist ein deutlicher Anstieg von Volks- und Bürgerbegehren zu verzeichnen. Diese sind nicht die einzige Protestform gegen politische Entscheidungen, aber die am besten dokumentierte. Sie spiegeln die wachsende Unzufriedenheit wider – so wie die zahlreichen Wählerinitiativen, deren Initiatoren aus dem mittelständischen Kleinbürgertum kommen und die wachsende Zahl von Nichtwählern, die sich vor allem in der Arbeiterklasse finden lassen. In den Großstädten bilden die Stimmverweigerer bei Kommunalwahlen inzwischen die Mehrheit. Bis zum Krisenjahr 1993 lag die Zahl der eingeleiteten Begehren immer unter 100 im Jahr, um dann bis 1996 auf über 400 hochzuschnellen und sich nach 2000 auf jährlich 200 bis 300 einzupendeln. Unmittelbarer Auslöser ist nicht die Krise gewesen, sondern die Verarmung der Kommunen infolge der Steuerentlastungen für die Unternehmen, auf die die Kommunen wiederum mit dem Verkauf ihres »Tafelsilbers« reagierten. Nach einer Dokumentation von Volker Mittendorf, der sich eingehend mit Bürgerbegehren und -entscheiden auseinandergesetzt hat, schwankt die Erfolgsquote sehr stark und liegt im Durchschnitt bei knapp 17 Prozent. Das ist kein Wert, der euphorisch macht. Ein ganz wesentlicher Grund für diese Schwäche ist, dass die Voraussetzungen unterschätzt werden, die erfüllt sein müssen, um einen Bürgerentscheid zu erzwingen. Ohne ein breites Bündnis geht es nicht. Das wiederum muss versuchen, auch diejenigen zur Teilnahme zu gewinnen, die sich zum Teil schon seit vielen Jahren nicht mehr an Wahlen beteiligt haben – weil sie immer wieder die Erfahrung gemacht haben, dass sich dadurch ihre Lebensverhältnisse nicht verbessern. Die Initiatoren des Bürgerentscheids in Freiburg haben 2006 eindrucksvoll gezeigt, wie es gehen kann. Von einer Aufbruchstimmung ist im Zusammenhang mit den Bürgerhaushalten, die in Freiburg oder anderswo »von oben« initiiert worden sind, nichts zu spüren. Das ist nur allzu verständlich, denn der Reiz, sich an Kürzungsvorschlägen zu beteiligen, ist gering – und da hilft es auch nicht, immer wieder auf Porto Alegre zu verweisen. Nicht die Einrichtung eines Bürgerhaushaltes führt zu einer Emanzipation von angeblichen Sachzwängen und die Entwicklung von politischem Bewusstsein, sondern der Kampf gegen Privatisierungs- und Kürzungspläne. Ein Ergebnis dieser Kämpfe kann ein Bürgerhaushalt sein, der seinen Namen zu Recht trägt, weil er die Mittel zur Verfügung stellt, die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. DIE LINKE muss Motor dieser Kämpfe sein und darf nicht Armutsverwaltung betreiben. Jürgen Ehlers ist aktives Mitglied der LINKEN in Frankfurt am Main. Er ist Architekt und Wohnungsmarktexperte.
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Kommunen
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NEUES AUS DER
»Fünf vor zwölf« – unter diesem Motto demonstrierten am Ostersonntag rund 150 Menschen am Fliegerhorst Büchel. Am europaweiten Aktionstag gegen Atomwaffen erinnerten die Demonstranten daran, dass der Fliegerhorst des Geschwaders 33 nicht nur Heimat der Jagdflieger, sondern nach unwidersprochener Expertenansicht auch der letzte deutsche Standort von US-amerikanischen Atomwaffen ist. Trotz Regen und Kälte wanderten die Demonstranten um den Fliegerhorst und protestierten gegen die Militärdoktrin der gegenseitigen Vernichtung: Regenbogenfahnen, die weiße Taube auf blauem Grund und die roten Tücher der LINKEN flatterten im Wind. Hinter den meterhohen Sicherheitszäunen starrten Uniformierte durch Ferngläser. Doch während vor zwei Jahren eine unangekündigte zivile Inspektion des Stützpunkts für helle Aufregung unter den beamteten Demonstrationsbegleitern sorgte, blieb es diesmal beim verbalen Protest. Redner und Musikantinnen forderten den Abzug der Massenvernichtungswaffen, wollten aber auch die Kriegsbeteiligung deutscher Soldaten ins Bewusstsein rücken. Weil am Zaun keine Plakate oder Schilder befestigt werden durften, hingen anschließend gut hundert rote Rosen am StaKnapp 5000 Menschen demonstrierten cheldrahtverhau – jede Einzelne ein am 20. März unter dem Motto Zeichen des Gedenkens an die bis»Wir zahlen nicht für eure Krise« in Essen. Verschiedene Grupherigen Opfer von Atombombenpen – von Gewerkschaften abwürfen. bis zu Parteien – hatten zur Im Fernsehen hieß es abends, Teilnahme aufgerufen und der Frieden habe immer weniwaren aktiv dabei. ger Freunde – die OstermärSelbstverständlich waren Die Rubrik »Neues aus der LINKEN« lebt von der Mitarbeit der sche stürben aus. Wahr ist auch Fahnen der LINmarx21-Leser. Die Redaktion kann nicht überall sein – aber das jedoch: Sogar der US-amerikaKEN zu sehen. Zahlreiche Magazin und seine Leser schon. nische Präsident hat jüngst erBundestagsabgeordnete der Auf dieser Doppelseite wollen wir über interessante Aktionen klärt, Atomwaffen gehörten auf Partei nahmen ebenfalls teil. und Kampagnen der LINKEN berichten sowie spannende den Müllhaufen der Geschichte. Gleichzeitig kamen 2500 MenTermine ankündigen. Wenn ihr etwas beizutragen habt, Dem ist nichts hinzuzufügen. schen zu einer Protestaktion in schickt eine E-Mail an redaktion@marx21.de. Stuttgart zusammen. Jochen Bülow Die Redaktion behält sich das Recht auf Auswahl und Kürzung vor. 44 Neues Aus der Linken Nr. 15 | Mai/Juni 2010 | www.marx21.de
Mach mit - werde Leserreporter
© Martina Wolf
Atomwaffen raus
NEWS
Nein zum Milliardengrab
Wahlkampf neu denken DIE LINKE in Nordrhein-Westfalen setzt den Aktivierungs wahlkampf fort. Über die Erfahrungen sprach marx21 mit Sven Kühn aus dem Wahlquartier
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elche Erfahrungen habt ihr in Nordrhein-Westfalen mit dem Aktivierungswahlkampf gemacht? Dort, wo der Aktivierungswahlkampf geführt wird, sind wir auch erfolgreich. Trotzdem gibt es innerhalb der Partei immer noch viele Widerstände gegen das Konzept. Vor allem bestehende Strukturen, in denen einige wenige sehr viel Einfluss haben, wenden sich davon ab – unabhängig davon, welcher politischen Strömung diese angehören.
Sven Kühn
Bundesebene beschlossen hat, das erfolgreiche Projekt nicht weiterzuführen. Die Unterstützung und der Austausch mit den bundesweiten Strukturen fehlen.
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elchen Einfluss hat der Aktivierungswahlkampf auf die Entwicklung der Partei? Das ist eine schwierige Frage. Ich denke, dass der Aktivierungswahlkampf die Möglichkeit bietet, Sven Kühn studiert Jura an der Ruhreine Kampagnenpolitik Universität Bochum. Er ist Mitglied im zu etablieren, mit der die Wahlbüro DIE LINKE. NRW und arbeitet Partei als wahrnehmbaseit 2009 in der LINKSAKTIV-Kampagne. rer Akteur auftreten kann. Er ist Mitglied im LandessprecherInnenDie Idee, Sympathisanart ihr erfolgreich rat der Linksjugend [`solid] NRW. ten in unsere Kampagbei der Aktivierung nen einzubeziehen, ob der Mitglieder und bei Wahlen oder nicht, kann das Projekt DIE dem Versuch, neue zu gewinnen? LINKE langfristig enorm stärken. Dazu ist Durchaus: In den Wahlkampagnen des jedoch vor allem auf den Leitungsebenen letzten Jahres haben sich in NRW mehr eine Akzeptanz des Konzepts notwendig. als 1000 Menschen aktiviert. Darauf bauen wir nun auf. In den letzten Wochen haben sich mehr als 300 weitere Mitglieder und onnte durch den AktivierungswahlSympathisanten entschlossen, linksaktiv kampf eine verbesserte Verbindung zu werden. zu den sozialen Bewegungen aufgebaut Viele Nichtmitglieder treten in die Partei werden? ein, nachdem sie bei Linksaktiv mitgearTeilweise schon. Wir in NRW haben aber beitet haben,. In den kommenden Woeher dann bessere Verbindungen zu soziachen werden wir noch einmal verstärkt auf len Bewegungen aufbauen können, wenn unseren Veranstaltungen um Mitstreiter wir Methoden und Erfahrungen aus dem kämpfen. Aktivierungswahlkampf in unseren Kampagnen, wie der Mobilisierung nach Dresden, eingesetzt haben. onntet ihr direkt an den Strukturen Es muss jedoch von allen Parteimitgliedern anknüpfen, die ihr während der Wahlerkannt werden, dass wir nur gemeinsam kämpfe im letzten Jahr aufgebaut habt? unsere Ziele erreichen können. Dazu leisJa. Viele Menschen, die im letzten Jahr in tet auch der Aktivierungswahlkampf einen diesem Bereich mitgearbeitet haben, sind Beitrag. auch weiterhin dabei. Deswegen ist es Die Fragen stellte Nils Böhlke nicht nachvollziehbar, dass die Partei auf
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Die Menschen in Stuttgart wehren sich gegen den Bau von »Stuttgart 21«: Der alte Bahnhof soll abgerissen und stattdessen ein 4,2 Milliarden Euro teurer unterirdischer Bahnhof gebaut werden. Die Landesregierung, die Stadt Stuttgart und die Deutsche Bahn halten entgegen dem Ergebnis eines Bürgerentscheids an diesen Plänen fest. DIE LINKE beteiligt sich an den Protesten gegen das Milliardengrab und ruft die Bevölkerung zum Widerstand auf. Kundgebungen finden jeden Montag ab 17 Uhr vor dem Nordeingang des Hauptbahnhofs statt. Daniel Behrens
7. Linke Medienakademie begeistert 950 Besucher 950 Teilnehmer aus der ganzen Republik nahmen vom 10. bis 14. März die Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin-Oberschöneweide in Beschlag. Sie suchten den Austausch mit anderen Medienmachern und bildeten sich in vielen Kursen weiter. Im Vergleich zu den vergangenen Akademien sind die Teilnehmer deutlich jünger geworden. In 200 Veranstaltungen wurde den Ansprüchen bewegungspolitisch interessierter Medienmacher Genüge getan. Die nächste Akademie findet vom 9. bis 13. März 2011 statt. Infos: www.linke-medienakademie.de Heinz Wagner
Master für Alle? Am 17. Mai wird die erste Bolognakonferenz in Berlin stattfinden. Bundesbildungsministerin Annette Schavan wird teilnehmen. Der Studierendenverband der LINKEN, Die Linke.SDS, setzt sich für eine bundesweite Live-Übertragung der Konferenz ein, damit sie zeitgleich an allen 380 Hochschulen der Republik verfolgt werden kann. Es könnte die größte hochschulpolitische Auseinandersetzung der letzten Jahrzehnte werden. Die Linke.SDS fordert den Master für alle ohne Zugangsbeschränkungen als ersten Schritt zur Überwindung des Bolognasystems. Ben Stotz
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Vorwärts zu den Wurzeln Christine Buchholz bewertet den Programmentwurf der LINKEN und macht Vorschläge zur Verbesserung. Sie meint, eine kämpferische Partei braucht ein antikapitalistisches Programm
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o durchgeknallt ist das Programm der LINKEN« schrieb Bild.de am Tag der Veröffentlichung des neuen Parteiprogramms. SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles kanzelte den Entwurf als »widersprüchliches Sammelsurium« ab und behauptete: »Die Linke macht die Vergangenheit zum Programm, deshalb kann sie auch keine Zukunft gestalten.« Diese Kritiken sagen mehr über ihre Urheber aus als über den Programmentwurf der LINKEN. Was weder Bild noch Nahles ertragen können, ist die grundsätzliche Kritik am Kapitalismus, die das Papier durchzieht. In dieser Hinsicht ist er ein Schritt voran im Vergleich zu den programmatischen Eckpunkten, die bisher die politische Grundlage der LINKEN waren. Dennoch gibt es in dem Entwurf verschiedene Stellen, an denen eine Schärfung des Profils nötig ist.
1. Kapitalismuskritik Im Programmentwurf wird der Kapitalismus als krisenhaftes System benannt: »Die Krisen der kapitalistischen Marktwirtschaft haben Massenarbeitslosigkeit und Einkommensverluste zur Folge.« Nach und nach zeige sich, »dass die lange Nachkriegsperiode wirtschaftlichen Aufschwungs eine Ausnahme war. Der Kapitalismus kehrt zu seiner Normalität zurück, einschließlich periodisch auftretender Krisen und Stagnationsphasen.« Die umstrittene Formulierung aus den Programmatischen Eckpunkten von 2007, »gewinnorientiertes gesellschaftliches Handeln« sei »wichtig für Innovation und betriebswirtschaftliche Leistungsfähigkeit«, ist nicht wieder zu finden. Stattdessen heißt es im neuen Entwurf, der Kapitalismus »unterminiert auch die produktiven Grundlagen der Ökonomie«, er führe zur »Zerstörung von Produktion und Produktivität.« Das berechtigte Misstrauen gegenüber der produktiven Rolle von Markt und Konkurrenz kommt
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auch in der Formulierung zum Ausdruck, dass die Steuerung durch den Markt »demokratischer, sozialer und ökologischer Rahmensetzung (...) untergeordnet« werden müsse. Die seit 2008 anhaltende Weltwirtschaftskrise hat die Anhänger eines regulierten, gezähmten Kapitalismus in der Partei ideologisch in die Defensive gebracht. Auch in der Eigentumsfrage ist der neue Entwurf antikapitalistischer als die Programmatischen Eckpunkte. Damals lautete der Schlüsselsatz: »Die Demokratisierung der Wirtschaft erfordert, die Verfügungsgewalt über alle Formen des Eigentums sozialen Maßstäben unterzuordnen.« Durchgängig erweckten die Eckpunkte den Eindruck, als könne man den Eigentümern der Produktionsmittel deren wirtschaftliche Macht auf der Basis der bestehenden Eigentumsverhältnisse entreißen, als ließen sich Verfügungsgewalt und Eigentumstitel voneinander trennen. Im neuen Entwurf heißt es nun, dass DIE LINKE für eine »demokratische Wirtschaftsordnung« kämpfe, die auf »öffentlichem und demokratisch kontrolliertem Eigentum (...) auf der Grundlage von staatlichem, kommunalem, genossenschaftlichem oder Belegschaftseigentum« beruhe. Hier bedarf es einer sorgfältigen Diskussion, welche Form solche Belegschaftsbeteiligungen annehmen können, ohne zugleich antigewerkschaftliches Standortdenken und Betriebsegoismus zu fördern. Hilfreich kann hier die Aufarbeitung der Debatte über betriebliche und überbetriebliche Vermögensbeteiligungen von Arbeitnehmern sein, wie sie im DGB in den 1960er und 1970er Jahren sehr kontrovers geführt wurde. Die IG Metall und die ÖTV lehnten damals jede Form der betrieblichen Eigentumsbeteiligung ab.
2. Aufbau Ost
In dem Teil über Ostdeutschland und andere strukturschwache Regionen wird aus der treffenden Analyse des Kapitalismus und der Krise leider
Der Kapitalismus führt zur »Zerstörung von Produktion und Produktivität«. So steht es auch im Programmentwurf der LINKEN
keine konsequente Schlussfolgerung gezogen. So zielt das Kapitel auf Wirtschaftsförderung ab anstatt auf den Aufbau und die Stärkung des öffentlichen Sektors und die Bereitstellung von umfassenden Ausbildungsmöglichkeiten unabhängig von privater Nachfrage. Aus der Pleite des Chip-Herstellers Qimonda, bei der in Dresden mehrere hundert Millionen Euro an öffentlichen Subventionen in den Sand gesetzt wurden, müssen Konsequenzen für den zukünftigen Regionalaufbau Ost gezogen werden. Andernfalls kapituliert DIE LINKE vor den Folgen des Ausverkaufs der ostdeutschen Wirtschaft nach der Vereinigung und bietet für die dortige Bevölkerung keine Zukunftschancen.
3. Ökologie Positiv ist zu bewerten, dass der ökologischen Frage eine zentrale Rolle bei der Kapitalismuskritik beigemessen wird. So heißt es: »Eine ökologisch nachhaltige Entwicklung steht im Widerspruch zur kapitalistischen Wachstumslogik. Die ökologische Frage ist zugleich eine ökonomische, soziale und kulturelle – eine Systemfrage.« Damit nimmt DIE LINKE eine grundsätzlich andere Position als die Grünen ein. Diese haben sich mit dem Credo »Ökologie geht vor Ökonomie« 1979 von der Kapitalismuskritik verabschiedet und die Grundlage für die Idee der Grünen Marktwirtschaft gelegt, die sie 2009 im Green New Deal wieder aufgewärmt haben.
