marx 21 Magazin für internationalen Sozialismus Eurokrise Was steckt wirklich dahinter? Public Enemy Kampfansage in Arizona Stieg Larsson Jenseits von Bullerbü
Nr. 16 | Sommer 2010 Spende 3,50 € | ISSN 1865-2557 www.marx21.de
Michael Hartmann kritisiert die Auslese im Bildungssystem
Alex Demirović
über Intellektuelle und den Klassenkampf
Janine Wissler
zieht eine Bilanz der Politik von Roland Koch
Linkspartei Was die anderen schreiben
UNSERE JUNGS? Die WM, Nationalismus und die Linke Feature Südafrika: Weltmeister und Wellblech Nelson Mandela und der ANC: Die reiche Geschichte des Widerstands WM-Feier: Ein »unverkrampfter« Nationalismus? Analyse: Wie der Kapitalismus dem Sport die Seele raubt
er Zorn auf Amerikas Banken wächst: Tausende Demonstranten legten am 30. April die Wall Street in New York City stundenlang lahm. Es war der größte Protest gegen die Finanzinstitute seit dem »Bailout« vor zwei Jahren, als die US-amerikanische Regierung die Branche mit 700 Milliarden Dollar vor dem Kollaps bewahrte. Die Veranstalter, allen voran der Gewerkschaftsverband AFL-CIO, sprachen von 15.000 Teilnehmern: Gewerkschafter, Lehrer, Bauarbeiter, Angestellte, verschuldete Hausbesitzer, Bankkunden und Arbeitslose. Sie trugen Transparente und Puppen, beispielsweise als Banker verkleidete Schweine. Die Demonstranten hielten Schilder in die Luft (»People before Profit!«) und skandierten: »Scham und Schande! Zerschlagt die großen Banken!« Ein paar hundert gelang es, kurz die gläsernen Eingangshallen von JP Morgan Chase und Wells Fargo zu stürmen. Den »Charging Bull«, das Wahrzeichen der Wall Street, umringten die Demonstranten. Sie beschimpften und erklommen den berühmten Bronzestier, der Optimismus an der Börse symbolisieren soll. »People power!« hallte es durch die Häuserschluchten.
Carrie Sloan/Flickr.com
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Editorial
Liebe Leserinnen und Leser,
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ine neue Ausgabe und gleich zwei Cover: vorne und hinten. Das hat einen Grund: Mitte Juni beginnt die Fussball-Weltmeisterschaft in Südafrika. Es ist absehbar, dass ähnlich wie 2006 eine schwarz-rot-goldene Welle durch Deutschland wogen wird. Wir finden es wichtig, dazu Haltung von links zu beziehen. Deshalb ein Cover zu dem Sportgroßereignis, deshalb ein entsprechender Schwerpunkt. Dort werfen wir zudem einen Blick auf die Situation in Südafrika zwanzig Jahre nach dem Ende der Apartheid. Gleichzeitig dreht sich während und nach der WM die Welt weiter. Und das heißt: Die Abwälzung der Krisenlasten auf die Bevölkerung setzt sich fort – in Griechenland, in Deutschland, europaweit, weltweit. Das ist Thema unseres Backcovers und unserer aktuellen Analysen. Ansonsten findet ihr im Heft einen Schwerpunkt anlässlich des bundesweiten Bildungsstreiks am 9. Juni. Die Kolumne »Marx neu entdecken« fehlt in dieser Ausgabe. Doch keine Sorge: Elmar Altvater wird seine Serie im nächsten Heft fortsetzen. Um rechtzeitig zur WM und zum Bildungsstreik zu erscheinen, haben wir den Drucktermin des Magazins deutlich vorgezogen. In diesem engen Zeitrahmen konnte Elmar sein Beitrag diesmal leider nicht fertig stellen. Eine Geschichte hat uns nicht losgelassen – die von Kannelos, dem Protesthund, der seit zwei Jahren bei fast jeder Demo in Athen gesichtet wurde. Kannelos ist mittlerweile so etwas wie das inoffizielle Maskottchen des Protestes, ein Hund auf der richtigen Seite der Barrikade. Eine ihm zu Ehren eingerichtete Gruppe in der Internetplattform Facebook (»Riot dog«) hat mittlerweile 40.000 Fans aus aller Welt. Grund genug, Kannelos auch in unser Heft zu nehmen. Fünf mal haben wir ihn auf den Seiten dieses Magazins versteckt. Die ersten drei Einsendungen, die die entsprechenden Seiten nennen (per Mail an redaktion@ marx21.de / Stichwort: Protesthund), gewinnen ein kostenloses Jahresabo oder ein Buch ihrer Wahl aus dem Angebot der Edition Aurora (www. edition-aurora.de). Die marx21-Redaktion wünscht viel Spaß beim Suchen und einen schönen, erholsamen Sommer.
Fragen? Anregungen? Kritik? Lobhudelei? Wir freuen uns auf deine Post. Redaktionsadresse Redaktion marx21 PF 44 03 46 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de Telefon: 030 / 89 56 25 10
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Editorial
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inhalt
Neue Bücher über DIE LINKE
Europa in der Krise
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WM in Südafrika
Aktuelle Analyse
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Koch-Rücktritt: Brutalstmögliche Politik Von Janine Wissler
Schwerpunkt: Bildungsstreik
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Sozialabbau in Europa: Mit der Axt Von Lucia Schnell
»Das dreigliedrige Schulsystem ist unsozial« Interview mit Michael Hartmann
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Krise: Außer Kontrolle - aber warum? Von Christian Schröppel und Thomas Walter
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Diagnose: Chronische Unterfinanzierung Von Christoph Hoffmeier
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Der Professor und das Proletariat Interview mit Alex Demirovic
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Geschichte: Eine Schule fürs Leben Von Nicole Gohlke
Unsere Meinung 16
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Parteitag der LINKEN: Eine neue Etappe Kommentar von Klaus-Dieter Heiser Inhalt
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Ölpest: Sofort enteignen Kommentar von Loren Balhorn
Nr. 16 | Sommer 2010 | www.marx21.de
Bookwatch 32
Was für eine Partei ist DIE LINKE? Von Stefan Bornost
Schwerpunkt: WM in Südafrika 37
Weltmeister und Wellblech Von Viv Smith
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ANC: Flüsse voller Blut Von Karsten Schmitz
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Ende der Apartheid: Enttäuschte Hoffnung Von Peter Dwyer und Leo Zeilig
48
Fußball und Nationalismus Von Nils Böhlke
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Schwerpunkt Bildungsstreik
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Stieg Larsson: Jenseits von Bullerbü
Kampfansage in Arizona
Kontrovers
Rubriken
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Perspektive: Gegenmacht Von Volkhard Mosler
Editorial
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Leserbriefe
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66
Falsche Kronzeugen Von Marianna Schauzu
Impressum
15
Netzwerk marx21
Neues aus der LINKEN
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Kultur
Weltweiter Widerstand
56
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Leistungssport: Spiel statt Sieg Von Yaak Pabst
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Nationalismus: Gegen den Strom Kommentar von Stefan Bornost
Serie: Was will marx21? (2) Arbeiterklasse
Kollumne 62
DGB-Kongress: Ein Auslaufmodell? Von Arno Klönne
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Stieg Larsson: Jenseits von Bullerbü Von Marcel Bois
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Die Geschichte hinter dem Song: Public Enemy By the Time I Get to Arizona Von Yaak Pabst
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Lesen, Hören, Sehen
Was macht das marx21-Netzwerk? 61 neu auf marx21.de
Klassenkampf im Königreich
Thailand kommt nicht zur Ruhe: Seit Wochen protestieren die Rothemden gegen Ministerpräsident Abhisit Vejjavija. Mitte Mai richtete die Armee ein Blutbad unter den Demonstranten an. Wir verfolgen die www.marx21.de | Sommer 2010 | Nr. 16Entwicklungen. Ein Blick aktuellen auf die Webseite lohnt sich also:
www.marx21.de
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Aktuelle Analyse
Brutalstmögliche Politik Hessens Ministerpräsident Roland Koch tritt von der politischen Bühne ab. Janine Wissler zieht Bilanz
B Janine Wissler ist Fraktionsvorsitzende der LINKEN im hessischen Landtag.
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aktuelle analyse
ei Demonstrationen in Hessen war »Koch muss weg« die am häufigsten skandierte Parole – bei Protesten gegen Studiengebühren, Sozialabbau oder den Ausbau des Frankfurter Flughafens. Daher war die Freude an den Hochschulen, bei Gewerkschaften und außerparlamentarischen Bewegungen besonders groß, als der Ministerpräsident überraschend seinen Rückzug aus der Politik erklärte. Roland Koch versuchte, stets Menschen gegeneinander auszuspielen und zu spalten, um die tatsächlichen Probleme zu verschleiern: Junge gegen Alte, Deutsche gegen Migranten, Christen gegen Muslime. Die Einführung von Studiengebühren begründete er beispielsweise damit, dass es ungerecht sei, wenn die Krankenschwester das Studium ihres zukünftigen Chefarztes finanziere. Aber er erklärte nicht, welchen Vorteil die Krankenschwester davon haben sollte, wenn Studierende, womöglich ihre eigenen Kinder, Gebühren zahlen. In seiner Amtszeit zeigte Koch immer wieder, dass Wirtschaftsliberalismus auf der einen und erzkonservative, fremdenfeindliche Argumentationsmuster auf der anderen Seite keinen Widerspruch darstellen, sondern zusammenwirken. Wenn er aufgrund seiner unsozialen Politik unter Druck kam, versuchte Koch davon abzulenken, indem er gegen Migranten hetzte. Dann betonte er die »deutsche Leitkultur« und warnte, den Deutschen könne es durch Einwanderung wie den Indianern in den USA ergehen, von deren Kultur nichts mehr übrig sei – ein Vergleich, der sonst nur aus NPD-Kreisen zu hören ist. Bereits bei der Landtagswahl 1999, bei der er als aussichtsloser Kandidat gegen den damaligen Ministerpräsidenten Hans Eichel ins Rennen ging, zog er die rassistische Karte und leitete eine unsägliche Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft ein. Dass er dabei Ängste und fremdenfeindliche Stimmungen schürte und Bürger am CDU-Stand fragten, wo sie »gegen Ausländer unterschreiben« könnten, nahm er in Kauf.
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Später sollte sich herausstellen, dass Kochs Wahlkampf nicht nur unsäglich geführt, sondern teilweise auch aus schwarzen Kassen finanziert worden war. Im Zusammenhang mit der Spendenaffäre der Bundes-CDU im Jahr 1999 wurden auch kriminelle Vorgänge im hessischen Landesverband aufgedeckt. So hatten der ehemalige Innenminister Manfred Kanther und der frühere Landesschatzmeister Sayn-Wittgenstein illegale Parteispenden in Millionenhöhe als »jüdische Vermächtnisse« auf ausländischen Konten getarnt. Roland Koch erklärte, diese Vorgänge seien ihm nicht bekannt gewesen, und er versprach die »brutalstmögliche Aufklärung«, belog dabei aber nachweislich die Öffentlichkeit. Dies räumte er später ein, verblieb aber trotz mehrfacher Rücktrittsforderungen im Amt. Die Spendenaffäre schadete Koch nicht nachhaltig. Im Jahr 2003 gewann er bei der Landtagswahl die absolute Mehrheit. Noch im selben Jahr schnürte er mit der »Operation Sichere Zukunft« das größte Sparpaket in der Geschichte des Landes Hessen. Vor allem bei den Landesbeschäftigten und im Sozialbereich, bei Schuldnerberatungen, der Aidshilfe und bei Frauenhäusern wurde gekürzt. Zudem trat die Regierung Koch aus der Tarifgemeinschaft deutscher Länder aus. Gleichzeitig verschleuderte Koch öffent-
liches Eigentum, privatisierte das erste deutsche Uniklinikum und machte auch vor der Teilprivatisierung eines Gefängnisses nicht halt. Über 50.000 Menschen protestierten gegen diese Politik in Wiesbaden. Es war die größte Demonstration seit Jahrzehnten. Bei der Landtagswahl 2008 erhielt die CDU schließlich die Quittung. Sie verlor 12 Prozent. Die große Siegerin hieß Andrea Ypsilanti, DIE LINKE zog in den Landtag ein und Koch verlor seine Mehrheit. Infolgedessen kam es zu einer beispiellosen Kampagne gegen ein mögliches rotrot-grünes Bündnis. Energiekonzerne, der Flughafenbetreiber Fraport und andere fürchteten den Verlust »ihrer« Regierung. Bekanntermaßen hat es Koch vier SPDlern zu verdanken, dass er Ministerpräsident bleiben konnte. Die hessische CDU unter Roland Koch hat sich »Law and Order« auf die Fahnen geschrieben. Das gilt jedoch nur, solange es nicht um die eigene Klientel geht. Eine Erfahrung, die das »Bankenteam« im Finanzamt Frankfurt zu spüren bekam. Dessen Aufgabe bestand darin, steuerrechtliche Vergehen im Bankensektor zu verfolgen und aufzuklären. Sie ermittelten auch gegen Großbanken. Mit Erfolg: Zusätzliche 250 Millionen Euro aus Steuernachzahlungen verbuchte das Land. Im Jahr 2001 erließ das Finanzamt Frankfurt jedoch auf Anweisung des hessischen Finanzministeriums die Verfügung, Geldtransfer ins Ausland nur noch zu untersuchen, wenn die Summe von 500.000 DM überstiegen werde. Geldtransfers unterhalb dieser Grenze wurden als »steuerrechtlich unverdächtig eingestuft«, was einer Einladung gleichkam, Steuerhinterziehung in gestückelten Teilbeträgen zu praktizieren. Einige Steuerfahnder aus der »Bankengruppe« protestierten gegen diese Anweisung. Sie befürchteten zu Recht, dass damit ein Schlupfloch geschaffen werden sollte und hatten den Verdacht, dass die Landesregierung milde mit Steuersündern umgehen wolle, um Investoren nicht zu verschrecken. Zuerst versuchte man, die unliebsamen Steuerfahnder durch Versetzungen zu disziplinieren, dann, sie unglaubwürdig zu machen. Ein Psychiater attestierte vier Fahndern aus Frankfurt »paranoid-querulatorische« Charaktereigenschaften und »chronische Anpassungsstörungen«, sie wurden als dienstunfähig beurteilt und zwangspensioniert. Im November 2009 verurteilte das Verwaltungsgericht Gießen den Psychiater wegen fehlerhafter und »vorsätzlich« falsch erstellter Gutachten zu einer
Geldbuße. Nach Auskunft der Landesregierung begutachtete dieser Psychiater seit 2005 insgesamt 22 Fälle in der Finanzverwaltung – in zwei Dritteln dieser Fälle sei er zum Urteil »Dienstunfähigkeit« gelangt. Mit dem Abgang Kochs wird nun nicht nur das Amt des hessischen Ministerpräsidenten frei. Auch bundespolitisch ist die Wirkung nicht zu unterschätzen. Koch war einer der Väter der HartzGesetze, er reiste mehrmals in die hessische Partnerregion Wisconsin und machte das »Wisconsin-Modell«, das Ideal eines deregulierten Arbeitsmarkts nach US-amerikanischem Vorbild, in Deutschland bekannt. Koch hob im Bundesrat immer dann die Hand, wenn es darum ging, Reiche und Unternehmen zu entlasten, um dann in Hessen zu erklären, die Kassen seien leer. Kurz vor seinem Rücktritt sorgte er noch einmal für einen Paukenschlag, als er verkündete, wer für die Milliardenkosten der Krise aufkommen solle. Seine Vorschläge: Sparen bei der Bildung, der Kinderbetreuung und bei den Familien. Alles im Namen der »Generationengerechtigkeit«. Was kommt nach Koch? Mit Volker Bouffier übernimmt ein weiterer Vertreter der sogenannten Tankstelle, eines informellen Zusammenschlusses in der Hessen-CDU, zu dem auch der ehemalige Verteidigungsminister Franz Josef Jung und die hessischen Minister Karlheinz Weimar und Jürgen Banzer gehören, das Ruder. Bouffier ist seit 1999 hessischer Innenminister und ein enger Vertrauter Kochs. Er ist ein Hardliner beim Abbau von Bürgerrechten und mehrfacher Träger des »Big Brother Awards«. Er steht im Mittelpunkt der »Polizeichef-Affäre«, mit der sich gerade ein Untersuchungsausschuss des Landtags befasst. Bouffier wird verdächtigt, einen Parteifreund rechtswidrig zum Präsidenten der Bereitschaftspolizei ernannt zu haben. Fakt ist: Das »System Koch« bleibt. Dennoch geht mit Koch ein wichtiger Vertreter des »Stahlhelmflügels« der CDU von Bord, der auch in der Bundespartei Wortführer derer war, die den Sozialstaat schwächen und den Überwachungsstaat ausbauen wollen. Es ist mehr als unwahrscheinlich, dass Bouffier oder der baden-württembergische Ministerpräsident Stefan Mappus diese Lücke schließen können. Damit ist dieser Flügel geschwächt. Koch geht in die Wirtschaft. Das ist konsequent, nachdem er über elf Jahre Politik für die Wirtschaft gemacht hat. Kochs Vater, selbst ehemals ein hochrangiger CDU-Politiker und Minister in Hessen, sagte einmal, sein Sohn studiere auf Bundeskanzler. Hoffen wir, dass er irrte.
Nachfolger Bouffier ist ein Hardliner
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AKtuelle Analyse
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Aktuelle Analyse
Mit der Axt Griechenland ist erst der Anfang – auch auf Deutschland rollt eine Kürzungs welle zu. Aufgabe der LINKEN ist es, Widerstand zu mobilisieren und nicht in Landesregierungen Sozialabbau mitzutragen, meint Lucia Schnell
W Lucia Schnell ist Mitglied im BundessprecherInnenrat der Sozialistischen Linken.
ir sind alle Griechen!« lautet ein Beschluss des Bundesparteitags der LINKEN, in dem zur Solidarität mit den Protesten in Griechenland und zu den Demonstrationen des Bündnisses »Wir zahlen nicht für eure Krise« aufgerufen wird. Protest ist jetzt das Gebot der Stunde, denn die Programme der europäischen Herrschenden, um die Krise auf die Bevölkerung abzuwälzen, nehmen Gestalt an. Bisher liegen folgende Maßnahmen auf dem Tisch: Die französische Regierung will die Staatsausgaben von 2011 bis Ende 2013 einfrieren. Jede zweite frei werdende Stelle im öffentlichen Dienst soll nicht
wieder besetzt werden. Die laufenden Ausgaben für den Staatsbetrieb sollen binnen drei Jahren um zehn Prozent gekürzt werden. Der neue britische Premierminister David Cameron will die Staatsausgaben in einem ersten Schritt um sieben Milliarden Euro senken. Gespart werden soll vor allem an den Universitäten und im öffentlichen Dienst. In Spanien plant die Regierung für die kommenden drei Jahre Einsparungen in Höhe von 50 Milliarden Euro. Für 2010 und 2011 kündigte sie zusätzliche Kürzungen von 15 Milliarden Euro an. Die Gehälter von Ministern und Beamten sollen gesenkt, Staatsinvestitionen zusammengestrichen werden. Die BerlusconiRegierung in Italien hat ein Sparpaket im Volumen von 24 Milliarden Euro auf den Weg gebracht. Kürzungen treffen vor allem den öffentlichen Dienst und das Gesundheitswesen. Auch in Irland sollen dieses Jahr die Gehälter im öffentlichen Dienst um bis zu 15 Prozent gekürzt und die Sozialausgaben um 760 Millionen Euro gesenkt werden. Andere europäische Regierungen wollen demnächst ihre Kürzungspläne bekannt geben. Diese Sparprogramme werden das Wirtschaftswachstum in der Eurozone bremsen. In Deutschland hat der scheidende hessische Ministerpräsident Roland Koch die Diskussion eröffnet. Er behauptet: »Wir leben in dramatischer Weise über unsere Verhältnisse. Die Zeit der Behutsamkeit ist vorbei.« Hintergrund seiner Drohung ist die aktuelle Steuerschätzung, die die Effekte der Wirtschaftskrise grob beziffert. Bund, Länder und Gemeinden müssen
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bis zum Jahr 2013 mit fast 40 Milliarden Euro weniger Einnahmen rechnen, als bislang angenommen. Koch will insbesondere in Bereichen wie Bildung oder Kinderbetreuung sparen, für die die Länder zuständig sind. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel ist für einen Sparkurs, auch sie sagt »Wir leben über unsere Verhältnisse«. Finanzminister Wolfgang Schäuble hat bereits eine Sparliste vorgelegt, die für den gegenwärtigen Haushalt Einsparungen von über drei Milliarden Euro vorsieht – verteilt auf alle Ressorts.
gegen Einschnitte, beim Umweltschutz 75 Prozent, bei den Sozialleistungen 66 Prozent und bei Verkehr und Straßenbau 64 Prozent. Einsparpotenzial sehen die Bürger der Umfrage nach vor allem bei Rüstung und Verteidigung: 82 Prozent sprechen sich für Kürzungen in diesem Bereich aus. Das bedeutet, dass die Ablehnung von Sparattacken auf den Sozialstaat bis weit in das konservative Lager hineinreicht. Diese Ablehnung in Protest auf der Straße zu verwandeln, wird die Aufgabe für die kommenden Monate sein.
Aktuelle News zu Krise und : Protest auf www.marx21.de Es war richtig von der nordrhein-westfälischen LINKEN, sich in den Verhandlungen mit SPD und Grünen nicht auf Kürzungen und Stellenabbau im Land einzulassen. Denn sich unter diesen Bedingungen an einer Regierung zu beteiligen, hätte bedeutet, Sozialabbau mittragen und ihn gegenüber den eigenen Anhängerinnen und Anhängern rechtfertigen zu müssen. Dies schadet der LINKEN und dem Aufbau von Widerstand gegen die Kürzungspolitik. In Brandenburg beispielsweise, wo die Partei gemeinsam mit der SPD die Landesregierung stellt, bedeuten die Zahlen der Steuerschätzung Folgendes: Voraussichtlich werden in den Jahren 2010 bis 2013 durch Steuern und Finanzausgleich 355 Millionen Euro weniger in die Kassen des Landes fließen als bislang angenommen. Finanzminister Helmuth Markov von der LINKEN erklärte angesichts dieser Zahlen: »Die erneut gesunkenen Einnahmeerwartungen zwingen uns, die Notwendigkeit von Ausgaben noch genauer zu prüfen, als dies ohnehin schon der Fall ist. Einschnitte werden sich nicht vermeiden lassen, wenn wir die Schuldenbremse einhalten und die Nettokreditaufnahme weiter zurückführen wollen.« Die brandenburgische Partei hatte den Posten des Finanzministers angestrebt, um zu beweisen, »dass auch die LINKE finanzpolitische Kompetenz hat«. Das Ergebnis: Jetzt gibt es einen »roten« Sparkommissar. Der Kürzungskurs wird die Glaubwürdigkeit der LINKEN in Brandenburg und die Entwicklung der Gesamtpartei belasten. Die Alternative zur Regierungsbeteiligung heißt Aufbau von Widerstand. Laut Umfragen wird das Sparpaket von großen Teilen der Bevölkerung abgelehnt, soweit es sich gegen den Sozialstaat richtet. 95 Prozent sind gegen Kürzungen bei der Bildung, 93 Prozent gegen Sparmaßnahmen bei der Kinderbetreuung. Im Gesundheitsbereich sind 83 Prozent
»Menschen versuchten, das griechische Parlament zu stürmen«
Eine Million Menschen beteiligten sich an den Demonstrationen gegen die Kürzungen der griechischen Regierung. Ein Bericht mit Videos über den Aufstand vor dem Parlament. Von Stathis Kouvelakis. http://tinyurl.com/M21Parlament
Erklärung eines Kollegen zum Tod von drei Bankangestellten in Athen
In einer Stellungnahme macht ein Angestellter der Athener Marfin-Bank den Bankvorstand für den Tod dreier seiner Kollegen am 5. Mai 2010 verantwortlich. Diese starben an Rauchvergiftung, als die Bank aus einer Demonstration heraus mit Brandsätzen angegriffen wurde. marx21 dokumentiert die Erklärung. http://tinyurl.com/M21Bank
»Wir sind Griechen«
Egal wo: Gewerkschaften solidarisch gegen Lohnraub und Sozialabbau. marx21 dokumentiert das Flugblatt »Wir sind Griechen« von ver.di Baden-Württemberg. http://tinyurl.com/M21Griechen
Aufstand gegen den IWF-Angriff
Eine Welle von Streiks und Massendemonstrationen hat Griechenland erfasst. Doch wie soll es im Kampf weitergehen? Müssen die Streiks ausgeweitet werden, oder soll sich die Linke für Neuwahlen einsetzen? Matthew Cookson berichtet aus Athen. http://tinyurl.com/M21Aufstand
Aufruhr gegen die Krise
marx21 sprach mit dem griechischen Aktivisten Sotiris Kontogiannis über die Schuldenkrise, Korruption und den Widerstand gegen die Kürzungspolitik der Regierung. http://tinyurl.com/M21Widerstand
»Den sozialen Widerstand stärken«
Die griechischen Lohnabhängigen brauchen die Solidarität der Linken. marx21 dokumentiert die »Erklärung zur Krise« von mehreren linken Organisationen aus Europa. http://tinyurl.com/erklaerung-zur-krise
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Aktuelle Analyse
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Aktuelle Analyse
Bankenkrise, Finanzkrise, Eurokrise – die Weltwirtschaft kommt nicht zur Ruhe. Christian Schröppel und Thomas Walter beantworten für die marx21-Leser die wichtigsten Fragen
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riechenland will mit einem Sparpaket den Staatsbankrott abwenden. Aber können Staaten überhaupt pleite gehen? Unternehmen gehen bankrott, wenn sie ihre Kosten nicht mehr durch Einnahmen auf dem Markt decken können. Auch der Staat hat Ausgaben, seine Einnahmen sind Steuern und Abgaben. Diese kann er erhöhen, wenn es an Geld fehlt. So betrachtet, kann der Staat nur schwer pleite gehen. Notfalls könnten Staaten, die sich in ihrer eigenen Währung verschuldet haben, mit ihren Zentralbanken einfach Geld drucken, um Schulden zu begleichen. Mehr Geld kann aber mehr Inflation bedeuten. Die Betrogenen sind die Gläubiger, die ihre Schulden mit wertlosem Geld erstattet bekommen. Sie werden neue Kredite nur zu höheren Zinsen mit Inflationsaufschlag geben. So können selbst große Staaten, wie die USA, die ihr eigenes Geld drucken können, in Schwierigkeiten geraten. Staaten, die gar nicht in eigener Währung, sondern in einer großen internationalen Währung wie US-Dollar oder Euro ver-
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aktuelle analyse
schuldet sind, müssen besonders aufpassen. Zwar sind solche Fremdwährungskredite oft billiger, weil die Zinsen auf solche Währungen häufig niedriger sind. Doch müssen die Staaten dann auch in dieser fremden Währung ihre Schulden begleichen. Diese fremde Währung muss die eigene Exportwirtschaft verdienen. Klappt das nicht, etwa wegen mangelnder Wettbewerbsfähigkeit oder wegen einer Weltwirtschaftskrise, dann fehlen diese Einnahmen in fremder Währung. Der Staat sitzt auf seinen Fremdwährungsschulden, kann sie nicht zurückzahlen und geht pleite. Meist kommt es zu einem Kompromiss mit den Gläubigern, die auf einen Teil der Forderungen verzichten müssen. Beispiele von Staatsbankrotten oder Beinahebankrotten sind New York City 1975, Russland 1998 und Argentinien 2002. Offensichtlich kann das Wirtschaftsleben auch nach einem Bankrott weitergehen.
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elche Folgen haben Staatspleiten? Ökonomen meinen, die Handlungsfähigkeit eines Staates sei nach
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einem Bankrott auf lange Sicht eingeschränkt, weil er erst wieder Vertrauen schaffen muss, bis er neue Kredite bekommt. Wird der Staatsbankrott jedoch auf höhere Gewalt zurückgeführt, und die jetzige Weltwirtschaftskrise spricht dafür, dann erweisen sich solche Sorgen als unbegründet. Schließlich müssen unsichere Staaten auch Zinsen mit Risikoaufschlag zahlen, sodass die erwarteten möglichen Verluste von den Gläubigern schon in dem Preis berücksichtigt sind, zu denen sie die Anleihen gekauft haben. Eine Folge einer Staatspleite kann sein, dass ausländisches Kapital stärker an Einfluss gewinnt. Gingen große Staaten wie die USA, die BRD oder die EU pleite, würde das wohl weniger nur diese Staaten als vielmehr den Weltkapitalismus insgesamt treffen. Dagegen kämpfen zurzeit die großen Notenbanken der Welt.