4. Krieg und Frieden Der Programmentwurf leitet die Frage von Imperialismus und Krieg aus den ökonomischen Interessen der großen kapitalistischen Staaten ab. Allerdings bleibt die Analyse an der Stelle ungenau, wo sie Armut, Unterdrückung, Klimawandel und Ressourcenknappheit mit dem Streben nach geopolitischer Macht und Vorherrschaft gleichsetzt. Zudem sind nicht alle Forderungen konsequent. So spricht sich der Programmentwurf zwar klar gegen Kampfeinsätze der Bundeswehr aus, kritisiert den Ansatz der zivilmilitärischen Zusammenarbeit und zielt auf globale Gerechtigkeit ab. Gleichzeitig trifft er keine klare Aussage zu einem generellen Verbot von Rüstungsexporten (diese Forderung ist zwar in der Präambel zu finden, nicht aber in dem Kapitel »Wie schaffen wir Frieden«). Richtig wäre es, ein generelles Verbot von Rüstung und die Umstellung der Rüstungsindustrie auf zivile Produktion zu fordern. Denn die Forderung eines Verbots von Rüstungsexporten nur in Krisengebiete ist halbherzig und so auch nicht durchzusetzen, denn Rüstungsgüter können ohne weiteres über »stabile« Länder in Krisengebiete geliefert werden. Die Forderung nach einem kollektiven Sicherheitssystem unter der Beteiligung Russlands anstelle der NATO wirft mehr Fragen auf als sie beantwortet: Gegen wen richtet sich dieses System? www.marx21.de | Mai/Juni 2010 | Nr. 15
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Warum sollen nicht auch noch andere Staaten daran beteiligt werden? Eine Alternative wäre die Forderung nach einem nichtmilitärischen System gegenseitiger Sicherheit, das vor allem auf der Vorbeugung von Konflikten beruht. Die allerbeste Konfliktprävention überhaupt ist aber der Verzicht der großen kapitalistischen Staaten auf jede Form der wirtschaftlichen und militärischen Großmachtpolitik. Dies bleibt jedoch illusionär, solange die bestehende, auf Konkurrenz und Profit beruhende kapitalistische Wirtschaftsordnung nicht überwunden ist.
5. Woher wir kommen Die Frage von Krieg und Frieden hat in der Geschichte der Linken und der Arbeiterbewegung stets eine zentrale Rolle gespielt. Dies wird in dem Kapitel »Woher wir kommen« klar entwickelt – auch wenn es gut wäre, an manchen Stellen Ross und Reiter genauer zu benennen. Beispielsweise spaltete nicht der Erste Weltkrieg 1914 die Sozialdemokratie, sondern die Abkehr der sozialdemokratischen Führung von der Antikriegsposition. Ebenso wenig war das Vorhandensein zweier großer Arbeiterparteien (SPD und KPD) die Ursache für die Machtübernahme Hitlers, sondern die Unfähigkeit beider Parteien eine gemeinsame Abwehrfront zu bilden. Ungenau ist in diesem Kapitel die Geschichte der westdeutschen Linken und vor allem der radikalen Linken, die sich jenseits von Sozialdemokratie und Stalinismus entwickelt hat. Auch wenn diese Strömungen relativ klein waren, gehört die Erfahrung der unterschiedlichen Stränge der revolutionären Linken ebenfalls zum Erbe der LINKEN und sollte Erwähnung finden. Willy Brandt und Michail Gorbatschow eignen sich hingegen nur bedingt als Vorbilder für mehr Demokratie und Friedenspolitik. So hat Brandt in den 1970er Jahren die Berufsverbote erlassen, die sich gegen Sozialisten, Kommunisten, kämpferische Gewerkschafter und andere Linke richteten. Und Gorbatschow zog die Truppen 1989 nur deshalb aus Afghanistan ab, weil die Rote Armee eine verheerende Niederlage erlitten hatte und sich in Auflösung befand.
6. Geschichte der DDR Die Geschichte der DDR wird im Programmentwurf teilweise fragwürdig dargestellt. So geschah die Vereinigung von SPD und KPD nicht unter »Druck«, sondern unter Zwang. Nicht nur die SPD wurde verboten, sondern ebenso freie Gewerkschaften und Betriebsräte. Tatsächlich wurde so eine Parteidiktatur über die Arbeiter und Bauern errichtet.
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Gedenken an die Opfer von Kundus: Die Linksfraktion trägt den Protest der Anti-Kriegs-Bewegung ins Parlament
Auch die Formulierung, dass es in der DDR eine »weitgehende Überwindung von Armut und ein umfassendes soziales Sicherungssystem« gegeben hätte, ist zu relativieren. Zwar war die Differenz zwischen Arm und Reich nicht so extrem wie im Westen. Aber auch im ostdeutschen Staat gab es Armutsrenten und alle »unproduktiven« Menschen mussten, wenn nicht in Not, so doch in Armut leben. Zudem besaßen führende Funktionäre in Partei und Staat viele materielle Privilegien, die von den Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen zu Recht als Widerspruch mit der offiziellen sozialistischen Ideologie empfunden wurden.
7. DIE LINKE und Religion Das Verhältnis der LINKEN zur Religion wird im Entwurf mit einigen Allgemeinplätzen abgetan. Wir sollten aussprechen, dass DIE LINKE keine anti-religiöse, sondern eine nicht-religiöse Partei ist, die die Zusammenarbeit mit jenen Teilen der Religionsgemeinschaften sucht, die sich gegen Armut und Kriege und für ein besseres Leben nicht nur im Jenseits einsetzen. Besonderes Augenmerk
auch die Frage, ob Islamfeindlichkeit eine solche neue Form darstellt.
9. Regierungsbeteiligungen
sollte die Forderung nach Gleichbehandlung der Religionen erhalten. DIE LINKE sollte sich in der Tradition der Aufklärung für eine vollständige Trennung von Staat und Religion aussprechen. Solange die Trennung noch nicht überall vollzogen ist, sollten die Religionsgemeinschaften jedoch gleich behandelt werden (z.B. Einführung eines muslimischen Religionsunterrichts, solange es keinen religionsübergreifenden Ethikunterricht für alle gibt).
8. Antifa und Antira Die Abschnitte über Antifaschismus und Antirassismus bedürfen ebenfalls einer Präzisierung. Bei den letzten Europawahlen konnten rechtsradikale und neofaschistische Parteien in fast allen nord- und westeuropäischen Ländern Erfolge auf der Basis islamfeindlicher Wahlkämpfe erzielen, zuletzt Jean-Marie Le Pen und seine »Front National« bei den französischen Regionalwahlen. Wir benötigen dazu innerhalb der Partei eine Diskussion über »moderne« Formen des Rassismus. Dies betrifft sowohl die Frage nach dem Wesen des Antisemitismus als
Es zeichnet sich ab, dass es in der LINKEN eine kontroverse Diskussion über die Bedingungen für eine Regierungsbeteiligung gibt. Von Carl von Ossietzky stammt der Satz: »Sie dachten, sie wären an der Macht, dabei waren sie nur an der Regierung.« Immer wieder haben linke Regierungen die Erfahrung gemacht, dass sie unter Krisenbedingungen ihre Wählerschaft enttäuschen und verraten mussten oder – wenn sie dies nicht taten – wirtschaftlich boykottiert (wie die Mitterand-Regierung in Frankreich 1981/82) oder sogar (wie in Chile 1973) gewaltsam gestürzt wurden. Wir dürfen unsere Wähler nicht enttäuschen, wie dies unsere italienische Schwesterpartei Rifondazione Comunista in der Mitte-LinksRegierung (2006-2008) getan hat. Ich lehne Regierungsbeteiligung von Sozialisten im Kapitalismus ab. Allerdings ist es angesichts der Tatsache, dass sich nach neueren Umfragen 95 Prozent aller LINKEN-Wähler für eine rot-rote-grüne Regierung aussprechen, nicht ausreichend, bei einem abstrakten »Nein« zu dieser Frage zu verharren. Hier ist der Programmentwurf hilfreich. Denn er nennt für Länderregierungen drei Haltelinien: keinen Sozialabbau, keine Privatisierung und keinen Personalabbau im Öffentlichen Dienst. Für die Bundesebene wird zusätzlich eine vierte »Haltelinie« angeführt: Keine Kriegseinsätze. Diese darf DIE LINKE nicht überschreiten, wenn sie glaubwürdig bleiben will. Gegen die Bedingung »kein Stellenabbau« hat es heftigen Einspruch aus Teilen der ostdeutschen Landesverbände gegeben. Das demographische Argument wiegt natürlich schwer. Zugespitzt gefragt: Braucht man noch Lehrer, wenn es keine Schüler mehr gibt, weil sie abgewandert sind? Dies führt uns zurück zum Aufbau Ost und zur Frage nach der Förderung strukturschwacher Regionen. Ein starker öffentlicher Sektor in Ost und West ist der Schlüssel für eine erfolgreiche Regionalpolitik. Er könnte ein weiteres Ausbluten durch Abwanderung stoppen und diese Tendenz sogar umkehren. Stellenabbau im Öffentlichen Dienst ist hingegen genau das falsche Signal.
10. Antikapitalistische Interessenspartei Die Krise hat alle Theorien, die besagen, dass Klassengesellschaften längst der Geschichte www.marx21.de | Mai/Juni 2010 | Nr. 15
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angehören, Lügen gestraft. Wir leben in Deutschland und weltweit in kapitalistischen Klassengesellschaften, ohne deren weltweite Überwindung es auch keinen Frieden und keine nachhaltige ökologische und soziale Neuordnung geben kann. DIE LINKE hat nur eine Zukunft, wenn sie sich als Partei derjenigen etabliert, die abhängig beschäftigt sind und von der Ausübung der Kontrolle über den gesellschaftlichen Reichtum weitgehend ausgeschlossen sind. Das schließt all diejenigen mit ein, die noch nicht, momentan nicht oder nicht mehr arbeiten. Sie muss verhindern, dass Erwerbslose und Erwerbstätige gegeneinander ausgespielt werden. Die Unfähigkeit der Arbeiterbewegung vor 1933 zur Einheit im Kampf gegen die Nazis war auch ein Produkt der Spaltung von Arbeitslosen- und Beschäftigtenmilieus. Auch heutzutage existiert diese Spaltung. Sie wird von den Medien (z.B. Bild) und konservativen und neoliberalen Politikern (z.B. Westerwelle und Koch) systematisch vorangetrieben. Auch innerhalb der LINKEN existiert eine Kluft zwischen Gewerkschaftern und Arbeitslosenmilieus. Der Programmentwurf könnte deutlicher machen, dass Forderungen für die Erwerbstätigen und für die Erwerbslosen nicht voneinander zu trennen sind. Denn es ist gerade Aufgabe der LINKEN, darauf hinzuweisen, dass es auch im Interesse des beschäftigten Teils der lohnabhängigen Klassen ist, dass der so genannte Lohnabstand zwischen Arbeitsentgelt und Entgeltersatzleistungen möglichst gering ist. Und dass es umgekehrt auch im Interesse der Erwerbslosen ist, dass die Löhne Anzeige
hoch, tarifgebunden und sicher sind. Je geringer das Gefälle im Lebensstandard, desto geringer die Angst vor Arbeitslosigkeit. Auch die gegenwärtig erpresserische Wirkung von Hartz IV und Arbeitslosigkeit überhaupt würde abnehmen. Wir müssen sowohl gegenüber den Gewerkschaften, die allzu häufig nur die Interessen der Stammbelegschaften vertreten haben, als auch gegenüber Arbeitsloseninitiativen betonen, dass Arbeitslose nur im gemeinsamen Kampf mit gewerkschaftlich Organisierten eine Perspektive auf Durchsetzung ihrer berechtigten Forderungen haben. Bei weiteren sozialen Themen sollten wir unsere Forderungen präzisieren. Es reicht beispielsweise nicht aus, die Rente mit 67 abzulehnen. Wir sollten hier mindestens die Rückkehr zu einer ungekürzten Rente ab 60 (Frauen) und ab 63 (Männer) fordern, wie sie unter Willy Brandt schon einmal eingeführt worden war. DIE LINKE muss sich zudem gegen Standortdenken in den Gewerkschaften wenden und den internationalen Widerstand gegen die Auswirkungen der Politik der Großmächte unterstützen. Diese Dimension kommt in dem bisherigen Programmentwurf zu kurz, beispielsweise in dem Kapitel zur EU.
11. Fazit Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Programmentwurf klarere antikapitalistische Ansätze als das Eckpunktepapier von 2007 enthält. Allerdings bedarf es in wichtigen Feldern der Präzisierung und Zuspitzung. Bei allen Diskussionen der nächsten Zeit sollten wir Friedrich Engels Mahnung von 1875 in Erinnerung behalten. Er sagte, dass es viel mehr darauf ankomme, was eine Partei tut als was sie sagt (oder schreibt). Es wäre nicht das erste Mal, dass eine linke Partei schöne Grundsätze beschließt und sie bei der nächsten Gelegenheit über Bord wirft. Das heißt auch, dass die Diskussion über das Parteiprogramm nicht zu einer Innenwendung führen darf. Letztendlich wird für die Zukunft der Partei entscheidend sein, ob es ihr gelingt, den Widerstand gegen die Abwälzung der Krisenlasten auf die lohnabhängigen Klassen erfolgreich zu organisieren. Nur dann wird sie das Vertrauen, das bei der letzten Bundestagswahl in sie gesetzt wurde, nicht enttäuschen.
Christine Buchholz ist Bundestagsabgeordnete der LINKEN und Mitglied der Programmkommission der Partei.
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Betrieb und Gewerkschaft
Kapital in Arbeiterhand? Mit Belegschaftsbeteiligungen an Unternehmen hofft die IG Metall den Ausverkauf und die Zerstörung von Arbeitsplätzen in der Krise verhindern zu können. In den 1970er Jahren wurde in den Gewerkschaften ähnliches diskutiert. Manfred Coppik war dabei und zieht Bilanz Im Mittelpunkt der gewerkschaftlichen Diskussion stand damals weniger die Frage des Erhalts der Arbeitsplätze. Den Befürwortern einer Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand ging es primär um Verteilungsgerechtigkeit. Insbesondere der durch die Eigenfinanzierung erzielte Vermögenszuwachs in den Großunternehmen, der unmittelbar durch die Arbeitsleistung der Beschäftigten entstand, sollte zu einem bestimmten Anteil in gewerkschaftlich kontrollierte Sozialfonds fließen. Die Arbeitnehmer sollten Fondsanteile erhalten, die nur bei Einhaltung bestimmter Bedingungen verkäuflich sein sollten. Auf diese Weise erhoffte sich zumindest ein Teil der Befürworter dieses Modells eine Art »schleichende« Veränderung der Eigentumsverhältnisse, um der Vermögenskonzentration und den damit verbundenen einseitigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Machtpositionen entgegenzutreten. So sollte
Manfred Coppik war von 1972 bis 1983 Bundestagsabgeordneter – bis 1982 für die SPD. Dann verließ er die Partei und gründete die Demokratischen Sozialisten. Heute ist er stellvertretender Landesvorsitzender der hessischen LINKEN.
© Gerd Arntz / gerdarntz.org
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ls die Heuschrecken über das Land fielen, Arbeitsplätze vernichteten und selbst rentable und entsprechend dem gesellschaftlichen Bedarf produzierende Unternehmen ausschlachteten, da entfachte wieder die Diskussion über Mitarbeiterbeteiligungen. Die Hoffnung, damit das Kapital in die Schranken zu verweisen, mag ihre Berechtigung haben und doch wirft sie eine ganze Reihe von Fragen und Problemen auf. Ich erinnere mich an die Diskussion in den 1960er und 1970er Jahren über die Möglichkeiten der Gesellschaftsveränderung durch Arbeitnehmerbeteiligung am Eigentum an den Produktionsmitteln. Einen Höhepunkt erlebte diese Diskussion 1972/73 sowohl in den Gewerkschaften als auch in der SPD im Vorfeld des Hannoveraner Parteitags 1973. Ich will hier mehr auf die gewerkschaftliche Diskussion eingehen, auch wenn der SPD-Parteitag durchaus einige aus heutiger Sicht bemerkenswerte Facetten hatte. So warnte laut Spiegel vom 26. März 1973 schon vor dem Parteitag der Göttinger Jungsozialist Gerhard Schröder bei einem Juso-Kongress vor der »Gefahr, dass der reformistische Teil der Partei kommt und einen Teil der Jusos einfängt«. Das mal so ohne Kommentar.