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ie kann sich die Linke zur Staatsverschuldung stellen? In den bürgerlichen Medien wird häufig Staatsverschuldung als etwas ganz Be-
Kein Ende in Sicht? Europas Ökonomen wissen nicht weiter
drohliches dargestellt. Es wird behauptet, dass Staatsschulden zukünftig von unseren Kindern und Kindeskindern zurückgezahlt werden müssen; dass Staaten ihre Schulden womöglich mit Geld zurückzahlen, welches die Zentralbanken zu diesem Zweck drucken , und dass so eine Inflation entsteht, die uns alle belastet. Um diese angeblichen Gefahren zu vermeiden, wird von den Medien gefordert, dass der Staat »spart«. Gemeint sind damit Sozialausgaben. Dort soll der Rotstift ansetzen. Linke wehren sich zu Recht dagegen, dass beim Sozialstaat gekürzt wird. Zuweilen wird dabei auch die Auffassung vertreten,
dass von einer hohen Staatsverschuldung überhaupt keine Gefahren ausgingen. Tatsächlich verdienen Kapitalisten an den Staatsschulden, weil sie vom Staat Zinsen erhalten. Deshalb sollten auch Linke nicht einfach für Verschuldung sein, in der Hoffnung, dass so Kürzungen beim Sozialstaat vermieden werden können. Schulden sind oft gar nicht dadurch entstanden, dass zuviel für Soziales ausgegeben wurde, sondern dadurch, dass den Kapitalisten immer mehr Steuergeschenke gemacht wurden. Sollen Außenstände abgebaut werden, müssen Einkommen und Vermögen der Reichen besteuert werden. Verschuldung und Krise
hat nicht der Sozialstaat verursacht, also muss auch nicht bei sozialen Leistungen gekürzt werden.
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arum haben Staaten Schulden? Ein Kapitalist investiert sein eigenes Kapital, das so genannte Eigenkapital, um Profit zu machen. Noch mehr Profit kann er machen, wenn er von der Bank weiteres Geld, also Fremdkapital, leiht, vorausgesetzt, die Zinsen darauf sind nicht zu hoch. Ein Kapitalist, der auf diese Weise mehr Kapital kommandiert, hat einen Konkurrenzvorteil gegenüber anderen Kapitalisten. Für Staaten gilt grundsätzlich dasGselbe. Mit Kredit fi-
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Aktuelle Analyse
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nanzieren sie Infrastruktur, Bildung und Ähnliches. Schnellere Straßen oder auch in staatlichen Universitäten besser ausgebildete Hochschulabsolventen senken Kosten für Unternehmen, die dann mehr Umsatz und Profite machen können. Dann können auch mehr Steuern erzielt werden. In Krisen brechen Steuern und andere Staatseinnahmen weg. Würde der Staat jetzt seine Ausgaben den rückläufigen Einnahmen anpassen, würde dies die Krise noch verstärken. So geschah es in der Weltwirtschaftskrise 1929. Hält der Staat aber seine Ausgaben aufrecht, indem er sie über Schulden finanziert, dann stabilisiert das die Wirtschaft. Im Aufschwung, so hoffen die Ökonomen, steigen dann wieder Steuer- und andere Staatseinnahmen, sodass der Staat seine Schulden zurückzahlen kann. Wie Marx aber feststellte, neigt der Kapitalismus systematisch zu Krisen. Die Aufschwünge haben nicht ausgereicht, um die Schulden zurückzuzahlen, welche weiter gestiegen sind. Deshalb spart der Staat seit den 1980er Jahren zunehmend im Bereich Soziales. Ein Grund, weshalb das kaum gelang, besteht darin, dass eine Verringerung staatlicher Ausgaben die Nachfrage senkt, wirtschaftliche Entwicklung bremst und damit die Staatseinnahmen drückt. Schuldenabbau wird so zu einer erfolglosen Anstrengung. Es entspricht zwar der bürgerlichen Ideologie, zu hoffen, dass die private Wirtschaft den Rückzug des Staates mit eigener Aktivität ausgleicht. Realistisch ist diese Erwartung allerdings nicht.
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on wem leihen sich Staaten Geld? Staaten leihen sich Geld oft von den Banken, diese leihen Geld wiederum von Privatpersonen. Staatsschulden sind so das Geldvermögen der Privaten. Dieses ist sehr ungleich verteilt. Laut Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung besaßen im Jahr 2002 die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung 56 Prozent aller Geldvermögen. Zahlt der Staat also seine Schulden nicht oder nur zum Teil zurück, trifft es vor allem diese Reichen.
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arum sinkt der Euro-Kurs? Der Kurs einer Währung, etwa des Euro in US-Dollar, bestimmt sich nach Angebot und Nachfrage. Wer fragt Euro nach? Zunächst diejenigen, die Waren aus dem Euro-Raum kaufen wollen. Ver-
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aktuelle analyse
lieren europäische Anbieter an Wettbewerbsfähigkeit, weil sie zu teuer oder in zu schlechter Qualität produzieren, sinkt die Nachfrage nach europäischen Produkten und damit nach Euro. Der Euro wird billiger, sein Kurs sinkt. Solche Kräfte wirken aber nicht von heute auf morgen, sondern eher langfristig. Im Zeitalter internationaler Finanzmärkte ist die Nachfrage nach Euro wichtiger. Kapitalanleger orientieren sich daran, welche Rendite eine Geldanlage in Euro abwirft, seien es Profite von im Euroraum tätigen Unternehmen, seien es die Zinssätze von Geldanlagen in Euro. Bei hoher staatlicher und privater Verschuldung in Europa wird befürchtet, dass hier Geld nicht mehr gut angelegt ist. Ist die EUWirtschaft geschwächt, hält die Europäische Zentralbank die Zinsen niedrig, es kann also nicht viel an Zinsen verdient werden. Die Kapitalanleger fragen keine Euro mehr nach, der Euro-Kurs sinkt. Das kann sogar wünschenswert sein. Wird der Euro gegenüber dem Dollar billiger, werden auch alle Waren aus dem Euroraum in Dollar gerechnet billiger. Die Exporte
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können wieder, zu Lasten der Konkurrenz, boomen. Auf der anderen Seite werden aber Rohstoffe wie Öl, die in USDollar zu bezahlen sind, teurer.
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ird gegen den Euro spekuliert? Für die aktuelle Krise im EuroRaum werden immer wieder vor allem Spekulanten verantwortlich gemacht. Das Problem ist, dass inzwischen riesige Finanzinstitutionen entstanden sind, die sozusagen die sprichwörtlichen Elefanten im Porzellanladen der Weltwirtschaft sind. Verkaufen solche Institutionen den Euro, sinkt der Kurs des Euro in Dollar schon automatisch, auch ohne dass finstere Machenschaften von Spekulanten dahinter stecken müssen. Verkauft zum Beispiel ein großer Anleger Euro, dann kann schon das Herdenverhalten anderer Anleger einen Kursrutsch des Euro nach unten bewirken. Hinzu kommen die so genannten Leerverkäufe. Ein Anleger verkauft zu einem jetzt vereinbarten Preis Euro zu einem zukünfigen Liefertermin, aber besitzt diese gar nicht. Vor dem zukünftigen Verkauf muss
sondern parken sie als Tagesgeld bei der Europäischen Zentralbank. Die meisten internationalen Zahlungsverpflichtungen müssen allerdings nicht in Euro, sondern in US-Dollar beglichen werden. Daher ist der US-Dollar bei einem allgemeinen Anstieg der Liquiditätsnachfrage besonders gesucht: In einer solchen Situation kann der Kurs des Euro, oder auch anderer Währungen, deutlich einbrechen. Die Europäische Zentralbank versucht nun, starke Kursschwankungen an den Märkten durch den Aufkauf von Staatsanleihen und durch die Bereitstellung von Liquidität in US-Dollar zu verhindern. Hierfür hat sie auch eine Währungstausch-Vereinbarung mit der Zentralbank der USA neu aufgelegt. Ein Finanzsystem, das im Boom den Eindruck erweckt hat, Quelle immer neuen Reichtums für die Gesellschaft zu sein, wird in der Krise zum Mühlstein für die gesamte wirtschaftliche Entwicklung.
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er sich daher mit Euro eindecken, um überhaupt liefern zu können. Im Unterschied zu realen Verkäufen kann ein Spekulant praktisch unbegrenzt Aktien oder Anleihen leer verkaufen. Er spekuliert darauf, dass bis zum vereinbarten Termin der Euro billiger geworden ist. Die Versuchung, hier nachzuhelfen, indem man die Medien beeinflusst und Gerüchte streut, ist natürlich groß. Große Anleger haben da naturgemäß mehr Möglichkeiten als kleine.
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enn Spekulanten nicht die Hauptschuldigen sind, woher kommt dann die Euro-Krise? Der plötzliche Rückgang des Euro-Kurses hat neben der Spekulation eine weitere Ursache: Viele Staatsanleihen dienen den Anlegern als Sicherheiten für Kreditaufnahmen, und Anlagen in vielen Staatsanleihen werden von den Regulierungsbehörden als so sicher betrachtet, dass sie zur Berechnung des den Banken vorgeschriebenen Mindesteigenkapitals nicht herangezogen werden. Steigt das Risiko eines Zahlungsausfalls deutlich,
wie im Falle Griechenlands, so werden diese Anleihen vielfach nicht mehr als Sicherheiten anerkannt, und Banken, die eine geringe Eigenkapitalquote haben, müssen riskante Anleihen verkaufen und Anleihen mit geringerem Risiko kaufen. Steigt das Ausfallrisiko plötzlich, so kann das dazu führen, dass es Notverkäufe von Staatsanleihen gibt, etwa wie bei der Zwangsversteigerung eines Hauses. Die Gefahr solcher Notverkäufe ist umso größer, je mehr Banken sich in einer kritischen Eigenkapitalsituation befinden. Genau das ist der Fall, weil die Banken bereits vor der Krise die internationalen Bestimmungen über das Mindestkapital bis zum Äußersten ausgereizt haben und jetzt ein im Vergleich zum tatsächlichen Risiko sehr geringes Eigenkapital besitzen. Da Banken befürchten, Anleihen unter Umständen mit starkem Verlust verkaufen zu müssen, oder sogar vom Zahlungsausfall einer anderen Bank betroffen zu sein, horten sie Liquidität, das heißt, sie legen beispielsweise Kundeneinlagen nicht mehr in längerfristigen Anleihen an,
as bringen Finanztransaktionssteuer und Bankenabgabe? Viele Finanzgeschäfte sind reine Nullsummenspiele. Was der eine gewinnt, verliert der andere. Sie fördern die Kapitalkonzentration, sodass die Regierungen immer stärker von Finanzgiganten abhängig werden. In der politischen Diskussion stehen deshalb aktuell zwei Vorschläge, mit denen solche Finanzgeschäfte eingedämmt werden sollen: Finanztransaktionssteuer und Bankenabgabe. Bei der Finanztransaktionssteuer würde ebenso wie bei der so genannten TobinSteuer ein bestimmter Prozentsatz des getauschten Werts als Steuer abgeführt werden. Gegner der Finanztransaktionssteuer führen unter anderem an, dass Banken die Steuer auf Anleger abwälzen, und daher Sparer ebenso wie Unternehmen stark belastet würden. Tatsächlich würde eine Transaktionssteuer hingegen vor allem solche Geschäfte belasten, bei denen Werte beispielsweise mehrfach täglich getauscht werden. Solche Geschäfte betreiben Banken und Investmentfonds vor allem untereinander, Unternehmen und Sparer legen hingegen Geld langfristiger an, und auch internationale Handelsunternehmen nutzen Währungsabsicherungsgeschäfte mit einer Laufzeit von meist mehreren Monaten.
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Aktuelle Analyse
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Eine Finanztransaktionssteuer hätte die gegenwärtige Wirtschaftskrise nicht verhindert. Die Verbriefung von Kredit an Immobilienkäufer geringer Kreditwürdigkeit, eine der Hauptursachen der Krise, hatte mit dem kurzfristigen Handel beispielsweise von Aktien nichts zu tun. Allerdings kann mit der Finanztransaktionssteuer die Komplexität des Finanzwesens verringert werden. Den größten Anteil an der Finanztransaktionssteuer müssten voraussichtlich Händler in Banken und Fonds tragen, die mit ihren Geschäften in den letzten Jahren oft riesige Bonuszahlungen generiert haben – die Steuer würde also nicht die Falschen treffen. Hingegen würde eine Bankenabgabe nicht auf die Tauschgeschäfte, sondern auf den Umfang eingegangener Investitionen von Banken und anderen Finanzinstituten erhoben werden. Die Abgabe wird entweder in den allgemeinen Haushalt oder aber in einen besonderen Fonds eingezahlt, der im Krisenfall zur Rettung von Banken eingesetzt wird. Eine solche Abgabe würde dazu führen, dass Finanzinstitutionen beispielsweise Anleihen in geringerem Umfang als Sicherheiten für neue Kredite verwenden würden, da sie bei einem derartigen Kaskadenmodell für jede neue Stufe zusätzliche Steuern auf den Bruttobetrag der Investition zahlen müssten. Auch die Bankenabgabe würde in der Tendenz zu einer Entflechtung von Kreditbeziehungen führen. Je weniger die Banken untereinander verflochten sind, desto schwieriger können sich Finanzkrisen ausbreiten. Verhindern kann eine solche Abgabe Krisen im Finanzsystem aber nicht.
higkeit also verhindert wurde. Zu diesen Maßnahmen gehören unter anderem • der Aufkauf von risikobehafteten Investitionen, etwa Verbriefungen von Hypotheken an Immobilienbesitzer in den USA oder Staatsanleihen in der Euro-Zone, • die Gewährung von Krediten, sodass fällige Zahlungen geleistet werden können, • die Übernahme von Garantien für Anleihen, die Banken am Kapitalmarkt aufnehmen, meist gegen eine Gebühr, • die Ausgabe neuer Aktien von Banken an den Staat, so dass der mit dem Verkauf der Aktien erlöste Betrag als zusätzliches Eigenkapital zur Verfügung steht und damit das Pleiterisiko verringert wird, wie im Fall der Commerzbank, • die vollständige Verstaatlichung einer Bank, so dass die Verpflichtungen, ebenso wie die Aktiva, der Bank komplett vom Staat übernommen werden, wie im Fall der Hypo Real Estate. Mit den Bürgschaften und Krediten, ebenso wie mit der vollständigen oder teilweisen Übernahme des Eigentums an Banken hat der Staat Kapital, das er zuvor bei Anlegern geliehen hat, zum Erwerb von vergleichsweise riskanten Anlagen wie Aktien, zur Deckung möglicher Ver-
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st das Geld aus der Bankenrettung verloren? Viele Staaten haben seit Beginn der gegenwärtigen Wirtschaftskrise das Finanzsystem mit verschiedenen Maßnahmen gestützt. Dazu gehörten auch Maßnahmen, mit denen Banken gerettet, ihre mögliche Zahlungsunfä-
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aktuelle analyse
pflichtungen aus Bürgschaften, und zur Übernahme von zukünftigen Zahlungsströmen aus Forderungen und Verbindlichkeiten verstaatlichter Banken verwendet. Verschärft sich die Krise, dann wird der Staat letztlich mit Rettungsmaßnahmen Verlust machen. Andererseits ist es denkbar, dass bei einem günstigeren Verlauf der Krise zum Beispiel die erworbenen Aktien zu einem Preis verkauft werden können, der deutlich über dem Kaufpreis liegt. Mit den Gebühren für die ausgesprochenen Garantien hat der deutsche Bankenrettungsfonds bislang etwa 0,7 Milliarden Euro Erlöse erzielt – das würde sich allerdings schlagartig ändern, sobald nur eine der Garantien fällig würde. Viele staatliche Rettungsinvestitionen lassen sich nur schwer bewerten, da tatsächlich oft niemand weiß, ob beispielsweise die Kreditnehmer einer verstaatlichten Bank letztlich die Forderungen der Bank begleichen werden. Aktuell schätzt der Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung, im vergangenen Jahr durch die Maßnahmen zur Rettung der Hypo Real Estate 4,75 Milliarden Euro verloren zu haben. Skandalös an der Bankenrettung ist vor allem, dass riesige Verluste, die jederzeit eintreten können, von der Allgemeinheit bezahlt werden müssen, während die Dividenden- und Bonuszahlungen der Banken aus den Jahren des Aufschwungs unangetastet bleiben. Die Gewinne aus riskanten Geschäften in guten Zeiten werden privatisiert – dreht sich der Wind, so werden mit den Maßnahmen zur Bankenrettung die Verluste teilweise von der gesamten Gesellschaft übernommen. Konsequent wäre es, wenn dem Gemeinwesen zugleich in guten Zeiten die Erträge der Investitionen der Finanzinstitute zugutekommen würden, was mit einer Verstaatlichung von Banken und Fonds möglich wäre. ★ ★★ Christian Schröppel ist Diplom-Soziologe und lebt in Darmstadt. Thomas Walter ist Diplom-Volkswirt und lebt in Berlin.
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Leserbriefe Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe gekürzt zu veröffentlichen. Zusendungen – bitte mit Absender – an die Redaktionsadresse oder per Email an redaktion@marx21.de
Zum Interview»Der Zölibat ist Kern des Problems« mit Maya Mosler (Heft 15) Maya Mosler wirft einen interessanten Blick auf Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche. Die Aussage, der Zölibat sei Kern des Problems, greift aber viel zu kurz. In Australien wurden hunderttausende Kinder der »Verlorenen Generation«, vor allem aus ihren Familien entführte Aborigines, in weltlichen Einrichtungen oder anglikanischen Missionen versklavt und unzählige missbraucht. Es gibt hinduistische Priester, buddhistische Mönche, jüdische Rabbis, muslimische Geistliche, die Kinder sexuell missbrauchen. Und es gibt Missbrauch in weltlichen Einrichtungen wie Sportvereinen und in der religiösen wie der atheistischen Familie. Außerdem suchen auch katholische Priester, so sie den Zölibat umgehen, mehrheitlich Erwachsenenbeziehungen. Den Beginn sexueller Unterdrückung und damit die Wurzel für Kindesmissbrauch werden wir bei der Entstehung von Klassengesellschaften suchen müssen, womit die »weltgeschichtliche Niederlage des weiblichen Geschlechts« eingeläutet wurde, wie Friedrich Engels es nannte. Frauenfeindliche Ideologien und repressive Sexualmoral entstanden begleitend. Institutionen, die unkontrollierte Verfügungsgewalt über Menschen ermöglichen, gekoppelt mit diesen Ideologien waren schon immer Brutstätten sexueller Übergriffe. Wir haben heute die Aufgabe, gegen sexuellen Missbrauch und Unterdrückung überall, nicht nur in katholischen Einrichtungen, anzugehen. Wirklich gleichberechtigte sexuelle Beziehungen wird es aber erst in einer klassenlosen Gesellschaft geben. Rosemarie Nünning, Berlin
Impressum tikapitalistisch, einem archaisch-bäuerlichen Ursprungsmythos von Blut und Boden zugewandt. Das Kapital wurde als Finanzjudentum von der ehrlichen deutschen Wertschöpfung abgespalten und musste deshalb vernichtet werden.« Das ist mir ein zu großes Zugeständnis an den herrschenden Geschichtsrevisionismus. Zwar haben Nationalsozialisten zeitweise so ähnlich argumentiert, aber es kommt nicht darauf an, ob sich Staaten als »nationalsozialistisch«, »sozialistisch« (beide Begriffe wurden im Nationalsozialismus verwendet) oder als »kommunistisch« bezeichnen, sondern was sie wirklich sind. Die Nazis sind ja auch nicht deshalb gleich Vorläufer der Europäischen Union, nur weil ihr Zentralbankpräsident Walter Funk schon von »Europäischer Wirtschaftsgemeinschaft« sprach, die nach dem Krieg dann auch unter dem Kürzel EWG als Vorläufer der heutigen EG geschaffen wurde. Derselbe Funk schlug 1940 ein internationales System fester Wechselkurse vor, ähnlich dem dann später von den Alliierten eingerichteten System von Bretton Woods. Die Deutsche Bank wurde zerschlagen – nicht von den Nazis, sondern nach der Nazi-Niederlage von den Alliierten und auch nur vorübergehend. Der bürgerliche Ökonom Wilhelm Röpke berichtet, dass 1933 ein keynesianischer Ökonom Hitler davon überzeugen wollte, kreditfinanzierte Konjunkturprogramme aufzulegen. Hitler antwortete, wie viele Politiker heute auch, das erzeuge Inflation und das hätten ihm »alle befragten Bankiers« bestätigt. Später finanzierte allerdings die Hitlerregierung Rüstungsprogramme über Kredite und Hitler entließ 1939, endgültig 1943, den Chef der Zentralbank Hjalmar Schacht, als dieser sich widersetzte. (1944 kam Schacht ins KZ, bei den Nürnberger Prozessen wurde er freigesprochen, ein deutsches Gericht sprach ihn nach Berufung ebenfalls frei.) Einzelne Kapitalisten wie der Flugzeugbauer Hugo Junkers, eigentlich dem »schaffenden Kapital« zuzurechnen, gerieten mit den Nazis in Konflikt, Junkers Fabrik wurde für die Rüstung verstaatlicht. Die Nazis liberalisierten den Straßenverkehr, indem sie im eroberten Europa das Verbot für Fernlaster auf der Straße aufhoben, das zugunsten der Eisenbahnen bestanden hatte. Sie waren die Ersten, die staatlich gegen das Rauchen vorgingen, und schafften auch 1941 die heute bei den Nazis so beliebte Frakturschrift ab, weil sie nicht mehr zu den imperialistischen Ansprüchen passte. Das alles wirkt nicht sehr antikapitalistisch oder »archaisch-bäuerlich«, sondern ist kapitalistischer Imperialismus. Thomas Walter, Berlin
Zum Leserbrief von Andreas H. aus Bonn (Heft 14) Andreas H. schreibt in seinem Leserbrief: »Dann lässt sich der Nationalsozialismus auch nicht mehr nur als Zuspitzung des Kapitalismus, sondern als spezifisch deutsche Reaktion gegen die Moderne verstehen. Und diese Reaktion war durchaus an-
In eigener Sache In der vergangen Ausgabe fehlten auf Seite 19 versehentlich die letzten vier Wörter des Artikels. »...Blut und Schweiß lebte.«, hätte es heißen sollen. Wir bitten dies zu entschuldigen.
marx21 – Magazin für internationalen Sozialismus Nr. 16, Sommer 2010 ISSN 1865-2557 www.marx21.de Herausgeber Stefan Bornost (V.i.S.d.P.) Redaktion Marcel Bois, Stefan Bornost, Yaak Pabst Ständige Mitarbeit Jan Maas (Neues aus der Linken), Bruce Paenson (Weltweiter Widerstand), Max Steininger (Klassiker des Monats), Volkhard Mosler Mitarbeit an dieser Ausgabe Nils Böhlke, Michael Bruns, Christine Buchholz, Gabriele Engelhardt, Michael Ferschke, Jens Fischer, Nicole Gohlke, Werner Halbauer, Klaus-Dieter Heiser, David Meienreis, David Paenson, Rosemarie Nünning, Lucia Schnell, Dirk Spöri, Ben Stotz, Christoph Timann, Janine Wissler, Luigi Wolf Infografiken Karl Baumann Layout Philipp Kufferath Covergestaltung Yaak Pabst, Bild: motivio Bildagentur Redaktion Online Yaak Pabst (verantw.), Frank Eßers, Jan Maas Druck Druckhaus AJSp Ateities g. 10 LT-08303 Vilnius Abonnement marx21 erscheint fünfmal jährlich. 4 Euro pro Ausgabe (inkl. Porto) Telefon: 030 – 89 56 25 11 Fax: 030 – 56 82 28 84 Mail: abo@marx21.de Bankverbindung Postbank Hamburg BLZ 200 100 20 Konto 662 310 205 Kontoninhaber: S. Bornost Redaktionsadresse Redaktion marx21 PF 44 03 46 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de
Die nächste Ausgabe von marx21 erscheint im September 2010 (Redaktionsschluss: 16.08.)
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LESERBRIEFE
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Unsere Meinung Parteitag der LINKEN
Eine neue Etappe Von Klaus-Dieter Heiser
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ür die tageszeitung ist die Richtung, in die sich DIE LINKE bewegt, »deutlicher als je zuvor«. Ein Kommentator der Berliner Zeitung hebt hervor: »Es entsteht eine wirklich neue Partei, deren Mitglieder schon zu einem Drittel keiner der Vorgängerparteien angehört haben.« Tatsächlich, der Rostocker Parteitag markiert eine neue Entwicklungsetappe der LINKEN und ist zugleich Spiegel ihrer aktuellen Situation. Fast auf den Tag genau vor fünf Jahren leitete das Wahlergebnis der Landtagswahlen in NordrheinWestfalen (NRW) den Gründungsprozess der Partei DIE LINKE ein. Dieser Prozess ist jetzt abgeschlossen. Die SPD erhielt seinerzeit im größten Bundesland eine drastische Abfuhr für ihre Hartz-IVPolitik. WASG und PDS, die damals noch getrennt angetreten waren, verfehlten zwar beide den Einzug in den Landtag, das Potenzial der WASG unter enttäuschten Sozialdemokraten und Nichtwählern eröffnete jedoch die Perspektive auf eine neue linke Kraft in Deutschland. Es war die Beharrlichkeit von Klaus Ernst und anderen Gewerkschaftern aus der WASG, die Oskar Lafontaine davon überzeugten, sich für einen Zusammenschluss von WASG und PDS zu engagieren und schließlich die Grundzüge der neuen Partei mitzuprägen. Inzwischen ist DIE LINKE in 13 Landtagen vertreten, auch in NRW. Mehr als fünf Millionen Wählerinnen und Wähler stimmten für sie bei der Bundestagswahl im vergangenen Herbst. In ver-
Es gilt die Gewerkschaften aus der babylonischen Gefangenschaft der SPD zu befreien schiedenen Kampagnen – zum Beispiel bei Sozialprotesten, im Bildungsstreik, für den gesetzlichen Mindestlohn, gegen die Kopfpauschale im Gesundheitswesen, gegen den Krieg in Afghanistan, bei antifaschistischen Aktionen – ist DIE LINKE wirksam. Die Delegierten des Parteitags haben mit großer Sensibilität den neuen Parteivorstand gewählt. Die unterschiedlichen innerparteilichen Strömungen wurden ebenso berücksichtigt wie regionale Verankerungen und Erfahrungen. Bemerkens-
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Unsere Meinung
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wert: Es bekamen diejenigen das stärkste Votum, die sich für den Aufbau einer aktionsorientierten Mitgliederpartei stark machen – etwa Christine Buchholz (Hessen), Stefanie Graf (SDS), Nele Hirsch (Berlin) oder Wolfgang Gehrcke (Hessen). Für den rechten Parteiflügel um das Forum Demokratischer Sozialismus (FDS) brachte der Parteitag eher einen Dämpfer. So gab es auf dem Parteitag eine starke Stimmung gegen »Regierungsbeteiligung ohne Bedingungen«. Das wurde in mehreren Reden deutlich, vor allem in jener von Sahra Wagenknecht, die vor einer Anpassung an die SPD und Kompromisse in der Regierung warnte. Sie erhielt tosenden Applaus und ein sehr gutes Ergebnis bei der Wahl zum Parteivorstand. Der in Rostock neu gewählte Parteivorstand um Gesine Lötzsch und Klaus Ernst steht vor der Aufgabe, den Parteiaufbau voranzubringen und noch bestehende Unterschiede zwischen West und Ost zu überwinden. Neue Mitglieder sind im Westen zu gewinnen, um die Partei insgesamt zu stärken und die große Diskrepanz zwischen den Mitgliederzahlen und den Wählerstimmen zu überwinden. Im Osten ist die hohe Überalterung der Mitgliedschaft eine große Herausforderung. Die große Substanz für die Partei DIE LINKE steckt – in West wie Ost – im Aufbau einer kampagnenfähigen Mitgliederpartei, die nicht nur bei Wahlen gewinnen kann, sondern auf der Straße, in Wohngebieten, Betrieben und Universitäten präsent ist. Als aktionsorientierte Partei, die das gesellschaftliche Kräfteverhältnis nach links verschieben will, wird sie in der Lage sein, eine Politik der Aktionseinheit voranzubringen und dabei die Gewerkschaften aus der babylonischen Gefangenschaft der SPD zu befreien. Sie wird die Trennung von Politik und Ökonomie – hier das Parlament und die Partei und dort die Gewerkschaften – überwinden helfen, damit die Arbeitnehmer in Deutschland bald auch so kämpfen wie ihre griechischen Kolleginnen und Kollegen.
Klaus-Dieter Heiser ist Mitglied im Bezirksvorstand von DIE LINKE.Berlin-Neukölln.