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Zur Frage der Belegschaftsbeteiligungen siehe auch Michael Bruns’ Kolumne »Nicht ans sinkende Schiff ketten«: www.tinyurl.com/ sinkendes-schiff.
der Kern des Kapitalismus – das Privateigentum an den Produktionsmitteln – ausgehöhlt werden. Unabhängig davon, wie realistisch diese Vorstellung war – das Vermögensbildungsgesetz hat dann eine ganz andere Entwicklung genommen – warf sie doch schon damals eine ganze Reihe prinzipieller Fragen auf, die man auch heute nicht gänzlich ausklammern darf. Innerhalb der Gewerkschaften war die Diskussion höchst strittig. Der Bundesausschuss des DGB sprach sich am 4. April 1973 mit 55:52 Stimmen für einen überbetrieblichen Vermögensbildungsfonds in Arbeitnehmerhand aus. Er folgte damit mit äußerst knapper Mehrheit der Konzeption der IG Bau-Steine-Erden (IG BSE), die insbesondere von Herbert Ehrenberg, dem späteren Arbeitsminister, vertreten wurde. Dabei griff die IG BSE in ihrer vermögenspolitischen Argumentation ausdrücklich auch auf die katholische Soziallehre und die Sozialenzyklika des Papstes »Mater et Magistra« zurück: »Es genügt nicht, den natürlichen Charakter des Rechts auf Privateigentum auch an Produktivgütern zu behaupten, man muss zugleich nachdrücklich auf seine wirksame Streuung unter allen sozialen Schichten drängen.« Der Beschluss des DGB-Bundesausschusses erfolgte gegen die ausdrückliche Position der IG Metall, deren Vorstand in seinen Leitsätzen zur Vermögenspolitik noch am 17. Oktober 1972 unter anderem ausgeführt hatte: »Die Verknüpfung der vermögenspolitischen Diskussion mit dem Problem der Kontrolle
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privater wirtschaftlicher Macht ist nach Auffassung der IG Metall sachlich nicht haltbar und kann zu gesellschaftspolitischen Fehlentwicklungen führen. Die IG Metall wendet sich gegen die Konzentration des Produktivkapitals in wenigen Händen und unterstützt alle rechtlichen und wirtschaftspolitischen Maßnahmen, dieser Konzentrationstendenz entgegenzuwirken. Eine breitere Streuung des Produktivvermögens lässt die private Verfügungsgewalt über Produktionsmittel aber im Prinzip unangetastet.« Die IG Metall stellte dem Beteiligungskonzept die gewerkschaftliche Forderung nach einer gerechten Einkommens- und Steuerlastverteilung sowie nach qualifizierter Mitbestimmung entgegen. Aktive Lohnpolitik, soziale Steuerreform und die Erweiterung der Mitwirkungs- und Mitgestaltungsrechte der Beschäftigten seien der richtige Weg. Der damalige IG-Metall-Vorsitzende Eugen Loderer hielt auch nach dem Beschluss des DGB-Bundesausschusses an dieser Position fest. In einer umfangreichen Einführung zu dem von Karl H. Pitz herausgegebenen Buch »Nein zur Vermögenspolitik« (1975) erklärte er unter Bezugnahme auf die immer größeren Vermögen der Besitzenden: »Es kann also gar nicht darum gehen, auch mit ein paar Mark dabei zu sein. So lösen wir das Problem nicht. Da würden wir einen aussichtslosen Wettlauf beginnen und am Ziel doch immer nur hören: ›Ich bin schon da.‹ Vornehmlich muss die Diskussion heute um die Demokratisierung der Verfügungsmacht gehen.« Letztlich ging es damals auch um die Frage, ob demokratische Mitwirkungs- und Mitgestaltungsrechte der Beschäftigten über den Titel Eigentum zu erlangen sind oder sich schon allein aus dem Titel der Arbeit ergeben müssen. Nur Letzteres würde den Beschäftigten einen autonomen Subjektstatus verleihen und sie nicht auf die Verpflichtung zur Gewinnmaximierung reduzieren. Der Versuch, die Beschäftigten in die Kapitaleignergruppe einzubringen, würde diesem Ziel zuwiderlaufen, die Herrschaft des Kapitals über die Produktionsmittel zementieren und damit letztlich nichts zur Auflösung des Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit beitragen. Weder lasse sich der Missbrauch wirtschaftlicher Macht so verhindern noch eine demokratische Kontrolle wirtschaftlicher Verfügungsmacht herbeiführen. Nur die unmittelbare Erweiterung der Arbeiterrechte im Betrieb und Unternehmen sei der richtige Weg, die Machtverhältnisse zu verändern. Ich teilte damals diese Auffassung. In der Reform-Ära unter Willy Brandt erschien unter dem Stichwort »Mehr Demokratie wagen« eine Demokratisierung auch der Unternehmensverfassungen möglich. Die Demokratie sollte nicht vor der Wirtschaftsmacht kapitulieren, die im Eigentum verkörpert ist. Es begann der Kampf
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Jetzt hat die Variante »Belegschaftsbeteiligung« eine gewisse Priorität im öffentlichen Diskurs erlangt, wobei darunter ganz unterschiedliche Modelle verstanden werden. Soweit damit die Beteiligung der Belegschaft am »eigenen« Unternehmen gemeint ist, so wurde diese Art der ArbeitnehmerKapitalbeteiligung seinerzeit nahezu einhellig abgelehnt, weil sie die Abhängigkeit der Beschäftigten vom Unternehmen verfestigt und damit ihre persönliche Mobilität und Lebensgestaltung beeinträchtigt. In Anbetracht der heutigen Massenarbeitslosigkeit und Arbeitsplatzgefährdung mag da die Gewichtung dieses Arguments deutlich geringer sein. In einer Gesellschaft, in der es dennoch – bei einer an den Lebensbedürfnissen der Menschen orientierten Politik – hinreichend gesellschaftlich sinnvolle Arbeit für alle gibt, stellt sich trotzdem die Frage, ob das Argument der Erhaltung eines konkreten Arbeitsplatzes zum alleinigen Kriterium einer sozialistischen Politik gemacht werden kann und alle früheren Abwägungen hinsichtlich einer Kapitalbeteiligung der Arbeitnehmer über Bord werfen darf. Ich denke, dass die Wirtschaftskrise immer wieder
Situationen schaffen wird, in denen der Staat dem Kapital stützend unter die Arme greift. In allen diesen Fällen wird es die Aufgabe der LINKEN sein, den Vorgang zu problematisieren und zu analysieren, hieraus Forderungen für eine öffentliche Beteiligung mit Verfügungsmacht sowie Demokratisierung der Wirtschaft herzuleiten und ausgehend von dem jeweiligen Fall die Mobilisierung der Öffentlichkeit für eine Wirtschaftsordnung zu betreiben, in der es gilt: Menschen vor Profite und Arbeit vor Kapital. Der Entwurf des jetzt vorgelegten Parteiprogramms der LINKEN enthält die Forderung, dass Belegschaften ohne Lohnverzicht an dem von ihnen erarbeiteten Betriebsvermögen beteiligt werden. Im Hinblick auf die oben wiedergegebene Debatte wird sich diese Forderung vielfältigen Fragen stellen müssen. Was bedeutet »ohne Lohnverzicht« in der konkreten Tarifauseinandersetzung? Für welche Interessen stehen die Belegschaftsaktionäre? Gilt das Prinzip der Gewinnmaximierung für sie nicht? Sind die Belegschaftsanteile verkäuflich? An wen, wann, zu welchen Bedingungen? Was bedeutet die Verkäuflichkeit für die angestrebte Veränderung der Eigentumsverhältnisse? Was bedeutet eine Unverkäuflichkeit für die Beschäftigten? Diese Reihe ließe sich fortsetzen. Die Antworten stehen noch aus.
© Gerd Arntz / gerdarntz.org
um die Mitbestimmung als ersten Schritt zu einer demokratischen Unternehmensverfassung, wobei es klar war, dass Mitbestimmung nur dann wirklich eine ist, wenn sie auch im Konfliktfall paritätisch ist. Was unter Willy Brandt noch als möglich erschien, endete 1976 nach hinhaltender Obstruktion der wieder erstarkten FDP mit einem Mitbestimmungsgesetz, das zwar in den Großunternehmen eine formal zahlenmäßige Parität in den Aufsichtsräten herstellte, durch die Regelungen der §§ 27 Abs. 2 und 29 Abs. 2 dem im Konfliktfall durch die Kapitaleigner gestellten Aufsichtsratsvorsitzenden aber zwei Stimmen zubilligte, so dass letztlich die Kapitaleigner stets die Sieger blieben. Große gesellschaftliche Veränderungen hat das Gesetz mithin nicht herbeigeführt. Auch ist es in der breiten Öffentlichkeit nicht sehr populär geworden. Das ist weniger darauf zurückzuführen, dass in Einzelfällen Arbeitnehmervertreter der Versuchung nicht widerstanden, sich persönliche Vorteile durch ihre Funktion im Unternehmen zu verschaffen. Viel schlimmer ist neben der fehlenden Parität die organschaftliche Einbindung der Aufsichtsratsmitglieder nach deutschem Gesellschaftsrecht. Die Verschwiegenheitspflicht des § 116 Aktiengesetz macht jede demokratische Kontrolle auch des Wirkens der Arbeitnehmervertreter unmöglich. Ohne Transparenz gibt es keine Demokratie. Die Möglichkeit einer großen Mobilisierung zur Erweiterung der Mitbestimmung, die ja gesetzlich erfolgen müsste, erscheint mir deshalb gegenwärtig als eher unwahrscheinlich. Das bedeutet nicht, dass der Kampf um Wirtschaftsdemokratie von der Tagesordnung genommen werden könnte.
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»...können wir nur selber tun!«
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Die neue Serie »Was will marx21?« möchte die politischen Grundlagen des marx21-Netzwerks vorstellen. Thema diesmal: »Sozialismus von unten«.
er Spiegel-Redakteur war entsetzt: »Für die meisten Deutschen ist ein Leben im Sozialismus offenbar keine Schreckensvorstellung.« Anlass zur Empörung war eine Emnid-Umfrage. Demnach könnten sich 80 Prozent der Ostdeutschen und 72 Prozent der Westdeutschen ein Dasein in einem sozialistischen Staat vorstellen, solange für Arbeitsplätze, Solidarität und Sicherheit gesorgt wäre. Diese Umfrageergebnisse sind erstaunlich, wenn man betrachtet, was in der Vergangenheit unter dem Label »Sozialismus« verkehrte. Da ist auf der einen Seite der bis heute im SPD-Programm verankerte »Demokratische Sozialismus« – ein Sozialismus, der offensichtlich voll kompatibel mit Hartz IV, der Rente mit 67 und Bundeswehreinsätzen in aller Welt ist. Und da war auf der anderen Seite der gescheiterte »Sozialismus« der Parteidiktaturen in den Ostblockstaaten. Trotz dieser Erfahrungen ist, sicher auch angesichts der Verheerungen der Wirtschaftskrise, die Idee einer solidarischen Gesellschaft nicht totzukriegen. Es gibt eine Zukunft – nicht für die gescheiterten Sozialismen von SPD und Ostblock, aber durchaus für
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eine Tradition, die Angesichts der Dominanz von Sozialdemokratie und Stalinismus Jahrzehnte lang ein Schattendasein fristete: der »Sozialismus von unten«. Das Urheberrecht für den Begriff »Sozialismus von unten« gebührt dem amerikanischen Marxisten Hal Draper. Ende der 1950er Jahre schrieb er einen Aufsatz unter dem Titel »Die zwei Seelen des Sozialismus«. Dieser Text hatte eine einfache Botschaft: Das Wort Sozialismus hat zwei völlig gegensätzliche Bedeutungen. Die eine bezeichnete er als »Sozialismus von oben«. Das bedeutete für ihn: Wir versuchen, die Welt zu verändern, indem wir unser Schicksal in die Hände einer weisen und wohlwollenden Führung legen. Sie wird die richtigen Entscheidungen treffen, und wir werden ihre Beschlüsse ausführen und ihre Weisheit bewundern. Diese Vorstellung vom Sozialismus ist geprägt von dem Gefühl der Ohnmacht, das einige tausend Jahre Klassenherrschaft geschaffen haben. Sie ist elitär und bürokratisch. In Drapers eigenen Worten: »Es ist das immerwährende Versprechen, das jede herrschende Macht abgibt, um die Leute bei den Obe-
ren nach Schutz suchen zu lassen, anstatt bei sich selbst nach Befreiung. Es hat den unschätzbaren Vorteil, den sicheren Weg darzustellen anstelle des Weges der Kühnheit. Den vorsichtigen Weg anstelle des Weges der Aktion. Keine Freiheitsbewegung ist jemals in Gang gekommen, bevor sie nicht diese Haltung überwunden hatte.« Dies gilt bis heute für den sozialdemokratischen Sozialismus, dessen Prinzip ist: »Wählt uns und lasst euch in eine bessere Zukunft führen«. Eine andere Spielart des »Sozialismus von oben« haben wir im Ostblock gesehen: Die kommunistischen Parteien agierten stellvertretend für die Arbeiter und zunehmend im Gegensatz zu ihnen. Letztendlich wurden sie genau von jenen gestürzt, die sie zu vertreten vorgaben. Das Gegenstück dazu ist für Draper der »Sozialismus von unten«. Er wächst aus den Kämpfen der Unterdrückten und Ausgebeuteten. Dessen Motto ist der erste Satz aus den Statuten der Arbeiter-Internationale von 1864, »dass die Emanzipation der Arbeiterklasse durch die Arbeiterklasse selbst erobert werden muss«. Ein wesentlicher Grund: Die gemeinsame solidarische Aktivität verändert das Bewusstsein der Menschen. Karl Marx formulierte, »dass sowohl zur massenhaften Erzeugung [eines] kommunistischen Bewusstseins wie zur Durchsetzung der Sache selbst eine massenhafte Veränderung der Menschen notwendig ist, die nur in einer praktischen Bewegung, in einer Revolution vor sich gehen kann; dass also eine Revolution nicht nur nötig ist, weil die herrschende Klasse auf keine andre Weise gestürzt werden kann, sondern auch, weil die stürzende Klasse nur in einer Revolution dahin kommen kann, sich den ganzen alten Dreck vom Halse zu schaffen und zu einer neuen Begründung der Gesellschaft befähigt zu werden.« Nur die Bewegung der Mehrheit im Interesse der Mehrheit kann eine andere Welt schaffen – im Gegensatz zu anderen Umwälzungen wie den bürgerlichen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts, die nur eine Minderheit durch eine neue Minderheit ersetzten. Befreiung kann also nicht stellvertretend für die Menschen erreicht werden. Eugene Debs, Arbeiteraktivist aus den USA, brachte das schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf den Punkt: »Zu lange haben die Arbeiter der Welt auf irgendeinen Moses gewartet, sie aus der Knechtschaft zu führen. Er ist nicht gekommen; er wird niemals kommen. Ich würde euch nicht hinausführen, wenn ich es könnte; denn wenn ihr hinauszufüh-
ren wäret, könntet ihr auch wieder zurückgeführt werden. Ich möchte, dass ihr begreift, dass es nichts gibt, das ihr nicht für euch selbst tun könntet.« Dementsprechend lautet eine Strophe der »Internationale«, dem berühmten Lied der Arbeiterbewegung: »Es rettet uns kein höh’res Wesen, / kein Gott, kein Kaiser noch Tribun / Uns aus dem Elend zu erlösen / können wir nur selber tun!«
Sozialismus von unten entwickelt sich aus der Praxis von sozialen Bewegungen
Die Erfahrung revolutionärer Bewegungen im 20. Jahrhundert bestätigt diese Annahmen – Emanzipation durch und in Massenbewegungen ist möglich. Eine anrührende Beschreibung dieses Prozesses gelang Georg Orwell in seinem Buch »Mein Katalonien«. Ende 1936 kam Orwell als Reporter einer britischen Zeitung nach Barcelona, um über den Spanischen Bürgerkrieg zu berichten. Mitgerissen von der Revolution, schloss er sich der Miliz der kleinen Partido Obrero de Unificación Marxista (Arbeiterpartei der marxistischen Einigung, POUM) an und kämpfte in dieser an der Front gegen d i e Faschisten. Er schreibt: »Wenn man aber gerade aus
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Chris Harman: Das ist Marxismus (Edition Aurora 1998).
England kam, hatte der Anblick von Barcelona etwas Überraschendes und Überwältigendes. Zum ersten Mal war ich in einer Stadt, in der die arbeitende Klasse im Sattel saß. Jeder Laden und jedes Café trugen eine Inschrift, dass sie kollektiviert worden seien. Man hatte sogar die Schuhputzer kollektiviert und ihre Kästen rot und schwarz gestrichen. Kellner und Ladenaufseher schauten jedem aufrecht ins Gesicht und behandelten ihn als ebenbürtig. Unterwürfige, ja auch förmliche Redewendungen waren vorübergehend verschwunden. Niemand sagte ›Senor‹ oder ›Don‹ oder sogar ›Usted‹. Man sprach einander mit ›Kamerad‹ und ›du‹ an und sagte ›Salud!‹ statt ›Buenos dias’. Trinkgelder waren schon seit Primo de Riveras Zeiten (Militärdiktatur 1923-1930, Anm. d. Red.) verboten. Eins meiner allerersten Erlebnisse war eine Strafpredigt, die mir ein Hotelmanager hielt, als ich versuchte, dem Liftboy ein Trinkgeld zu geben. Private Autos gab es nicht mehr, sie waren alle requiriert worden. Sämtliche Straßenbahnen, Taxis und die meisten anderen Transportmittel hatte man rot und schwarz angestrichen. Überall leuchteten revolutionäre Plakate in hellem Rot und Blau von den Wänden, so dass die vereinzelt übrig gebliebenen Reklamen daneben wie Lehmkleckse aussahen. Auf der Rambla, der breiten Hauptstraße der Stadt, in der große Menschenmengen ständig auf und ab strömten, röhrten tagsüber und bis spät in die Nacht Lautsprecher revolutionäre Lieder. All das war seltsam und rührend. Es gab vieles, was ich nicht verstand. In gewisser Hinsicht gefiel es mir sogar nicht. Aber ich erkannte sofort die Situation, für die zu kämpfen sich lohnte. Man hatte das Gefühl, plötzlich in einer Ära der Gleichheit und Freiheit aufgetaucht zu sein. Menschliche Wesen versuchten, sich wie menschliche Wesen zu benehmen und nicht wie ein Rädchen in der kapitalistischen Maschine. In den Friseurläden hingen Anschläge der Anarchisten, in denen ernsthaft erklärt wurde, die Friseure seien nun keine Sklaven mehr. Farbige Plakate in den Straßen forderten die Prostituierten auf, sich von der Prostitution abzuwenden.« In solchen Bewegungen stellt sich schnell die Frage der Selbstorganisation – und wird von den Menschen selbst beantwortet. So zum Beispiel während
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der »Biennio rosso«, der »zwei roten Jahren« Anfang der 1920er in Italien. Zu dieser Zeit begannen Arbeiter im ganzen Land mit spontanen Hungerrevolten, Streiks, Landbesetzungen, Demonstrationen und Straßenschlachten mit der Polizei. Um ihre Streiks zu organisieren und auszuweiten, bildeten die Arbeiter Fabrikkomitees. 1920 erreichte die Bewegung ihren Höhepunkt. Im April jenes Jahres streikten in Turin eine halbe Million Menschen, weil die Bosse mit Unterstützung der Regierung versuchten, die Fabrikkomitees aufzulösen. Im Sommer gingen die Metallarbeiter im ganzen Land in den Ausstand, weil die Unternehmer Lohnerhöhungen verweigerten. Die Bosse sperrten die Arbeiter aus. Wenige Tage später besetzten zunächst 400.000, dann eine Million Arbeiter ihre Fabriken. Den Metallern schlossen sich Arbeiter benachbarter Gaswerke und chemischer Betriebe an. In einigen Städten wählten die streikenden Arbeiter Räte, die neben den Streiks die Verwaltung der gesamten Stadt übernahmen. Die Räte stellten auch bewaffnete Gruppen von Arbeitern zusammen, die verhinderten, dass die Polizei die Streikenden niederschoss. In einigen Fabriken wurde die Produktion wieder aufgenommen, um die Streikenden zu versorgen. Die Eisenbahnergewerkschaft organisierte die Anlieferung des notwendigen Materials. Letztendlich endeten all diese Bewegungen aus unterschiedlichen Gründen in Niederlagen. Sowohl in Spanien als auch in Italien wurden sie von den Faschisten besiegt. Doch liefern sie ein anschauliches Bild dafür, wie schnell sich Gesellschaften verändern und wie Menschen ihre Geschicke selbst in die Hände nehmen können.