© Klaus Stuttmann
Ölpest im Golf von Mexiko
Sofort enteignen Von Loren Balhorn
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S-Präsident Obama hat als Reaktion auf die Ölpest im Golf von Mexiko eine schärfere Kontrolle der multinationalen Energieunternehmen angekündigt. Das ist nicht mehr als eine Beruhigungspille für die Öffentlichkeit. Den Kern des Problems geht er damit nicht an. Tatsache ist, dass es in den USA bereits sehr scharfe Auflagen für die Ölförderung gibt. Allerdings werden die Teile des Staatsapparats, die diese Auflagen überwachen sollen, weitgehend von der Ölindustrie kontrolliert. Im BP-Fall war die Aufsichtsbehörde für Bodenschätze (Minerals Management Service, MMS) zuständig. Sie wurde schwer von den Ölmultis geschmiert. MMS-Angestellte nahmen Geschenke von ihnen an, ließen sich zum Essen einladen und waren den Ölfirmen stets zu Diensten. So erlaubte das regionale
MMS-Büro in Lake Charles (Louisiana) der Industrie beispielsweise, die Inspektionsberichte selbst zu schreiben. Die Parallelen zur »Aufsicht« über die
Das Kapital läßt sich nicht effektiv kontrollieren Finanzmärkte sind offensichtlich: Auch hier kamen die vermeintlichen Wachhunde entweder direkt aus der Finanzindustrie oder waren von diesen eingekauft. Stets haben sie die riskantesten Geschäfte als unbedenklich eingestuft. Dem Ausströmen giftigen Öls aus dem Meeresgrund ist das Ausströmen giftiger Wertpapiere aus dem Bankensektor vorausgegangen. Das löste vor knapp zwei Jahren die Finanzkrise aus. Auch damals
wurde viel darüber geredet, die schuldigen Unternehmen zu regulieren. Geschehen ist nichts. Die Finanzindustrie hat jeden Versuch effektiver Kontrolle torpediert. Kapitalkraken wie BP oder die Großbanken lassen sich nicht effektiv kontrollieren, dafür sind ihre Macht und Relevanz für den Staat zu groß. DIE LINKE in Nordrhein-Westfalen hat für ihre Forderung nach Verstaatlichung der Energieriesen RWE und Eon viel Prügel einstec ken müssen. Die Ölpest zeigt: Sie lag genau richtig.
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Loren Balhorn ist in den USA aufgewachsen, lebt derzeit in Berlin.
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Schwerpunkt Bildungsstreik
22 Chronische Unterfinanzierung Schwarz-Gelbe Bildungsk端rzungen
24 Der Professor & das Proletariat Interview mit Alex Demirovic
26 Eine Schule f端rs Leben Linke Bildung
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»Das dreigliedrige Schulsystem ist unsozial« Wie funktioniert die Selektion in Wirtschaft, Politik und im Bildungssystem? marx21 sprach mit dem Eliteforscher Michael Hartmann
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er ehemalige Kanzler Gerhard Schröder und der Manager Jürgen Schrempp sind beide aus kleinen Verhältnissen an die Spitze von Staat und Wirtschaft gekommen. Du sagst aber: »Wer arm geboren wird, stirbt auch arm.« Ist das nicht ein Widerspruch? Ausnahmen von der Regel gibt es immer. Aber die Erhebungen sind eindeutig – es hat gerade im letzten Jahrzehnt dramatische Veränderungen der sozialen Durchlässigkeit gegeben. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat Folgendes festgestellt: In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre ist jeder Zweite, der arm war, innerhalb der nächsten vier Jahre aus der Armut herausgekommen – zum Beispiel durch die Aufnahme einer Arbeit. Das ist in der Mitte des letzten Jahrzehnts gerade noch einem Drittel gelungen. Das Verbleiben in Armut wird also zunehmend zur Regel. Zu den Abweichungen, den Aufsteigern: Die gibt’s in der Politik häufiger als in der Wirtschaft. Schröder stellte keine absolute Ausnahme dar, wir hatten bis zum Ende der 1990er Jahre regelmäßig eine beträchtliche Zahl von Arbeiterkindern in den verschiedenen Bundesregierungen. In der aktuellen ist es allerdings nur noch Ronald Pofalla – auch das eine dramatische Veränderung in relativ kurzer Zeit. In der Wirtschaft machen Arbeiter- und Mittelschichtskinder nur jeden siebten Manager aus – die anderen sechs stammen aus bürgerlichen oder großbürgerlichen Haushalten.
Michael Hartmann
Michael Hartmann ist Professor für Soziologie an der Technischen Universität Darmstadt. Er forscht über gesellschaftliche Eliten.
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ber Deutschland ist doch überhaupt nicht zu vergleichen mit Ländern wie England, wo die politischen und ökonomischen Führungskräfte die Colleges von Eton, Oxford und Cambridge durchlaufen, oder Frankreich, wo Wirtschaft und Staat mit Absolventen der Grandes Écoles durchsetzt sind… Das ist richtig. Was wir in Deutschland nicht haben, sind Elitebildungsinstitutionen. Die gibt es in Großbritannien, in den USA, in Frankreich, aber kaum hier. Das hat damit zu tun, dass sich das deutsche Schul- und Hochschulsystem bis in die frühen 1960er Jahre hinein selbst als Eli-
tebildungssystem verstand. Das deutsche Gymnasium, vor allem das altsprachlichhumanistische Gymnasium, und die Universität hatten den Zugang so restriktiv geregelt, dass eine gesonderte Eliteinstitution nicht nötig schien. Das hat sich durch die Bildungsexpansion im Gefolge von ’68 massiv verändert und deswegen werden jetzt auch solche Eliteinstitutionen auf Hochschulebene gebildet. Ich vermute, die Exzellenzuniversitäten werden in 30 bis 40 Jahren einen ähnlichen Status haben wie Oxford und Cambridge – nicht ganz so exklusiv, aber in diese Richtung, mit den entsprechenden Zugangsbeschränkungen.
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u redest von Elite und Elitebildung. Was ist für dich Elite und was zeichnet sie aus? Elite ist ganz einfach zu definieren: Darunter verstehe ich die Personen, die in der Lage sind, gesellschaftliche Entwicklungen maßgeblich zu beeinflussen. Entweder tun sie dies durch ihr Amt in der Politik, Verwaltung, Justiz oder in den Spitzen des Managements. Oder sie tun es durch Eigentum – das gilt nur für die Wirtschaft, also Besitzer von Unternehmen oder Besitzer großer Aktienpakete, die die Unternehmenspolitik wesentlich bestimmen können. Unter maßgeblicher Beeinflussung gesellschaftlicher Entwicklungen verstehe ich Folgendes: Wenn beispielsweise das Bundesverfassungsgericht zum Scheidungsrecht, zu Hartz IV oder Studiengebühren eine Entscheidung fällt, dann betrifft das große Teile der Bevölkerung. Wenn die
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Bundesregierung jetzt beschließt, Finanzrettungspakete so oder so zu gestalten, wenn die Ministerialbürokratie die Gesetzesvorlagen schreibt oder wenn ein Konzernmanagement Entscheidungen über Investitionen trifft, dann greift dies tief in das Leben von vielen Menschen ein. Die Elite in Deutschland, das ist ein relativ kleiner Kreis – etwa 4000 Personen, zumeist Männer.
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as sind die Auswahlmechanismen, wie wird man zur Elite? Es gibt unterschiedliche Mechanismen. In der Wirtschaft gibt es den klassischen Weg der Vererbung – da ist der einzige Aus-
»4000 Personen bilden die Elite in Deutschland« wahlmechanismus, dass man in der richtigen Familie geboren ist. Dazu kommt in der Wirtschaft der Weg der Besetzung von Spitzenpositionen im Management. Hier wird im Kern nach dem Muster der »sozialen Ähnlichkeit« ausgewählt – die soziale Herkunft zählt. Nicht im Sinne von Vererbung, sondern im Sinne von entscheidenden Kriterien bei der Auswahl von Personen: Wie gibt sich die Person, wie spricht sie, welche Verhaltensweisen legt sie an den Tag? Das erklärt, warum 85 Prozent der Manager Bürger- oder Großbürgerkinder sind. Jeder zweite Spitzenmanager in den hundert größten deutschen Unternehmen entstammt dem Großbürgertum, das gerade mal 0,5 Prozent der Bevölkerung ausmacht. Politik, Verwaltung und Justiz sind nicht so geschlossen mit einem Anteil der Bürger- und Großbürgerkinder von gut 60 Prozent, weil dort andere, stärker formalisierte Aufstiegswege gelten. In der Politik war es traditionell am offensten. Bis vor ein paar Jahren stammten durchschnittlich knapp zwei Drittel der Minister aus Kleinbürger- oder Arbeiterfamilien und nur ein gutes Drittel aus Bürger- und Großbürgerfamilien. Das hat sich auf den Kopf gestellt, mittlerweile ist das Verhältnis
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genau umgedreht. Im neuen Kabinett Merkel haben drei Großbürgerkinder zentrale Ministerien inne: Karl-Theodor zu Guttenberg, der aus einer der 400 reichsten Familien Deutschlands und einem 800 Jahre alten Adelsgeschlecht stammt, das Verteidigungsministerium, Thomas de Maizière aus einer gut vernetzten Hugenottenfamilie das Innenministerium und Ursula von der Leyen das Arbeitsministerium. Das gab es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie. Ursache ist die Veränderung der Aufstiegswege in den Parteien. Früher musste man die Ochsentour von unten nach oben machen, die sehr lange dauerte. Vor allem in den großen Volksparteien sorgten die relativ stabilen Basisstrukturen dafür, dass die Parteibasis einen erheblichen Einfluss auf die Kandidatenaufstellung hatte. Wenn da jemand zu großbürgerlich war, dann ist er einfach nicht aufgestellt worden. Das ist heute häufig anders. Die Parteien haben massiv an Mitgliedern verloren: Die SPD hat sich gegenüber ihrem Höchststand halbiert, die CDU bewegt sich darauf zu. Zugleich ist die Mitgliedschaft überaltert und ein erheblicher Teil inaktiv. Die Einflussmöglichkeiten der unteren Parteigremien haben dadurch stark nachgelassen, die Parteizentralen haben großen Einfluss auf die Besetzung von Spitzenpositionen und holen auch mehr Quereinsteiger rein. Im Gegensatz zur Wirtschaft kann sich das allerdings auch wieder ändern – große gesellschaftliche Bewegungen können diese Strukturen auch wieder aufbrechen. Schließlich muss die politische Elite immer noch gewählt werden. Die soziale Rekrutierung der politischen Elite ist, auch wenn sie am System grundlegend nichts ändert, doch insofern wichtig, als die Einkommensverteilung in der Regel umso ungleicher ist, je exklusiver und einheitlicher sich die Eliten rekrutieren.
Das gilt vor allem für die Ingenieure, Naturwissenschaftler, Mediziner und auch einen Teil der Wirtschaftswissenschaftler. Allerdings ist der Anteil derjenigen, die tatsächlich in Führungspositionen kommen oder sich mit einer größeren eigenen Praxis oder Kanzlei selbstständig machen, deutlich gesunken. Die große Mehrzahl derjenigen, die heute studieren, landet in abhängiger Beschäftigung.
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rüher studierten die Mitglieder der Elite oder diejenigen, die dazu werden wollten. Ist die Uni noch der Fahrstuhl nach oben? Nein, die Uni ist nur noch eine unabdingbare Voraussetzung, um Spitzenpositionen zu erreichen – der Prozentsatz derjenigen, die ohne einen Universitätsabschluss nach ganz oben kommen, liegt unter fünf Prozent. Noch immer kommt die Mehrheit der Uniabsolventen in gehobene Positionen mit überdurchschnittlichem Verdienst.
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ie Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen wird mit einer stärkeren Orientierung auf die Anforderungen des Arbeitsmarkts begründet. Zu Recht? Ob das stimmt, ist zweifelhaft. Unter den Studenten hat sich ja mittlerweile herumgesprochen, dass ein Absolvent mit dem Bachelor nicht sehr viel anfangen kann. Trotz aller gegenteiligen Ankündigungen wird ein Bachelorabschluss bestenfalls gleich, oft sogar auch unterhalb eines tra-
©hull.university/flickr.com
Zukünftige Elite? Absolventen der Universität im britischen Hull feiern ihren Abschluss ditionellen Fachhochschulabschlusses eingestuft. Also versuchen vier Fünftel der Studierenden, den Master draufzusetzen. Damit droht das Konzept in seinem Kern zu scheitern. Denn meines Erachtens war das Hauptargument, das aber niemand so offen ausgesprochen hat, nicht die internationale Vergleichbarkeit und all das. Es ging vielmehr vorrangig darum, die Masse der Studierenden schnell durch das Studium zu schleusen, um den zu erwartenden Studierendenberg ohne zusätzliches Personal bewältigen zu können. Wenn 50 bis 70 Prozent der Studierenden – das waren die Zielgrößen der meisten Wissenschaftsminister – nach dem Bachelor aufhören, bedeutet das einen erheblichen Kapazitätsgewinn. So sollte die Lösung lauten, ohne an der bei deutlich steigenden Studierendenzahlen noch viel stärkeren Unterfinanzierung der Universitäten etwas ändern zu müssen.
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elektion beginnt schon vor der Uni – eines der zentralen Themen im nordrhein-westfälischen Wahlkampf war das dreigliedrige Schulsystem. Zu Recht, das dreigliedrige Schulsystem verhindert jede durchgreifende soziale Öffnung. Sechzig Prozent eines Jahrgangs haben nach der vierten Klasse praktisch keine Chance mehr auf ein Studium. Deshalb wehren sich Gymnasialeltern, wie aktuell in Hamburg, oft auch vehement gegen die Abschaffung dieses Systems. Sie fürchten Konkurrenz für die eigenen Kinder, wenn die frühe Selektion fällt. Auch stimmt einfach nicht, dass es die Besten allein mit ihrer Leistung schaffen, nach oben zu kommen. Um eine Empfehlung für das Gymnasium zu bekommen, muss das Kind eines ungelernten Arbeiters sehr viel bessere Leistungen erbringen als das Kind eines Akademikers. An dieser Stelle werden Entscheidungen getroffen, die mit individueller Begabung des Kindes nur zum Teil etwa zu tun ha-
ben. Akademikerkinder haben es nicht nur leichter, weil sie bessere Lernbedingungen haben, sondern auch, weil ihre Leistungen besser bewertet werden. Um eine wirklich durchgreifende Verbesserung zu erreichen, müsste die anachronistische Dreigliedrigkeit im Schulsystem aufgehoben und durch ganztägige Einheitsschulen ersetzt werden. Dann könnten, wie das skandinavische Beispiel zeigt, die Leistungsschwachen profitieren, ohne dass deswegen die Leistungsstarken in puncto Lernerfolg verlieren. Das bedeutet natürlich auch, deutlich mehr Geld in die Bildung zu stecken. Man sollte zu diesem Zweck zum Beispiel den Spitzensteuersatz massiv anheben. Das würde vor allem die Leute treffen, die selbst kostenfrei studiert haben und davon dauerhaft profitieren. Einen Teil davon könnten sie ruhig in Form von Steuern an die nächste Generation zurückgeben. Die Fragen stellte Stefan Bornost
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Diagnose: g n u r e i z n a n i f r e t n Chronische U e Misere des Bildungsdi ht ge n he ec pr rs Ve er Trotz gegenteilig te b weiter. Der bundeswei el G zar hw Sc r te un s system Christoph Hoffmeier nt ei m , uf ra da t or tw An Bildungsstreik ist die
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och beim Bildungsgipfel im Oktober 2008 versprach Bundeskanzlerin Angela Merkel, bis zum Jahr 2015 zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Bildung und Forschung auszugeben. Der großspurigen Ankündigung folgte schnell die Vertagung des Problems: Eine Arbeitsgruppe wurde eingerichtet, die nach der Wahl Vorschläge zum Erreichen dieser Ziele unterbreiten sollte. Stattdessen führte die neue Regierung Steuersenkungen für Erben, Unternehmen und Hotelbetreiber durch – der Spielraum für eine umfassende Bildungsfinanzierung wurde so noch weiter verkleinert. Lediglich 700 Millionen Euro wurden 2009 zusätzlich im Bildungsbereich ausgegeben, bis 2013 sollen noch einmal zwölf Milliarden Euro (drei Milliarden Euro jährlich) hinzukommen. Das ist angesichts der seit Jahren chronischen Unterfinanzierung von Kitas, Schulen, Hochschulen und anderen Trägern der Aus- und Weiterbildung nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Laut der Bildungsgewerkschaft GEW sind jährlich Mehrausgaben von 40 Milliarden Euro erforderlich, um die Missstände zu beheben. So wuchs in den zurückliegenden Jahren die Abhängigkeit der Hochschulen von anderen Geldquellen wie Drittmitteln, Studiengebühren und der sogenannten Exzellenzinitiative. Allein in den Jahren 2000 bis 2007 sank der Anteil der Grundfinanzierung am Budget aller Hochschulen von 58,6 Prozent auf 50,3 Prozent, der Anteil an Drittmitteln wuchs hingegen von 10,3 Prozent auf 12,8 Prozent (an den Universitäten sogar auf 21,7 Prozent). Eine Politik, wie gegenwärtig von Noch-Ministerpräsident Roland Koch in Hessen vorgemacht, wird die Abhängigkeit der Hochschulen von Drittmitteln noch weiter verstärken. Das Problem der Drittmittel liegt vor allem darin, dass zum einen die Freiheit von Forschung und Lehre bedroht ist, wenn Hochschulen Teile ihres Budgets mit Mitteln aus der gewerblichen Wirtschaft bestrei-
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ten (müssen). Zum anderen kommen Drittmittel nicht der Lehre zugute, sondern sind der Forschung vorbehalten. Der größte Teil der Drittmittel kommt momentan noch aus öffentlicher Hand – über die Forschungsförderung der Deutschen Forschungsgesellschaft (DFG). Es ist erklärtes Ziel der Bundesregierung, mit der gezielten Vergabe von Drittmitteln, beispielsweise mittels der Exzellenzinitiative, einzelne Universitäten zu »Leuchttürmen« auszubauen. Dort sollen die von der deutschen Wirtschaft benötigten Spitzenfachkräfte ausgebildet werden, um den Standort wettbewerbsfähig zu halten. Diese Elitenbildung geht zwangsläufig zu Lasten der Breitenbildung. Ab dem Jahr 2012 werden hierfür zusätzliche 2,7 Milliarden Euro bereitgestellt, die sich maximal zwölf Universitäten untereinander aufteilen müssen. Dem gegenüber stehen die von Bundesbildungsministerin Annette Schavan im Rahmen der Bologna-Konferenz lautstark angekündigten zusätzlichen zwei Milliarden Euro für die Lehre. Diese nur durch Druck der bundesweiten Bildungsstreikbewegung erzielten Versprechen der Ministerin sind eine reine Farce. Die zusätzlichen Mittel sollen auf zehn Jahre verteilt allen 370 Hochschulen mit ihren 2,2 Millionen Studierenden zugute kommen, das entspricht gerade mal 200 Millionen pro Jahr – eine klare Prioritätensetzung zugunsten der Elitenbildung. Wir sehen also eine deutliche Entwicklung hin zu einem Zwei-Klassen-Bildungssystem. Ähnlich verhält es sich mit dem Versprechen der Chancengleichheit. Nach Veröffentlichung der ersten Pisa-Studien wurde über die Abschaffung des dreigliedrigen Schulsystems hörbar nachgedacht, die soziale Selektionsleistung des Bildungssystems aufs Heftigste kritisiert – nur viel geschehen ist bisher nicht. Bildungsministerin Schavan schmückt sich damit, dass sie das BAföG nach sechsjähriger Nullrunde um zwei Prozent erhöhen will. Sollte diese Erhöhung kommen – die Ministerpräsidenten
Roland Koch (Hessen) und Horst Seehofer (Bayern) sperren sich bereits dagegen – stellt sie nicht einmal einen Inflationsausgleich dar, der Höchstsatz liegt gegenwärtig fast 100 Euro unter den durchschnittlichen Lebenshaltungskosten. Parallel dazu präsentiert Schavan ein Stipendienmodell, dessen Mittel durch ehemalige Studierende, heutige Akademiker, aufgebracht werden sollen – und das in einer Zeit, in der die Arbeitslosigkeit auch unter Akademikern auf 11,3 Prozent gestiegen ist und deren Beschäftigungsverhältnisse vermehrt prekär sind. Die soziale Selektion des Bildungssystems in Deutschland ist ungebrochen, schlimmer noch, sie hat sich verstärkt. Mit Einführung der Bachelor- und Masterabschlüsse wurden an vielen Universitäten die Zulassungsbeschränkungen verschärft. Ne ben dem bisherigen Numerus Clausus wurden Auswahlverfahren wie Tests und Interviews eingeführt. Durch die Festschreibung des Bachelors als Regelabschluss wird vielen Studierenden ein volles Studium verwehrt, nach sechs Semestern ist die akademische Erstausbildung abgeschlossen. Um einen Master anzufügen, müssen die Studierenden einen bestimmten Notenschnitt aufweisen. Zudem haben sie keinen BAföG-Anspruch, da der Master als Zweitstudium gilt. Diese Umstände halten viele junge Menschen davon ab, ein Hochschulstudium aufzunehmen. Wie eine Studie der HochschulInformations-System GmbH (HIS-Studie) 2008 herausstellt, entscheiden sich 77 Prozent der Befragten aus finanziellen Gründen oder fehlender finanzieller Unterstützung gegen ein Studium, 69 Prozent gaben Studiengebühren als Grund an. Studierende haben häufig eine wichtige Rolle beim Lostreten von gesellschaftlichen Bewegungen gespielt, ihre Kämpfe haben oft eine wichtige Vorbildfunktion für andere soziale Gruppen, gerade in Zeiten der wirtschaftlichen Krisen. Soziale Unruhe kann dabei nicht zuletzt an der Hochschule selbst entstehen. Hier kann Hessen Vorbild sein. Ministerpräsident Koch kündigte die dramatische Beschneidung des hessischen Haushalts um 3,3 Prozent mit den Worten an: »Die Zeit der Behutsamkeit ist vorbei.« In sämtlichen Bereichen will die Landesregierung sparen. Sie weckt damit erneut den Unmut eines sehr großen Teils der Gesellschaft. Am 11. Mai demonstrierten 10.000 Menschen in Wiesbaden gegen die Kürzungen im Bildungsbereich, verschiedene hessische Universitäten räumten ihren Angestellten an diesem Tag die Möglichkeit ein, nach Wiesbaden zu fahren und die fehlende Arbeitszeit nachzuholen.
Marburg schloss sogar den gesamten Unibetrieb. Studierende, Angestellte, der Mittelbau, Professoren und sogar Universitätsleitungen demonstrierten gemeinsam gegen die Angriffe. Wenn auch durch diese eine Demonstration die Kürzungen in Hessen vorerst nicht gestoppt wurden, so zeigt sich jedoch ein enormes Potenzial für einen gemeinsamen Protest. Im Zentrum muss also der Aufbau eines breiten Bündnisses aller betroffenen sozialen Gruppen stehen – nur so kann der Protest zum Erfolg führen. Als wirksamstes Mittel im Kampf gegen die Bil-
Die Umstände halten viele junge Menschen davon ab, ein Hochschulstudium aufzunehmen dungsmisere ist der Besetzungsstreik des Betriebs Universität zu sehen. Auf dieses Ziel muss strategisch hingearbeitet werden, da ein Streik nur dann funktionieren kann, wenn eine Mehrheit an der Universität hinter ihm steht. Dies schafft zum einen den Rahmen, in dem Studierende politisch partizipieren können, und zum anderen sendet es ein deutliches Signal an andere gesellschaftliche Gruppen, sich ebenfalls selbst gegen Kürzungen zur Wehr zu setzten. Die Situation an den Universitäten wird sich bis 2013 durch die doppelten Abiturjahrgänge noch einmal verschärfen und so das Protestpotenzial an den Universitäten weiter aufrechterhalten. Hinzu kommt eine sich abzeichnende Uneinigkeit innerhalb der herrschenden Eliten, wie mit der Situation umgegangen werden soll – Kochs Angriffe und die Reaktionen darauf sind erste Anzeichen dafür. Eine solche Spaltung innerhalb der Eliten ist eine wichtige Vorraussetzung für den Erfolg der Bewegung: Sie könnte diese Uneinigkeit ausnutzen, um ihre Forderungen durchzusetzen.
Christoph Hoffmeier studiert Politikwissenschaften in Frankfurt am Main und ist Mitglied von Die Linke.SDS.
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Der Professor und das Proletariat Alex Demirovic´ im marx21-Gespräch über das Verhältnis von Akademikern zu außerparlamentarischen Bewegungen
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aust grübelt alleine in seinem Studierzimmer, Humboldt redet von »Einsamkeit und Freiheit« des Forschers. Sind Akademiker Einzelkämpfer? Von der Einsamkeit der Forscherinnen und Forscher zu sprechen, trifft die konkreten Arbeitsverhältnisse kaum. Zunächst einmal stellt sich die Frage, ob es überhaupt noch Forschung an den Hochschulen gibt. Zumindest dürfte sie im Verhältnis zu anderen Tätigkeiten eine immer geringere Rolle spielen: Verwaltung und Gremien, Lehre, Betreuung, Prüfung, Drittmitteleinwerbung … An den Hochschulen sind die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in komplexe arbeitsteilige Arbeitsbeziehungen eingebunden, in denen oftmals eine strenge Hierarchie herrscht. Der größere Teil der Forschung findet an Instituten und in der Industrie statt, und hier ist die arbeitsteilige, kooperative, weisungsgebundene Forschung das Übliche. Es ist vielleicht also eher das Problem, dass zu wenig Freiheit besteht, zu viel sozialer Druck, zu viel Verregelung der wissenschaftlichen Arbeit. Denn in der Tat benötigt wissenschaftliche Arbeit Freiräume und die individuelle Fähigkeit, über gewisse Phasen hinweg allein arbeiten zu können – ohne im Betrieb von Events, Kongressen, Tagungen, Kontakten, Meetings, Gremien etc. aufzugehen.
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ie Grunderfahrung sozialer Bewegungen besteht darin, dass gesellschaftliche Gegenmacht aus kollektivem Handeln erwächst. Wie geht das
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Alex DemiroviĆ
Alex Demirović ist Professor für Politikwissenschaft an der Technischen Universität Berlin. Er ist Redakteur von PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft.
zusammen mit der Arbeitsweise im akademischen Betrieb? An sozialen Bewegungen in der Bundesrepublik (ebenso in anderen Ländern) waren seit den 1960er Jahren sehr viele Studierende und Akademiker beteiligt: Proteste gegen die Notstandsgesetze, die Hochschulreform, die Atomenergie, die Nachrüstung wurden maßgeblich von Studierenden und Lehrenden getragen und unterstützt. Auch historisch hat es immer wieder soziale Bewegungen gegeben, die von diesen beiden akademischen Gruppen getragen
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wurden. Es geht also gut zusammen. Die Hochschulen boten den Raum einer dichten Diskussion über gesellschaftliche Verhältnisse, über Entwicklungsblockaden, über mögliche Alternativen. Es gibt unter den Wissenschaftlern eine hohe Problemsensibilität und viel Sachkompetenz. Allerdings ist gerade das alles auch ein Problem. Denn die Hochschulen sind von anderen gesellschaftlichen Bereichen oftmals abgeschnitten, das Wissen vermittelt sich nicht in die Gesellschaft, der Protest bleibt ungehört und akademisch. Die Linke in Deutschland hat über lange Zeit ihren Ort an den Hochschulen gehabt, nicht in den Fabriken, nur in geringem Maße in den Gewerkschaften, in den Parteien und den offiziellen Medien. Da nun in den vergangenen 15 Jahren die Hochschulen weitgehend als Orte linker Diskussionen und Mobilisierungen ausgefallen sind, hat dies über eine längere Zeit zur Schwächung der Linken in Deutschland beigetragen. Mittlerweile ist es zur Bildung einer linken Parteiformation gekommen, die sowohl in den Gewerkschaften als auch der offiziellen Politik verankert ist. Noch ist unklar, ob sie auch eine kulturelle und intellektuelle Rolle übernehmen und die wissenschaftlichen Diskussionen und kulturellen Praktiken auf einem avancierten Niveau organisieren kann.
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ab es Versuche, die Arbeitsweise im akademischen Betrieb grundlegend zu ändern – zum Beispiel im Zuge der Bildungsexpansion nach ’68?
Es hat viele solche Versuche gegeben. Mitarbeiter wurden nicht mehr einzelnen Hochschullehrern zugeordnet, um auf diese Weise ihre Freiheit der Forschung zu sichern. Es kam zu Versuchen mit Projektstudien: Lehrende und Studierende arbeiteten gemeinsam über mehrere Semester zu bestimmten Fragestellungen. Das sollte ermöglichen, dass Studierende sich gezielt in wissenschaftliche Fragestellungen in enger Verbindung mit erfahrenen Wissenschaftlern einarbeiten und konkrete Wissenserfahrungen machen konnten, die also theoretische und empirische Arbeit, Lernen und Forschung miteinander verbanden. Es kam zur Bildung von autonomen Tutorien in der Verwaltung der Studierenden und einem Studium, das getragen war von der Arbeit in vielen Arbeitsgruppen – oftmals auch unter Beteiligung von Hochschullehrenden. Es wurde versucht, das Prinzip der Autorschaft bei der Veröf-
»An sozialen Bewegungen waren sehr viele Studierende und Akademiker beteiligt« fentlichung von wissenschaftlichen Texten zu überwinden, indem unter Kollektivnamen publiziert wurde. An besonders radikalen Hochschulen oder Fachbereichen wurden den Seminarteilnehmern Scheine mit Noten ohne weitere Prüfung gegeben, weil Prüfungen ohnehin mit Wissenschaft wenig oder gar nichts zu tun haben. Die Wahrheit einer Einsicht oder eines Arguments hängt nicht von einem erworbenen Bildungstitel ab. Die radikalsten Maßnahmen wurden seinerzeit in Vincennes (Universität bei Paris, Anm. d. Red.) ergriffen, wo Prüfungen abgeschafft und die Lehre gemeinsam von Hochschullehrern und Studierenden geplant wurde. Letzteres gab es auf einem informellen Niveau auch an bundesdeutschen Hochschulen.
immer schwächer geworden. Die Hochschulen verkörpern spezifische soziale Verhältnisse, unter denen die Einzelnen arbeiten. Einzelne Hochschullehrer wechseln den Ort, Verträge laufen aus, es kommt zu akademischer Konkurrenz, Fragestellungen ändern sich, die Studierenden ändern ihr Studierverhalten, die Zahl der Studierenden nimmt zu – all das waren Faktoren, die über die Jahre die Prozesse der Lehre und Forschung verändert haben.
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ordenker der Bewegung«, »organische Intellektuelle« – es gab und gibt viele Versuche, das Verhältnis von Intellektuellen zu Bewegungen zu fassen. Was wäre für dich eine zeitgemäße und zweckmäßige Benennung dieses Verhältnisses?
Ich meine, dass ein Ausdruck wie »Vordenker« kein Begriff ist, sondern im besten Fall eine problematische Beschreibung. Den Begriff des organischen Intellektuellen halte ich für einen wichtigen theoretischen Begriff. Allerdings darf man nicht denken, dass damit per se Akademiker oder Hochschullehrer gemeint sind. Das kann allerdings unter besonderen historischen Umständen der Fall sein. Doch organische Intellektuelle sind Gramsci zufolge solche Menschen oder Gruppen von Menschen, die die Begriffe der neuen historischen, emanzipierten Phase antizipieren und denen es gelingt, eine historisch relevante Form des Denkens, des Fühlens und des Handelns zu organisieren. Die Fragen stellte Stefan Bornost
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as ist daraus während des Neoliberalismus geworden? Ach, die Zurechnung zum Neoliberalismus trifft es nicht. Solche emanzipatorischen Versuche sind schon in den 1970er Jahren www.marx21.de | Sommer 2010 | Nr. 16
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Eine Schule fürs Leben Nicht belehren, sondern ermutigen, die Welt zu verändern – das ist die ver schüttete Tradition linker Bildungspolitik. Nicole Gohlke stellt sie vor
E Nicole Gohlke ist hochschulpolitische Sprecherin der LINKEN im Bundestag.
ine andere Bildung, ein anderes Bildungssystem ist möglich. Die Geschichte der linken Bewegung bietet dafür fruchtbares Anschauungsmaterial: Ein Beispiel war der Versuch der Dessauer Bauhaus-Kunstschule, die Mauern zwischen Kunst und Handwerk einzureißen, um einen politisch bewussten Handwerker-Künstler hervorbringen, der seine Schaffenskraft in den Dienst einer lebenswerteren Gesellschaft stellt. Ein anderes lieferte der brasilianische Pädagoge Paolo Freire, der Anfang der 1970er die so genannte Befreiungspädagogik entwickelte – eine Pädagogik, die Schüler nicht als Objekte der Belehrung sah, sondern als gleichberechtigte Partner in einem Dialog. Ein besonders inspirierendes Beispiel lieferte die Russische Revolution von 1917, in deren Folge das gesamte Bildungssystem des bis dahin zaristischen Staats umgewälzt wurde.
gen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war ein Drittel der Fabrikarbeiter in den USA zwischen sieben und zwölf Jahren alt. Kinder, die arbeiteten, waren nicht nur hohen Gesundheitsbelastungen ausgesetzt, sie kamen auch kaum in den Genuss schulischer Bildung. Die Kinderarbeit wurde bald zu einem sozialen Problem. Die Armee hatte wegen der vielen kranken Kinder zunehmend Probleme, gesunde Rekruten zu finden. Preußen erließ deshalb 1839 ein Gesetz (Preußisches Regulativ), das Kindern unter neun
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Mit der Entstehung moderner Gesellschaften im Europa des 18. Jahrhunderts kam auch die Debatte über eine neues Bildungssystem auf. Die Vorkämpfer der Aufklärung setzten darauf, dass Menschen mittels Vernunft und Verstand die Welt begreifen und verändern. Deshalb plädierten sie für ein staatliches Schulsystem, das sich an wissenschaftlichen Leitlinien orientieren sollte. Bis dahin standen Schulen und Universitäten zumeist unter kirchlicher Kontrolle. Der Klerus predigte die Unterordnung unter das bestehende Feudalsystem und stand wissenschaftlichen Welterklärungen oft feindselig gegenüber, weil diese theologische Dogmen in Frage stellten. Zunächst wurde jede Bemühung zur allgemeinen Volksbildung durch die massive Kinderarbeit der beginnenden Industrialisierung untergraben. Kinder ab vier, sechs oder acht Jahren arbeiteten nicht nur als Hilfskräfte und Dienstboten, sondern zu einem großen Teil zehn bis 16 Stunden täglich in der Textilindustrie, in Kohlengruben und Minen. Zu manchen Arbeiten im Bergbau wurden wegen ihrer geringen Körpergröße sogar nur Kinder herangezo-
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er Mensch soll sich durch universelle praktische Betätigung entwickeln
Jahren die Arbeit in Fabriken verbot. Die neun- bis 16-Jährigen durften nicht mehr als zehn Stunden täglich arbeiten, nicht mehr an Sonntagen und nicht mehr nachts. 1853 wurde das Mindestalter für die Fabrikarbeit auf zwölf Jahre angehoben. Dennoch arbeiteten noch im Jahr 1858 12.500 Kinder im Alter von acht bis 14 Jahren in preußischen Fabriken. Das war die Situation, in der die neu entstehende Arbeiterbewegung über die Bildungsfrage diskutierte. Ihr Ausgangspunkt war eine Analyse und Kritik des Kapitalismus. Millionen Landbewohner wurden zu dieser Zeit in die Städte und Fabriken gesogen – und wurden so von Bauern zu Arbeitern. In der Fabrik wurden sie »gebildet« – um Produktionsabläufe zu beherrschen. Für Sozialisten stellt die Übernahme der Produktion durch Arbeiter die ökonomische Grundlage der Demokratisierung der Wirtschaft dar. Deshalb standen Denker wie Karl Marx und Friedrich Engels dieser Tendenz, einschließlich der Einbindung von Kindern in die Produktion, grundsätz-
»Bauhaus Stairway« von Oskar Schlemmer (1932). Die Dessauer Kunstschule versuchte, die Mauern zwischen Kunst und Handwerk einzureißen
lich positiv gegenüber. Marx formulierte in einem Vorschlag für das Programm der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA): »Wir betrachten die Tendenz der modernen Industrie, Kinder und Jugendliche beiderlei Geschlechts zur Mitwirkung an dem großen Werk der gesellschaftlichen Produktion heranzuziehen, als eine fortschrittliche, gesunde und berechtigte Tendenz, obgleich die Art und Weise, auf welche diese Tendenz unter der Kapitalherrschaft verwirklicht wird, eine abscheuliche ist.« Die »abscheuliche Tendenz« der Arbeit im Kapitalismus – das sind extrem langen Arbeitszeiten, Hungerlöhne und die Teilung der Arbeit in eintönige, sich ewig wiederholende Schritte. Deshalb forderte Engels unter Bezug auf die Schriften der sogenannten utopischen Sozialisten Charles Fourier und Robert Owen »die möglichst große Abwechslung der Beschäftigung für jeden Einzelnen, und dementsprechend die Ausbildung der Jugend für möglichst allseitige technische Tätigkeit.« Beide entwarfen die Vision, dass sich der Mensch universell entwickeln
solle durch universelle praktische Betätigung, und dass die Arbeit den ihr durch die Teilung abhanden gekommenen Reiz der Anziehung wieder erhalten solle, zunächst durch diese Abwechslung und die ihr entsprechende kurze Dauer jeder einzelnen Arbeit. Marx prägte den Begriff der »polytechnischen Ausbildung«. Gemeint war eine enge Verzahnung von Theorie und Praxis, »die die allgemeinen Prinzipien aller Produktionsprozesse vermittelt und gleichzeitig das Kind und die junge Person einweiht in den praktischen Gebrauch und die Handhabung der elementaren Instrumente aller Arbeitszweige«. Genauer ausgearbeitet wurden die Vorstellungen über die Zukunft des Bildungssystems dann innerhalb der immer stärker werdenden SPD. Parteichef August Bebel widmete in seinem viel beachteten Werk »Die Frau und der Sozialismus« (1879) ein Kapitel der Grundstruktur des Bildungssystems in einer befreiten Gesellschaft: »Bildungs- und Lehrmittel, Kleidung, Unterhalt stellt die Gesellschaft; kein Zögling wird gegen den anderen benachteiligt (...). www.marx21.de | Sommer 2010 | Nr. 16
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Entsprechend dem total veränderten Erziehungssystem, das die körperliche wie die geistige Entwicklung und Ausbildung der Jugend im Auge hat, muss die Zahl der Lehrkräfte wachsen. Auch wird die Einführung in die mechanischen Tätigkeiten in den aufs Vollkommenste eingerichteten Lehrwerkstätten, in die Garten- und Feldarbeiten einen wesentlichen Teil der Jugenderziehung bilden.« Man würde dies, so Bebel weiter, »alles mit Abwechslung und ohne Überanstrengung durchzuführen wissen, um möglichst vollkommen ausgebildete Menschen zu erziehen. Nicht nur der Unterricht, sondern auch die Lehrmittel sind unentgeltlich, einschließlich der Gegenstände für die Handarbeit und den Kochunterricht, für den Unterricht in der Chemie und Physik und die Gegenstände, die der Schüler am Experimentier- und Arbeitstisch nötig hat. Mit den meisten Schulen sind Turnhallen, Badeeinrich-
er Lehrer spielt die Rolle eines Organisators, Helfers, Ausbilders und älteren Kameraden, aber nicht die eines Offiziers tungen, Schwimmbassins, Spielhallen verbunden.« Diese Utopie fand ihre Umsetzung in konkreten Forderungen der Partei – die SPD stritt für Lernmittelfreiheit, freien Zugang zu Schulen und Hochschulen und die Einstellung von mehr Lehrkräften. Doch die konservativen Eliten im deutschen Kaiserreich blockierten umfassende Bildungsreformen. Umgesetzt werden konnten die sozialistischen Bildungsvorstellungen hingegen woanders. Im vergleichsweise rückständigen Russland war 1917 der Zar durch eine Revolution gestürzt worden und wenige Monate später kam eine auf Arbeiter-, Bauernund Soldatenräte gestützte Regierung an die Macht, die in zahlreichen gesellschaftlichen Bereichen tiefgreifende Änderungen durchführte –auch im Bildungswesen. Das erste Bildungsgesetz von 1918 manifestierte diese Neuerungen. Im Vorspann verkündete das Gesetz den Geist und die Ideale der Revolution: »Die Persönlichkeit soll das höchste Gut der sozialistischen Kultur bleiben. Diese Persönlichkeit kann allerdings ihre üppigsten Blüten nur in einer harmonischen Gesellschaft von Gleichgestellten treiben. Wir vergessen nicht das Recht des Individuums auf seine eigene besondere Entwicklung. Wir haben es nicht nötig, an der Persönlichkeit herumzudoktern, sie zu betrügen, sie in eiserne Formen zu gießen, denn die Stabilität der sozialistischen Gemeinschaft beruht
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nicht auf der Uniformität von Kasernen, nicht auf künstlichem Drill, nicht auf religiösen und ästhetischen Täuschungen, sondern auf der tatsächlichen Solidarität der Interessen.« Es folgten weitreichende Veränderungen im öffentlichen Bildungswesen. Trotz der katastrophalen Zustände infolge des Bürgerkriegs (1918–1920) und trotz des Widerstands der Mehrheit der Lehrenden wurden die Schulen durch die revolutionäre Aktion der Schüler und Schülerinnen und eines Teils des Lehrkörpers mit Unterstützung durch die lokalen Arbeiterräte und die Zentralregierung vollkommen umgekrempelt. Die treibende Philosophie war die von Marx übernommene Idee der polytechnischen Bildung. Die am weitesten verbreitete Methode war die der Projektarbeit, in der Kinder gemeinsam eine sozial nützliche Aufgabe übernahmen, durch die sie sowohl das Handwerkszeug und die Theorien erlernten, als auch die schöpferischen Fertigkeiten erwarben, die aus der jeweiligen Tätigkeit gewonnen werden konnten. Universitäten und Schulen arbeiteten eng zusammen. Arbeiter sollten ein umfassendes wissenschaftliches Verständnis ihrer Tätigkeit erlangen können. Niemand sollte aufgrund von Unwissenheit seine Arbeit wie ein Rädchen in einer Maschine ausführen müssen. Elektriker besuchten Universitätskurse in Physik, und die besten Agrarexperten der Hochschulen dozierten für die Bauern. Diese Kurse wurden landesweit von tausenden Menschen besucht – trotz klirrender Kälte in den unbeheizten Hörsälen. Prüfungen und Klausuren wurden abgeschafft und allen die Möglichkeit eines kostenlosen Studiums an der Universität eröffnet. Im ersten Jahr seit Verabschiedung des Bildungsgesetzes von 1918 verdoppelte sich die Zahl der Studierenden. Alle Schulkinder sollten bis zu ihrem 17. Lebensjahr die Schule besuchen – aufgrund der Rückständigkeit des Landes, der Zerstörungen durch den Ersten Weltkrieg und angesichts des Bürgerkriegs ein schwieriges Vorhaben, vor allem in den ländlichen Gegenden. Gleichzeitig wurde auch das Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden vollkommen umgekrempelt – die kollektive Basis, auf der die Schulen betrieben wurden, erforderte eine allumfassende Demokratisierung. Der sowjetische Pädagoge Albert Pinkewitsch beschrieb die neue Beziehung zwischen Lehrern und Schülern: »Weder die Überantwortung aller schulischen Angelegenheiten ausschließlich den Kindern, noch, im Gegensatz dazu, die Übertragung von monopolartigen Privilegien auf die Erwachsenen, stellen einen vernünftigen Weg dar (...) der Lehrer spielt die Rolle eines Organisators, Helfers, Ausbilders und älteren Kameraden, aber nicht die eines Offiziers.« Der Lehrende war angehalten, einfache, kameradschaftliche Beziehungen mit den Schülern zu pflegen, und es wurde selbstverständlich für die
Kinder, ihre Lehrkräfte beim Vornamen anzureden. Die Schülerselbstverwaltung war ein wichtiger Schritt in Richtung zu mehr Demokratie. Ein internes Komitee von Schülern, Lehrern und Küchenpersonal wählte den Schulleiter bzw. die Leiterin, die bei Fehlleistung auch abgewählt werden konnten. Ein Schulrat bestehend aus Schülern, Angestellten, Eltern, dem örtlichen Sowjet und Gewerkschaften übte eine allgemeine Aufsicht über die Schule aus.
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nehmen – und jenen anderen Marxisten, die, trotz allem, es nicht dulden können, dass diese harten Zeiten die Blüten der ersten Hoffnungen der proletarischen Jugend zertrampeln, ihre erste Chance auf eine vielseitige Entwicklung.« Krupskaja drückte es wie folgt aus: »Die Berufsausbildung darf nicht einen Menschen zum Krüppel machen, indem sie aus ihm im frühen Alter einen engstirnigen Spezialisten macht.«
it dem Scheitern der Revolution ging die Reform des Bildungswesens unter
In der wichtigen Frage der Schuldisziplin – an unseren Schulen Anlass für unendliche Regeln und Vorschriften sowie Quelle vielerlei Spannungen – erklärt Pankewitsch: »Wir machen uns nicht übermäßig viele Sorgen darüber, welche Gesetze und Regeln das Kollektiv verabschiedet. Obwohl nach unserer Ansicht gelegentlich Fehler gemacht werden, ist es von zentraler Bedeutung, dass alle Regelungen von den Schülern selbst unter aktiver Beteiligung der Lehrer beschlossen und vom Kollektiv in die Tat umgesetzt werden. Es sollte jedoch (...) so wenig Regeln und Gesetze wie möglich geben.« Die beinahe vollständige Zerstörung der Industrie ließ allerdings vielerorts die Forderung nach einer eingeschränkten Berufsausbildung auf Kosten der Allgemeinbildung aufkommen. Dem widersetzten sich ganz heftig revolutionäre Pädagogen wie Bildungskommissar Anatoli Lunatscharski und die Pädagogin und Frau Lenins, Nadeschda Krupskaja. Lunatscharski schrieb: »Es ist unverständlich, dass es zu einer Art Kampf kommt zwischen jenen Marxisten, die die Schwierigkeiten der gegenwärtigen Zeit verstehen, die Notwendigkeit, all unsere Kräfte zu bündeln und angesichts der momentanen Anforderungen Abstriche an unseren Idealen vorzu-
Mit Aufstieg des Stalinismus in den späten 1920er Jahren wurde dieses außerordentliche Bildungsexperiment zerstört. Die Bildung wurde bald wieder in ihre alte autoritäre Zwangsjacke gepresst. Nachdem Russland die Ausweitung der Revolution auf andere europäische Länder, insbesondere Deutschland, misslungen war, setzten Stalin und seine Anhänger auf den Aufbau des »Sozialismus in einem Land«. Dahinter verbarg sich ein Programm zur industriellen Entwicklung: »Wir liegen 50 bis 100 Jahre hinter den entwickelten Ländern. Wir müssen diese Distanz in zehn Jahren überbrücken. Entweder wir schaffen es, oder wir werden vernichtet,« sagte Stalin. Auch das Bildungssystem wurde dementsprechend wieder umgestaltet – nicht mehr die Entfaltung der Persönlichkeit stand im Vordergrund, sondern die Ausbildung von staatstreuen Fachpersonal für die ökonomische und militärische Konkurrenz mit den entwickelten kapitalistischen Ländern. Die Schülerselbstverwaltung wurde aufgehoben, und, analog zur Zentralisierung der Macht bei Stalin und seinen Getreuen, der Schuldirektor die maßgebliche Autorität in der Schule. Bis Anfang der 1930er Jahre hatten Schüler und Lehrer noch Mitspracherecht bei der Besetzung des Direktorpostens. 1935 wurde ihnen auch dieses genommen.
★ ★★ Weiterlesen Mike Haynes und Jan Maas: Russland. Von der Oktoberrevolution bis zum Fall des Stalinismus (VGZA 2003).
Ab 1929 wurde die freie polytechnische Projektarbeit über Bord geworfen und das alte System mit festen Schulklassen und festen Stundenplänen wieder eingefügt. Mitte der 1930er Jahre wurden Prüfungen wieder eingeführt – die Kernelemente des alten zaristischen Bildungssystems waren wiederhergestellt. Mit dem Scheitern der Revolution ging also auch die Reform des Bildungswesens unter. Trotzdem haben die ersten Jahre nach 1917 einen Blick darauf eröffnet, wie eine andere Bildung aussehen könnte. www.marx21.de | Sommer 2010 | Nr. 16
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NEUES AUS DER
AUSTELLUNG
Kämpfen wie die Griechen DIE LINKE.Baden-Württemberg ruft zur Demonstration am 12. Juni in Stuttgart auf. Gewerkschaften, Parteien und Initiativen gehen auf die Straße, um die Abwälzung der Krisenlasten auf dem Rücken der Bevölkerung zu verhindern. DIE LINKE demonstriert gegen die unsoziale Kopfpauschale, gegen Rente und Pensionen mit 67, für gute und kostenfreie Bildung für alle und für handlungsfähige Kommunen. »Wir wollen, dass die Verursacher der Krise bezahlen, zum Beispiel durch eine Millionärssteuer«, verlangt die Partei. Sie fordert eine Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von oben nach unten – statt immer mehr Reichtum für einige wenige. »Die Auseinandersetzungen in Griechenland bieten gerade besonderen Anschauungsunterricht, was wir zu erwarten haben, wenn wir uns nicht wehren. Das der griechischen Bevölkerung aufgezwungene Programm: Als »an-Nakba« – »die Katastrophe« – bezeichnet das palästinensiRenten und Löhne kürzen, Persosche Volk die Vertreibung aus seiner Heimat im Jahre 1948. nal abbauen, Mehrwertsteuer erhöDIE LINKE.Berlin-Neukölln zeigt noch bis zum hen, Sozialsysteme schleifen, weist 13. Juni die Ausstellung über die Geschichgroße Ähnlichkeiten mit dem der te Palästinas und über das Leben schwarz-gelben Bundesregierung der Bewohner. Die Wanderausauf. stellung des Vereins »FlüchtNur soll hier eher nach der Salingskinder im Libanon e.V.« ist im Juni in Tübingen lamitaktik vorgegangen wer(Gemeindehaus »Lamm« den, während in Griechenam Markt) und in Frankfurt land die Schocktherapie am Main (DGB-Haus) zu verfolgt wird. Die Griechen Die Rubrik »Neues aus der LINKEN« lebt von der Mitarbeit der sehen. Die Ausstellungszeigen uns auch, wie man marx21-Leser. Die Redaktion kann nicht überall sein – aber das tafeln sind in zweifacher sich gegen solche ZumutunMagazin und seine Leser schon. Ausführung verfügbar und gen wehrt. Sie brauchen unseAuf dieser Doppelseite wollen wir über interessante Aktionen können ausgeliehen werden. re Solidarität und wir können Weitere Informationen: www. und Kampagnen der LINKEN berichten sowie spannende von ihnen in Sachen Gegenlib-hilfe.de. Termine ankündigen. Wenn ihr etwas beizutragen habt, wehr und Zivilcourage noch eischickt eine E-Mail an redaktion@marx21.de. niges lernen.« Die Redaktion behält sich das
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Neues Aus der Linken
Recht auf Auswahl und Kürzung vor. Nr. 16 | Sommer 2010 | www.marx21.de
NEWS
»Bundeswehr raus aus Afghanistan«
Streik statt Show Ministerin Schavan lud im Mai zum Bildungsgipfel nach Berlin. Er geriet zur Farce. Ben Stotz war dabei
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ls Reaktion auf den Bildungsstreik hatte Bildungsministerin Annette Schavan (CDU) Studierende, Kultusminister und Hochschulrektoren am 17. Mai zu einer nationalen Bolognakonferenz eingeladen, um konkrete Verbesserungen beim Bachelorstudium zu besprechen. Doch die Konferenz mutierte zur Schavan-Show. Mit der Konferenz wollte Schavan zeigen, dass sie die Belange der Studierenden aufnimmt. Heraus kam nur heiße Luft. Lediglich die Abschaffung von Anwesenheitslisten wurde festgehalten. Kernforderungen der Studierenden wie dem Recht auf ein Masterstudium für alle Bachelorstudierenden verweigerten sich die Ministerin und die Kultusminister der Länder. Substanzielle Verbesserungen der Studienqualität und eine echte Reform des Bachelors kosten Geld. Und zwar weit mehr als die 0,2 Milliarden Euro jährlich, die Schavan im Hochschulpakt zusätzlich zur Verfügung stellen will. Diese werden angesichts der doppelten Abiturjahrgänge und des enormen Personalmangels in den Hochschulen unbemerkt versickern.
Statt den Banken, werden nun die Studierenden zur Kasse gebeten. Nach Ansicht des Wissenschaftsrats wäre knapp das Zehnfache notwendig, um nur die gröbsten Probleme zu beseitigen. Stattdessen drohen nun Kürzungen. Unter der Führung von Hessens Noch-Ministerpräsident Roland Koch attackierten verschiedene CDUPolitiker die Hochschulfinanzierung. In Hessen soll bereits 2011 die Hochschullehre um 54 Millionen Euro zusammengestrichen werden – während gleichzeitig die Doppeljahrgänge des Turbo-Abiturs ihr Studium beginnen. Die Konsequenz werden überfüllte Hörsäle und eine noch schlechtere Betreuung der Studierenden sein. Der Hintergrund der Kürzungen sind die Milliardenspritzen für
die Banken. Allein in Deutschland geht die Hälfte der neuen Staatsverschuldung von 180 Milliarden Euro seit 2008 auf das Konto der Bankenrettung. Doch statt den Banken, werden nun die Studierenden zur Kasse gebeten. Die Bolognakonferenz hat deutlich gemacht, dass bessere Studienqualität, gebührenfreie Bildung und kritische Lehrinhalte nicht nur eine Frage der besseren Argumente, sondern der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse sind. Dass Protest wirkt, zeigen die Entwicklungen in NordrheinWestfalen. Nach den Landtagswahlen gibt es eine große Chance, dass dort Studiengebühren abgeschafft werden. Der Bildungsstreik hat dazu geführt, dass nicht mehr nur DIE LINKE, sondern auch Grüne und SPD sich für ein gebührenfreies Studium aussprechen. Die bundesweiten Bildungsstreik-Demonstrationen am 9. Juni sind die beste Gelegenheit, um den Druck auf Länder und Bundesregierung weiter zu erhöhen. Und um von Athen bis Berlin klar zu machen: Wir werden nicht für die Banken zahlen.
Unter diesem Motto stand am 25. Mai eine Veranstaltung der LINKEN im Hamburger Stadtteil Altona-Nord. Als Referent war der Bundestagsabgeordnete Jan van Aken eingeladen. Er berichtete von seiner Reise nach Kundus, wo er gemeinsam mit seiner Kollegin Christine Buchholz Angehörige der Opfer des deutschen Luftangriffs getroffen hatte. Etwa 30 Gäste drängten sich in den viel zu kleinen Raum, um mit ihm zu diskutieren. Marcel Bois
Atomgegner im Aufwind Der umweltpolitische Sprecher der Fraktion DIE LINKE im niedersächsischen Landtag, Kurt Herzog, wertet die Menschenkette zwischen den Atomkraftwerken Brunsbüttel und Krümmel vom 24. April als Stärkung der Anti-Atom-Bewegung. Die Demonstranten hätten gezeigt, dass sie den Kampf gegen die Atomenergie als Ganzes führen wollten. Auch deshalb ist sich Herzog sicher, dass die Proteste gegen den CastorTransport im kommenden November bisher nicht gekannte Ausmaße annehmen werden. Frank Eßers
Berlin blieb nazifrei Am 1. Mai verhinderten tausende Demonstranten einen geplanten Naziaufmarsch in Berlin. »Selbstverständlich waren DIE LINKE und die Antifa-Szene präsent, aber der Erfolg der Blockaden lag in der Anwesenheit von verschiedenen Parteien und auch von Menschen, die keiner Partei angehören«, berichtet Phil Butland. »Wir waren tatsächlich breit und entschlossen.« Auch in Zwickau, Erfurt, Rostock, Schweinfurt, Hoyerswerda, Solingen und Pirmasens konnten Antifaschisten geplante Naziaufmärsche ganz oder zeitweise blockieren. Jan Maas
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Was für eine Partei ist die Linke – und wenn ja, wie viele? Seit Gründung der LINKEN sind diverse Bücher über die neue Partei erschienen. Stefan Bornost stellt einige davon vor
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ichts ist erfolgreicher als der Erfolg. Die erst 2007 gegründete Partei DIE LINKE ist mittlerweile sowohl auf Bundes- als auch auf Länderebene ein etablierter Faktor in der deutschen Politik. Gravierende Niederlagen sind bislang ausgeblieben und sie kann von sich behaupten, trotz ihrer Oppositionsrolle (mit Ausnahme von Berlin und Brandenburg) einen großen Einfluss auf die Bundespolitik auszuüben. Doch was für eine Partei ist sie eigentlich? Und was macht ihren Erfolg aus? Bücher zur LINKEN gibt es mittlerweile viele, gute jedoch wenige. Einige davon werden im Folgenden vorgestellt, angefangen mit den konservativen Pamphleten in Buchform, endend mit einigen wirklich lesenswerten Werken. Wer ist DIE LINKE? Für die konservativen und antikommunistischen Kanzelprediger ist die Sache ausgemacht: im Wesentlichen eine Bande von ehemaligen SED-Apparatschiks, die sich unter dem Deckmantel der Erneuerung und durch geschickte Westausdehnung über die ehemalige WASG wieder in die Politik einschleichen und sukzessive die liberale Ordnung der Bundesrepublik aushöhlen.