Menschliche Wesen versuchten, sich wie menschliche Wesen zu benehmen und nicht wie ein Rädchen in der kapitalistischen Maschine
★ ★★ Weiterlesen Hal Draper: Die zwei Seelen des Sozialismus, online unter: www.tinyurl.com/2-Seelen.
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Nur nette Geschichten aus der sozialistischen Antike? Anscheinend nicht. Lateinamerika ist seit dem Jahr 2000 Schauplatz großer Bewegungen, ob in Argentinien, Venezuela oder Bolivien. Auch hier dasselbe Phänomen: »Assembleas« (Versammlungen) brachten die Beteiligten zu Diskussionen und Entscheidungen zusammen. Noch immer gibt es in vielen vom Staat vernachlässigten Vierteln Nachbarschaftsassambleas, die praktische Selbsthilfe organisieren. Der »Sozialismus von unten« ist also kein frommer Wunsch von marx21, sondern entwickelt sich aus der Praxis von sozialen Bewegungen.
WAS MACHT DAS MARX21-NETZWERK? Im März und April fanden die »Marx is muss«-Frühjahrskonferenzen des Netzwerks marx21 statt. Wie wars?
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n fünf verschiedenen Städten fanden die »Marx is muss«-Frühjahrskonferenzen des Netzwerks statt. Den Auftakt bildete das Seminar in Düsseldorf am 14. März. Die erste größere Veranstaltung des Netzwerks in Nordhein-Westfalen. Michael Bruns berichtet, wie es in der LINKEN beworben wurde: »Wir haben auf (landesweiten) Parteiveranstaltungen, auf dem Landesparteitag, in den Kreisverbänden, in denen wir aktiv sind, sowie über E-Mails und Facebook für die Frühjahrskonferenz mobilisiert.« Insgesamt kamen etwa 50 Personen. Am besten besucht waren die Veranstaltung zu Regierungsbeteiligung und das Abendpodium mit Sahra Wagenknecht. Ähnlich viele Teilnehmer begeisterte die Frühjahrskonferenz zwei Wochen später in Freiburg. Laut marx21-Unterstützer Dirk Spöri empfanden viele die Konferenz »als sehr gelungen, nachahmenswert und motivierend.« Die meisten Teilnehmer waren Mitglied der LINKEN oder deren Jugend- bzw. Studierendenverband. Auch zwei Genossen der NPA (Neuen Antikapitalistischen Partei) aus dem französischen Mulhouse waren dabei. Den Weg zum »Marx is muss« im Hannoveraner Stadtteil Linden-Limmer fanden etwa 30 Personen. Am besten war die Auftaktveranstaltung zur Krisentheorie besucht. Bei der Vorstellung des marx21-Netzwerks gab es eine ausführliche Debatte darüber, was den linken Flügel der Partei DIE LINKE ausmacht und ob Marxisten das Lager der abtrünnigen SPDler um Klaus Ernst und Ulrich Maurer im aktuellen Flügelstreit unterstützen sollten. Die beiden Kon-
ferenzen in Frankfurt am Main und Berlin fanden kurz nach Redaktionsschluss statt. Das Netzwerk möchte die Debatten weiterführen und im Herbst erneut lokale Konferenzen anbieten.
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Premiere in Offenbach
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»Die multifunktionale Frau – Frauenunterdrückung und Kampf um Emanzipation heute«. So lautete der Titel der ersten marx21-Verstaltung in Offenbach. Der Einladung folgten 30 Gäste, die Hälfte davon Frauen. Viele Fragen aus dem Vortrag von Maja Mosler wurden im Anschluss in der Debatte aufgegriffen: »Für welche Art von Gleichheit kämpfen wir? Gleichstellung mit *Ziel: 1000 wem?« Per Oldehaver berichtet: »In der Diskussion wurde darauf hingewiesen, dass es einen großen Unterschied gibt: Zwischen dem Erreichen von Gleichheit mit einem Mann, der leitender Direktor eines multinawww.marx21.de | Mai/Juni 2010Konzerns | Nr. 15Schwerpunkt 57 tionalen ist, und einem Krankenhauspförtner.«
Kolumne
Befreit, aber nicht frei
A Arno Klönne ist emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Paderborn und Autor zahlreicher Bücher zur Geschichte der Arbeiterbewegung. Er schreibt regelmäßig für marx21.
ls nach dem Untergang des deutschen Faschismus in den vier Besatzungszonen und in Berlin das politische Leben wieder Form annahm, setzte sich binnen weniger Monate ein Parteienschema durch, das zu wesentlichen Teilen an die Verhältnisse in der Weimarer Republik erinnert: Eine kommunistische und eine sozialdemokratische Partei, in feindseliger Konkurrenz; daneben eine liberale Partei und eine christliche, diese nun allerdings – anders als die Zentrumspartei vor 1933 – nicht als nur katholische Formation, sondern als »Union«, die auch Protestanten anzog. In der sowjetischen Besatzungszone wurden dann KPD und SPD zur SED zusammengefügt und Bauernpartei sowie Nationaldemokratische Partei (NDPD) gegründet. In den westlichen Besatzungszonen entstanden etliche nationalkonservative Parteien rechts von der CDU/CSU, auch spielten die Bayernpartei und das Rest-Zentrum für eine Weile noch in der Parteienkonkurrenz mit. Vorherrschend war und blieb in der Bundesrepublik aber für lange Zeit das Spektrum »christlich / liberal / sozialdemokratisch / kommunistisch«, wobei die KPD immer mehr an Bedeutung verlor. In der DDR etablierte sich über die Jahrzehnte das »Block«-System; SED, CDU, Liberal-Demokraten (LDPD), Bauernpartei, NDPD. Nach dem Anschluss Ostdeutschlands an die Bundesrepublik trat hier die SPD wieder auf, die LDPD verwandelte sich in die FDP, und aus der SED wurde zunächst einmal die PDS. Und inzwischen existiert, durch den Zusammenschluss von PDS und (im Schwerpunkt westdeutscher) WASG die Partei DIE LINKE. Lässt sich also, von der Partei Die Grünen als Neuerung abgesehen, ein historisch langfristiges, dominantes deutsches Parteienschema konstatieren: zwei (mehr oder weniger) linke Parteien, eine christlich-bürgerlich-konservative Partei und eine liberale Partei? Bemerkenswerterweise war dieses Schema für kurze Zeit durchbrochen, und zwar 1945/46, in der Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs nach dem Zusammenbruch des deutschen Faschismus. Die-
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Kolumne
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ser Versuch einer neuen Konstruktion des parteipolitischen Lebens betraf in erster Linie diejenigen Kräfte, die aus der Tradition der Arbeiterbewegung kamen. Schon in den Tagen der Kapitulation der Dönitz-»Reichsregierung«, der das hitlerdeutsche System seine politische Konkursverwaltung überlassen hatte, regten sich vielerorts in der deutschen Bevölkerung erste politische Initiativen. Sie hatten einen »Neubau« der Demokratie, eine »Neuordnung« der gesellschaftlichen Entscheidungsstrukturen im Sinne: »Antifaschistische Ausschüsse«, »Politische Komitees«, »Einheitsorganisationen«, »Betriebsausschüsse« und andere Ansätze politischer und sozialer Selbstverwaltung. Vieles daran hatte Ähnlichkeiten mit der Rätebewegung in Deutschland 1918/19. Dass die aus der Katastrophe des deutschen Faschismus und den Trümmern des Krieges neu zu bauende Gesellschaft nach 1945 »jenseits des Kapitalismus« ihren Ort haben sollte, schien diesen frühen demokratischen Initiativen selbstverständlich. In jener Zeit sah sich sogar die CDU genötigt, der kapitalistischen Gesellschaftsordnung abzuschwören. Interessant (und später meist vergessen) ist, dass alternative Formen der politischen und sozialen Organisation angestrebt und ausprobiert wurden. Bei aller Vielfalt der regionalen Initiativen lassen sich folgende Grundlinien erkennen: Erstens sollten die politischen und weltanschaulichen Aufspaltungen der Arbeiterbewegung überwunden werden. Dies bedeutete vor allem: keine Feindschaft mehr zwischen Sozialdemokraten, Linkssozialisten und Kommunisten, stattdessen »Aktionseinheit« zwischen ihnen und womöglich organisatorischer Zusammenschluss; Einbeziehung auch des vor 1933 weitgehend an die Zentrumspartei gebundenen Arbeiterkatholizismus, der im Rheinland und in Westfalen stark verankert war. Zweitens sollten die Gewerkschaften »Einheitsorganisationen« werden. Dies war damals nicht nur parteipolitisch und weltanschaulich gemeint, sondern auch so, dass gesamtgewerkschaftliche Ziele den Vorrang haben sollten gegenüber besonderen Interessen in den einzelnen Wirtschaftsbereichen, Branchen und
© wikimedia / Cpl Donald R. Ornitz, US Army
Befreites KZ Mauthausen: Die nach 1945 neu zu errichtende Gesellschaft sollte »jenseits des Kapitalismus« aufgebaut werden
Berufen. Drittens sollte die betriebliche Interessenvertretung nicht getrennt sein von den politischen Projekten und Aktivitäten der Arbeiterbewegung. »Demokratie auch in der Fabrik, in der Zeche, im Büro« war die Zielvorstellung. Hinter alledem stand die bittere Erfahrung, dass die deutsche Arbeiterbewegung mit ihren vor 1933 bestehenden Strukturen und Politikmustern nicht in der Lage gewesen war, dem Faschismus den Weg zu versperren. Ausgenommen die Gründung des DGB als »Einheitsgewerkschaft« (freilich nur im beschränkten Sinne) sind die Ansätze einer »anderen Arbeiterbewegung« in Deutschland unmittelbar nach dem Faschismus ohne historischen Erfolg geblieben. Dies lag nicht nur an dem Gruppenegoismus und dem Beharrungsvermögen vieler »Altfunktionäre« aus den Organisationen der Weimarer Republik. Entscheidend war, dass die Besatzungsmächte das Sagen hatten und ihren jeweiligen Machtinteressen folgten. Weder die westlichen Besatzungsmächte, angeführt von den USA, noch die sowjetische Besatzungsmacht waren bereit, einer Bewegung von unten in der deutschen Arbeiterbevölkerung und ihren Organisationsansätzen freien Raum zu geben.
Es ging ihnen dabei nicht nur um Vorsorge gegenüber befürchteten neonazistischen Unterwanderungen. Maßgeblich war der Wille, »Basisdemokratie« im besetzten Deutschland nicht zuzulassen. Die sowjetische Besatzungsmacht wollte auch die deutsche Linke strikt unter Kontrolle halten. Die westlichen Besatzungsmächte unter Regie der USA hatten nicht die Absicht, eine antikapitalistische Linke in ihrem Terrain zu dulden. Die historischen Umstände hatten diejenigen Deutschen, die eine »andere Arbeiterbewegung« wollten, in eine Position der Schwäche gebracht. Anders als beim Systembruch 1918 war die Niederlage des deutschen Imperialismus 1945 allein durch die militärische Kraft der gegnerischen Staaten und nicht auch durch eine revolutionäre Bewegung in Deutschland zustande gebracht worden. Dies ist in der Geschichte also gescheitert – aber das heißt nicht, dass die Motive und Ideen einer »anderen Arbeiterbewegung« in Deutschland gleich nach dem 8. Mai 1945, häufig im Widerstand oder in den Konzentrationslagern schon vorgedacht, für die Linke in der Gegenwart des Nach- und Neudenkens nicht wert seien. Da wurden Fragen aufgeworfen, die noch immer nicht beantwortet sind. www.marx21.de | Mai/Juni 2010 | Nr. 15
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Elmar Altvater
Marx
neu Entdecken Warum sich mit Marx beschäftigen? Wir folgen keiner Mode, die von jenseits des Atlantik kommt, weil an USUniversitäten, anders als hierzulande, immer noch Marx gelehrt wird und nicht die letzten Traditionen der Marxforschung und kritischen Theorie ausgemerzt werden. Nein, es geht um die Befähigung zur Kritik der Gesellschaft, zur theoretisch reflektierten politischen Praxis. Der französische Sozialwissen-
schaftler Pierre Bourdieu hat einmal die globalisierungskritische Bewegung als eine große Kampagne der »ökonomischen Alphabetisierung« bezeichnet. Tatsächlich ist es schwer, die Krisen des Kapitalismus, die Entwicklung auf den globalen Arbeitsmärkten, die Auseinandersetzungen um die Energieversorgung, die Handelskonflikte oder den militärischen Zugriff auf ganze Weltregionen ohne die »Kritik der politischen
Ökonomie« – das ist der Untertitel des Marxschen »Kapitals« – zu verstehen und politisch relevante Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Es gab und es gibt gute Gründe, sich in kritischer Auseinandersetzung geeignete Begriffe zu erarbeiten, um sinnvoll politisch eingreifen zu können. In diesem Sinne hat marx21 zusammen mit Elmar Altvater die Serie »Marx neu entdecken« erarbeitet.
Dave Killingback
Teil 11 der Serie
Die Marx’sche Staats theorie und was man heute damit anfangen kann Das Verhältnis zwischen ökonomischer und politischer Macht, Staat und Gewalt hat eine Geschichte, die von Marx in vielen historischen Illustrationen allgemeiner Entwicklungstendenzen und in besonderem Maße in dem Kapitel zur »ursprünglichen Akkumulation« des Kapitals aufgegriffen wird. Das Kapital kommt durch »schmutzige Haupt- und Staatsaktion, die mit dem Exploitationsgrad der Arbeit die Akkumulation des Kapitals polizeilich steigert« (MEW 23: 770) zur Welt. Ohne die politische, die polizeiliche und militärische Macht des Nationalstaats hätte es weder die Plünderung der Kolonien, die Vertreibung der Bauern vom Land und ihre Verwandlung in eigentumslose Proletarier mit Hilfe von »grotesk-
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Marx neu Entdecken
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terroristischen« Blutgesetzen (MEW 23: 765) noch die Entstehung der neuen Pächterklasse oder die Bereicherung der frühen Kapitalisten im Zuge der Privatisierung einst öffentlicher Gemeingüter oder durch die Staatsschulden gegeben. »Gewalt ist der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht«, auch der kapitalistischen Gesellschaft. Marx fügt aber erläuternd hinzu, um jede Loslösung von den politisch-ökonomischen Grundlagen zu vermeiden: Die Gewalt »selbst ist eine ökonomische Potenz« (MEW 23: 779). Marx und Engels, der sich ja in scharfsinnigen Analysen besonders mit den Kriegen seiner Zeit auseinandersetzte, kommen gar nicht darum herum,
sich mit den politischen Dimensionen der Macht, mit dem Staat und seinen Institutionen, mit Armee, Steuerpolitik und Staatsanleihen zu beschäftigen. Marx und Engels haben die Ökonomie immer als politische Ökonomie verstanden und haben daher auch das Verhältnis von Kapital und Staat oder die Regulation des Verhältnisses von Lohnarbeit und Kapital in den rudimentär entwickelten sozialstaatlichen Einrichtungen ihrer Zeit in ihre Überlegungen einbezogen. Doch wie muss auf überzeugende Weise die Begriffsentfaltung von der einzelnen Ware nicht nur zum Geld und zur Kategorie des Kapitals, sondern auch zur Kategorie des Staates fortgesetzt werden? Der Reichtum kann in der Form des Gebrauchswerts genossen und in der Form des Tauschwerts gemehrt, also akkumuliert werden, insbesondere wenn der Wert sich in Geld verwandelt. Dann erscheint die Gesellschaftlichkeit, also das Allgemeine der kapitalistischen Produktionsweise, in der Form des Geldes. »Gold und Silber, wie sie aus den Eingeweiden der Erde herauskommen, sind zugleich die unmittelbare Inkarnation aller menschlichen Arbeit. Daher die Magie des Geldes« (MEW 23: 107), die erst wieder im finanziellen Krach, wie wir ihn derzeit erleben, entzaubert wird. Doch damit eine schwere Finanzkrise ausbrechen kann, muss das Geld schon seine goldige und silbrige Gestalt abgestreift und sich mit Papier und elektronischen bits und bytes eingekleidet haben. Letztere sind eigentlich wertlos, weil in ihnen (fast) keine Arbeit steckt, es sei denn sie erhalten einen staatlich gesetzten und garantierten Zwangskurs mit der Versicherung, dass mit diesem Geld Schuldverpflichtungen ultimativ eingelöst werden können. Jeder kann auf diese politischen Zusicherungen vertrauen. Doch dafür bedarf es eines die Allgemeinheit verkörpernden und repräsentierenden Institutionensystems, das mit Zwangsgewalt ausgestattet ist, des Staates. Vor allem die Zentralbank übernimmt die Verantwortung für den Geldwert.
teressen des Ganzen, und nicht den Interessen der einen oder anderen Vertragspartei verpflichtet ist. Der Staat ist aber nur in der Theorie ein Garant der Ordnung. Je mehr sich in der neoliberalen Welt der Staat zurückzieht, desto mehr können in der Praxis private Einzelinteressen ausgreifen und in unterschiedlichster Weise öffentliche, der Allgemeinheit verfügbare Räume ihrem privaten Regime und Interesse unterwerfen: durch Privatisierung öffentlicher Güter und Dienste, durch Kauf von politischen Entscheidungsträgern, durch gewaltförmige Aneignung von natürlichen und gesellschaftlichen Reichtümern. Dass der Staat einen Ordnungsrahmen für die Ausübung von Eigentums- und Aneignungsrechten sichert, hat eine lange bürgerliche Tradition seit John Locke und Adam Smith. Das ist keine Marx’sche Entdeckung. Eigentumsrechte sind exklusiv und daher bedarf es der Gewalt, mit der nicht Berechtigte von Sachen ausgeschlossen werden, an denen sie kein Recht haben. Die Staatsgewalt schützt das Eigentum, das ist auch neoliberales Selbstverständnis. Ohne Ordnung, die der Staat mit allen seinen Gewalten garantiert, funktioniert keine auf privatem Eigentum beruhende Ordnung. Milton Friedman hat in seinem Klassiker »Capitalism and Freedom« aus dem Jahre 1962 (dafür hat er den Nobelpreis erhalten) eine Lanze für »law and order« gebrochen. Deshalb haben die deutschen Neoliberalen ihrem Hausorgan schon in den 1940er Jahren den Namen »Ordo« gegeben.
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Doch das ist nicht alles, was nur der Staat in der bürgerlichen Gesellschaft garantieren kann. Besonders wichtig sind Eigentumsrechte. Nur wenn diese wechselseitig respektiert und zur Not auch gegen gesellschaftlichen Widerstand durchgesetzt werden können, haben Verträge zwischen individuellen Rechtssubjekten eine solide Grundlage. Verträge werden bei jedem Tauschakt von Waren geschlossen, manchmal explizit, wenn es sich um größere Transaktionen handelt, zumeist im Alltagsleben implizit und gedankenlos, wenn wir auf dem Wochenmarkt ein Kilo Äpfel kaufen oder im Friseursalon die Haare schneiden lassen. Dass hier Verträge geschlossen worden sind, kommt erst im Streitfall zu Bewusstsein. Dann benötigt man eine neutrale Instanz der Streitschlichtung, die nach verbindlichen Regeln, nach Gesetz und Recht operiert und den Inwww.marx21.de | Mai/Juni 2010 | Nr. 15
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Marx hat diese Argumentationslinie, die zu einer Staatstheorie ausgebaut werden könnte, nicht sehr weit verfolgt. Er plante über das »Kapital« hinaus ein Buch über den Weltmarkt und über den Staat. Er ist dazu nicht gekommen. Später ist von Paschukanis in den 1920er Jahren und in der »Staatsableitungsdiskussion« in den 1970er Jahren versucht worden, diese Lücke zu füllen (vgl. Paschukanis 1966). Darin sollten die Kategorien des Politischen in ähnlich systematischer Weise funktional »abgeleitet« werden wie die Kategorien der politischen Ökonomie. Dabei haben sich Grenzen dieses Ansatzes gezeigt. Zu wenig wird berücksichtigt, dass der Staat aus einer Vielzahl von Institutionen auf verschiedenen Ebenen besteht, die sehr unterschiedliche und nicht selten gegensätzliche Perspektiven verfolgen. Es gibt also innerhalb des Staates und seiner Apparate Konflikte. Darüber hinaus aber ist der Staat eine Arena der Klassenauseinandersetzungen, die in der »Zivilgesellschaft« und in der Ökonomie ihren Ursprung haben. Das ist der Grund für das in den 1970er Jahren erneut aufkommende Interesse an der Theorie von Antonio Gramsci, der den Staat als einen Komplex repressiver Staatsorgane und zivilgesellschaftlicher Einrichtungen und Organisationen verstand. Die Auffassung vom Staat als einem Instrument, das in einer Demokratie, in der die Arbeiterklasse die Mehrheit hat, für ihre Interessen genutzt werden kann, wird zurückgewiesen. Der Staat ist kein »Machtcontainer«, der in »Gesellschaften, Ökonomien und Kulturen« quasi herumsteht, und aus dem sich die Findigsten und Mächtigsten erstens bedienen können und der zweitens in Gesellschaft und Ökonomie interveniert (»Staatsinterventionismus«). Vor allem Nicos Poulantzas hat betont, dass zwar der Interventionsstaat mit seinen politischen Institutionen aus sozialen Auseinandersetzungen hervorgegangen und auf die aktive Mitarbeit der Bürgerinnen und Bürger angewiesen sei (Poulantzas 1978). Eine hegemoniale Ordnung bewegt sich zwar durch soziale Konflikte, braucht aber, so könnte man sagen, auch den Konsens, vielleicht nur einen Basiskonsens, um nicht in Fragmente zu zerbrechen. Diese Gefahr ist groß, wenn Gesellschaften durch den Markt gesteuert werden, weil dann Individuen sich nicht zu Kollektiven »gesellen« können, sondern vereinzelte Marktteilnehmer bleiben. Für den gesellschaftlichen Zusammenhalt sorgen nach Gramsci die Institutionen der Zivilgesellschaft. Doch gleichzeitig ist der Staat Zentrum der Machtausübung, der (repressiven) Kontrolle des gesellschaftlichen Zu-
sammenlebens. Hier treffen sich Poulantzas und reformistische Staatstheoretiker, die wie Rudolf Hilferding mit der »Eroberung« der Staatsapparate durch die proletarischen Mehrheiten in demokratischen Abstimmungen rechnen. So ist es nicht gekommen, und so kann es nicht kommen, wie mit höchst unterschiedlichen Argumenten Luciano Canfora in seiner »kurzen Geschichte der Demokratie«, Michel Foucault mit seinem Ansatz der »gouvernementalité« oder auch Henri Lefèbvre begründet haben. Mit der »Eroberung« der Schaltstellen der Macht ist ja das System nicht ausgewechselt, so letzterer. Lediglich das steuernde Personal ist ausgetauscht (Lefèbvre 1974). Jüngst hat John Holloway versucht, nicht zuletzt unter dem Eindruck des gescheiterten Sozialismus des 20. Jahrhunderts, eine theoretisch mit Marx begründete Strategie zu entwickeln, wie die Gesellschaft verändert werden kann, ohne die Macht zu ergreifen. Der »Machtcontainer« mag stehen wo er will, er mag offen oder verschlossen sein – mit seiner Eroberung ist, so Holloway, nichts gewonnen (Holloway 2002). Überzeugender seien die Versuche der Zapatistas in Mexiko, »fragend voranzuschreiten« und die konkreten Lebensbedingungen vor Ort zu verändern, in Selbstverwaltung zu verbessern, und so aus der Subalternität benachteiligter Völker und Klassen herauszufinden. Was auf dem Land in Chiapas exemplarisch praktiziert wird, ließe sich auch in den Städten als ein »urbaner Zapatismus« realisieren. Doch hat sich gerade in Mexiko bei den Präsidentschaftswahlen 2006 gezeigt, wie ein urbaner Zapatismus im Krieg von Staatsorganen und Drogenkartellen zerrieben wird. Dann zeigt es sich, wie wichtig auch für soziale Bewegungen der Zugang zu Ressourcen im weitesten Sinne ist, um das Alltagsleben, ja das Überleben überhaupt organisieren zu können. Das hat sich sehr deutlich in Bolivien, aber vor allem in Argentinien nach der schweren Krise von 2001 gezeigt (vgl. Geiger 2010). Räume etwa können von sozialen Bewegungen nicht angeeignet werden, wenn dies die Staatsgewalt in Gestalt von Polizei und Militär verhindert. Auch sind es in aller Regel der nationale Staat oder internationale Governance-Strukturen, die zu sozialpolitischen Maßnahmen befähigt sind, auf die in Zeiten der Not mehr oder weniger große Bevölkerungsgruppen angewiesen sind. Die Ernährungsrevolten der vergangenen Monate richten sich in aller Regel gegen und zugleich an den Staat, um eine Verbesserung der Ernährungslage oder der Verteilung von Land zu erreichen. www.marx21.de | Mai/Juni 2010 | Nr. 15
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★ ★★ Weiterlesen
Margot Geiger (2010): Umkämpftes Territorium. Ökonomie, Staat und soziale Bewegungen im Neoliberalismus am Beispiel Argentinien, Münster (im Erscheinen).
Schon 1970 haben in der Staatsableitungsdebatte Wolfgang Müller und Christel Neusüss die »Sozialstaatsillusion« der Sozialdemokratie treffend kritisiert. Was sie vor 40 Jahren nicht berücksichtigen konnten, waren die Krisen des globalisierten Kapitalismus, die inzwischen das Überleben in vielen Weltregionen gefährden. In dieser Lage ist es keine Illusion, vom Staat Eingriffe und Unterstützung zu erwarten. Doch ist es klar, dass der Staat sozial- und umweltpolitische Eingriffe dieser Qualität nur in Folge von Klassenauseinandersetzungen erreicht, die im Staat ausgetragen werden und in denen den staatlichen Institutionen – wie Marx schreibt – die gesellschaftlichen Notwendigkeiten »aufgeherrscht« werden müssen, angefangen bei der Verkürzung der Länge des Arbeitstages und nicht endend bei den staatlich zu setzenden Normen von Hygiene in der Fabrik. Die Normierung ist Resultat eines Kampfes, und dieser Kampf (»dieser langwierige, mehr oder minder versteckte Bürgerkrieg zwischen der Kapitalistenklasse und der Arbeiterklasse«, MEW 23: 316) endet zeitweilig durch die »Institutionalisierung des Klassenkonflikts«, durch Etablierung reformistischer Kompromisse. Diese sind auf der einen Seite Erfolge, weil sich die Lebensbedingungen von Teilen der Arbeiterklasse und von subalternen Schichten verbessern, auf der anderen Seite aber befördern sie die Integration in das gesellschaftliche und staatliche Institutionensystem, stabilisieren also die Herrschaft des Kapitals. Die »Ambivalenz des Reformismus« ist eine Begleiterscheinung von sozialen Bewegungen und ihren Auseinandersetzungen.
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Die Zitate im Text stammen aus: Karl Marx und Friedrich Engels: Werke, 43 Bde., Berlin 1956-1990 (abgekürzt: MEW). Eugen Paschukanis (1966): Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, Frankfurt am Main (Original: Moskau 1924; dt. 1929). Nicos Poulantzas (1978): Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Sozialistische Demokratie, Hamburg. Henri Lefèbvre (1974): Die Zukunft des Kapitalismus. Die Reproduktion der Produktionsverhältnisse, München. John Holloway (2002): Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen, Münster. Tobias ten Brink (2008): Geopolitik. Geschichte und Gegenwart kapitalistischer Staatenkonkurrenz, Münster.
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Marx hatte ein überzeugendes Arbeitsprogramm, auch wenn er es nicht absolvieren konnte: Ökonomie, Staat und Weltmarkt im Kontext zu betrachten. Im Zeitalter der Globalisierung kann man es weiter entwickeln. Denn die Globalisierung bietet ein Koordinatensystem, in dem sich die Nationalstaaten mit ihren verschiedenen Kapitalismen verorten und in einer »Geoökonomie« miteinander konkurrieren. In einer Geoökonomie, so viele Liberale, gibt es keine Feinde. Es herrscht die multiple Logik der Konkurrenz auf dem Weltmarkt und sie verdrängt die zwischenstaatliche Logik von Freund und Feind, in der Konservative das Wesen des Politischen erblicken. Damit es zwischen konkurrierenden Marktteilnehmern zu keinen Konflikten kommt, müssen jedoch Ressourcen und Märkte reichhaltig zur Verfügung stehen. Ist das nicht der Fall, gelangt die friedliche Konkurrenz an Grenzen; jenseits werden Konflikte um knappe Ressourcen ausgetragen. Darin geht es dann immer um Territorien, um Rohstoffgebiete, Öllagerstätten, Pipelinetrassen etc. Deren Schutz wird zur Aufgabe von Nationalstaaten, die sich nun im Pluriversum der vielen Nationalstaaten befinden und mit sehr unterschiedlichen Macht- und Militärapparaten ausgestattet sind. Nun zeigt es sich, dass eine moderne Staatstheorie in der Marx‘schen Tradition vielen Anforderungen genügen muss. Sie muss erstens nicht nur das Verhältnis von Politik und Wirtschaft, von Macht und Akkumulation, von politischer und ziviler Gesellschaft in Rechnung stellen. Sie darf zweitens nicht nur über den Ort der Macht räsonieren und auch nicht nur die im Staatsapparat selbst, in der Arena der Klassenkonflikte ausgetragenen Konflikte berücksichtigen, sondern sie muss drittens auch die Konflikte zwischen nationalen Staaten analysieren. Diese können sich tragischerweise, wie wir aus der Geschichte wissen, bis zum Krieg zuspitzen. Zwar können sie auch nach dem Muster der für den Nationalstaat schon erwähnten »Institutionalisierung des Klassenkonflikts« durch die Bildung internationaler Institutionen zumindest zeitweise stillgestellt werden. Es ist aber auch möglich, dass ökonomisch und politisch mächtige Parteien des Konflikts ihre Interessen durchsetzen. Das wäre der neue geopolitische Imperialismus (vgl. ten Brink 2008). Da geht es dann weniger um die ökonomische Konkurrenz auf Märkten als um die Macht von Nationalstaaten im Pluriversum der vielen konkurrierenden Nationalstaaten.
Elmar Altvater ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. Er arbeitet im wissenschaftlichen Beirat von attac und ist Mitglied von DIE LINKE.
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»Das bürgerliche Denken ist vergammelt« Der Autor Dietmar Dath im Gespräch mit marx21 über Luxemburg, Lenin und die Linke als Erbin der Aufklärung
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u hast dir in deinem letzten Buch mit Rosa Luxemburg eine ausgewiesene Revolutionärin vorgenommen. Warum? Weil der Ist-Zustand der Welt eine Beleidigung der menschlichen Existenz und Intelligenz ist. Ein sehr viel interessanteres Leben als dieser Schwachsinn, den wir heute haben, wäre möglich. Ich interessiere mich dafür, was geht, was man machen kann. Und ich behaupte einfach mal, man könnte all diese Dinge machen, die ich mir wünsche und die sich Rosa Luxemburg gewünscht hat und Marx und Lenin und viele andere.
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ehaupten kann man vieles, der Beweis steht jedoch aus. Ein Bild: Zwei Fußballteams treten gegeneinander an. Das eine hat eine Superstrategie, kommt aber aus der »Dritten Welt« und ist total unterernährt. Dieser Mannschaft werden dann noch die Knie zertrümmert, während der Schiedsrichter woanders hinguckt. Die Mannschaft verliert, klar. Damit ist aber ihre Strategie noch nicht widerlegt. Wenn sozialistische Pläne scheitern, weil sozialistisch denkende Menschen niedergeknüppelt und erschossen, ausgehungert und strategisch isoliert werden, dann ist dadurch nichts gezeigt, bewiesen oder widerlegt. Wenn ich jemandem den Mund verbiete, dann kann ich nicht herausfinden, ob er recht hat. Ich fühle mich weder von den realgeschichtlichen noch von den geistesgeschichtlichen
Dietmar Dath
Zumal es an Alternativen mangelt. Wer überhaupt noch irgendetwas Liberales retten will, muss es soweit radikalisieren, dass es sozialistisch wird. Selbst die allerprimitivsten Menschenrechte, Privatsphäre, Schutz vor Folter, Mindestlohn, müssten heute von der Linken gegen die Bürgerlichen durchgesetzt werden.
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Dietmar Dath ist Journalist und Autor zahlreicher Bücher. Von 1998 bis 2000 war er Chefredakteur der Musikzeitschrift Spex, von 2001 bis 2007 Feuilletonredakteur der FAZ. Sein Roman »Die Abschaffung der Arten« (Suhrkamp 2008) kam auf die Shortlist zum Deutschen Buchpreis. Zuletzt veröffentlichte er ein Buch über Leben, Werk und Wirkung von Rosa Luxemburg.