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Bookwatch
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Die Bücher Wolfgang Hübner, Tom Strohschneider Lafontaines Linke. Ein Rettungsboot für den Sozialismus? Dietz, Berlin 2007 287 Seiten, 14,90 Euro
Tim Spier, Felix Butzlaff, Matthias Micus, Franz Walter (Hrsg.) Die Linkspartei. Zeitgemäße Idee oder Bündnis ohne Zukunft? VS Verlag, Wiesbaden 2007 345 Seiten, 29,95 Euro
Georg Fülberth »Doch wenn sich die Dinge ändern« – DIE LINKE Papyrossa, Köln 2008 175 Seiten, 12,90 Euro
Elke Leonhard, Wolfgang Leonhard Die linke Versuchung. Wohin steuert die SPD? edition q im be.bra verlag, Berlin 2009 192 Seiten, 19,90 Euro
Hubertus Knabe Honeckers Erben. Die Wahrheit über DIE LINKE Propyläen Verlag, Berlin 2009 447 Seiten, 22,90 Euro
Eckhard Jesse, Jürgen P. Lang DIE LINKE – der smarte Extremismus einer deutschen Partei Olzog Verlag, München 2009 288 Seiten, 24,90 Euro
»Bücher zur LINKEN gibt es mittlerweile viele, gute jedoch wenige« Für diese Sichtweise in der Tradition der Totalitarismustheorie, die in radikaler linker Politik den Zwillingsbruder des Rechtsextremismus sieht, steht das Buch der Chemnitzer Politologen Eckhard Jesse und Jürgen P. Lang »Die Linke – der smarte Extremismus einer deutschen Partei«. Auch das Werk des Leiters der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, Hubertus Knabe, »Honeckers Erben. Die Wahrheit über Die Linke«, schlägt in dieselbe Kerbe. Wer an einer ernsthaften Auseinandersetzung mit linker Politik interessiert ist, erfährt wenig Gehaltvolles, dafür viele antikommunistische Ressentiments. Gleichwohl sind auch in solchen beim Lesen oft unerträglichen Büchern, in denen hinter jeder linker Politik diktatorische Zielsetzungen vermutet werden, wichtige Warnungen enthalten. Denn tatsächlich üben auch in der Partei DIE LINKE einige Gestalten Einfluss aus, die nicht unbedingt für Freiheit und Demokratie stehen. Gerade im Landesverband Brandenburg hat sich eine Reihe von Stasi-Leuten bequem eingerichtet, deren Biografien einige Schauerlichkeiten enthalten. Deutlich entspannter geht es in dem Buch »Die linke Versuchung. Wohin steuert die SPD?« zu. Die ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete Elke Leonhard und ihr Mann, der Publizist Wolfgang Leonhard, befassen sich darin mit den Perspektiven der SPD. Der Titel ist jedoch ein wenig irreführend, denn das Buch behandelt in den ersten zwei Dritteln die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung und ihre Spaltung in einen sozialdemokratischen und einen kommunistischen Flügel. Das ist alles flüssig und gut geschrieben, aber im Wesentlichen ebenfalls ein abwägender und – soweit das möglich ist – liberal argumentierender Antikommunismus. DIE LINKE wird als Partei dargestellt, die sich noch nicht hinreichend vom Stalinismus verabschiedet hat. Aber vor allem wird sie als Partei kritisiert, die die »Sachzwänge« der modernen Welt nicht verstanden hat und deshalb für die SPD nicht als Koalitionspartner infrage kommt. Wie kann man nur die Agenda 2010 ablehnen, wo »klar war: Das Land braucht Reformen.« Das Ziel der Agenda 2010 war es ja, »den Menschen zu ermöglichen, aus eigener Kraft ein Einkommen zu erwirtschaften, das sie in die Lage versetzte, ihr Leben zu finanzieren.« Gab es vielleicht in Deutschland noch eine zweite, heimlich durchgeführte Agenda 2010, von der wir alle nichts mitbekommen haben? Absurd wird es bei der Frage der Außenpolitik: Die Leonhards klagen www.marx21.de | Sommer 2010 | Nr. 16
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darüber, dass DIE LINKE »internationalen Organisationen« wie der Nato ablehnend gegenüberstehe. Freilich diskutieren sie nicht, dass die internationale Organisation NATO sich ein wenig vom UNKinderhilfswerk unterscheidet. Auch ihre Klage, dass DIE LINKE die Bundeswehr auf die Größe der Reichswehr zu Zeiten der Weimarer Republik verkleinern möchte, lässt den Leser sich fragen, ob die Aufrüstung nach dem Ende der Weimarer Republik tatsächlich ein Beitrag zum internationalen Frieden war. Im Grunde sagen sie, die SPD solle selbstbewusst und innerparteilich besser aufgestellt ihren Weg weitergehen. Die SPD, nicht DIE LINKE, habe historisch gesiegt. Sie solle an der Agenda 2010 und der außenpolitischen Beteiligung an den so genannten friedenssichernden Missionen festhalten. Nur wenn DIE LINKE sich dem annähere, stelle sie eine Koalitionsoption für die SPD dar. So weit, so klar: Nur, wenn DIE LINKE exakt dieselben Fehler wie die SPD begeht und Franz Müntefering zu ihrem Ehrenvorsitzenden beruft, kommt sie für die SPD in Frage.
Fülberths Stärken sind da, wo er die Krise der SPD seziert und die Klassenverhältnisse im politischen System analysiert. Schwach wird er immer dort, wo er die historische Bedeutung der LINKEN analysiert. So sieht er im Parteiwechsel von führenden Politikern aus der SPD zu der LINKEN bloß »Vorgänge innerhalb der politischen Klasse« anstatt sie als das zu betrachten, was sie sind: im Parlamentarismus fortgesetzter Klassenkampf. Fülberth kann auch keine Parallelen zur Spaltung der SPD 1917 in USPD und MSPD erkennen, weil die Spaltung des sozialdemokratischen Potenzials ausgeblieben sei. Leider – und das zeigt auch ein Blick in die Literaturliste – zeigt sich hier abermals, dass Fülberths Sache die Empirie nicht ist. Für eine grundlegende Auseinandersetzung hätte es einer sorgfältigeren Sichtung von Daten und historischen Debatten bedurft, aber wozu sollte Fülberth das tun, denn sein Urteil stand schon von der ersten Seite an buchstäblich fest.
Spannend wie ein Kriminalroman
Geht es nach dem DKP-nahen ehemaligen Marburger Professor Georg Fülberth, wird dies schon bald der Fall sein. Denn DIE LINKE ist in seiner Sicht nichts anderes als »die zweite (neo-)sozialdemokratische Partei«. Und deshalb sei auch von ihr nichts Gutes zu erwarten. DIE LINKE ist für ihn kein Akteur, der den Widerstand stärkt und die Widersprüche zuspitzt. Letztlich werde durch sie die Fähigkeit des Kapitalismus, »auf innere Verwerfungen zu reagieren«, gestärkt. Auch wenn Fülberths Analyse immer wieder auf diesen Fluchtpunkt zusteuert, ist das Buch durchaus lesenswert. Es ist schmissig, polemisch und zuweilen witzig geschrieben und unterzieht DIE LINKE einer Kritik von links. Oftmals geschieht dies unter genau den entgegengesetzten Vorzeichen als im Buch von Elke und Wolfgang Leonard. Denn Fülberth schildert nüchtern, wie in der LINKEN und ihren Vorgängerorganisationen PDS und WASG Kommunisten an den Rand gedrängt wurden und damit der Pluralität der Partei kein Gefallen getan wurde. Leider versäumt er, die mangelnde strategische Integrationsfähigkeit und Innovationsfähigkeit einiger dieser Kommunisten zu analysieren: Dass sie (wie auch der ihnen nahestehende Fülberth) nicht verstanden hatten, welch ungeheurer Fortschritt in der Gründung der LINKEN steckt und dass viele der neuen Aktivistinnen und Aktivisten in ihrer Einheit das größere Verdienst als in der programmatischen Klarheit sahen.
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Als das beste Buch über DIE LINKE – und dies keineswegs ironisch, sondern völlig ernst gemeint – lobt FAZ-Redakteurin Mechthild Küpper regelmäßig das Buch des stellvertretenden Chefredakteurs der Tageszeitung Neues Deutschland, Wolfgang Hübner, und des ehemaligen ND-Redakteurs und mittlerweile zur Wochenzeitschrift Der Freitag gewechselten Tom Strohschneider. Was haben Hübner und Strohschneider nun falsch gemacht, ein Lob von solcher Seite für ihr Buch »Lafontaines Linke. Ein Rettungsboot für den Sozialismus?« zu bekommen? Nichts, denn das Buch ist schlichtweg gut und zusammen mit dem bereits in dieser Zeitschrift besprochenen »Die Linkspartei. Zeitgemäße Idee oder Bündnis ohne Zukunft?« von Tim Spier und weiteren Autoren tatsächlich das beste Buch über DIE LINKE. Inhaltlich und analytisch unterscheiden sich beide Bücher nur in Nuancen. Leser, die eher eine wissenschaftliche Erörterung bevorzugen, sollten den Band von Spier u.a. zur Hand nehmen. Leser, die hingegen ein weniger wissenschaftliches, dafür eingängiges und journalistische wie publizistische Elemente glänzend zusammenführendes Buch suchen, sollten zu dem von Hübner und Strohschneider greifen. In »Lafontaines Linke« wird zunächst ähnlich wie in dem Buch von Fülberth das Scheitern der Westausdehnung der ehemaligen PDS und die Krise der SPD beschrieben. Anders als bei Fülberth sind die Urteile zwar weniger pointiert, aber die Beschreibung der Entwicklung ist so präzise und anschaulich, dass der Leser in die Lage versetzt wird, selbst zu deuten und zu urteilen. Spannend wie ein Kriminalroman liest sich die Beschreibung des Abspaltungsprozesses in der SPD, Lafontaines Wiederkehr und die mitunter
verschlungenen Pfade der Parteifusion. Wie der Titel des Buches bereits andeutet, gehen Hübner und Strohschneider auch auf die besondere Bedeutung Oskar Lafontaines für den Erfolg der LINKEN ein. Dabei zeigen sie, wie Lafontaine zum nachhaltigen Aufschwung der Partei beigetragen hat, ohne die kritische Distanz zu ihm zu verlieren. Ihre begriffliche Beschreibung Lafontaines als »strategischer Populist«, dem es im Kern um die (gerechte) Sache geht, der sich aber auch nicht scheut, eine populistische Ansprache dort einzusetzen, wo die Grenzen linker Aufklärung verlaufen, ist eine treffende Charakterisierung. Überhaupt, indem Strohschneider und Hübner einige der Protagonisten der LINKEN auch in ihrer Persönlichkeit, in ihren Wendungen zeichnen, wird deutlich, wie politische Ambitionen und Einstellungen zusammengehen. Sie haben dabei klar vor Augen, dass es sowohl bei den Spitzenakteuren als auch bei den gut nachgezeichneten politischen Strömungen in der Partei immer auch um Machtpositionen geht. Aber Macht ist eben nicht der einzige Antrieb der Politik. Auch hier unterscheiden sich die beiden Autoren von den Einschätzungen der Mainstreammedien und der Wissenschaft, die stets persönliche Ambitionen oder gar Rachegelüste im Spiel sehen. Strohschneider und Hübner arbeiten die persönlichen Motivationen der Akteure immer heraus, trauen ihnen aber jeweils auch genuin politisches Interesse zu. Sie erkennen, dass viele – und besonders Lafontaine – sich infolge der Politik der SPD tatsächlich nach links bewegt haben und eben nicht nur auf Grund mangelnder Karrierechancen in der SPD die Partei wechselten. Gut beschrieben sind sowohl die einzelnen Strömungen als auch die programmatischen Auseinandersetzungen in der Partei. Die Regierungssozialisten aus dem Osten, die Befürworter des Grundeinkommens, die Gewerkschafter aus dem Westen, die ehemaligen Sozialdemokraten und die Antikapitalisten – alle werden mit wohlwollender Distanz analysiert. Nur eins vermag das Buch nicht: die Frage im Untertitel, »Ein Rettungsboot für den Sozialismus?«, zu beantworten. Aber wer kann das schon derzeit? Man muss sich selbst ein Bild machen. Zum Beispiel, indem man den hervorragenden Blog von Strohschneider und Hübner (lafontaines-linke.de) und die Zeitschrift marx21 liest. Da weiß man, was in der Partei geschieht, und bekommt Argumente für einen Sozialismus von unten. www.marx21.de | Sommer 2010 | Nr. 16
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Schwerpunkt WM in Südafrika
40 Flüsse voller Blut
Die Geschichte des ANC
48 Nicht in meinem Namen! Fußball und Nationalismus
51 Spiel statt Sieg
Leistungssport im Kapitalismus
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Weltmeister und Wellblech Zwanzig Jahre nach der Freilassung Nelson Mandelas wird die Fußball-Weltmeisterschaft in Südafrika ausgetragen. Viv Smith beschreibt die Auswirkungen der WM auf die Bevölkerung Über 40 Jahre lang wurde die schwarze Bevölkerung in Südafrika unterdrückt. Unter dem System der Rassentrennung, der Apartheid, wurden den schwarzen Südafrikanern jegliche demokratischen Rechte verweigert. Einer der führenden Kämpfer gegen die Apartheid war Nelson Mandela. Als er im Jahr 1990 aus dem Gefängnis entlassen wurde, kamen 50.000 Menschen, um ihn reden zu hören. »Unser Marsch zur Freiheit ist unumkehrbar«, rief er ihnen zu. Hilda Ndude war damals dabei: »Wir waren unglaublich optimistisch«, sagt sie. »Wir wussten, ein neues Südafrika würde geboren werden.« Zwanzig Jahre später schwindet dieser Optimismus von Tag zu Tag. Die Fußball-Weltmeisterschaft wird im Juni dieses Jahres in Südafrika ausgetragen. Die Augen der ganzen Welt werden wieder auf dieses Land gerichtet sein. Doch was nur wenige Kameras zeigen werden, ist die Rückkehr einer Praxis, die eng mit dem Südafrika der Apartheid verbunden ist: die Zwangsräumung von Schwarzen aus ihren Häusern. Nachdem Südafrika den Zuschlag für die FußballWM erhalten hatte, erklärte der damalige Präsident, Thabo Mbeki, dies sei »ein Moment, da Afrika aufrecht und entschlossen den Jahrhunderten der Armut und Konflikte den Rücken kehrt.« Für die Mehrheit der Südafrikaner symbolisieren die riesigen Fußballstadien jedoch die Vergeudung von dringend benötigten Mitteln. Der Stadtrat von Johannesburg hat beispielsweise wegen Überschreitung der Baukosten seinen Haushalt um etwa 90 Millionen Euro gekürzt. Der Eintritt zu den einzelnen Spielen wird bis zu 650 Euro kosten. Dagegen steht ein Wochenlohn von durchschnittlich 60 Euro für einen Bauarbeiter. Die Arbeiter, die die Stadien errichtet haben, werden sich jedenfalls keine Eintrittskarten leisten können. »Das zeigt, wie tief die Klassenspaltung in unserem Land ist«, sagt Castro Ngobese von der Metallarbeitergewerkschaft Numsa. »Die Menschen können sich nicht einmal die notwendigsten Dinge wie Brot, Milch und eine anständige Mahlzeit leisten.«
Große Barackensiedlungen werden als Auffangbecken für die Armen in den Städten gebaut, um die Menschen um die Stadien und andere Prestigeobjekte herum aus dem Blickfeld zu verbannen. Dreißig Kilometer von der Stadtmitte Kapstadts entfernt befindet sich ein Ort, den die Anwohner Blikkiesdorp, »Blechdosenstadt«, nennen. Endlose Reihen von drei mal sechs Meter großen Wellblechhütten wurden hier aufgestellt, in denen ganze Familien in einem einzigen Raum leben müssen. Das Wellblech lässt sich mit einer einfachen Haushaltsschere aufschneiden. Die Hütten stehen auf einer weiten, staubigen Ebene. Jeweils vier Bewohner müssen sich Wascheinrichtungen, Toilette und einen Wasserhahn teilen. Der Ort liegt weit entfernt von den Arbeitsplätzen der Menschen, und die Verkehrsanbindung ist schlecht. Viele der Bewohner sind HIV-positiv, können sich aber keine medizinische Behandlung leisten. In der südafrikanischen Presse wurden diese eingezäunten und polizeilich bewachten Gebiete bereits als »Konzentrationslager« bezeichnet, nach den ebenfalls so betitelten Lagern, die die britische Kolonialverwaltung Anfang des 20. Jahrhunderts in Afrika einrichtete, um dort Aufständische einzupferchen. Ziettha Meyer wurde von einer Sozialarbeiterin in die »Blechdosenstadt« gebracht. Diese drohte ihr mit Gefängnis, sollte sie sich weigern, dorthin zu ziehen. »Sie transportierten uns wie Vieh in das Lager«,
Viv Smith ist Redakteurin der britischen Wochenzeitung Socialist Worker. Sie stammt aus Südafrika, wo sie bis 1998 lebte und für den ANC aktiv war.
8 Land der Kontraste Südafrika hat eine Bevölkerung von 50 Millionen Menschen – und die weltweit größte Kluft zwischen Reich und Arm. Jeder Vierte ist arbeitslos, und 18 Millionen Menschen müssen mit weniger als umgerechnet zwei US-Dollar am Tag auskommen. Seit dem Ende der Apartheid hat sich zwar eine schwarze Mittelschicht entwickelt, aber als Hinterlassenschaft der rassistischen Spaltung stellen Schwarze noch heute 95 Prozent der armen Bevölkerung.
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sagt sie, »wir hatten keine Wahl.« Nach dem neuen Slumgesetz kann jeder, der den Anweisungen zum Umzug nicht folgt, für fünf Jahre ins Gefängnis wandern. Für den Stadtrat von Kapstadt dagegen ist Blikkiesdorp das »vorübergehende Umsiedlungsgebiet Symphony Way«. Die kommunale Verwaltung hat versucht, Menschen aus schwarzen Townships wie Joe Slovo »umzusiedeln«, die sich entlang der Strecke vom internationalen Flughafen Kapstadts bis in die Stadtmitte ziehen. Joe Slovo ist eine seit langem bestehende »informelle Siedlung« in Langa, dem ältesten schwarzen Township in der Provinz Westkap. Die Organisatoren der Fußball-WM nennen sie einen »Schandfleck« und wollen, dass sie verschwindet. Aber die 20.000 Einwohner dort haben Widerstand geleistet. Sie haben, seit die Austragung der Fußball-WM in Südafrika bekannt gegeben wurde, erfolgreich ihre Umsiedlung verhindert. Zodwa Nsibande ist Chefin der Jugendliga von Abahlali base Mjondolo, einer Protestbewegung von Slumbewohnern. Die Organisation wurde zum Schutz der Bewohner gegründet und leistet ihnen juristischen Beistand. Zodwa Nsibande ist wütend: »Die Menschen werden aus ihren Häusern gezwungen und wie Tiere behandelt. Wir leben unter permanenter Bedrohung. Die Menschen haben Angst, irgendwohin zu gehen, denn wenn sie zurückkom-
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men, wird dort irgendetwas hingebaut sein.« Es gibt Widerstand gegen die Umsiedlung, denn Millionen Menschen in »informellen Siedlungen« haben ihr Leben lang an dem Aufbau eines Gemeinschaftswesens und den damit verbundenen Organisationen gearbeitet. Von offizieller Seite werden die Umsiedlungsgebiete als »vorübergehend« bezeichnet. Aber viele Leute leben dort jetzt schon seit vier oder fünf Jahren, ohne dass es Anzeichen für eine Umsiedlung in richtige Wohnungen gibt. All das ist inzwischen zu einem üblichen Muster bei internationalen Großereignissen geworden. In den vergangenen 20 Jahren wurden allein für die Olympischen Spiele weltweit etwa zwei Millionen Menschen entwurzelt. In Südafrika wurde die Polizei auch angewiesen, während der Fußball-WM die Obdachlosen von den Straßen zu vertreiben. Der auf der Straße lebende Isaac Lewis erzählt, dass er innerhalb eines Monats sechsmal wegen »Herumlungerns« verhaftet worden ist. »Die Polizeischikanen nehmen zu«, sagt er. »Sie wollen einen guten Eindruck auf die ausländischen Besucher machen. Wir sind für sie wie lästige Insekten.« Um die Kriminalität während der Fußball-WM einzudämmen, hat der Polizeichef Südafrikas, Bheki Cele, gefordert, dass seine Beamten sogar gezielte Tötungsschüsse abgeben dürfen. In der Provinz Kwazulu-Natal wurden Einheiten mit dem Namen
»Rote Ameisen« gebildet, die Barackensiedlungen abreißen. Stadtmanager Mike Sutcliffe verbot die erste Demonstration der Slumbewohner im November 2009. Als die Bewohner dennoch losmarschierten, schoss die Polizei. All diese Maßnahmen werden allein zum Schutz der Milliarden-Investitionen anlässlich des Sportereignisses ergriffen. Das neue Stadion von Kapstadt ist der teuerste Bau, der jemals in Südafrika errichtet wurde. Das »Giraffenstadion« (»Giraffe« wegen seiner Trägerkonstruktion) in Nelspruit wurde auf 118 Hektar historischem Land der Matsafene, einem Swasi-Stamm, gebaut. Die Swasi wurden gewaltsam von ihrem Land vertrieben. Der vom African National Congress (ANC), der alten Widerstandsorganisation der Schwarzen, dominierte Stadtrat bot ihnen als Entschädigungszahlung umgerechnet 10 Cent pro Person an. Die Betroffenen klagten. Der Richter am Obersten Gerichtshof, Ntendeya Mavundla, verglich die Mitglieder des Stadtrats mit »Kolonialisten, die sich das Land der afrikanischen Ureinwohner für ein paar glänzende Knöpfe und Handspiegel unter den Nagel reißen.«
Die mit dem Bau des Stadions beauftragten Unternehmer räumten eine örtliche Schule und benutzen die Klassenzimmer seitdem als Büros. Die Kinder werden jetzt in drei Kilometer entfernten Schiffscontainern unterrichtet. Die Container sind stickig und feucht. Ständig werden Schüler ohnmächtig.
Ein Obdachloser sagt: »Wir sind für die Regierung wie lästige Insekten«
Als Nelson Mandela freigelassen wurde, versprach er den herrschenden Klassen der Welt, dass der ANC zwar die Apartheid, nicht aber den Kapitalismus abschaffen werde. Der Kampf gegen die Apartheid war einer der mutigsten des 20. Jahrhunderts gewesen. Ein rücksichtsloses rassistisches System wurde am Ende durch die Bewegung der schwarzen Arbeiter und die Aufstände in den schwarzen Wohnvierteln besiegt. Doch solange das kapitalistische System bestehen bleibt, bleibt auch die Ungleichheit. Die kommende Fußball-Weltmeisterschaft erinnert die Menschen täglich daran, was die Herrschaft des Neoliberalismus bedeutet. Nach 46 Jahren Apartheid und 15 Jahren ungehemmter Marktwirtschaft wartet die Mehrheit der Südafrikaner immer noch auf Freiheit.
Rücksichtslose Profitmacherei
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ie FIFA bezieht als Ausrichterin der Fußball-WM 94 Prozent ihrer Einnahmen aus Sponsorengeschäften und setzt ihre »Rechte« rücksichtslos durch. In Südafrika will sie gegen »Eventpiraten« vorgehen, die »versuchen, Profit aus einem Ereignis zu schlagen, zu dem sie nichts beigetragen haben.« Diese sogenannten Eventpiraten sind arme Straßenhändler, von denen es in Südafrika eine halbe Million gibt. Von ihrer Arbeit hängt das Überleben von Millionen Menschen und ihren Familien ab. In der Provinz Kwazulu-Natal werden beispielsweise täglich 28.000 Tonnen gekochte Maiskolben auf den Straßen verkauft. Die FIFA wird darauf bestehen, dass kein »inoffizieller« Straßenhändler in den Stadionbereich gelangt. Schon vor Beginn der WM wurden Straßenküchen mit billigem Essen, die die Bauarbeiter in den Stadien versorgten, vertrieben und durch teure private Cateringfirmen ersetzt. Die Stadien sind hunderte Kilometer voneinander entfernt, die Fußballfans werden also in der Regel per Flugzeug zwischen ihnen hin und her pendeln. Diese zusätzlichen Reisen werden einen Kohlenstoffausstoß von schätzungsweise 2,8 Millionen Tonnen mit sich bringen. Auf diese Weise wird die FußballWM 2010 wohl die größten ökologischen Auswirkungen der Sportgeschichte haben. Was tut die Regierung dagegen? Das Bildungsministerium ist eine »Partnerschaft« mit Coca-Cola eingegangen, um Schülern das Recyceln beizubringen – dafür erhalten diese kostenlose Eintrittskarten für die Fußball-WM. Die »Partnerschaft« wird aber nichts dazu beitragen, die ökologischen Folgen oder die weiter wachsende Armut zu beseitigen.
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Der Kampf des ANC gegen die Apartheid ist einer der groSSen Befreiungsbewegungen des 20. Jahrhunderts. Karsten Schmitz erzählt ihre Geschichte
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m 12. September 1977 starb der schwarze Aktivist Steve Biko in einer Gefängniszelle in Pretoria – 30 Jahre alt, allein, nackt und gezeichnet von schwerer Folter. Schergen des südafrikanischen Apartheidsregimes hatten ihn verhört. Aus dem Verhörzimmer kam Biko ohnmächtig, mit zahlreichen Knochenbrüchen und einer schweren Hirnverletzung heraus. Biko wusste, dass er sich mit seinem Einsatz für Gleichberechtigung in Lebensgefahr begeben hatte. Doch er blieb standhaft und lebte nach seiner Devise: »Es ist besser, für eine Idee zu sterben, als für eine Idee zu leben, die sterben wird.« Er wurde neben Nelson Mandela zur Symbolfigur des schwarzen Befreiungskampfes am Kap – ein Kampf, der Jahrhunderte gewährt hatte und 1994 mit der Abschaffung der Apartheid und der Wahl von Nelson Mandela zum ersten schwarzen Präsidenten Südafrikas endete. Das »Kap der Guten Hoffnung« nannte der Portugiese Bartolomeu Diaz den südlichsten Zipfel Afrikas 1487 bei seiner Entdeckung – doch für die Einheimischen fanden die guten Hoffnungen ein jähes Ende. Auf die Portugiesen folgten die Niederländer. Die Siedler nahmen gewaltsam Land, die einheimischen Stämme wehrten sich. 1659, nur sieben Jahre nach der Gründung der ersten permanenten Versorgungsstation, brach der erste Krieg zwischen ihnen und den Neuankömmlingen aus. Es folgten weitere Kriege, die die Einheimischen wegen schlechter Bewaffnung verloren. Außerdem starben viele von ihnen an den Krankheiten, die die Siedler eingeschleppt hatten. Weiteren wurde das Vieh genommen. Sie verarmten, wurden getötet oder als Sklaven in den Dienst der Siedler gezwungen. Deren Zahl nahm rasch zu. Bekannt wurden sie als die »Buren«, sie selbst nannten sich Afrikaaner und sprachen ein Niederländisch, dessen eigentümliche Ausprägung seit dem 17. Jahrhundert zur Bezeichnung der Sprache als Afrikaans führte. 1806 verleibte sich Großbritannien die niederländische Kapkolonie ein. Die Briten legten separate Reservate für Schwarze an – und damit die Grundlage für das spätere Apartheidsregime. Mit der Entdeckung von Diamanten und Gold schnellte der Bedarf an Arbeitskräften dramatisch in die Höhe. Die Lebensbedingungen in den Reservaten waren so schlecht, dass Schwarze Arbeit in den Städten und Minen suchen mussten. Um sie besser kontrollieren zu können, zwang man sie seit 1872, einen Pass mit einer Aufenthaltsgenehmigung mit sich zu führen.
Zwischen den Buren und den Briten brach 1899 der Krieg aus, aber wegen ihres gemeinsamen Interesses an den Bodenschätzen versöhnten sie sich wieder, und 1910 wurde die südafrikanische Union gegründet – das heutige Südafrika, das aus der Vereinigung der beiden britischen Kronkolonien Kap und Natal mit den beiden Burenrepubliken Oranje Vrystaat und Transvaal hervorging. Im Jahr 1913 erklärte ein Gesetz 7,3 Prozent der Fläche Südafrikas zu »Homelands«, zu Reservaten, die Schwarzen vorbehalten waren und außerhalb denen sie kein Land erwerben durften. Die Weißen, die dieses Land gepachtet hatten, wurden nun heimatlos. Viele von ihnen zogen in die Städte, wo sie den armen Teil der weißen Klasse bildeten. Diese Buren betrachteten die Schwarzen als Rivalen, und mit Streiks setzten sie durch, dass Schwarze von qualifizierten Arbeiten ausgeschlossen wurden. Viele Schwarze wurden in den folgenden Jahren entlassen, um Platz für Weiße zu machen. Kurz zuvor, 1912, war der heute regierende »Afrikanische Nationalkongress« (ANC) gegründet worden. Er hatte sich den von Mahatma Gandhi in Indien entwickelten Ideen eines gewaltfreien Protestes verschrieben und versuchte durch Petitionen an die Regierung, die Lage der schwarzen Bevölkerung zu verbessern. Fünfzig Jahre lang blieben seine Bemühungen erfolglos – das Apartheidssystem wurde gesetzlich immer weiter ausgebaut und verschärft. 1948, nach dem Wahlsieg der »Nationalen Partei« wurde das bislang informelle System fest in den südafrikanischen Institutionen verankert. 1950 wurde der »Population Registration Act« erlassen und eine Behörde gegründet, deren Aufgabe darin bestand, die Bevölkerung Südafrikas in Weiße, Asiaten, Farbige und Schwarze einzuteilen. Dieser Gliederung folgte die geografische Trennung der Wohngebiete. Es folgten massive Zwangsumsiedlungen, um bestehende Wohngebiete zu »entmischen«. Zwischen 1960 und 1980 mussten deshalb über zwei Millionen Menschen, zwischen fünf und zehn Prozent der Bevölkerung, den Wohnort wechseln. Der Zutritt zu den Wohngebieten anderer Ethnien war – auch für Weiße – nur mit schriftlicher Genehmigung gestattet. Ehen zwischen Angehörigen verschiedener Ethnien wurden verboten. Der »Bantu Education Act« von 1952 legte ein minderwertiges Schulsystem für Schwarze fest. Präsident Verwoerd begründete damals: »Über gewisse Formen niederer Arbeit hinaus gibt es in der europäischen Gemeinschaft keinen Platz für den Schwarzen ... Ihm eine Erziehung an-
Das Apartheidssystem wurde gesetzlich immer weiter ausgebaut und verschärft
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Die Apartheid war in Südafrika allgegenwärtig. Viele Strände waren der weißen Bevölkerung vorenthalten (l.), Schwarze wurden vor allem als billige Arbeitskräfte behandelt (wie in dieser Goldmine nahe Johannesburg, 2.v.l.).
das Apartheidsregime durch eine Reihe von Sabotageakten an. Mandelas Zeit als Kommandeur des Untergrunds währte nicht lang. Im August 1962 wurde er verhaftet und 1964 zusammen mit sieben Mitstreitern nach mehreren Verhandlungen im Rivonia-Prozess zu lebenslanger Haft verurteilt, unter ihnen auch der einzige Wei-
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Dem gewaltfreien Widerstand der Schwarzen begegnete das Regime mit verschärften Repressalien. Einen Höhepunkt bildete hier das Massaker von Sharpeville. Dort versammelte sich am 21. März 1960 eine Demonstration gegen die rassistischen Passgesetze, die dem Aufruf des »Panafrikanischen Kongresses« (PAC) gefolgt war, der sich 1959 vom ANC abgespalten hatte. 69 unbewaffnete Menschen starben im Kugelhagel der Polizei, Hunderte wurden verletzt. Das Regime verhängte den Ausnahmezustand, das Militär fuhr in den Townships auf, sowohl ANC als auch PAC wurden im April 1960 verboten, wodurch deren Aktivisten und Anhänger in den Untergrund bzw. ins Exil gedrängt wurden. Mit strengsten Strafen ging der Kapstaat gegen die schwarze Befreiungsbewegung vor. Auf »Unterstützung des ANC«, und sei sie noch so gewaltfrei, standen zehn Jahre Gefängnis. Der ehemalige ANC-Vorsitzende Albert Luthuli, der die Politik der Gewaltlosigkeit lange Zeit vertreten hatte, resignierte angesichts des Blutbads von Sharpeville: »Wer wird leugnen, dass ich dreißig Jahre meines Lebens damit zugebracht habe, geduldig, zurückhaltend, bescheiden und letztlich vergebens an eine verschlossene und verriegelte Tür zu klopfen?« Der ANC nahm den bewaffneten Kampf auf und gründete die militärische Untergrundorganisation Umkhonto we Sizwe, Speer der Nation. Ihr erster Kommandeur war der junge Anwalt Nelson Mandela. In dem Manifest von Umkhonto hieß es 1961: »Im Laufe ihrer Geschichte wird jede Nation einmal vor die Alternative gestellt, sich zu unterwerfen oder den Kampf aufzunehmen.« Umkonto we Sizwe griff
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gedeihen zu lassen, die das Ziel seiner Aufnahme in die europäische Gemeinschaft verfolgt, hat deshalb keinen Sinn ... Warum sollte man einem Bantu-Kind Mathematik beibringen, wenn es sie in der Praxis gar nicht gebrauchen kann«. Entsprechend sah die Mittelzuweisung aus: Eine Studie aus dem Jahr 1974 stellte fest, dass für jedes weiße Kind jährlich 483 Rand ausgegeben wurden, für schwarze Kinder hingegen nur 28 Rand. Angehörige verschiedener Ethnien durften sich ab 1953 nicht mehr im selben Restaurant, Bus oder Zug, geschweige denn am selben Strand aufhalten. Sogar in den öffentlichen Toiletten, auf Parkbänken und im Krankenwagen herrschte die Rassentrennung. Die Privilegierung der weißen Minderheit gegenüber der überwältigenden schwarzen Mehrheit von 80 Prozent war damit in rechtliche Formen gegossen.
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2008, wurde er von den USA als »Terrorist« geführt und brauchte bei Einreisen eine Sondergenehmigung. Die Verhaftung ihrer Führung hatte die Bewegung zurückgeworfen – bis Tausende von Kilometern entfernte Ereignisse eine neue Protestwelle entfesselten. In den amerikanischen Ghettos hatte sich die Black-Power-Bewegung formiert; nach der Ermordung Martin Luther Kings brannten landesweit die Ghettos. Die Bilder von Schwarzen, die sich gegen ihre Unterdrückung durch Weiße wehrten, beeindruckten besonders die jungen Schwarzen Südafrikas. Die Folgen des neuen Bewusstseins waren zum Teil heftige Studentenunruhen. Am 16. Juni 1976 boykottierten Schüler in Soweto den Unterricht, als das Regime unter Zwang versuchte, das verhasste Afrikaans als Schulsprache einzuführen. Mit dem Boykott begann ein Aufstand in Soweto – dem »South Western Township«. Der Aufstand richtige sich sowohl gegen die harsche Unterdrückung als auch gegen die desolaten Lebensumstände: 1976 mussten 86 Prozent der Häuser ohne Strom auskommen, 93 Prozent ohne Dusche und Bad, 97 Prozent ohne heißes Wasser. Mehr als die Hälfte der Einwohner der Johannesburger Vorstadt war arbeitslos. In brutalen Polizeieinsätzen wurden innerhalb weniger Tage 500 bis 1000 Schwarze getötet; man inhaftierte eine Vielzahl Kinder und Jugendlicher und folterte sie, um die Anführer des Aufstandes zu ermitteln. Eine Eindämmung des Widerstandes war trotz scharfer Repressalien aber nicht mehr möglich – der Todeskampf des Regimes hatte begonnen. Denn nun trat ein Gegner auf den Plan, dem der Apartheidsstaat nicht gewachsen war – die in den letzten Jahrzehnten entstandene schwarze Arbeiterklasse. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatte Südafrika eine ungeheure Industrialisierung durchlaufen. Im Zeitraum von 1946 bis 1969 versiebenfachte sich die Produktion der Güter und Dienstleistungen – das Bruttoinlandsprodukt stieg von 2,4 auf 16,3 Milliarden Dollar. In den ersten zehn Jahren seit Ende des Zweiten Weltkrieges nahm das Wirtschaftswachstum jährlich um acht Prozent zu. In den sechziger Jahren beschleunigte es sich auf eine jährliche Rate von zehn Prozent. Die Entwicklung zum Industriestaat führte zur Herausbildung der schwarzen Arbeiterklasse. Zum Zeitpunkt des Soweto-Aufstands waren siebzig Prozent aller südafrikanischen Arbeiter schwarz. 1951 lebten ungefähr zweieinhalb Millionen Menschen in den Städten, 1976 waren es zehn Millionen. Das Apartheidssystem war in großen Teilen eine Re-
Doch auch der Widerstand wuchs: Hier eine Gruppe schwarzer Gewerkschafter (2.v.r.), eine Versammlung der United Democratic Front in Johannesburg (r.) und ein Trauermarsch für von der Polizei ermordete Aktivisten (gr. Bild)
ße der Gruppe, Denis Goldberg. Im Prozess verteidigte Mandela seinen Entschluss zum bewaffneten Kampf: »Ich habe mich nach einem ruhigen und nüchternen Abwägen der politischen Lage, die auf jahrelanger Tyrannei, Ausbeutung und Unterdrückung meines Volkes durch die Weißen beruht, entschieden«. Noch nach seiner Freilassung, 1990 bis
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aktion auf diese Entwicklung. Die Fabriken, Bergwerke, Farmen, Büros und Villen der weißen Südafrikaner erforderten ein riesiges Reservoir billiger schwarzer Arbeitskraft, wenn die Siedler ihre Privilegien und die multinationalen Konzerne ihre Profite behalten wollten. Auch die Deutsche Bank, die Dresdner Bank, die Commerzbank, die Daimler AG und Rheinmetall profitierten in einem so hohen Maß vom Apartheidregime, dass noch im Oktober 2007 Verfahren gegen sie eröffnet werden sollten. Wichtigster Direktfinanzierer der Apartheid war der deutsche Staat, bei dem Südafrika mit 27,3 Prozent seiner Auslandsschulden in der Kreide stand.
Bevölkerung Südafrikas. Deren Privilegien konnten nicht mehr in dem gewohnten Maße aufrecht erhalten werden. Das Regime sah sich zu Steuererhöhungen gezwungen, die unter Weißen höchst unpopulär waren; die personelle Ausstattung der erheblich ausgebauten Armee, Polizei und Geheimpolizei erforderte die Einführung einer Wehrpflicht für Weiße. Mit dem Sinken des Lebensstandards der weißen Arbeiter gelang dem ANC sogar die Rekrutierung seiner Mitstreiter unter Menschen weißer Hautfarbe.
Die Komitees entwickelten sich zur bewaffneten Gegenmacht.
Eine ortsfeste schwarze Arbeiterklasse wäre eine lebensgefährliche Bedrohung für das weltweit gewinnträchtige Apartheidssystem gewesen, das seinen Zweck erfüllte, die Bildung einer solchen städtischen Arbeiterklasse zu verhindern. Theoretisch sollten alle Schwarzen nur vorübergehend Bewohner der Städte sein, die den Weißen vorbehalten waren. Aber die rassistischen Maßnahmen hatten ihr Ziel nicht erreicht. Innerhalb der schwarzen Arbeiterklasse hatten sich Kampfeswille entfaltet und organisatorische Erfahrungen angesammelt. Anfang 1973 schüchterte eine große Streikwelle, deren Zentrum Natal bildete, die Herrschenden ein und erzwang kleinere Zugeständnisse in Fragen des Rechts auf gewerkschaftliche Organisation. Hunderttausende von Arbeitern streikten 1976 in Solidarität mit den Aufständischen von Soweto. Der Damm war gebrochen – Ende der siebziger und die gesamten achtziger Jahre hindurch nahm sowohl die Schlagkraft der gewerkschaftlichen Organisation als auch die Streikfrequenz zu. 1985 wurde der mit dem ANC verbundene Gewerkschaftsdachverband COSATU gegründet – ausdrücklich mit der Absicht, nicht nur wirtschaftliche Rechte, sondern auch ein nicht-rassistisches und demokratisches Südafrika zu erkämpfen. Zeitgleich intensivierte der ANC den bewaffneten Widerstand – Hunderte Aktivisten waren in Nachbarländern wie Angola ausgebildet worden und nahmen jetzt den Kampf gegen das Apartheidsregime auf. Auf internationaler Ebene nahm die Solidarität zu, in vielen Städten sprossen Südafrika-Komitees aus dem Boden. Neben der wachsenden Bewegung setze die wirtschaftliche Situation das Regime unter Druck. Der Goldpreis fiel und damit auch die Einnahmen des Rohstoffexporteurs Südafrika. Seit 1964 stagnierte das Pro-Kopf-Einkommen. Der immer größer werdende Unterdrückungsapparat verschlang Unsummen. Das hatte auch Konsequenzen für die weiße
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Das Apartheidssystem hatte Ende der achtziger Jahre total abgewirtschaftet. Das Bantu-System, das den südafrikanischen Minengesellschaften und anderen Industriebranchen Millionen Arbeiter zu Hungerlöhnen geliefert hatte, war politisch zusammengebrochen und drohte, zu Zentren revolutionärer Aufstände zu werden. Die Townships waren weitgehend unregierbar geworden. Straßenkomitees entwickelten sich zur bewaffneten Gegenmacht. Weltweite Sanktionen trieben Südafrika in die Isolation, und in weißen Wirtschaftskreisen verbreiteten sich in den achtziger Jahren zunehmend oppositionelle Ansichten, wie auch unter der weißen Bevölkerung insgesamt. Der Kampf der schwarzen Bevölkerung drohte, vom Guerillakampf zum bewaffneten Volksaufstand überzugehen: eine klassische revolutionäre Situation. Das Regime lenkte ein, um dem Aufstand zuvorzukommen. Ab etwa 1988 begannen zunächst geheim gehaltene Verhandlungen mit den ANC-Führern im Exil. 1989 trat Frederik Willem de Klerk die Nachfolge von Pieter Willem Botha als südafrikanischer Staatspräsident an. De Klerk nahm gleich Verhandlungen mit dem noch immer inhaftierten ANC-Führer Mandela auf und ließ ihn aufgrund des steigenden Druckes zusammen mit den übrigen politischen Gefangenen im Jahr 1990 frei. ANC und PAC wurden legalisiert. In einem Referendum im März 1992 sprachen sich 68,7 Prozent der Weißen für die Abschaffung der Rassentrennung aus. Getragen durch den lokalen Widerstand und eine Welle internationaler Solidarität hatte die schwarze Befreiungsbewegung das rassistische und mörderische Apartheidssystem besiegt. Was noch aussteht, ist die Lösung der sozialen Frage, auf die die Antwort aber nur international ausfallen kann. ★ ★★
Karsten Schmitz studiert Geschichte und war in den 1980er Jahren aktiv im Kölner Solidaritätskomitee für die südafrikanische AntiApartheidsbewegung
© Kamran Mojedi - Nelson Mandela - Impressions, The Printed Image - El Camino Art Gallery / Marshall Astor / flickr. com
Das Ende der Apartheid hat die soziale Krise Südafrikas nicht gelöst. Peter Dwyer und Leo Zeilig über zwei Jahrzehnte neoliberale Politik und Widerstand
Enttäuschte
Hoffnung
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Das Ende der Apartheid hat die soziale Krise Südafrikas nicht gelöst. Peter Dwyer und Leo Zeilig über zwei Jahrzehnte neoliberale Politik und Widerstand
om 11. Juni an wird Südafrika vier Wochen lang die Hauptstadt des Fußballs sein. Das Land, an dessen Spitze einst Nelson Mandela stand, hat bereits jetzt die Ehre, das Protestzentrum der Welt zu sein. Der »Lange Marsch zum Frieden« Nelson Mandelas und seines African National Congress (ANC) hat sich mittlerweile zu einem Sprint Richtung Neoliberalismus verwandelt. Während die politische Krise der Apartheidherrschaft mit der Wahl des ANC gelöst wurde, plagt die wirtschaftliche und soziale Krise das Land noch immer.
Die Wahl Nelson Mandelas zum Präsidenten Südafrikas im April 1994 läutete eine Zeit großen Optimismus ein. Ein betrieblicher Vertrauensmann und Mitglied des ANC erinnerte sich später: »Ich dachte, der ANC würde uns endlich Dinge bieten, die uns zuvor verweigert wurden. Es gab riesige Erwartungen, dass alles einfach nur großartig sein würde.« Diese Erwartungen spiegelten das Selbstbewusstsein des organisiertesten und aktivsten Flügels der Befreiungsbewegung wider: der Arbeiterklasse, insbesondere des www.marx21.de | Sommer 2010 | Nr. 16
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Gewerkschaftsdachverbands Congress of South African Trade Unions (COSATU). Vor dem Hintergrund ihrer kämpferischen Geschichte glaubten die Menschen, dass »ein besseres Leben für alle« folgen würde, wie eine Parole des ANC lautete. In seiner Wahlkampagne 1994 propagierte die Mandela-Partei einen Wiederaufbau- und Entwicklungsplan, der sowohl unternehmer- als auch arbeiterfreundlich war. Bereits zwei Jahre später ersetzte der ANC, nun an der Regierung, diesen Plan – ohne dies zuvor mit ihren Partnern im sogenannten Dreierbündnis, dem COSATU und der Kommunistischen Partei Südafrikas (SACP), abzustimmen. Die Regierung verfolgte mit der Politik von »Beschäftigungswachstum und Umverteilung« eine neoliberale makroökonomische Strategie. Der ANC setzte nun also darauf, dass der Markt das schreckliche Erbe der Apartheid abmildern würde. Diese Wendung hin zur politischen Mitte führte zu Spannungen und Konflikten zwischen der Regierung und ihren Partnern im Dreierbündnis. Zugleich beförderte sie die Entstehung einer Reihe unabhängiger Bewegungen in den schwarzen Armutsvierteln, den Townships. Zu Beginn der politischen Transformationsperiode (1994 bis 1999) gab es nur wenige Proteste, die sich überwiegend in der Form von Arbeitskämpfen, also gewerkschaftlichen Streiks und Demonstrationen, äußerten. In dem Maße wie jedoch die neue Wirtschaftspolitik Niederschlag in Regierungsdirektiven fand, breitete sich auch der Protest aus. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts entstanden etliche neue unabhängige Kampagnenorganisationen wie die Soweto Electricity Crisis Committees, die gegen die hohen Strompreise gerade für die arme Bevölkerung kämpften, oder das Antiprivatisierungsforum (APF). Gestützt auf die Armen in den Townships (die Arbeitslosen, Rentner und Jugendlichen) erlangten sie durch ihre Kampagnen wie dem illegalen Wiederanschließen an die Stromversorgung einige Berühmtheit. Ähnliche Organisationen entwickelten sich überall im Land. Sie wurden bald als »die sozialen Bewegungen« bekannt – was ihre Opposition und ihre Unabhängigkeit gegenüber dem Dreierbündnis kennzeichnete.
An der Regierung verfolgte der ANC eine neoliberale Strategie
Die Entstehung dieser Organisationen war auch deshalb wichtig, weil sie Risse innerhalb des ANC aufzeigten und zugleich bewiesen, dass es politisches Leben außerhalb des Bündnisses gab. Doch konnten diese Organisationen ihre Versprechungen nicht erfüllen und lösten sich langsam wieder auf. Ihre größter Erfolg war der beeindruckende Aufmarsch von 200.000 Menschen anlässlich des UN-Gipfels für nachhaltige Entwicklung im September 2002 in Johannesburg. Wenn auch mit unterschiedlichen Mitteln bekämpften sowohl die neuen als auch die
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etablierten Organisationen die neoliberale Politik. Das zeigte sich, als der COSATU einen eintägigen Streik gegen Arbeitsplatzabbau und Armut ausrief, an dem vier Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter teilnahmen. Dem folgte ein dreitägiger Generalstreik im Juni 2000 und ein Streik gegen Privatisierung im August 2000. Auch in jüngerer Zeit brach eine Welle von Protesten und Streiks in den Townships aus, nur wenige Monate nach der Wiederwahl der ANCRegierung und des neuen Präsidenten Jacob Zuma im April 2009. Nach 12 Jahren neoliberaler Politik seines Vorgängers Thabo Mbeki galt Zuma vielen, insbesondere seinen Unterstützern im COSATU und der SACP, als Repräsentant eines Neubeginns. Viele Leute waren überrascht von den Protesten und Streiks, und einige Kommentatoren äußerten sich fassungslos über die politische Wut auf eine Regierung, die erst drei Monate zuvor mit 66 Prozent der Stimmen gewählt worden war. Ein Journalist stellte fest: »Sie wählen nicht nur, sie werfen auch Steine!« Diese letzte Welle von Townshipprotesten fiel zusammen mit einem Ausbruch landesweiter Streiks im Juni 2007. Dem war der längste und größte Streiks des öffentlichen Diensts in der südafrikanischen Geschichte vorausgegangen. Im August brachte ein weiterer Generalstreik die Wirtschaft zum Stillstand, als COSATU seine zwei Millionen Mitglieder zu einem eintägigen Ausstand gegen die steigenden Benzin- und Lebensmittelpreise aufrief. Zweifellos hat sich Südafrika seit 1994 deutlich verändert. Die Mehrheit der Menschen verfügt nun über politische Freiheiten, von denen sie bis dahin nur träumen konnten. Millionen Menschen haben Obdach gefunden und wurden an die Stromund Wasserversorgung angeschlossen. Seit Ende der 1990er Jahre ist die Wirtschaft um 6 Prozent gewachsen. Doch nicht jeder hat gleichermaßen davon profitiert. Der Anteil der Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, ist zwar von 58 Prozent (2000) auf 48 Prozent (2005) gesunken und viele arme Familien haben nun Anrecht auf Sozialleistungen. Dennoch bleiben Millionen in Armut gefangen. 57 Prozent der Menschen müssen mit weniger als 350 Euro im Jahr auskommen, rund 30 Prozent sind arbeitslos. 2007 lebten etwa 75 Prozent der schwarzen Kinder in Armutshaushalten mit niedrigen Einkommen, bei weißen Kindern traf dies nur bei fünf Prozent zu. Seit Beginn der Weltwirtschaftskrise wurden eine Million Arbeitsplätze in Südafrika abgebaut, die Arbeitslosigkeit steigt. Daher steht der Ruf nach Jobs und Sozialleistungen im Zentrum der Forderungen streikender Arbeiterinnen und Arbeiter und protestierender Townshipbewohner. In einem Land, in dem jeder zweite 18- bis 25-Jährige arbeitslos ist, verwundert es nicht, dass die Jugend im Mittelpunkt der Proteste steht. Die Wut drückt sich aber auch
in den durchschnittlich 50 Morden täglich aus und einem hohen Grad von Kindesmissbrauch, Vergewaltigungen und häuslicher Gewalt. Der neue Präsident Jacob Zuma hatte versprochen, sich diesen Herausforderungen zu stellen, und damit hohe Erwartungen geweckt. Zuma gilt, anders als Mbeki, als »Mann des Volkes« und als Freund der Arbeiter. Er hat oft darauf hingewiesen, dass er ein Opfer Mbekis und dessen Unterstützer war, weil diese ihm etliche Gerichtsverfahren wegen angeblicher Korruption anhängten. Im September 2008 urteilte ein Gericht, dass Mbeki – oder jemand anderes aus seiner Regierung – sich in die Entscheidung der Bundesstaatsanwaltschaft eingemischt habe, um Jacob Zuma wegen Korruption anzuklagen. Daraufhin wurde Mbeki vom Führungsgremium des ANC »zurückgerufen«, also gefeuert. Das führte zu einer Spaltung im ANC und zur Gründung einer neuen Partei, dem Congress of the People (Volkskongress, COPE) durch Mbeki-Anhänger und unter Führung schwarzer Multimillionäre. Im Januar 2009 sollte Zuma erneut wegen Korruption vor Gericht gestellt werden, die Anklage wurde aber fallengelassen, wodurch für ihn der Weg in das Präsidentenamt frei wurde. Einige Linke behaupten, Mbeki sei ausschließlich aufgrund interner Konflikte innerhalb des ANC als Präsident ersetzt worden. Damit übersehen sie einen wichtigen Faktor: Die Konflikte im ANC reflektierten die Wut und Frustration über die neoliberale Politik des ANC. Mbekis Schicksal wurde nicht durch interne Parteimanöver besiegelt, sondern durch die Generalstreiks und Proteste der Jahre zuvor. Zuma sprang klugerweise, mit Hilfe von SACP und COSATU, auf diesen Zug auf. Durch Mbekis offensichtliche Schikanen stieg seine Beliebtheit zusätzlich. Damit war eine neue Symbolfigur für Millionen unzufriedener Menschen geschaffen. Zuma war und ist kein Radikaler. Er war stellvertretender Präsident unter Mbeki und sprach sich nie gegen dessen unternehmensfreundliche Politik aus. Auch seine katastrophale Haltung gegenüber Aids tolerierte er: Mbeki leugnete stets einen Zusammenhang zwischen dem HI-Virus und der Immunschwächekrankheit. Erkrankten empfahl er Knoblauch, Olivenöl oder Rote Beete als Heilmittel. Zumas Unterstützer priesen ihn als Linken. Einer seiner engsten Berater, der ehemalige Gewerkschaftsführer Gwede Mantashe, erklärte gegenüber Investoren, unter Zumas Führung gehe »es nicht um Unternehmer gegen die Armen, es geht darum, ein Umfeld für Geschäfte zu entwickeln und sich gleichzeitig um die Bedürfnisse der Armen zu kümmern.« Vor seiner Wahl sprach Zuma einmal davon, einen »Pakt« zwischen Unternehmen, Regierung und Gewerkschaften zu schließen,
um gegen niedrige Löhne, Streiks und Inflation vorzugehen. Dieser Plan hat sich durch die Streiks und Proteste bereits erledigt. Statt sozialen Frieden »gibt es eine hässliche, nicht vorhersehbare Stimmung unter den Armen Südafrikas«, klagt die Financial Times. Es ist nicht zu übersehen, dass die militanten Streiks und die Proteste in den Townships in den vergangene Jahren den neoliberalen Konsens des Dreierbündnisses zerstört haben. Mit der Wahl Zumas zum Präsidenten hatten viele gehofft, nun werde eine Zeit sozialer Stabilität anbrechen. Nach 15 Jahren ANC-Herrschaft ist Südafrika das Land mit den größten Ungleichheiten auf der Welt – aber auch das weltweite Zentrum von Protesten. Im Mai 2008 wurde eine Regierungsstatistik veröffentlicht, wonach es zwischen 1997 und 2008 8695 gewalttätige Massenproteste und 84.487 friedliche Demonstrationen gab.
Ein Journalist stellte fest: »Sie wählen nicht nur, sie werfen auch Steine!«
Angesichts der Natur des südafrikanischen Kapitalismus ist die Arbeiterklasse die größte und am besten organisierte des afrikanischen Kontinents. Es ist schwer vorstellbar, wie die soziale Bewegungen ohne das soziale Gewicht dieser Klasse den Traum der Befreiung umsetzen können. Trotz der unglaublichen großen Protestwelle, der Aufstände und Streiks, gibt es immer noch keine progressive Wende von einem »wirtschaftlichen und sozialen Protest« hin zu klarerer politischer Opposition. Das liegt auch daran, dass der COSATU loyal zur Regierung steht. Eine wesentliche Herausforderung für die unabhängige Linke ist der Aufbau strategischer Verbindungen zwischen den Protesten der Townships und der organisierten Arbeiterschaft, und einer Verallgemeinerung der Forderungen landesweit. Die Leidenschaften, die um die FußballWeltmeisterschaft herum entfacht werden, werden ohne Zweifel viele ablenken, da Medien und Regierung auf Einheit drängen, wenn Südafrika jetzt im Scheinwerferlicht der Weltöffentlichkeit steht. Wenn der Schlusspfiff der WM verklungen ist, wird dies auch das Ende des aufgeblasenen Medienzirkus und der stereotypen Bilder von der »Regenbogennation« sein. Er wird jedoch nicht das Ende Südafrikas als Land mit den größten Ungleichheiten der Welt signalisieren. Es wird weiter Kämpfe geben, um diese zweifelhafte Ehre endgültig auf den Müllhaufen der Geschichte zu kicken. ★ ★★ Peter Dwyer hat in der Vergangenheit für eine südafrikanische NGO gearbeitet. Derzeit lehrt er Wirtschaftswissenschaften am Ruskin College im britischen Oxford. Leo Zeilig ist Soziologe. Er hat mehrere Bücher und Artikel über soziale Bewegungen im südlichen Afrika veröffentlicht.