Dingen, die gegen den Sozialismus vorgebracht wurden, hinreichend widerlegt. Ich finde etwas richtig, und es wird die ganze Zeit sabotiert. Dann bin ich natürlich dafür, dass man es weiter probiert und die Sabotagequellen ausschaltet.
ie Linke ist jetzt Hüterin der bürgerlichen Errungenschaften, der Aufklärung? Ja, wer sonst? Das Bürgertum und das bürgerliche Denken haben alles verraten, was vor und noch ein Weilchen nach 1789 bürgerliches Denken war, dass sie nicht mehr in der Lage sind, die einfachsten bürgerlichen Errungenschaften zu verteidigen. Es gibt doch niemanden mehr in dieser bürgerlichen Medienwelt, der erklären kann, was die großen bürgerlichen Revolutionäre wie Thomas Paine, Diderot oder Voltaire unter Meinungsfreiheit verstanden haben. Sie wissen nicht mehr, was diese bürgerlichen Freiheitsrechte überhaupt sind, wozu sie gut sind, wie das gedacht war. Das bürgerliche Denken ist vergammelt. Die mächtigste bürgerliche Nation, die wir im Moment haben, führt so einen feudalen Müll wie die Folter wieder ein, dass geistert dort ganz normal durch Unterhaltungsmedien – es ist wirklich nichts mehr übrig. Der Sozialismus muss die bürgerlichen Freiheitsideen, das was emanzipatorisch daran ist, in sich aufnehmen. Rosa Luxemburgs Gegner in der SPD haben das ja oft andersrum diskutiert: Je bürgerlicher, par-
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lamentarischer und staatstragender die Sozialisten sind, desto besser können wir den Sozialismus in die Gesellschaft tragen. Ich bezweifle das. Ob der Kapitalismus allerdings zwangsläufig in den Weltuntergang führt, weiß ich nicht – dafür hat sich dieses System doch als zu widerstandsfähig und flexibel erwiesen. Ich möchte jedenfalls auch nicht auf den Weltuntergang warten, bevor ich etwas tue. Andererseits kommen beim gegenwärtigen Wirtschaften viel eher großer Kladderadatsch, Katastrophen und ungeheure Wertvernichtung heraus als Vernünftiges. Dementsprechend soll man auch nicht darauf warten, dass auf dem bürgerlichen und auf dem reformistischen Weg die Welt besser wird.
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enin ist komplett out, Marx zumindest als Kapitalismuskritiker teilrehabilitiert, Rosa Luxemburg hingegen auch außerhalb der Linken wohlgelitten. Warum eigentlich? Luxemburg wurde, auch von den Bürgerlichen, gerne als Kronzeugin gegen die Russische Revolution genommen, weil sie als Marxistin glaubwürdig ist und mit Lenin nicht immer einig war. Deshalb wurde sie auch zum Bezugspunkt für sich als Marxisten verstehende unruhige Geister im Osten und innerparteiliche Kritiker der kommunistischen Parteien im Westen. Man darf nicht vergessen, dass es ja auch schlimm gewesen sein muss, sich im intellektuellen Umfeld von Organisationen wie der französischen Kommunistischen Partei zu bewegen. Dieses Opfern von Inhalten für vermeintliche taktische Vorteile. Da geht dann ein linker Student hin und sagt: »Hört mal, dass find ich aber nicht gut, dass ihr die Algerier im Unabhängigkeitskampf im Stich lasst.« Und dann wird ihm von einem Funktionär geantwortet: »Was sollen wir machen, die Arbeiterklasse ist nun mal rassistisch.« Marx hat mal das lateinische Zitat verwendet: Et propter vitam vivendi perdere causas – um des Überlebens willen die Gründe zum Leben preisgeben. Das haben die kommunistischen Parteien oft gemacht. Ich kann schon verstehen, dass man sich davon intellektuell freischwim-
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men will. Dieser Ausstieg geschah dann oft über Rosa Luxemburg oder auch Antonio Gramsci, also über große Niederlagengestalten, bei denen sich irgendwo etwas finden lässt, was zweifelt oder sagt: Der Bolschewismus ist vielleicht doch nicht das Nonplusultra. Das hat allerdings auch niemand behauptet, der halbwegs ernsthaft damit umgeht, höchstens die dumpfsten kommunistischen Parteipfaffen. Aber selbst Stalin pflegte zu sa-
»Natürlich kann ich sagen: ›Nichts wird sich ändern‹ – bloß brauche ich dann morgens nicht das Bett zu verlassen« gen: Je nach Land und Lage ist zu kämpfen – nicht nach Leninlehrbuch.
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st Rosa Luxemburg also doch die »sanfte Marxistin«? Wenn jemand ein reiches theoretisches Werk hinterlässt, dann sind jede Menge Sichtweisen darauf möglich, die einander bekämpfen können. Ich erhebe auch nicht den Anspruch, der Chefausleger zu sein. Doch wenn man sich die Spur ihres Lebens anschaut, dann kann man plausibel finden, dass dort ordentlich Militanz drinsteckt und auch die Bereitschaft, sich von den politischen Ereignissen belehren zu lassen. Nehmen wir die Organisationsfrage: Luxemburg und Lenin haben eine Diskussion über die richtige Organisationsform geführt – aber nicht abstrakt-moralisch, sondern auf dem Niveau der konkreten historischen Umstände. Luxemburg hat nicht gesagt: »Zentralistische Organisationen sind scheiße, weil irgendwie unfrei.« Sie hat Argumente aus Situationen heraus entwickelt, zum Beispiel aus den Erfahrungen der Russischen Revolution von 1905, der spontanen Entwicklung von Massenstreiks ohne zentrale politi-
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sche Führung. Vor diesem Hintergrund hat sie auf großartige Festlegungen bezüglich Organisationsstrukturen von Revolutionären verzichtet. Lenin hingegen hat sich irgendwann für eine Organisationsstruktur entschieden und die dann eisern durchgefochten. Das ist auf einer Ebene bewundernswert, weil er richtig eingeordnet hat, wie wahnsinnig wichtig diese Organisationsfrage ist. Doch wir sollten uns nicht verführen lassen, aus einem konkreten historischen Verlauf, nämlich dem traurigen der deutschen Revolution 1918, wiederum ewige Gesetze zu konstruieren, wie »richtige« Organisation auszusehen hat. Ich würde mir wünschen, dass überhaupt dieses Niveau der Debatte wiederkommt. Dass wir die moralischen Fesseln sprengen, die dieser Diskussion angelegt werden. Es wird immer gesagt: Autorität ist an sich schlecht. Es kommt aber darauf an, wessen Autorität, wie sie sich rechtfertigt, wie schnell sie wieder beseitigt werden kann und ob man historisch den Spielraum hat, anders zu handeln. Wenn das Haus brennt oder das Schiff sinkt, wird man um Befehlsketten nicht herumkommen. Das Traurige ist doch, dass die revolutionären Situationen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts immer so waren, dass die Revolutionäre wahnsinnig wenig Spielraum hatten. Die Entscheidungen lagen theoretisch in einem sehr großen Ermessensspielraum. Praktisch war es aber immer sehr knapp. Beim Nudelkochen gibt es zwischen al dente und labbrig noch ordentlich Platz. Hier reden wir aber vom Dünsten eines Fünf-Sterne-Fisches – eine Sekunde länger auf dem Bratrost und er ist nur noch ein Stück Scheiße. Eine Woche zu spät die Partei gegründet, eine Woche zu spät gespalten und du wirst zusammengeschossen auf der Straße. Das ist unglaublich traurig.
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ie Polemik in der Sache zum Sieg führen, aber den politischen Streit verlieren – so beschreibst du Rosa Luxemburgs Arbeit in der SPD. Was meinst du damit? Die SPD-Parteiführung hat überhaupt nicht gezögert, ihr Lorbeeren hinzule-
© Gianluca Costantini / flickr.com
gen – bis hin zu ihrer Integration in die Schulungsarbeit an der Parteischule. Gleichzeitig wurde aktiv verhindert, dass aus ihren theoretischen Einsichten irgendwelche praktischen Konsequenzen dafür folgten, wie sich die Partei verhält. Sie war das marxistische Feigenblatt der Partei. Spätestens mit der Zustimmung zu den Kriegskrediten 1914 konnte die Parteiführung ihr aber auch nicht mehr zugestehen, dass sie theoretisch Recht hat. Irgendwann hört der Spaß auf – nämlich dann, wenn geschossen wird.
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IE LINKE ist »die neueste Wiedergeburt der Weimarer USPD«, schreibst du. Wie steht du zu diesem Wiedergänger?
Ich hab DIE LINKE gewählt, weil diese Leute den verbliebenen sozialen Restbestand verteidigen. Das mag man nostalgisch schimpfen, ist aber erst mal richtig. Ich weiß nicht, ob Lafontaine für die Würde oder sonst was kämpft – Tatsache ist, dass er den richtigen Leuten Schwierigkeiten macht. Ob die Gründung der LINKEN ein historischer Fortschritt war, hängt davon ab, was danach kommt. Wenn’s klappt, war’s ein Fortschritt, wenn’s scheitert, war’s vielleicht ein Schritt zurück. Ansonsten: keine Illusionen, und zwar in beide Richtungen. Keine Illusion, dass durch DIE LINKE die Arbeit schon getan wäre. Aber auch keine Illusion, dass die Partei, nur weil sie eine reformistische ist, nichts leisten kann. Stellen wir uns folgen-
de Situation vor: Chile ’73, Allende wird ins Fußballstadion abgeführt und es gibt dann noch ein paar bewaffnete Linke, die aber sagen: »Nein, für diesen Reformisten schießen wir nicht.« Ja, um Gottes Willen, Kinder, noch blasser kann man mit Kategorien wie Reform und Revolution wirklich nicht umgehen. Natürlich kann ich sagen: »Nichts wird sich ändern, alles Reformisten« – bloß brauche ich dann morgens nicht das Bett zu verlassen. Die Fragen stellte Stefan Bornost
★ ★★ Weiterlesen Dietmar Dath: Rosa Luxemburg – Leben, Werk, Wirkung (Suhrkamp 2010).
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Liberté toujours Michael Ferschke stellt Karl Marx’ Schrift »Der Bürgerkrieg in Frankreich« vor
I Michael Ferschke hat Nordamerikastudien, Soziologie und Politik studiert. Er ist aktiv bei der LINKEN in Berlin.
m März 1871 griffen die Arbeiter von Paris zu den Waffen und riefen ihre eigene Regierung aus. Die Kommune war geboren. Zuvor hatte Frankreich im Krieg gegen Deutschland verloren, Paris wurde von deutschen Truppen belagert und von der französischen Regierung im Stich gelassen. Schon nach kurzer Zeit schickte diese, unterstützt vom deutschen Reichskanzler Otto von Bismarck, eine Armee, die trotz heldenhafter Gegenwehr der Pariser Bevölkerung die Kommune zerschlug und den Aufstand in Blut ertränkte. Bereits drei Tage nach dem Fall der Kommune, am 30. Mai 1871, verabschiedete der Generalrat der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA) eine Stellungnahme. Sie trug den Titel »Der Bürgerkrieg in Frankreich« und war von Karl Marx verfasst worden. Die Internationale, wie die IAA auch genannt wurde, war der erste internationale Zusammenschluss von Arbeiterorganisationen. Marx spielte darin eine zentrale politische Rolle. »Der Bürgerkrieg in Frankreich« ist eine der besten Schriften von Marx. Sie stellt zugleich eine bewegende Verteidigung der Kommune, eine bittere Abrechnung mit ihren Feinden sowie eine markante Skizze der marxistischen Staatstheorie dar. Die Ereignisse in Frankreich zeigten, so Marx, dass die fortschrittliche geschichtliche Rolle des Bürgertums im Kampf gegen feudalistische Willkür und für die Demokratisierung der Gesellschaft beendet sei. Grund hierfür war, dass sich mit dem Fortschritt der kapitalistischen Produktionsweise ein neuer Klassengegensatz zwischen Lohnarbeitern und Kapital entwickelt hatte. Das Bürgertum scheute nun vor der Mobilisierung der Massen gegen die Reaktion zurück – aus Angst um die eigene Machtposition angesichts einer immer selbstbewusster auftretenden Arbeiterklasse. So kapituliere die französische Regierung lieber vor der deutschen Armee, als dass sie die kampfbereite Pariser Bevölkerung gegen die reaktionären Invasoren unterstütze. Die Arbeiter verlangten, Paris selbst verteidigen zu dürfen und strömten zu Tausenden in die Nationalgarde. Als die Staatsmacht versuchte, die Einwohner
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der Hauptstadt zu entwaffnen, eskalierte der Konflikt. Die versuchte Entwaffnung scheiterte kläglich am Widerstand der Nationalgarde und der Verbrüderung der Truppen mit dem Volk. Daraufhin floh die Regierung aus Paris nach Versailles – und mit ihr ein Großteil der Großgrundbesitzer und der reichen Geschäftsleute. Voller Verachtung attackierte Marx die Verlogenheit und Niedertracht vorgeblich »liberaler« bürgerlicher Regierungsvertreter, die sich im Angesicht der massenhaften Erhebung der unteren Klassen als antidemokratische Konterrevolutionäre entpuppten: »Dass nach dem gewaltigsten Krieg der neuen Zeit die siegreiche und die besiegte Armee sich verbünden zum gemeinsamen Abschlachten des Proletariats (…) beweist die vollständige Zerbröckelung der alten Bourgeoisiegesellschaft.« Die aufständischen Massen wählten sich nun eine eigene Regierung – die Pariser Kommune. Diese unterschied sich grundlegend von allen bisherigen Regierungsformen. Marx arbeitet die entscheidenden Gegensätze der Kommune zur bürgerlichen Demokratie heraus. Der bürgerliche Staat habe den »Charakter einer öffentlichen Gewalt zur Unterdrückung der Arbeiterklasse, einer Maschine der Klassenherrschaft«. Im Kern sei er undemokratisch, denn hinter der Fassade der parlamentarischen Demokratie verbergen sich wesentliche Bereiche, die keiner demokratischen Kontrolle durch die Bevölkerung unterlägen: »(...) stehende Armee, Polizei, Bürokratie, Geistlichkeit, Richterstand, Organe, geschaffen nach dem Plan einer systematischen und hierarchischen Teilung der Arbeit.« Der neutrale Schein der parlamentarischen Form verschwinde, sobald die unterdrückten Klassen aufbegehren würden. Dann benutze »die vereinigte besitzende Klasse (...) die Staatsmacht rücksichtslos als das nationale Kriegswerkzeug des Kapitals gegen die Arbeit.« Die Pariser Kommune begründete hingegen eine völlig neue demokratische Staatsform: Das stehende Heer wurde aufgelöst und durch die allgemeine Bewaffnung des Volkes ersetzt. Ebenso sollten alle leitenden Beamten demokratischer Kontrolle un-
© Jacques Tardi
»Es lebe die Kommune«. Bild aus dem Comic »Die Macht des Volkes« von Jacques Tardi
terstellt werden – etwa durch Wählbarkeit und jederzeitige Absetzbarkeit von Richtern und leitenden Polizeibeamten. Die Privilegien der Staatsbürokratie wurden abgeschafft, indem alle Angestellten der Kommune mit dem Gehalt eines durchschnittlichen Facharbeiterlohnes entlohnt wurden. Auch das System der politischen Repräsentation wurde von Grund auf umgekrempelt: »Statt einmal in drei oder sechs Jahren zu entscheiden, welches Mitglied der herrschenden Klasse das Volk im Parlament ver- und zertreten soll, sollte das allgemeine Stimmrecht dem in Kommunen konstituierten Volk dienen«, beschrieb Marx. Zum einen wurde die Verwaltung von unten nach oben strukturiert: Mit den Selbstregierungsorganen der verschiedenen Bezirke wurden alle öffentlichen Ämter der Kontrolle der Gemeinden unterstellt – und nicht, wie bislang üblich, von einer übergeordneten Zentralregierung eingesetzt. Zum anderen waren die gewählten Volksvertreter – anders als im System der bürgerlichen Gewaltenteilung – sowohl für die Gesetzgebung als auch für die Durchsetzung der Beschlüsse verantwortlich und jederzeit absetzbar. Das Zusammenlegen von legislativer und exekutiver Macht sollte verhindern, dass sich in Staatsapparaten eigene Machtgruppen organisieren und gegen die gewählten Volksvertreter agieren können. All diese Umwälzungen wurden unter großer sozialer Not und den Bedingungen einer militärisch belagerten Stadt vollzogen. Viele Maßnahmen der Kommune konnten deshalb nur zum Teil verwirklicht werden. Dennoch wurden gerade auf sozialem Gebiet einschneidende Verbesserungen eingeleitet wie die Streichung aller Mietschulden der vergangenen sechs Monate, das Verbot von Nachtarbeit für Bäcker sowie die Schaffung eines allgemeinen und kostenlosen Zugangs zu Bildungseinrichtungen.