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Nils Böhlke erklärt, warum er Fußball liebt, aber sich keinesfalls Schwarz-Rot-Gold auf die Wange malt
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ch bin Fußballfan seit ich denken kann. Das erste Mal war ich im Alter von sieben Jahren im Stadion. Ich habe mich heiser geschrieen für den FC St. Pauli und mit den anderen Fans den Aufstieg gefeiert. Während der Weltmeisterschaft werde ich mir so viele Spiele wie möglich anschauen. Aber eins werde ich ganz sicher nicht tun: Mir Schwarz-Rot-Gold auf die Wange malen, eine Fahne schwenken und dabei »Deutschland, Deutschland« grölen. Die Bild wird mich und andere, die ähnlich denken, als »Spaßbremse« und »Miesmacher« bepöbeln. Egal. Denn ich bin Überzeugungstäter: Ich bin überzeugt davon, dass der absehbare schwarz-rotgoldene Taumel im besten Falle eine Ablenkung ist, die unseren Herrschern gut in den Kram passt – und
im schlechtesten Falle Kräfte der radikalen Rechten stärkt. Über »schwarz-rot-geil« (Bild) freuen sich die falschen Leute. So jubelte zum Beispiel die notorisch rechte CDU Hessen nach der WM 2006: »Die Fußballweltmeisterschaft in unserem Land hat den Umgang mit nationalen Symbolen wieder selbstverständlicher gemacht. Die Diktatur der Nationalsozialisten und die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs hatten das deutsche Nationalgefühl stark beschädigt. In den Jahrzehnten nach 1945 hatten wir Deutsche große Probleme, zu einem normalen Patriotismus zurückzufinden. Das scheint nun gelungen zu sein.« Gerhard Haslinger, Bezirkspolitiker der rechtsextremen FPÖ in Österreich, freute sich damals: »Eine herrliche Zeit! Man darf ungestraft zeigen, dass man auf seine Nation stolz ist und man darf öffentlich sein Land lieben. (…) Die gepredigte Vielfalt weicht der Nation, das Miteinander zerfällt
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zu Gegnern.« Auch Jürgen Gansel, Ideologe der NPD, freute sich über die Deutschlandfahnen: »Die Herrschenden in Politik und Kultur müssen feststellen, dass über 60 Jahre nach Kriegsende nationale Gemeinschaftssehnsüchte nicht länger unterdrückt und Nationalbewusstsein nicht mehr unter moralische Quarantäne gestellt werden kann.« Nun will nicht jeder, der bei der WM einen Deutschlandwimpel schwenkt, die Wiederherstellung des Dritten Reichs in den Grenzen von 1936. Man kann sogar recht sicher davon ausgehen, dass das nur auf einen minimalen Teil der Deutschlandfans zutrifft. Tatsache ist jedoch: Die schwarz-rot-goldene Woge schafft eine Atmosphäre, in der sich die Rechte pudelwohl fühlt. Richtig hässlich wird es, wenn sich Patriotismus noch mit Spekulationen über einen feststehenden Nationalcharakter oder obskuren biologischen Annahmen paart. Vor der WM 2006 meinte Luis Fernando Suárez, Trainer des ecuadorianischen Teams, in einem Interview über die deutsche Mannschaft: »Die Deutschen spielen wie große Panzer, die alles, was sich ihnen in den Weg stellt, überrollen. Sie spielen realistisch, effizient. Sie sind Zerstörer, wie im Krieg.« Ähnlich äußerte sich Franz Beckenbauer, der wusste: »Wir Deutschen haben etwas im Blut, um das uns die ganze Welt beneidet. Wir geben nie auf.« Der ehemalige DFB-Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder variiert das völkische Motiv soziobiologisch, wenn er pseudowissenschaftlich analysiert: »Der südamerikanische und afrikanische Fußball haben genetisch andere Voraussetzungen.« Die Spielweise, durch gezielte Zerstörung der Offensivbemühungen der gegnerischen Mannschaft das Spiel zu gewinnen, wird oft als »deutsche Tugend« bezeichnet. Die Annahme, dass sich in einer Nationalmannschaft und ihrer Spielweise ein Nationalcharakter manifestiert, ist absurd. Denn so etwas wie »das Deutsche« gibt es nicht. Nationalismus – und damit auch die Annahme einer feststehenden »deutschen Nation« – ist das Produkt frühkapitalistischer Gesellschaften. Der Begriff in seiner heutigen Bedeutung ist erst im späten 18. Jahrhundert entstanden, wie der Historiker Benedict Anderson in seinem Buch »Die Erfindung der Nation« aufgezeigt hat. Das, was wir heute als Deutschland kennen, war noch im frühen 19. Jahrhundert ein Mosaik verschiedener Königreiche und Fürstentümer. Lange Zeit gab es keine einheitliche deutsche Sprache. Ein Bewohner Badens hätte sich nicht einmal mit einem Einwohner Mecklenburgs unterhalten können. Nachdem die Nationalstaaten entstanden waren und mit ihnen der Nationalismus, wurden im Nachgang eine Nationalgeschichte und ein Nationalcharakter konstruiert, die nach Möglichkeit tausende von Jahren in die Vergangenheit zurückreichten. So wurde beispielsweise im 19. Jahrhundert der Germanenfürst Arminius, der 9 nach Christus die Römer
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Für Sparkommissar Schäuble ist die WM ein Geschenk des Himmels
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in der Varusschlacht besiegt hatte, zu »Hermann«, dem Gründungsvater der Deutschen umgewidmet. Das soll der eigenen Nation historische Tiefe geben, ist aber ein unhistorisches Konstrukt. Bislang ist jeder Versuch der Konservativen, in »Leitkulturdebatten« festzulegen, was deutsch ist, im Sande verlaufen. Die Leitkulturvertreter scheiterten schon daran, dass seit Jahren Pasta und Pizza die unangefochtenen Lieblingsessen der Deutschen sind, und nicht der Sauerbraten. Gesellschaften sind permanent im Fluss und im Wandel, Auffassungen ändern sich, erfolgreiche Bewegungen setzen oftmals auch einen Wandel in den Mentalitäten durch. Debatten wie die über die »deutschen Tugenden« der Nationalmannschaft und die Leitkultur verfolgen nur einen Zweck: eine Einteilung in »wir« und die »anderen«, in Deutsche und Nichtdeutsche. Da hilft es auch wenig, dass mit Mesut Özil, Andreas Beck, Lukas Podolski, Miroslav Klose, Mario Gomez, Denis Aogo, Jerome Boateng, Serdar Tasci, Sami Khedira, Marco Marin, Piotr Trochowski und Cacau knapp die Hälfte der Nationalspieler einen Migrationshintergrund hat – im Gegenteil. Ihnen werden dann von der Boulevardpresse besonders »deutsche Tugenden« angedichtet: »Er singt die Nationalhymne lauthals mit, sein Spitzname ist ›Helmut‹. Die Rede ist von unserer WM-Hoffnung Cacau. Gebürtiger Brasilianer, der deutsch spricht, deutsch spielt und deutsch tickt. Cacau grinst: ›Ich war nie ein typischer Brasilianer. Ich kam nie 60 Minuten zu spät, sondern nur 20 Minuten. Meine ganze Mentalität ist deutsch‹«, berichtet die Bild. Was sie damit eigentlich sagen will: Der gemeine Brasilianer ist unpünktlich. Wie schnell aus solchen Klischees bösartige Anschuldigungen werden können, dürfen wir derzeit bei der Welle nationalistischer Hetze gegen die Griechen beobachten. Warum das alles? Weil den Konservativen »das gebrochene Verhältnis der Deutschen zur Nation« ein Dorn im Auge ist. Das hat einen Grund: Die deutsche Gesellschaft ist tief gespalten. Die oberen fünf Prozent der Bevölkerung verfügen über 46 Prozent des Vermögens und die oberen zehn Prozent sogar über zwei Drittel. Allein das oberste Prozent besitzt über 23 Prozent des Reichtums in Deutschland. Gleichzeitig haben zwei Drittel der Bevölkerung nahezu kein eigenes Vermögen. Als Folge des Sozialabbaus der letzten Jahre öffnet sich die Schere immer weiter und immer schneller. Die konservative Antwort darauf: Das große deutsche »Wir« beschwören, um die soziale Spaltung zu verkleistern. Der Spiegel brachte es im Jahr 2006 auf den Punkt: »Es ist tatsächlich eine Stimmung der Einheit, die Deutschland erfasst hat. (…) Für die Dauer eines Turniers interessieren sich Hartz-IV-
Empfänger, Investmentbanker und Intellektuelle für dasselbe, im Jubel sind die Grenzen sozialer Herkunft verwischt.« Die Süddeutsche Zeitung (SZ) zeigte in einer Reportage anschaulich, wie selbst Menschen, deren soziale Existenz völlig zerstört ist, das Nationalgefühl annehmen. Unter einer Brücke in München machte das Blatt obdachlose Fußballfans ausfindig: »›Wir haben oft genug vom Staat auf den Sack bekommen‹, sagt Indie, ›aber wir stehen trotzdem für Deutschland, weil wir hier geboren sind, weil das unser Vaterland ist.‹ Sein Feuerzeug hat die Farben Schwarz-Rot-Gold.« Die SZ wollte mit diesem Artikel die allumfassende Begeisterung dokumentieren. Doch eigentlich ist diese Geschichte sehr traurig. Indie bräuchte ein Dach über dem Kopf, eine Gesellschaft, die sich um ihre Schwächsten kümmert. Stattdessen bekommt er Schwarz-Rot-Gold. Und das kann man bekanntlich nicht essen. Politik und Wirtschaft setzen ganz bewusst auf den »Patriotismuseffekt«. Im Vorfeld der WM 2006 ließen es sich 25 Konzerne 30 Millionen Euro kosten, um uns von Plakatwänden, aus Zeitungen und im Fernsehen immer wieder dieselbe Botschaft zu predigen: Du bist Deutschland! In ihrem Manifest appellieren die Initiatoren: »Behandle dein Land doch einfach wie einen guten Freund. Meckere nicht über ihn, sondern biete ihm deine Hilfe an.« Auch der ehemalige Kanzler Gerhard Schröder und die CDU unterstützten die Kampagne. Spiegel-Autor Matthias Matussek argumentierte ähnlich: »Umfragen zeigen ja, dass die Deutschen im Prinzip zu schmerzhaften Einschnitten bereit sind. Wenn es dann allerdings um die konkreten Maßnahmen geht, dann antworten die jeweiligen dann betroffenen Gruppen wiederum anders. Aber ich glaube, dass es ein Nationenzusammengehörigkeitsgefühl braucht, um gerade durch schwierige Zeiten zu kommen und zu sagen: Okay, das muss jetzt sein, diesen Einschnitt machen wir. Und da ist Patriotismus natürlich sehr tauglich.« Diese Rolle hat Nationalismus seit jeher gespielt: eine zwischen Arm und Reich, zwischen Klassen gespaltene Gesellschaft unter dem Banner von »Volk« oder »Nation« zu vereinen, um dann für die Nation Opfer abzufordern. Anschaulich schildert das Henrik Müller, stellvertretender Redakteur des Manager-Magazins in seinem im Jahr 2006 erschienenen Buch »Wirtschaftsfaktor Patriotismus – Vaterlandsliebe in Zeiten der Globalisierung«. Er klagt: »Statt sich auf den ökonomischen Wettbewerb einzustellen und mitzuspielen, verlangen viele in Deutschland nach internationalen Lösungen: zum Beispiel nach einer Harmonisierung der Steuer- und Sozialsysteme innerhalb der EU, mit dem Ziel, den Standortwettbewerb zu begrenzen. Es liegt auf der Hand, welche Reformen in Deutschland anstehen: ein
grundlegender Umbau der Sozialsysteme, die weitere Öffnung des Arbeitsmarkts und der Märkte für Dienstleistungen.« Neidisch blickt der Journalist auf die erfolgreiche Konkurrenz: »Andere Länder haben es vorgemacht – in den 1980er Jahren die Niederlande, Großbritannien, die USA, Neuseeland, in den 1990er Jahren Schweden, Finnland, Dänemark; erst recht die vormals sozialistischen osteuropäischen Staaten. Sie alle haben sich in kollektiven Kraftakten auf die neuen Realitäten eingestellt, haben grundlegende Reformen durchgesetzt.« Müller wirbt deshalb für die entsprechende Ideologie, um diesen »kollektiven Kraftakt« auch im Interesse der deutschen Konzerne durchzusetzen: »Das Bindemittel des Patriotismus – das Zugehörigkeitsgefühl zu dem und die Opferbereitschaft für das nationale Kollektiv – wird offenkundig benötigt als emotionaler Gegenpol zu einer ökonomischen Globalisierung.« Auch Bild rüstet für den globalen Standortwettbewerb. In einem Kommentar anlässlich der für deutsche Athleten äußerst erfolgreichen Olympischen Winterspiele in Turin heißt es: »Deutschland, die klare Nummer 1 weltweit. (…) wir sehen, was wir erreichen können, wenn wir uns auf unsere Tugenden und Stärken besinnen. Tatkraft. Fleiß. Ehrgeiz. Teamgeist. Der Wille, anzupacken und nie aufzugeben. Das alles steckt in jedem von uns. (…) Jawohl, wir können’s noch!« Sie reden vom Weltmeistertitel und meinen den Exportweltmeister – eine Position, die errungen wurde auf dem Rücken von immer schärfer ausgebeuteten Beschäftigten. Dieses Spiel sollten Linke nicht mitmachen und auch während der WM über die wirklichen Probleme im Land reden. Und das ist nicht ein mögliches Ausscheiden in der Vorrunde, sondern Dinge wie zum Beispiel Schäubles Sparprogramm. Die Bundesregierung wird den Windschatten der medialen Konzentration auf die WM zu nutzen wissen. Während wir auf den Ball gucken und die Arme zum Jubel heben, wird hinter unserem Rücken der Sozialstaat demontiert. Bereits im Umfeld der WM 2006 wurden Verschärfungen bei Hartz IV verabschiedet. Für Sparkommissar Schäuble ist auch diese WM ein Geschenk des Himmels, um seine Grausamkeiten mit einer schwarz-rot-goldenen Schleife zu versehen. Politiker, Manager und Medien werben für den angeblich »unverkrampften« Patriotismus, weil sie hoffen, hinter der Fassade des neuen »WirGefühls« Politik gegen alle Menschen in Deutschland machen zu können – egal, ob sie Deutsche, Türken, Italiener oder Serben sind. Jedoch sollten weder Deutsche noch Ausländer der Regierung dabei helfen, indem sie das Bild ihrer Städte mit schwarz-rotgoldenen Fahnen prägen. www.marx21.de | Sommer 2010 | Nr. 16
Nils Böhlke ist Politikwissenschaftler, Doktorand und Fußballfan. Er ist Mitglied im SprecherInnenrat der AG betrieb & gewerkschaft der nordrhein-westfälischen LINKEN.
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t t a t s l SpieSieg Wie der Kapitalismus dem Sport die Seele raubt, erklärt Yaak Pabst Laut einer Umfrage des Marktforschungsinstituts Innofact interessieren sich 60 Prozent der Deutschen für die Fußball-Weltmeisterschaft. Für sie ist Fußball die »schönste Nebensache der Welt«. Die Spiele werden nicht nur in den Stadien, sondern rund um den Globus auch auf öffentlichen Plätzen und in Kneipen von Millionen gemeinsam angeschaut und gefeiert. Diese Begeisterung gilt nicht nur für den Fußball. Auch andere Sportgroßereignisse wie die Olympischen Spiele erzielen hohe Zuschauerzahlen und TV-Einschaltquoten. Der aktive Sport erfreut sich ebenfalls größter Beliebtheit. In Deutschland treiben rund 33,8 Millionen Erwachsene Sport im Verein oder Betrieb, schwitzen im Fitnessstudio oder joggen und walken. In den vergangenen anderthalb Jahrzehnten ist der Anteil der aktiven Sportler an der erwachsenen Bevölkerung Westdeutschlands von gut 40 auf über 54 Prozent gestiegen.
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Weil Sport Millionen begeistert, ist er mehr als nur ein Hobby – Sport ist »Big Business«. Die Sportausrüster in aller Welt setzen jährlich etwa 90 Milliarden US-Dollar um, davon allein 29 Milliarden Dollar mit dem Verkauf von Schuhen. Die Fußball-Weltmeisterschaft wird von dem millionenschweren Weltfußballverband FIFA organisiert. Trotz Finanzkrise konnte dieser laut eigenem Geschäftsbericht im vergangenen Jahr einen Gewinn von 160 Millionen Euro verzeichnen. Allein durch die Vermarktung der weltweiten Fernsehrechte an den beiden letzten Männer-Weltmeisterschaften (2002 und 2006) nahm die FIFA 1,8 Milliarden Euro ein. Bei der WM 2006 in Deutschland haben multinationalen Konzerne wie Adidas, Coca-Cola, Deutsche Telekom, MasterCard und McDonalds im Schnitt etwa 26 Millionen Euro gezahlt, um offizielle Sponsoren zu werden. Auf diese Weise kauften sich diese Unternehmen einen Teil der WM und konnten über deren Durchführung mitbestimmen. Die Großkonzerne erhielten zum Beispiel viele Tickets, die nicht mehr direkt an die Fans verkauft, sondern an Geschäftskunden und das eigene Management verschenkt wurden. Oder sie wurden per Gewinnspiele an Kunden weitergegeben. Die Sponsoren nutzten auf diese Weise die Fußballbegeisterung für ihre Marketingzwecke aus. Aber nicht nur die Sponsoren profitieren. Im Umfeld der WM werden Milliardenbeträge in Infrastruktur und Stadionbau investiert. In Südafrika sind es nach Angaben des Botschafters des Landes fünf Milliarden Euro.
Diese Verbindung von Sport und Kapitalismus ist offensichtlich, eine andere weniger. Denn der Kapitalismus beeinflusst nicht nur die Vermarktung des Sports, sondern er durchdringt auch die Art und Weise, wie dieser betrieben wird. Am deutlichsten ist dies beim Leistungssport. Dort herrschen »Arbeitsbedingungen« wie im 19. Jahrhundert vor: hartes tägliches Training mit dem Ziel, den jeweiligen Gegner in der Konkurrenz zu übertreffen und zu besiegen. Die kapitalistische Maxime, sich auf dem Markt in Konkurrenz zu anderen zu behaupten, spiegelt sich hier wider. Leistungssport wird betrieben, um Spitzenleistungen im internationalen Maßstab zu erzielen. Der Körper der Athleten wird zur Ware – zur exakt vermessenen Ware. Es entscheiden Hundertstelsekunden über Sieg oder Niederlage, über einen Platz auf dem Medaillentreppchen oder den Abstieg in die Bedeutungslosigkeit. Leistungssportler befinden sich unter totaler Kontrolle, im Training und im Wettkampf. Permanent wird ihre Leistung ge- und vermessen: Wie viele Kilometer hat Lukas Podolski während des EM-Finales zurückgelegt? Ist er hauptsächlich gespurtet oder bloß getrabt? Wie viele Ballkontakte hatte Frank Ribery? Wie viele Zweikämpfe hat Lionel Messi gewonnen? Nur derjenige, der die Leistung hält, bleibt im Kader. Das gilt im Fußball wie bei anderen Sportarten. Die Zahlen, Daten und Fakten bieten Vergleichswerte, mit denen die Konkurrenz innerhalb der Teams angeheizt wird. Der Druck auf die Spieler, noch bessere Leistungen zu erbringen, steigt.
wenden sich bevorzugt den Schulen und Universitäten zu, deren Mannschaften in den Schülerligen die auffallendsten Erfolge produzieren. Die Zahl der wettkämpfenden Mannschaften beeinflusst auch die Höhe der staatlichen Zuschüsse. Dabei geht es um Millionen. Für den schulsportlichen Konkurrenzkampf halten sich die US-Anstalten einen Stab von Berufstrainern. Von knapp 37 Millionen US-amerikanischen Schülerinnen und Schülern unter 14 Jahren beteiligen sich mindestens vier Millionen an den Wettkampfprogrammen in 27 verschiedenen Sportarten. Doch 90 von 100 Jungathleten erreichen niemals das höchste Leistungsniveau. Über die schweren körperlichen und seelischen Entwicklungsschäden von Spitzensportlern und solchen, die es werden wollten, wird nur wenig berichtet. Bei Jugendlichen und Kindern ist vor allem das Rückgrat und der Bewegungsapparat gefährdet. Ein Beispiel aus dem Turnen: Mit neun Jahren war Ulrike Weyh aus Itzehoe Jugendmeisterin geworden. Mit 16 Jahren und nach 8000 Trainingsstunden trieben Schmerzen die Turnerin zum Sportarzt. Diagnose: Die Lendenwirbelsäule war beschädigt, die »Turnkarriere« damit beendet. So geht es vielen. Hinzu kommen Disziplin, Drill und Unterordnung – wesentliche Bedingungen, damit ein Kind überhaupt in die Förderprogramme der nationalen Sportverbände aufgenommen wird. So erklärte die Berliner Turnerin Yvonne Haug 1983 nach ihrem Rücktritt aus dem deutschen Olympiakader: »Ich habe etwas dagegen, wenn Funktionäre über unseren Kopf hinweg entscheiden. Wir sind es doch schließlich, die sich quälen müssen, um die Leistung am Gerät zu bringen, nicht die Herren im blauen Blazer. Aber als Turnerin kommt man sich manchmal wie eine Schachfigur vor, die hin und her geschoben wird, ohne sich dagegen wehren zu können.«
Je mehr sich Erfolg in Profit umrechnen lässt, desto größer der Druck auf die Sportlerinnen und Sportler
In diversen Sportarten, etwa dem Kunst- und Geräteturnen, werden »Talente«, gerade weil die Anforderungen so hoch sind, bereits im Kindergartenalter mit schwerem Training belastet. Vier bis sechs Jahre tägliches Training sind erforderlich, wenn die Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren Höchstleistungen vollbringen sollen. Vereine und Sportverbände haben extra Internate, Sportschulen und spezielle Förderprogramme, um einen Kader für den Spitzensport zu akkumulieren. Diejenigen, die sich später durchsetzen, sind also selten die »Besten«, sondern vor allem die Diszipliniertesten. In den USA trägt der Wettkampfsport etwa in den Highschools und Colleges seit Jahrzehnten wesentlich zu den Einkünften der Anstalten bei. Sponsoren
Die Ausrichtung des Sports auf den unbedingten Erfolg, den Sieg über den Gegner, wirkt auf das Verhalten der Sportler selbst zurück. Der Sportwissenschaftler Gunter A. Pilz befragte mehr als 6000 Jugendfußballer und kommt zu dem Schluss: »Je länger die Jugendlichen im Verein aktiv sind, desto eher sind sie bereit, Regelverstöße im Interesse des Erfolges nicht nur zu akzeptieren, sondern auch www.marx21.de | Sommer 2010 | Nr. 16
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nicht mehr als ›unfair‹ zu bezeichnen. Im Laufe ihrer leistungssportlichen Entwicklung lernen Jugendliche, immer ausdrücklicher das Gebot des Erfolges über das Fairnessprinzip zu stellen.« Selbst innerhalb eines Fußballteams steht die Rivalität um die Aufnahme in die Stammelf in einem permanenten Widerspruch zum Mannschaftserfolg. Um sich in dieser Konkurrenz durchsetzen zu können, kann man nicht bloß auf die eigene Leistung vertrauen. Doping ist die unausweichliche Begleiterscheinung des Leistungssports. Im Gespräch mit dem Fußballmagazin 11 Freunde berichtet Hans Dorfner, ehemaliger Nationalspieler und Bundesligaprofi von Bayern München: »Ich habe mir vor jedem Spiel zwei, drei Aspirin reingehauen und dann lief es. Zum Schluss hat mein Körper gegen jedes Medikament rebelliert. Ich hatte richtige Allergieschocks, habe auf alle Lebensmittel und Medikamente allergisch reagiert. Mein Immunsystem war einfach fertig. Ich hatte meinem Körper zu viel zugemutet.« Kein Einzelfall. Allein in Deutschland wurden im Jahr 2002 etwa 100 Millionen Euro für illegale Dopingmittel ausgegeben. Bluttransfusionen, Steroide und Kokain sind genauso weit verbreitet wie Epo, Cera oder Schmerzmittel. Je mehr sich Erfolg in Profit umrechnen lässt, desto größer der Druck auf die Sportlerinnen und Sportler.
geistige Tätigkeit. Selbst die Erleichterung der Arbeit wird zum Mittel der Tortur, indem die Maschine nicht den Arbeiter von der Arbeit befreit, sondern seine Arbeit vom Inhalt.« An anderer Stelle erklärte er: »Die Zeit ist alles, der Mensch nichts mehr, er ist höchstens noch die Verkörperung der Zeit.« Seit Marx’ Zeiten hat sich die Arbeitswelt natürlich stark verändert. Viele Menschen arbeiten nicht mehr in der Fabrik, sondern im Büro. Doch auch heute kontrollieren die Beschäftigten weder die Produkte ihrer Arbeit noch ihre Arbeit selbst. Auch die gegenwärtigen Arbeitsbedingungen stellen nicht die Bedürfnisse des Menschen ins Zentrum, sondern seine Verwertbarkeit für das Unternehmen. Hoher Termindruck, Berge von Arbeit, Überstunden und die Angst um den Job bestimmen den Alltag in Büros, Geschäften und Fabriken. Diese Arbeitsbedingungen sind sowohl bei Arbeitern als auch bei Akademikern häufig Auslöser von Erschöpfungskrankheiten bis hin zur Depression. Laut Weltgesundheitsorganisation WHO wird die Depression im Jahr 2030 diejenige Krankheit sein, die die Menschen nach Aids am meisten belastet. Am häufigsten klagen die Berufstätigen über Verspannungen im Schulter/Nacken-Bereich, Rückenschmerzen, Kopfschmerzen und Nervosität, innere Unruhe.
Die Art und Weise wie der Kapitalismus den Sport durchdringt steht im krassen Gegensatz zu den Bedürfnissen der Menschen. Nach einer IfasUmfrage unter 3372 Sporttreibenden betätigen sich nur 13 Prozent der Befragten sportlich zur Wettkampfvorbereitung. Für die meisten geht es in erster Linie um körperliche Bewegung und Spaß. Menschen treiben Sport, weil sie gesund bleiben oder werden wollen, sie dadurch in Kontakt mit anderen Menschen kommen und einen Ausgleich zur Arbeit suchen. Das ist kein Wunder. Denn Arbeit im Kapitalismus ist nicht selbstbestimmt, sondern entfremdet. Karl Marx schrieb über die Lohnarbeit: »Der Arbeiter fühlt sich daher erst außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer sich«. Und weiter: »Während die Maschinenarbeit das Nervensystem aufs Äußerste angreift, unterdrückt sie das vielseitige Spiel der Muskeln und konfisziert alle freie körperliche und
Sport ist für viele eine willkommene Abwechselung. Doch der Kapitalismus verzerrt das menschliche Bedürfnis nach sportlicher Betätigung und die Freude am gemeinsamen Spiel. Denn das Spiel ist eine Tätigkeit, die ohne bewussten Zweck zum Vergnügen, zur Entspannung, allein aus Freude an ihrer Ausübung ausgeführt wird. Ein Großteil der kognitiven Entwicklung und der Entwicklung von motorischen Fähigkeiten findet durch Spielen statt, beim Menschen ebenso wie bei zahlreichen Tierarten. Natürlich braucht ein Spiel, damit es auf einer höheren Ebene gespielt werden kann, Regeln. Je komplexer das Spiel, desto wichtiger ist Training beziehungsweise das Erlernen der Fähigkeiten, die für das Spiel notwendig sind. Die verschiedenen Sportarten haben alle Elemente von Spiel. Doch bei Leistungssport unter kapitalistischen Bedingungen stehen die Konkurrenz, der Wettbewerb und der Er-
Sport ist für viele eine willkommene Abwechselung zur Arbeit
★ ★★ Weiterlesen Chris Bambery: Marxism and Sport, in: International Socialism 73, Winter 1996, S. 35–53. Online unter: www.tinyurl.com/ m21sport
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folg im Zentrum. Das Spiel verkümmert zum Zweck des Siegens. Dass es auch anders geht, zeigen andere, nichtkapitalistische Kulturen. So beschreibt der Ethnologe Jacques Meunier ein Sportspiel eines Indianerstamms im Amazonas: »Der Spieler der einen Punkt erzielte, wechselte automatisch das Team. So wurden die Gewinner geschwächt und die Verlierer gestärkt.«
Auf diesem Weg wird der Spielstand zur Nebensache. Das Spiel rückt wieder in den Vordergrund. ★ ★★ Yaak Pabst ist Politologe, Redakteur von marx21 und spielt Handball beim BTV 1850 Kreuzberg.
kommentar
Gegen den Strom
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von Stefan Bornost
er Nationalismus ist mit Abstand die stärkste Ideologie im Land. Eine Allensbach-Umfrage nach der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 ergab: »Die Fahnen wurden als Zeichen eines angenehmen, fröhlichen Patriotismus empfunden. Die wenigen kritischen Stimmen, die sie als Vorboten neuer deutscher Hybris werten wollten, treffen auf völliges Unverständnis.« Nur drei Prozent der Gesamtbevölkerung, zwei Prozent der Altersgruppe unter 30 Jahren, so die Studie weiter, hielten es für gefährlich, wenn sich auf diese Weise die Identifikation mit dem eigenen Land manifestiere. Die Autoren schlussfolgern: »Dass Nationalbewusstsein generell schädlich ist und dem Ressentiment gegenüber anderen Nationen Vorschub leistet, war schon immer die Position einer Minderheit. Mitte der neunziger Jahre waren noch 12 Prozent davon überzeugt, heute 5 Prozent. 79 Prozent sehen in der Identifikation mit dem eigenen Land grundsätzlich etwas Positives, das die Haltung zu anderen Nationen in keiner Weise negativ prägt.« Das stellt die Linke vor ein Dilemma. Gewohnt, mit der Ablehnung der Rente ab 67, des Afghanistaneinsatzes und von Hartz IV auf breite Zustimmung zu treffen, schwimmt sie mit einer Kritik am »neuen Patriotismus« gegen den Strom. Im Jahr 2006 wurde die sächsische Landtagsabgeordnete Julia Bonk in ganz Deutschland als »Balla-balla-Bonk« medial an den Pranger gestellt, weil sie zum Einsammeln von Deutschlandfahnen aufgerufen hatte. Ähnliches widerfuhr der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), die ebenfalls anlässlich der Fußballweltmeisterschaft in einer Broschüre darauf hingewiesen hatte, dass die Nationalhymne schwerlich als Beitrag zur Völkerverständigung anzusehen sei, sondern »zum reaktionären deutsch-nationalen Erbe gehört«. »Foul gegen Deutschland«, schrie Bild und die FDP titu-
lierte die Gewerkschafter als »Ewiggestrige«. Trotzdem: Die Linke hat nichts zu gewinnen, wenn sie sich dem nationalen Überschwang nicht entgegenstellt oder ihn gar selbst mit fördert. Wesentliche Katastrophen der Arbeiterbewegung wurden durch das Einknicken vor nationalistischen Stimmungen verursacht. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 ließ die SPD »in der Stunde der Gefahr das Vaterland nicht im Stich«. Gedankt wurde es ihr nicht – sie verlor die Hälfte ihrer Mitgliedschaft und blieb für die Rechten nach der Novemberrevolution doch die Partei der »Vaterlandsverräter«, die von der »Heimatfront« aus dem Heer den »Dolchstoß« versetzt hätten. In der Spätphase der Weimarer Republik versuchten die Kommunisten dann, den Aufstieg der NSDAP zu bremsen, indem sie selbst für kurze Zeit nationalistische Parolen übernahmen. Im August 1930 veröffentlichte die Partei eine Erklärung, in der die nationale Befreiung vor der sozialen rangierte. Das Resultat: eine zunehmend verwirrte Mitgliedschaft, die den Nazis immer weniger entgegenzusetzen hatte. Ein Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit: Bundeskanzlerin Angela Merkel lobt die deutschen Gewerkschaften, weil sie »Verantwortung für Deutschland gezeigt haben«. Gemeint war die Eroberung des Exportweltmeistertitels durch jahrelange Lohnzurückhaltung. Das Lob ist vergiftet – die Gewerkschaften haben durch diese Politik dramatisch an Mitgliedern und Organisationsmacht verloren – kein Wunder, dass die Konservativen sich freuen. Die Anpassung an nationalistische Positionen hat die Arbeiterbewegung in Deutschland zu keiner Zeit ihren demokratischen und sozialen Zielen nähergebracht. Denn was nützt es, mit dem Strom zu schwimmen, wenn er in die falsche Richtung fließt? Deshalb in Bezug auf Nationalismus: Gegen den Strom! www.marx21.de | Sommer 2010 | Nr. 16
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WELTWEITer WIDERSTAND
Niederlande
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Debatte
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Jos van Zetten/Flickr.com
»Hände weg von der Studienfinanzierung!« Mehrere tausend Studierende haben Mitte Mai in Amsterdam gegen Kürzungen im Bildungsbereich demonstriert. Vor allem protestierten sie gegen Pläne der Regierung, das bisherige System der Grundunterstützung (vergleichbar mit dem deutschen BAföG) durch Studienkredite zu ersetzten, die die Studierenden später zurückzahlen müssen. Viele befürchten, dass das Studium dadurch unbezahlbar wird.