Alle Fabriken, Betriebe und Werkstätten, die von ihren Besitzern verlassen oder stillgelegt worden waren, wurden an Arbeitergenossenschaften übergeben. Diese Ansätze, die Produktion umzustellen, waren für Marx entscheidend, denn »die politische Herrschaft des Produzenten kann nicht bestehen neben der Verewigung seiner gesellschaftlichen Knechtschaft. Die Kommune sollte daher als Hebel dienen, um die ökonomischen Grundlagen umzustürzen, auf denen der Bestand der Klassen und damit die Klassenherrschaft ruht.« Marx betonte damit die Bedeutung, die für ihn die demokratische Kontrolle der Wirtschaft hatte: Ohne die Enteignung der Kapitalisten kann die politische Macht der Arbeiter nur von kurzer Dauer sein. Zusammenfassend war für Marx die Kommune »die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte.« Aus seinen Beobachtungen zog er weitreichende Lehren für die künftige Strategie der Arbeiterbewegung. »Nach den praktischen Erfahrungen der Pariser Kommune«, schrieb er 1872, sei das Programm des Kommunistischen Manifest von 1848 »stellenweise veraltet. Namentlich hat die Kommune den Beweis geliefert, dass die Arbeiterklasse nicht die fertige Staatsmaschine einfach in Besitz nehmen und sie für ihre eigenen Zwecke in Bewegung setzen kann.« Diese zentrale Erkenntnis aus »Der Bürgerkrieg in Frankreich« inspirierte später Lenin zu seiner Schrift »Staat und Revolution« (1917). Darin verteidigte er den »revolutionären Kern des Marxismus« gegen den reformistischen Kurs der Sozialdemokratie, die sich in den bürgerlichen Staat eingliedern wollte, anstatt ihn zu »zerbrechen«, wie Marx es gefordert hatte. www.marx21.de | Mai/Juni 2010 | Nr. 15
Das Buch Karl Marx’ Schrift »Der Bürgerkrieg in Frankreich« erschien im Juni 1871 zunächst auf englisch. Auf deutsch wurde er im Juni und Juli 1871 in der sozialdemokratischen Zeitschrift Der Volksstaat veröffentlicht. Er ist in Band 17 der Marx-EngelsWerke abgedruckt (online: www.tinyurl.com/ marx-buergerkrieg).
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Frommer Selbstbetrug
solche Beziehungen zur feudalen Kirche als ökonomisch und politisch herrschende Macht die eigenen Einflussmöglichkeiten erweitern konnten. Hildegard erkämpfte sich als Frau in der
Dozieren, im Kräutergarten, beim Singspiel mit ihren Nonnen. Eine bildliche Innenwendung, die die Außenwelt weitgehend ausblendet. Und genau hier liegt das Problem des Films.
katholischen Kirche später das Recht auf ein eigenes Kloster und öffentliche Predigt. Ein Mittel dazu waren ihre klug eingesetzten Visionen, die gut in den von der Kirche geschürten Aber- und Wunderglauben als ideologisches Instrument gegen eine rationale Erklärung der Welt passten: Sie ließ diese von einem Mönch dokumentieren, Menschen begannen Anzeige zu ihr zu pilgern und so verschaffte sie sich Öffentlichkeit und eine soziale Basis als Druckmittel. Zudem bediente sie sich eines Geflechts aus einflussreichen Persönlichkeiten, um ihre Ziele durchzusetzen. Seit langem gibt es einen regelrechten Kult um Hildegard von Bingen. Sie gilt vielen als starke Frau (eine Art frühe FeAusser Spesen nichts gewesen... Heft 8 mit einem Klima-Spezial von Bernd Brouns, Mike ministin), Seherin, Davis, Alexis Passadakis, Uwe Witt und Winfried Heilerin und MusiWolf. Im Bahnhofsbuchhandel oder: kerin. An dieses Bild Jetzt abonnieren: Jahresabo 22 Euro knüpft von Trotta an. Mail: abo@lunapark21.net Wir sehen Hildegard – Post: Lunapark21 · An den Bergen 112 D-14552 Michendorf · Tel: 0049-33205-44694 gespielt von der damaligen Luxemburg4 x im Jahr auf 72 Seiten aktuelle Darstellerin Barbara Berichte, Analysen und HinterSukowa – fast nur im gründe zur globalen Wirtschaft. Kloster, beim Empfangen von Visionen, beim Diktieren und
Hildegard lebte in einer Zeit außerordentlichen gesellschaftlichen Umbruchs: Städte wuchsen rasant an oder wurden neu gegründet. Das Stadtbürgertum strebte nach Einschränkung der feudalen Kirchenmacht und Selbstregierung. Die in dem Zusammenhang entstehende städtische Armut traf besonders Frauen. Auf diesem Boden breitete sich in Südfrankreich, aber auch in Norditalien oder am Rhein die Bewegung der Katharer – der »Reinen« – aus. Sie verkündeten die Armutskirche des Urchristentums als Angriff auf den reichen Klerus. Wegen ihrer weitgehenden Gleichheitspolitik und Schaffung eines sozialen Netzes schlossen sich ihnen viele Frauen an und predigten die neue Lehre. In den Anfängen waren es vor allem die städtischen Weberinnen und Weber, die eine katharische Gegenkirche mit eigenen Bischöfen aufbauten. »Weber« und »Weberin« wurde gar zum Synonym für Ketzer. Hildegard begriff sich als Kämpferin gegen diese Bewegung. Sie verfasste eine Schrift gegen die Katharer und verdammte sie in ihren öffentlichen Predigten. Sie bestand auf der Unterordnung der Frau in der Ehe und Aufrechterhaltung der Klassengesellschaft: »Gott hat acht, dass der geringe Stand
Vision – Aus dem Leben der Hildegard von Bingen Regie: Margarethe von Trotta Deutschland 2009 106 Minuten
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nde der 1980er Jahre kam der Film »Rosa Luxemburg« von Margarethe von Trotta in die Kinos. Es war das Porträt einer Frau, eingebettet in eine bewegte Zeit, leidenschaftlich in der Darstellung von Politik und Privatem, bedingungslos auf der Seite der Unterdrückten und Ausgebeuteten. In von Trottas neustem Film über Hildegard von Bingen ist von all dem nichts mehr zu finden. Die Äbtissin vom Rhein lebte von 1098 bis 1179. Sie wurde als Kind einer adeligen Familie in ein Kloster gegeben, was damals nicht unüblich war, da
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sich nicht über den höheren erhebe.« Die Augustiner-Äbtissin Tenxwind, Anhängerin einer armen Kirche, warf Hildegard vor, sie nehme keine Nichtadligen und Ärmeren in ihr Kloster auf. Sie zeigte sich irritiert über die weißen Seidenschleier und den kostbaren Schmuck, den Hildegards »Gottesbräute« bei ihren Gesängen trugen. Die Regisseurin von Trotta interpretiert dies um zur lebensfeindlichen Haltung einer verbiesterten alten Nonne, den gesellschaftskritischen Sprengstoff übergeht sie. In Interviews hat von Trotta versucht, Hildegard in eine Rosa Luxemburg des Mittelalters umzudeuten. Ein frommer Selbstbetrug, der viel mit Karrierefeminismus und nichts mehr mit dem Eintreten für eine bessere Gesellschaft und echtem Kampf gegen Frauenunterdrückung zu tun hat. Das Ergebnis ist ein geschichtsloser, langweiliger Film. Rosemarie Nünning
Ein Kofferkind legt auf
DJ İpek İpekçioğlu Beyond Istanbul 2 – Urban Sounds of Turkey Trikont
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ür viele deutsche Politiker und einen Großteil der Medien sind Kinder türkischer Einwanderer vor allem eins: Problemfälle. Zweifellos ist es für die Betroffenen eine Herausforderung, mit verschiedenen Kulturen aufzuwachsen. Viele Immigranten berichten von der Erfahrung, weder in Deutschland noch der Türkei angenommen zu werden. Aber die Verbindung von deutschen
und türkischen Einflüssen kann auch immensen kulturellen Reichtum bedeuten. DJ İpek İpekçioğlu war so ein Kofferkind, das sich nirgends ganz zu Hause fühlte. Heute bedient sich die Berlinerin souverän der Vielfalt der Kulturen, die sie in Deutschland und der Türkei aufgesogen hat. Sie arbeitet als DJ und Musikproduzentin. Das Münchener Label Trikont hat nun die dritte von ihr zusammengestellte Compilation veröffentlicht. »Beyond Istanbul 2 – Urban Sounds of Turkey« präsentiert unterschiedlichste Musiker und Stile. Die persönliche Verbindung, die DJ İpek zu den Stücken hat, hält die bunte Mischung zusammen. Es ist Musik, die sie zum Lachen, zum Weinen oder zum Tanzen gebracht hat, wie sie im Begleitheft schreibt. Es spricht für die Qualität der ausgewählten Stücke, dass sie diese Empfindungen auch auslösen, wenn der Hörer den Hintergrund gar nicht kennt.
Die Band Kırıka zum Beispiel setzt sich aus Männern zusammen, die in verschiedenen Rockbands spielen und gemeinsam Volkslieder neu interpretieren. In ihrem Beitrag über das traditionelle türkische Saiteninstrument Saz (»Kaba Saz«) singen sie ironisch: »Ich war noch ganz klein, als ich die Saz zum ersten Mal in der Hand hielt, und mit 33 krieg’ ich’s immer noch nicht hin.« Tieftraurig klingt dagegen das Volkslied »Yüksek Yüksek Tepelere«. Traditionell wird dieses Lied am Vorabend einer Hochzeit gesungen, wenn die Braut Abschied von ihrer Familie nimmt. »Wenn mein Vater ein Pony hätte, würde er mich besuchen kommen?« sorgt sich die Interpretin. DJ İpek hat eine hinreißend wehmütige Version der queer lebenden Sängerin Burcu Özdemir, die im kanadischen Vancouver wohnt, ausgesucht. Den größten Anteil auf der CD nimmt jedoch elektronische Tanzmusik mit Hip-HopEinflüssen ein. Hier fusionieren die musikalischen Einflüsse der
Metropolen Istanbul und Berlin besonders eindrucksvoll mit traditionellen Melodien oder Rhythmen. Der »Sahara Gypsy Song« des Osman İsmen Project etwa sorgt mit seinem 9/8-Takt für einen Klang, der sich wie ein Derwisch um sich selbst zu drehen scheint. DJ İpek selbst liefert einen Beitrag mit ihrem Kollegen Pasha. »Istanbul Çocukları« remixt die Band Baba Zula, die durch den Film »Crossing the Bridge« auch in Deutschland bekannt wurde. Der Text feiert Istanbul als Kreuzungspunkt vieler Kulturen. »Die Kinder Istanbuls sind ganz wie ein Regenbogen.« So wünscht sich DJ İpek auch die deutsche Hauptstadt. Wie sich diese Vision anfühlt, können Berliner Leserinnen und Leser auf den Gayhane-Parties im Kreuzberger Club SO 36 erfahren, wo DJ İpek regelmäßig auflegt. Wem sich die Gelegenheit eines Besuchs bietet, sollte sie sich auf keinen Fall entgehen lassen. Jan Maas
Ein widersprüch licher Held
Jon Krakauer Auf den Feldern der Ehre. Die Tragödie des Soldaten Pat Tillman Piper, München 2009 320 Seiten, 19,95 Euro
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s klingt wie die perfekte Kriegspropaganda-Story: Ein erfolgreicher Footballstar schlägt einen 3,6 Millionen-Dollar-Vertrag in der NFL aus und verpflichtet sich freiwillig, unter dem Eindruck der Anschläge
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Sozialstrukturen und politische Macht • Demokratie, Tribalismus, Islam • Genese einer Krise • Über die Frömmigkeitsrente – „Moralisches Unternehmertum“, Vermittler und islamische Finanznetze • 2007-048, das Gesetz gegen die Sklaverei • Die saharischen Schulen in der Geschichte • Shaikani, die Gallionsfigur der Erneuerung der Tijaniyya. Autorinnen/Autoren: Mohamed Fall Ould Bah, Abdelwedoud Ould Cheikh, Britta Frede, Christine Hardung, Ghislaine Lydon, Laurence Marfaing, Ulrich Rebstock.
Die Ökonomie und der GoldstoneBericht • Der palästinensische Film • Kurdeninitiative der AKP • Afghanistan: Deutschland im Krieg • Die Ermordung der Mönche von Tibhirin � inamo e.V., Postfach 310727, 10637 Berlin, � 030/86 42 18 45, @ redaktion@inamo.de, 5,50 �
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vom 11. September 2001, bei der US-Army. Ist es aber nicht. Denn Pat Tillman fällt 2004 in Afghanistan – durch »Friendly Fire«, den versehentlichen Beschuss der eigenen Kameraden. Und auch vor seinem tragischen Tod taugt Tillman für das Pentagon nur bedingt als Kriegsheld. Jon Krakauer geht der Frage nach, was einen Footballstar, dessen Lieblingsautor Noam Chomsky ist, dazu bewegt, alles zurückzulassen und zur Army zu gehen. Der Autor, der mit Abenteuerromanen wie »Into the wild« und »In eisige Höhen« weltberühmt wurde, hat dazu eine enorm aufwendige Recherchearbeit betrieben, reiste selbst einige Male nach Afghanistan, besuchte die US-Truppen, studierte das Leben des Pat Tillman, sprach mit Familie und Freunden. Das Ergebnis ist eine differenzierte Charakterisierung dieses jungen Soldaten: Einerseits ein stolzer Patriot, der sein Land verteidigen will, andererseits ein nachdenklicher, politisch kritischer Mensch, der sowohl den Irak-Krieg als auch die BushRegierung ablehnt und der sich trotz Bitten des Pentagons weigert, Interviews zu geben und seine Bekanntheit für Propagandazwecke einzusetzen. Diese Widersprüchlichkeit kommt auch in seinem Tagebuch zum Ausdruck, auf das sich das Krakauers Werk stützt. Tillman wird zunächst im Irak stationiert. Dort schreibt er: » (…) alle wichtigen Staatsmänner auf dieser Welt mit wenigen Ausnahmen [halten] das Ganze für nicht gerechtfertigt. Das ist auch die Ansicht vieler einfacher Leute. Deshalb (…) glaube ich, dass die einzige Rechtfertigung dafür unsere imperiale Laune ist. (…) Ich hoffe, dass es in diesem Krieg um mehr geht als um Öl, Geld und Macht. (…) Allerdings bezweifle ich, dass es so ist.« Mit seinen Kameraden diskutiert er Chomskys Buch »Propaganda and the Public Mind«.
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Nach seiner Rückkehr aus Afghanistan war ein Treffen mit dem Schriftsteller verabredet, wie Chomsky später bestätigte. Dazu kam es nicht, Tillman starb im Kugelhagel seiner Kameraden. Er wurde 27 Jahre alt. Die US-Army versuchte die Wahrheit über den Tod des berühmten Kriegsfreiwilligen vor dessen Familie und der Öffentlichkeit zu vertuschen. Beweise wurden unterschlagen, Aufzeichnungen verschwanden, Berichte wurden gefälscht. Stattdessen bemühte sich das Pentagon, seinen Tod propagandistisch auszuschlachten. Tillman wurde nachträglich ein Orden für Tapferkeit vor dem Feind verliehen, die Trauerfeier als Massenveranstaltung inszeniert mit Senator John McCain als Grabredner. Erst aufgrund zunehmenden öffentlichen Drucks und der Beharrlichkeit von Tillmans Mutter leitete das Militär schließlich Ermittlungen über die Hintergründe des Todes ein. Sie brachten schrittweise die wirklichen Ereignisse ans Licht und die US-Regierung in Erklärungsnot. Krakauer belegt nach Durchsicht tausender Seiten von Untersuchungsberichten anschaulich, wie die Wahrheit dem Krieg zum Opfer fällt. Zudem gibt er einen Abriss über die jüngere Geschichte Afghanistans, zeigt auf, wie Sowjetunion und USA das Land in ein Schlachtfeld des Kalten Krieges verwandelten und welches Leid und Elend das über die Bevölkerung brachte. Sein Buch hat Längen, vor allem bei den detailreichen Beschreibungen diverser Footballspiele und den umfangreichen Schilderungen aus dem Privatleben Tillmans. Und so eindringlich Krakauers Kritik an dem Krieg ist, so hilflos bleibt er im Aufzeigen einer alternativen Perspektive. Aber das Buch hat in den USA eine Diskussion ausgelöst, die Kritik an den Kriegseinsätzen wächst. Pat Tillman wurde Opfer eines Militäreinsatzes, in
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den er trotz aller Zweifel freiwillig zog. Krakauer erweist ihm die letzte Ehre, indem er seine Geschichte erzählt, die das Militär und die Regierung so lange zu vertuschen versuchten. Wenn man sich auf das Buch und den Charakter Tillmans in seiner ganzen Widersprüchlichkeit einlässt, ist »Auf den Feldern der Ehre« ein überraschendes und verstörendes Buch. Es bleiben jedoch Fragen. Janine Wissler
Vorurteile entkräftet
Thorsten Gerald Schneiders (Hrsg.) Islamfeindlichkeit. Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen VS Verlag für Sozialwissenschaft, Wiesbaden 2009 483 Seiten, 39,90 Euro
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eine Religion ist hierzulande in den vergangenen Jahren so häufig und scharf öffentlich kritisiert worden wie der Islam. Häufig stecken hinter der scheinbar objektiven und ausgewogenen Kritik pure Ressentiments. In dem vorliegenden Sammelband werfen nun 28 Wissenschaftler ihren Hut in den Ring, um die Diskussion zu versachlichen. Sie entkräften Vorurteile, entlarven die Lügen mancher »Islamkritiker« und entwickeln Ideen für einen Dialog mit Muslimen – statt über oder gegen sie. Im ersten Abschnitt des Buches erforschen verschiedene Autoren die Ursachen der Islamfeindlichkeit. Sie verdeutli-
chen, dass bereits im Mittelalter Vorurteile geschürt wurden. Damals suchten die Machthaber einem sich rasch ausbreitenden, zivilisatorisch und technologisch überlegenen islamischen Großreich durch die Kreuzzüge und die Festigung des inneren Zusammenhalts beizukommen. Der Kommunikationswissenschaftler Kai Hafez erklärt in seinem Beitrag die Rolle, die die Massenmedien heute bei der Verbreitung anti-muslimischer Vorurteile spielen. Sie setzten zwar Islam und Gewalt nicht gleich, würden aber indirekt doch diese Verbindung ziehen: »Deutsche Medien widmen sich intensiv der Frage der islamistischen Selbstmordattentate. Selten allerdings wird die tägliche gewaltfreie Widerstandsarbeit auch vieler islamistischer Organisationen in Demonstrationen, Sitz- und Hungerstreiks erwähnt.« Wie das gegenwärtige Feindbild Islam zur Durchsetzung imperialistischer Ziele dienen kann, untersucht der Politikwissenschaftler Werner Ruf. Es sei wenig glaubwürdig, wenn der Westen Errungenschaften der Aufklärung preise, aber korrupte Diktaturen unterstütze, die demokratische Oppositionsbewegungen zerschlagen haben: »So erscheinen der nahöstlichen Bevölkerung die Schlagworte ›Befreiung‹ und ›Demokratisierung‹ nur als verlogene Feigenblätter zur Kaschierung des imperialen Griffs nach dem Öl. Und die Kriegsführung in Irak und Afghanistan liefert den Beleg für diese These.« Anhand empirischer Daten wird im zweiten Abschnitt des Buches eine Vielzahl gängiger Behauptungen über Muslime als Vorurteile entlarvt. Die Sozialwissenschaftlerin Monika Schröttle etwa analysiert Studien über Gewalt gegen Frauen in Familien mit türkischem Migrationshintergrund. Sie weist nach, dass nicht das Glaubensbekenntnis die Ursache häuslicher Gewalt ist, sondern
eine Vielzahl sozialer und ökonomischer Faktoren. Die beiden letzten Abschnitte beschäftigen sich mit den Methoden, mit deren Hilfe der Islam in Deutschland als »Fremdkörper« und »Problem« stigmatisiert wird. Die Autoren befassen sich zudem mit Akteuren, die diese Stigmatisierung vorantreiben – wie beispielsweise islamfeindlichen Internetseiten, der CDU/CSU, den christlichen Kirchen sowie einzelnen Intellektuellen wie Henryk M. Broder oder Seyran Ates, die seit Jahren besonders eifrig gegen Muslime hetzen. Das Buch ist absolut lesenswert und liefert eine Fülle von Argumenten. Trotz des akademischen Hintergrunds der Autoren sind die Artikel auch für Laien verständlich geschrieben. Der einzige Wermutstropfen: Einige Autoren verwenden relativ unreflektiert die Bezeichnung »Islamismus« – die eigentlich von Rechten als Kampfbegriff gebraucht wird, um bestimmte Gruppen oder Personen zu diffamieren. Ohne dass sie schlüssige Kriterien dafür nennen, was
»islamistisch« ist, betonen manche Autoren, dass man sich vor »problematischen Allianzen« hüten und von »Islamisten« distanzieren müsse. Mit dieser vagen Herangehensweise liefern sie den Islamfeinden ungewollte Schützenhilfe. Abgesehen davon ist die Lektüre des Buches ein großer Gewinn, auch für Leser, die sich bereits mit dem Thema beschäftigt haben. Irmgard Wurdack
Geschichte eines geschundenen Landes
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Malalai Joya
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Eine andere Politik ist machbar!
Ich erhebe meine Stimme. Eine Frau kämpft gegen den Krieg in Afghanistan Piper Verlag, München/Zürich 2009 302 Seiten, 19,95 Euro
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alalai Joya ist mit 32 Jahren die derzeit jüngste Parlamentarierin Afghanistans. Im vergangenen Jahr erschien im Piper Verlag ein Buch, in dem sie sowohl ihre persönliche als auch die Geschichte ihres Landes erzählt. Joya wurde 1978 im westafghanischen Distrikt Farah geboren. Ihr Vater – ein Arzt, Demokrat und Menschenrechtsaktivist – kämpfte während ihrer Kindheit gegen die sowjetischen Invasoren und verlor dabei ein Bein. Aufgrund der politischen Verfolgung des Vaters musste die Familie zunächst in den Iran und anschließend nach Pakis-
tan fliehen. Dort wuchs Joya in verschiedenen Flüchtlingslagern auf. Malalai Joya versteht sich als politisch unabhängig. Sie war zunächst Sozialarbeiterin bei einer afghanischen NGO, bevor sie Politikerin und parteilose Abgeordnete wurde. 2007 wurde sie aufgrund ihrer kompromisslosen Haltung gegenüber den Kriegsverbrechen der Warlords für drei Jahre aus dem Parlament geworfen. Wie ein roter Faden zieht sich die Ablehnung des von USA und NATO installierten Warlordregimes unter Präsident Hamid Karzai durch ihr Buch. Viele heutige Provinzgouverneure, Minister und die Mehrzahl der Parlamentsabgeordneten sind ehemalige Kriegsfürsten und Drogenbarone. In der Zeit der sowjetischen Besatzung leisteten sie mit Unterstützung der USA Widerstand gegen das damalige Besatzungsregime. Nachdem die sowjetischen Truppen abgezogen waren, bekämpften sich dann diese verschiedenen Privatarmeen gegenseitig und begangen zahlreiche Massaker und Gräueltaten an der Zivilbevölkerung. Dafür wurden sie nie bestraft. Im Gegenteil: Diese Kräfte, die sich in ihrer politischen Ideologie kaum von den Taliban unterscheiden, konnten im Parlament – zu ihrem eigenen Schutz – ein Amnestiegesetz für die vergangenen drei Jahrzehnten Bürgerkrieg durchsetzen. Als einzige Abgeordnete protestierte Malalai Joya dagegen. In ihrem Buch zeigt sie, dass es durchaus Afghanen gibt, die für wirkliche Demokratie kämpfen. So berichtet sie etwa von Demonstrationen gegen Menschenrechtsverletzungen. Anhand zahlreicher Beispiele weist sie jedoch nach, wie gegen diese demokratischen Kräfte mit Einschüchterung, Verleumdung, willkürlichen Anklagen und sogar Mord vorgegangen wird. Dies alles findet unter dem Schutz der NATO-Soldaten statt.
Insofern verwundert es dann nicht, dass Joya genau anders herum argumentiert, wie im Westen üblich. Während hierzulande die Besatzung damit begründet wird, man wolle den Einfluss der Taliban eindämmen, fordert Joya den Abzug der NATO-Truppen, um dadurch die regionalen Warlords zu schwächen. Diese hätten nämlich keinen Rückhalt in der Bevölkerung. Erst durch einen Truppenabzug bestünde jedoch die Chance, sie für ihre Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen. Alles in allem ein sehr empfehlenswertes Buch. Frank Schelm
Fakten gegen Faschos
Linksjugend [’solid] und Die Linke.SDS Block Fascism. Geschichte, Analysen und Strategien für eine antifaschistische Praxis Berlin 2010 76 Seiten, 1 Euro
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lock Fascism« heißt eine neue Broschüre, die Linksjugend [’solid] und Die Linke. SDS gemeinsam herausgegeben haben. Den Anlass hierzu lieferte die Mobilisierung gegen den Naziaufmarsch in Dresden im Februar. Mit dem Heft wollen die beiden linken Verbände auch über dieses Ereignis hinaus antifaschistische Politik vorantreiben. Die Texte liefern einerseits Fakten über die Nazi-
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Lesen, Hören, Sehen
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Lesen, Hören, Sehen bewegung heute, andererseits greifen die Beiträge auch in politische Auseinandersetzungen im Kampf gegen Rechts ein. So argumentieren beispielsweise Friederike Benda und Sophie Dieckmann, dass es notwendig sei, Faschisten auf der Straße zu stoppen: »Es demoralisiert die Nazis, wenn sie merken, dass nicht nur ihre Inhalte abgelehnt werden, sondern dass die Bevölkerung auch bereit ist, sich ihnen aktiv in den Weg zu stellen.« Gegenmobilisierungen müssten ebenso politisch breit aufgestellt wie entschlossen sein, um Aufmärsche zu verhindern. Ein Beitrag von Jana Werner und Nicola Eschen beschreibt Islamophobie als derzeit vorherrschende Form des Rassismus. Die Autorinnen sehen den antimuslimischen Rassismus als »Bindeglied zwischen Mainstream und programmatisch rassistischen Ideologien und Parteien« an. Florian Wilde zeichnet in einem historischen Beitrag nach, wie ausgerechnet in Deutschland die faschistische Terrorherrschaft etabliert werden konnte, wo noch 1920 ein Generalstreik den rechten Kapp-Putsch erfolgreich zurückgeschlagen hatte. Wilde arbeitet die Spaltung der Arbeiterbewegung als wesentlichen Grund für ihre Niederlage heraus. Übertragen auf heute plädiert er für eine glaubwürdige antikapitalistische Linke als Bollwerk gegen die Nazis. Marco Heinig weist in seinem Text auf die Verwandtschaft von Faschismus und bürgerlicher Demokratie hin und zeigt, dass die gegenwärtig Form des Kapitalismus ein Nährboden für den Faschismus sein kann: »Da der bürgerlichdemokratische Staat den Nationalismus stets fördert, ist er auch der ›Schoß, aus dem es kriecht‹.« Einige kleine Schwächen trüben die Brillanz dieser Textsammlung. Julian Plenefisch
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beispielsweise schreibt in seiner Analyse vom »großen Zuspruch unter deutschen und italienischen Arbeitern für den Faschismus«. Diverse wissenschaftliche Arbeiten – etwa von Francis L. Carsten – haben jedoch gezeigt, dass es den Nazis nie gelungen ist, maßgeblich Anhänger aus der organisierten Arbeiterschaft zu gewinnen. Vielmehr liegt die Klassenbasis des Faschismus im Kleinbürgertum, also den Mittelschichten. Die Ursache für die vorhandenen, wenn auch geringen Erfolge unter Arbeitern ist in der Demoralisierung infolge der politischen Spaltung der Arbeiterbewegung zu suchen. Das unterstreicht noch einmal, dass im Kampf gegen Nazis unmittelbar eine breite und entschlossene Bewegung und auf lange Sicht eine glaubwürdige antikapitalistische Linke vonnöten sind. Trotz dieser Schwäche ist die Broschüre empfehlenswert: Erstens wegen des lobenswerten, aber seltenen Ansatzes, Theorie und Praxis unmittelbar zu verbinden und zweitens wegen des unschlagbar günstigen Preises von einem Euro, der ihr hoffentlich zu massenhafter Verbreitung unter Schülern, Auszubildenden und Studenten verhilft. Jan Maas
Das Gesetz der Straße Cem Gülay, Helmut Kuhn Türken Sam: Eine deutsche Gangsterkarriere Deutscher Taschenbuch Verlag 280 Seiten, 14,90 Euro
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in Buch über die kriminelle Karriere eines jungen Deutschtürken – das kann eigentlich nur Ressentiments und Klischees bedienen. Doch der in Hamburg geborene Autor Cem Gülay liefert in seiner Autobiographie nicht nur eine Gangs-
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neller ist jemand, der Tankstellen überfällt, Autos knackt und alten Damen die Handtasche klaut. »Gangster sein war ein Lifestyle. Ein Beruf, in dem es um Macht, Anerkennung, Loyalität und Ehre ging.« Cem zog Anleger mit Warentermingeschäften über den Tisch und verdiente so mit 21 schon knapp 70.000 Mark im Monat, später regelmäßig das Doppelte. Zudem lernte er, dass es wichtig war, körperlich fit zu sein. Es gäbe nichts Schlimmeres, als einen Fight Mann gegen Mann zu verlieren: Wer stärker ist als andere, wird respektiert. Die Kapitel über diesen Lebensabschnitt gehen unter die Haut. Zum Schluss war Cem sogar bereit zu töten. Erst als ihm ein legendärer Hamburger Pate nahe legte auszusteigen, fand er die Kraft dazu. Cem Gülays Buch endet mit den Worten »Ich wollte dazugehören, ich habe es niemals aufgegeben! Und wisst ihr was? Ob es Euch nun gefällt oder nicht: Ich gehöre jetzt zu euch!« Heute lebt er in Berlin und engagiert sich für Jugendliche mit Migrationshintergrund. Michael Klein
tersaga, sondern auch eine schonungslose Abrechnung mit dem alltäglichen Rassismus und der staatlichen Ausgrenzungspolitik, die junge Muslime in Deutschland erfahren müssen. Im Grunde hatte Cem Gülay nie vorgehabt, kriminell zu werden. Während seiner Jugend in den 1980er Jahren spielte er in verschiedenen Hamburger Fußballclubs, machte mit Erfolg sein Abitur und wurde sogar Schülersprecher. Doch stets war er mit Ausländerfeindlichkeit konfrontiert. So wurde er beispielsweise im letzten Moment von einem Sichtungsturnier für die Fußball-Jugendnationalmannschaft ausgeladen – der Trainer wollte keine türkischen Spieler. Als er im Gymnasium zum Schulsprecher geAnzeige wählt wurde, legte ihm der Direktor nahe, die Wahl nicht anzunehmen: »Ich kann mir keinen türkischen Schulsprecher erlauben, weil viele deutsche Eltern dann ihre Kinder nicht mehr anmelden!« Er musste miterleben, wie sein jüngerer Bruder von Neonazis bedroht und durch die Straßen gehetzt wurde. Schließlich dachte er sich: »Wenn ihr es schon nicht geschafft habt mich zu integrieren, wer dann? Ich wollte dazugehören, aber ihr habt mir ständig das Gefühl gegeben: Du Redaktion Sozialismus: DIE LINKE – auf dem Weg zum modernen gehörst nicht zu uns!« Grundsatzprogramm | I. Wallerstein/ Schließlich entschied H. Müller: Systemkrise: Was jetzt? sich Cem Gülay für das LeProbeabo (3 Hefte): � 10,-; Redaktion ben eines Gangsters – nicht Sozialismus, St. Georgs Kirchhof 6 eines Kriminellen. Dies sei 20099 Hamburg, Fax 040/28 09 52 ein Unterschied. Ein Krimi77-50; redaktion@sozialismus.de
www.Sozialismus.de www.sozialismus.de 37. Jahrgang Heft 4/2010 � 6,20 C 12232 E
Sozialismus Schuldenfalle für Euroland? LINKE Antworten & sozialdemokratisches »Fair Play« Gute Arbeit in der Krise? Transnationale Netzwerke Bürgerbahn statt Börsenwahn Selbstkritik: 40 Jahre Neue Frauenbewegung
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marx 21 Magazin für internationalen Sozialismus
Nr. 1, Juni 2007
Nr. 2, September 2007
marx 21
Nr. 3, November 2007
Nr. 4, Februar 2008
Nr. 7, September 2008
Nr. 8, November 2008
Nr. 6, Juni 2008 // Spende: 3,50 ISSN 1865-2557 // www.marx21.de
Magazin für internationalen Sozialismus
Elmar Altvater fragt, ob Geld die Welt regiert
Christine Buchholz & Janine Wissler werten den Parteitag der LINKEN aus
Apo Leong
berichtet über den Widerstand von Arbeitern in China
Wie rot ist China?
Nr. 5, April 2008
40 Jahre 1968
Italien
Israel-Debatte
Die Panthers – Aufstand im Ghetto
Der aufhaltsame Aufstieg des Silvio B.
Der Weg zum Frieden in Nahost
Nr. 6, Juni 2008
Nr. 9, Februar 2009
Neuer Präsident, alte Kriege? 24 Seiten Schwerpunkt zu USA nach den Wahlen Interview mit Noam Chomsky | Krise 1929 | Feminismus: Die neue F-Klasse | Israel und die Hamas | 60 Jahre NATO | u.v.m. Nr. 10, April 2009
Die Linke, Macht & Gegenmacht 18 Seiten Schwerpunkt Kampf um jeden Arbeitsplatz | 60 Jahre Grundgesetz | Gregor Gysi und andere über 20 Jahre 1989 | Elmar Altvater: Marx neu entdecken | Obamas Offensive | u.v.m. Nr. 11, Juni 2009
Stellt Rot sich tot? 18 Seiten Schwerpunkt Krise und Chancen der Linken | Anti-Nazi-Kampf | Hochschulpolitik | Pakistan | 20 Jahre Mauerfall | Ursachen der Piraterie | u.v.m. Nr. 12, September 2009
Antikapitalismus Debatte zum Sozialismus im 21. Jahrhundert | Anti-Nazi-Kampf | Ausbildung | Bookwatch: Erziehung | Ende der DDR | Deutsche Soldaten in Afghanistan | 2. Weltkrieg | u.v.m. Nr. 13, Winter 2009/10
Schwarz-Gelb: Schwache Sieger Schwerpunkt Dresden 2010: Nazis stoppen! | Interviews: Toralf Staud, Michael Moore, Bernd Riexinger | Wie weiter in Venezuela | Bookwatch: Israel/Palästina | Schweinegrippe | u.v.m. Nr. 14, März 2010
Wie frei ist die Frau? 12 Seiten Schwerpunkt Frauenbefreiung | Die Linke unter Obama | Alternativen zur Autogesellschaft | Antimuslimischer Rassismus | Bildungsstreik | Bericht aus Afghanistan | u.v.m.
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NEUERSCHEINUNG ISLAM, RASSISMUS UND DIE LINKE In den letzten Jahren – besonders seit den Anschlägen vom 11. September 2001 – hat das Wort »Islam« eine derartige Symbolkraft bekommen, dass es vielfache Assoziationen hervorruft. Auf der Linken wird das Verhältnis zum Islam und zur neuen Islamfeindlichkeit ganz unterschiedlich behandelt. Diese Broschüre möchte einen Beitrag zu dieser Diskussion leisten. Stefan Ziefle und Marwa Al-Radwany informieren zu Beginn über die Hintergründe zunehmender Islamfeindlichkeit. Volkhard Mosler beleuchtet das Verhältnis der Linken zur Religion. Abschließend zeigt Dave Crouch in seinem Beitrag »Die Bolschewiki und der Islam«, was die Analyse der Religion als widersprüchliches Phänomen für die praktische Politik bedeuten kann.
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