8NEWS
Spanien
8 Palästina
Kampf gegen Kahlschlag Spanische Arbeitnehmer könnten als nächste die europäische Bühne des Widerstands betreten: Die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes planen einen Streik gegen die Kürzungspläne der Regierung, berichtet Luke Stobart
D
ie Arbeitnehmer in Spanien wurden mit am härtesten von der Wirtschaftskrise getroffen. Mehr als anderthalb Millionen haben in den letzten Jahren ihren Job verloren, jeder Fünfte ist jetzt arbeitslos. Die anfängliche Reaktion der sozialdemokratischen Regierung unterschied sich deutlich von der anderer Regierungen. Ministerpräsident José Luis Rodriguez Zapatero erklärte, er werde »niemals die Arbeiter für die Krise zahlen lassen«. Er legte ein öffentliches Investitionsprogramm auf, um eine halbe Million arbeitslose Bauarbeiter zu beschäftigen. Aber seine Partei hat sich in der Vergangenheit wiederholt auf die Seite der Bosse gegen die Arbeiter geschlagen. Bereits während ihrer Regierungszeit in den 1980er und 1990er Jahren hatte sie den Boden für »flexiblere« Arbeitsverhältnisse bereitet. Mittlerweile haben vier von fünf jungen Arbeitern befristete Verträge. Zapatero gelangte im Jahr 2004 im Zuge einer Protestwelle gegen die rechte Vorgängerregierung an die Macht und vermied eine offene Konfrontation mit der Arbeiterklasse – bis vor Kurzem. Die Rezession hat Spanien später als die übrigen großen Industriestaaten erreicht. Nun aber explodiert die Staatsverschuldung unter der Last der Arbeitslosigkeit. International operierende Zocker haben auf die Zahlungsunfähigkeit Spaniens gewettet – sowie auf die Griechenlands und Portugals, was deren Zinsen steigen ließ und zur Folge hatte, dass diese Ländern tatsächlich immer schwerer an Gelder auf dem internationalen Kapitalmarkt kamen. Zusammen mit den spanischen Wirtschaftsbossen fordern die Zocker nun drakonische Kürzungsmaßnahmen und die Möglichkeit, Beleg-
schaften leichter loszuwerden. Ein Banker sprach gar von »Krieg«. Auch der US-amerikanische Präsident Barack Obama verlangte von Zapatero bei einem Telefonat »entschlossenes Handeln«. Wenig später verkündete Zapatero ein umfassendes Sparpaket von mehreren Milliarden Euro. Es umfasst eine Lohnsenkung von fünf Prozent im öffentlichen Dienst und die Kürzung der Renten. Die Mehrwertsteuer, die die Ärmsten am stärksten trifft, wurde bereits erhöht. Die Reichen hingegen werden in Ruhe gelassen. Trotz der Krise stiegen die Managergehälter im letzten Jahr auf Rekordhöhe. Die Lage erfordert eine deutliche Antwort seitens der Gewerkschaftsbewegung. Bislang hatten die wichtigsten Dachverbände nur wenig getan, weil ihre Führungen den Sozialdemokraten Zapatero als Verbündeten betrachten und befürchten, eine konservative Regierung könnte sich noch schlimmer verhalten. Die bislang einzigen nennenswerten Streiks wurden von regionalen Gewerkschaften organisiert. Jetzt aber haben die Gewerkschaftsführungen die Angestellten des öffentlichen Dienstes zu einem Streik im Juni aufgerufen. Viele Aktivisten, darunter auch die Vereinigte Linke, fordern, diesen Streik zu einem Generalstreik zu machen. Das wird auch nötig sein, wenn die Arbeiterinnen und Arbeiter noch eine reale Chance haben wollen, die Angriffe zurückzuschlagen. Zwei von drei Spaniern lehnen das Kürzungspaket ab. Zapateros Popularität ist auf einem Tiefststand. In Umfragen zählen Menschen »Politiker« zu einem der »größten Probleme für das Land«. Hoffentlich führt die wachsende Kluft zwischen der Bevölkerung und den Mächtigen zu weiteren Streiks und Protesten.
Ende Mai haben sich acht Fracht- und Passagierschiffe auf den Weg gemacht, um die israelische Blockade des Gazastreifens zu durchbrechen und 5000 Tonnen dringend benötigter Hilfsgüter nach Palästina zu bringen. An Bord waren 600 Friedensaktivistinnen und -aktivisten aus aller Welt, unter anderem die 85 Jahre alte Bürgerrechtlerin Hedy Epstein. Epstein konnte 1939 aus Nazideutschland nach Großbritannien flüchten und lebt heute in den USA. Wenige Stunden vor Redaktionsschluss wurde bekannt, dass die israelische Marine den Konvoi gewaltsam gestoppt hat. Nach Medienberichten sind dabei mindestens zwei Friedensaktivisten ums Leben gekommen, mehr als 30 Menschen seien verletzt worden. Israel verstößt gegen internationales Recht, denn die Schiffe durchquerten kein israelisches Hoheitsgewässer.
8 Rumänien Die Regierung in Bukarest will angesichts der Krise verheerende Haushaltskürzungen vornehmen. Die Löhne der Staatsbeschäftigten sollen um 25 Prozent und die staatlichen Renten um 15 Prozent gesenkt werden. Nach Schätzungen könnten die Kürzungsmaßnahmen bis zu einer Viertelmillion Arbeitsplätze kosten. Im ganzen Land protestierten Arbeiter und Rentner gegen diese Pläne. In der Hauptstadt kam es zu Zusammenstößen zwischen Rentnern und Sicherheitskräften. USA
Der Lady-Gaga-Flashmob Die Beschäftigten des Westin St. Francis Hotel in San Francisco erhalten von ihrem Arbeitgeber keinerlei Krankenversicherung. Dagegen protestierten sie am 8. Mai mit einer ungewöhnlichen Aktion: Mit Blasinstrumenten ausgerüstet stürmten sie das Hotel und führten eine ganz besondere Version von Lady Gagas Song„Bad Romance“ auf. Ein Video des Flashmobs kann man sich im Internet anschauen: http://tinyurl.com/m21gaga
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Was will marx21
Der Totengräber des Kapitalismus Mit der Serie »Was will marx21« möchten wir die politischen Grundlagen des marx21-Netzwerks vorstellen. Diesmal fragen wir: Gibt es überhaupt noch eine Arbeiterklasse und spielt sie eine Schlüsselrolle im Kampf für den Sozialismus?
M
it welcher Strategie können linke Forderungen in der Gesellschaft durchgesetzt werden? Anfang des Jahres gründeten Mitglieder der LINKEN, der SPD und der Grünen eine »Denkfabrik«, um Antworten auf diese Frage zu entwickeln. Das Institut Solidarische Moderne grenzt sich in seiner Gründungserklärung von der Orientierung der »alten« Linken auf die Kämpfe der Arbeiterbewegung ab: »Zu den konzeptionellen Schwächen der industriellen Linken gehörte und gehört (...) die Fokussierung auf Erwerbsarbeit und eine damit einhergehende Ignoranz gegenüber anderen, gesellschaftlich gleichermaßen bedeutenden Tätigkeiten wie Reproduktionsarbeit, politisches Engagement, Bildungsarbeit und Muße.« An die Stelle einer Orientierung auf die Klasse der Lohnabhängigen setzt das Institut »den politischen Kampf um die gleiche Teilhabe aller BürgerInnen an den gesellschaftlich produzierten Werten, für die öffentliche Garantie gesellschaftlich angemessener Existenzbedingungen und gleicher Lebenschancen für alle«. Dieser Argumentation liegt die Annahme zugrunde, dass durch den Wandel der Beschäftigungsverhältnisse im modernen Kapitalismus die Arbeiterklasse massiv an Größe und Bedeutung verloren habe. Häufig trifft man auch auf eine Vorstellung von der Arbeiterklasse, die diese entweder an ihrem Lebensstil und Konsumverhalten festmacht oder daran, ob ihre – zumeist männlichen – Angehörigen einen Blaumann tragen. Die Tatsache, dass es seit 1945 im Großen und Ganzen erhebliche Realeinkommenszuwächse bei Industriearbeitern gegeben hat und sich Konsumformen der Industriearbeiter und der Angestellten angenähert
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haben, wird dann als Beleg für den »Untergang« der Arbeiterklasse angeführt. Neu ist diese Idee nicht: Schon im 19. Jahrhundert behauptete ein Kommentator in Großbritannien, die Arbeiterklasse werde sich auflösen, da die Arbeiter nun Lederstatt Holzschuhe trügen. Für Karl Marx waren Fragen des Lebensstils und des Konsumverhaltens jedoch keine Kriterien für die Definition der Arbeiterklasse. Er hatte auch keineswegs nur die Fabrikarbeiter mit »Blaumann und Kettenfett« im Blick. Der Kapitalismus ist das dynamischste Produktionssystem in der Geschichte und verändert kontinuierlich die Zusammensetzung der Arbeiterschaft und somit auch deren Lebensstile und ihr Konsumverhalten. Deshalb ist die Geschichte der Arbeiterklasse eine Geschichte des stetigen Wandels, in dessen Rahmen alte Branchen untergehen, während neue entstehen und die Arbeitsorganisation umgewälzt wird. So hat sich mit dem technologischen Fortschritt auch das »typische« Bild von der Tätigkeit der Lohnabhängigen gewandelt: Die Werkstätten und Manufakturbetriebe in der Frühzeit des Kapitalismus wurden verdrängt durch die Fließbandarbeit in großen Fabrikhallen und ergänzt um den wachsenden Dienstleistungssektor mit beispielsweise Callcentern als relativ junger Erscheinung der kapitalistischen Lohnarbeit. Zudem haben sich mit der globalen Ausbreitung des Kapitalismus neue, länderübergreifende Produktionsketten und Arbeitsteilungen herausgebildet. So wurden besonders arbeitsintensive Tätigkeiten wie etwa in der Textilbranche zunehmend in Billiglohnländer ausgelagert. In hochindustrialisierten Ländern wie Deutschland bestimmen vermehrt kapitalintensive Arbeitsplätze wie im Maschinenbau und der Automobilbranche das Bild sowie Branchen, die eine höhere Qualifikation erfordern.
Auch politische Entscheidungen können das Bild der Beschäftigungsverhältnisse verändern. Die Einführung der Hartz-IV-Gesetze durch die Schröder-Regierung hat beispielsweise zu einer massiven Ausweitung des Niedriglohnsektors geführt. Die Klassenstellung ist nach Marx von der Position eines Menschen innerhalb der Produktionsverhältnisse abhängig. Kontrolliert oder besitzt eine Person Produktionsmittel (Maschinen, Büros etc.), oder hat sie nichts als ihre Arbeitskraft auf dem Markt anzubieten? Hier ist der Begriff der Verfügungsgewalt wichtig. Ein Manager besitzt heute selten eine Firma, aber er verfügt maßgeblich über sie und hat Einfluss auf ihre Geschicke. Eine Lohnarbeiterin oder ein Lohnarbeiter hat hingegen keinen oder nur wenig Einfluss darauf, wie der Betrieb agiert. Sie oder er muss die Arbeitskraft verkaufen, um überleben zu können, weil sie über keine Produktionsmittel und kein Vermögen verfügen, von dem sie ihr Leben finanzieren könnten. Dabei spielt es auch keine Rolle, ob jemand in einem Industrie- oder Dienstleistungsbetrieb arbeitet beziehungsweise ob jemand vor einem Computer sitzt oder am Fließband steht. Das betrifft die überwältigende Mehrheit der Erwachsenen in den Industrieländern. Der vielfach unterstellte Rückgang der Arbeiterklasse ist zahlenmäßig nicht zu belegen. Im Gegenteil: Der Kapitalismus heutiger Prägung hat die Kategorie der Lohnarbeit vielmehr auf dem ganzen Globus verallgemeinert, anstatt sie abzuschaffen. Der Prozess der Proletarisierung, den Marx und Engels im »Kommunistischen Manifest« beschreiben, setzt sich im Weltmaßstab fort. So hat die Industrialisierung in China alleine in den letzten zehn Jahren Dutzende Millionen Wanderarbeiter vom Land in die Städte und Sonderwirtschaftszonen gezogen, wo sie in den Fabriken, auf dem Bau und als Hausangestellte arbeiten. Die globale Arbeiterklasse ist heute nicht nur weitaus größer als zu Zeiten von Marx , sondern auch als vor 50 oder vor 20 Jahren. Grob geschätzt gehören 70 bis 75 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung Deutschlands zur Arbeiterklasse: Arbeiter, Angestellte, Arbeitslose und ihre Familien. Die anderen Schichten und Klassen unserer Gesellschaft sind deutlich kleiner: Etwa fünf Prozent »alte« Mittelschicht bzw. Kleinbürgertum: kleine Handwerker, selbständige Ärzte und Anwälte, Bauern. Etwa zehn bis fünfzehn Prozent neue Mittelschicht: höhere Angestellte, leitende Beamte. Nur etwa ein bis zwei Prozent gehören zur herrschenden Klasse: Geschäftsführer, Vorstandsmitglieder, Direktoren von Großkonzernen etc. Die herrschende Klasse definiert sich unabhängig davon, ob ihre Mitglieder formal ein »Gehalt« beziehen oder Eigentümer eines Unternehmens sind. Entscheidendes Merkmal ist ihr Interesse, die Ausbeutungsrate zu erhöhen, um die Profite zu steigern (zum Begriff der Ausbeutung siehe weiter unten). Marx nennt sie »personifiziertes Kapital«. Ein Teil der neuen Mittelschicht ist dabei ein wichtiger Verbündeter: Sie »verdienen« sich www.marx21.de | Sommer 2010 | Nr. 16
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ihre hohen Gehälter dadurch, dass sie der herrschenden Klasse helfen, die Arbeiterklasse zu kontrollieren und ökonomisch auszubeuten.
★ ★★ Weiterlesen Chris Harman: Workers of the World. Die Arbeiterklasse im 21. Jahrhundert (Edition aurora 2003).
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Eine zweite Frage lautet, ob die Arbeiterklasse eine entscheidende Bedeutung für die Abschaffung des Kapitalismus hat? Und wenn ja, welche? Der Kapitalismus beruht auf der Ausbeutung der Arbeiterklasse. Aus ihr stammen die Profite der herrschenden Klasse. Genauer: Der Profit entsteht dadurch, dass den lohnabhängig Beschäftigten nicht der eigentliche Wert ihrer Arbeit bezahlt wird, sondern nur ein Teil. So fließt nicht der Gegenwert der Leistung eines ganzen Arbeitstags auf das Lohnkonto, etwa von acht Stunden, sondern nur der von – sagen wir – fünf Stunden. Jene drei Stunden, die die Arbeiterin, der Arbeiter quasi »umsonst« arbeiten, eignet sich der Kapitalist als Mehrwert an. (Das genaue Verhältnis von bezahlter und unbezahlter Lohnarbeit kann auch ein anderes sein. Die obigen Zahlen sollen nur als Beispiel dienen.) Ausbeutung ist also eine ökonomische und keine moralische Beschreibung: Sie bedeutet nicht zwangsläufig, dass ein Arbeitnehmer von seinem Arbeitgeber schlecht behandelt wird. Dieses Ausbeutungsverhältnis bedeutet auch, dass Arbeiter, wenn sie sich gemeinsam organisieren, die Fähigkeit haben, der Kapitalistenklasse die Arbeitskraft zu entziehen und somit den Mehrwertzufluss zu unterbrechen. Mit anderen Worten: ohne Lohnarbeit kein Umsatz und kein Gewinn. Das ist einer der Gründe, warum Streiks so wichtig sind. Marx argumentierte, dass die Arbeiterklasse in den Kämpfen für Löhne und bessere Arbeitsbedingungen die kollektive Fähigkeit erwerben kann, die kapitalistischen Produktionsverhältnisse zu stürzen und sie durch eine neue Gesellschaftsform zu ersetzen, in der es weder Klassen noch Ausbeutung gibt. Das setzt voraus, dass sich Arbeiter ihrer Stellung im Produktionsprozess und der damit verbundenen Macht bewusst werden. Arbeiter im Kapitalismus unterscheiden sich in dieser Hinsicht von allen früheren unterdrückten Klassen. Erstens leben sie in einer Gesellschaft, in der die Teilung der Klassen keine Bedingung mehr für gesellschaftlichen Fortschritt ist. Die Reichtümer könnten heute gleichmäßig verteilt werden, ohne dass die Wissenschaften, die Künste und die Kultur insgesamt zu einem Stillstand kommen müssten, wie es noch in vorkapitalistischen Gesellschaften der Fall gewesen wäre. Zweitens befähigt das Leben im Kapitalismus Arbeiter auf vielfältige Weise für eine Kontrolle der Gesellschaft. So braucht der Kapitalismus Lohnabhängige, die eine im Vergleich zu früheren Gesellschaften gute Ausbildung und Erziehung haben. Der Kapitalismus presst Massen von Menschen in riesigen Industrie- und Dienstleistungszentren zusammen, wo Nr. 16 | Sommer 2010 | www.marx21.de
sie ein mächtiges Potenzial für einen gesellschaftlichen Umsturz darstellen. Weil sie derart »zusammengefasst« und damit im Arbeitsprozess wie im Kampf gegen Angriffe der Unternehmer aufeinander angewiesen sind, fällt es Arbeiterinnen und Arbeitern wesentlich leichter als früheren unterdrückten Klassen, ihre Produktionsstätten und die Gesellschaft demokratisch selbst zu kontrollieren. Zudem erlaubt die Entwicklung des modernen Kommunikations- und Verkehrswesens – Eisenbahnen, Straßen, Flugzeuge, Post, Telefon, Fernsehen, Internet – den Arbeitern, außerhalb ihrer eigenen Gemeinschaft und ihrer eigenen Büros und Fabriken mit anderen Arbeitern zu kommunizieren. Sie können sich als Klasse national und international zusammenschließen, was sich frühere unterdrückte Klassen nicht in ihren kühnsten Träumen hätten vorstellen können. Des Weiteren liegt das revolutionäre Potenzial der Arbeiter darin, dass sie gemeinsam kämpfen müssen. Es ist meist erfolglos, wenn ein einzelner Arbeiter seinen Chef um eine Lohnerhöhung oder den Erhalt seines Arbeitsplatzes bittet. Um ihre Lage zu verbessern, müssen Lohnabhängige sich zusammenschließen, zum Beispiel in Gewerkschaften, und kollektiv handeln. Der Kampf der Arbeiterinnen und Arbeiter wird dabei umso effektiver, je mehr es ihnen gelingt, die Konkurrenz untereinander aufzuheben: innerhalb der Belegschaft eines Betriebs, zwischen den verschiedenen Standorten eines Konzerns, innerhalb der gesamten Branche und schließlich durch branchenübergreifende Solidarität. Die Logik des Kampfs der Arbeiterklasse ist die Ausweitung der kollektiven Aktion. Gehen wir noch einen Schritt weiter und fragen, wie die Arbeiterklasse Produktionsmittel in Besitz nehmen kann. Das geht offensichtlich nicht in Form von Verteilung unter den einzelnen Beschäftigten. Denn ein Callcenter, eine Fabrik oder eine Eisenbahn kann nicht in Stücke zerlegt und in Einzelteilen an die Arbeiterinnen und Arbeiter verteilt werden, so wie Land unter kleinen Bauern bzw. Pächtern aufgeteilt werden kann. Solche Produktionsmittel können nur kollektiv bedient oder genutzt werden. Deswegen liegt die einzige Lösung in der kollektiven Inbesitznahme. Um eine sozialistische Gesellschaft zu erreichen, die auf Kooperation, demokratischer Teilhabe und Solidarität beruht, kann deshalb nicht auf die Arbeiterklasse verzichtet werden. Im nächsten Heft werden wir der Frage nachgehen, wie die Arbeiterklasse revolutionär werden kann – unter welchen Bedingungen sich ihre potenziell mächtige Stellung in die tatsächliche kollektive Aktion für die Abschaffung des Kapitalismus verwandelt.
t mach Was marx21?
Großes Interesse marx21 war beim Parteitag der LINKEN in Rostock
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ie Schiffsglocke erklingt mehrmals und dann legt er los, der Shanty-Chor »Luv un lee«. Nun merkt auch der letzte Parteitagsbesucher, dass er im norddeutschen Rostock gelandet ist. Auch Unterstützer von marx21 hatten sich als Delegierte an die Ostsee aufgemacht, aber auch um Magazin und Netzwerk, unter anderem mit einem Infostand, vorzustellen. Im Gepäck: Eine vierseitige Extraausgabe zu der seinerzeit brennenden Frage,
ob DIE LINKE sich in Nordrhein-Westfalen an einer rot-rot-grünen Regierung beteiligen soll. Zwei Tage später berichtete die Süddeutsche Zeitung: »Die Frage liegt auf dem Tisch, in Form einer Extraausgabe des Magazins marx21. ›RotRot-Grün in NRW ist rechnerisch möglich. Wie sollte die Linke sich verhalten?‹, ist in dem Heft zu lesen, das die 60 Delegierten aus Nordrhein-Westfalen auf ihren Plätzen vorfinden.« Schnell ist die 500er-Auflage vergriffen, die Rückmel-
Drinnen, im Tagungssaal, läuft die politische Generaldebatte, bei der auch Unterstützer von marx21 zu Wort kommen. Eine aktionsorientierte Mitgliederpartei
– dafür setzt sich das Netzwerk innerhalb der LINKEN ein. Diese Vision ist der rote Faden der Redebeiträge, die über den Erfolg der Antinaziproteste von Dresden bis zum Engagement gegen den Afghanistankrieg die verschiedenen Kampagnen der Partei bekannt machen. Eine Ausrichtung, die Mehrheiten findet: Mit Christine Buchholz und Janine Wissler werden zwei Unterstützerinnen des Netzwerks im ersten Wahlgang in den neuen Parteivorstand gewählt.
ONLINE ANGEKLICKT
TOP TEN MAI 2010 Die meistgelesenen Artikel auf marx21.de 1. Schlimmer als Rüttgers wäre ein Verrat der LINKEN 2. Erklärung eines Kollegen zum Tod von drei Bankangestellten in Athen 3. Marx neu entdecken 4. Aufstand gegen den IWF-Angriff 5. »Menschen versuchten, das griechische Parlament zu stürmen« 6. »Die wahren Terroristen sitzen in der Regierung, der Armee und im Palast« 7. marx21.de – aktuelles Magazin 8. marx21.de – Über uns 9. Aktionseinheit statt Hinterzimmerpolitik 10. »Den sozialen Widerstand stärken«
dungen sind positiv. Beim Stand: Interessante Gespräche; viele Delegierte, gerade aus dem Osten, kennen marx21 nicht oder nur vom Hörensagen und wollen sich selber ein Bild machen. Die siebzig kostenlosen Probeexemplare sind schon im Verlauf des ersten Sitzungstages weg.
(738) (417) (383) (297) (294) (285) (273) (263) (240) (231)
Insgesamt waren 8255 Besucher im Mai (8317 im April) auf marx21.de 570 Abonnenten erhalten den Newsletter (+6)
marx21 bei Facebook ★ plus 36 Fans in den letzten 4 Wochen (563 Fans insgesamt) ★ 67 Pinnwandeinträge, Kommentare und Verwendungen von »Gefällt mir« im Mai ★ 1678 Besucher auf der Seite in den letzten 4 Wochen
marx21.de besser nutzen:
abO www.marx21.de | Sommer 2010 | Nr. 16
Vor Ort Berlin 16. Juni, 19:00 Uhr „Woher kommt Rassismus?“ 21. Juli, 19:00 Uhr marx21-Forum: Thema wird noch bekannt gegeben Ort: jeweils Mehringhof, Gneisenaustr. 2 a, Hinterhof, Seitenflügel Freiburg 24. Juni, 20:00 Uhr „Was ist Sozialismus von unten?“ Ort: Linksbüro, Greiffeneggring 2 Hamburg 15. Juni, 19:30 Uhr „Herausforderungen für linke Bildungspolitik“ 8. Juli, 19.30 Uhr „Was will marx21?“ Ort: erfragen unter: 0174 / 234 41 14 (Marcel) Frankfurt am Main, Darmstadt und Offenbach Infos zur Monatsveranstaltung über m21.frankfurt@ gmail.com erfragen Weitere Infos und Ansprechpartner von marx21 vor Ort: 030 / 89 56 25 10 info@marx21.de
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Kolumne
Ein Auslaufmodell?
A Arno Klönne ist emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Paderborn und Autor zahlreicher Bücher zur Geschichte der Arbeiterbewegung. Er schreibt regelmäßig für marx21.
ls sich die Arbeiterbewegung nach dem Untergang des hitlerdeutschen Staats wieder frei regen konnte, war eines ihrer Ziele, eine »Einheitsgewerkschaft« zustande zu bringen. »Einheit« meinte zweierlei: Erstens sollte die Aufspaltung in parteipolitisch oder konfessionell geprägte Richtungsgewerkschaften überwunden werden. Zweitens sollte in der gewerkschaftlichen Politik und Organisation gemeinsamen gesellschaftlichen Entwürfen und Interventionen der Vorrang gegenüber besonderen Arbeitnehmerinteressen in den Branchen gegeben werden – ohne diese deshalb zu vernachlässigen. Gedacht war auch, dass man Mitglied »der« Gewerkschaft werden sollte, und diese Zugehörigkeit dann nach Einzelgewerkschaften spezifiziert würde. In den westlichen Besatzungszonen ließen die Militärverwaltungen dieses Organisationsmodell nicht zu. Sie befürchteten, es könnte den Gewerkschaften zu viel politische Gegenmacht verschaffen. Als Kompromiss kam heraus: selbstständige Industrie- oder Berufsgewerkschaften, diese aber vereint in einem »Bund«, dem DGB. Daneben bestand für längere Zeit noch die Angestelltengewerkschaft DAG. Andere gewerkschaftliche Neugründungen wie der Christliche Gewerkschaftsbund blieben unbedeutend.
Der DGB-Kongress beschloss eine dramatische Organisationsreform Der DGB war stets auf die Bereitschaft der Einzelgewerkschaften angewiesen, seine Aktivitäten mitzutragen, und auch auf deren finanzielle Beiträge. Seine Geschichte verdient keine Glorifizierung, aber er nahm durchaus Einfluss auf die gesellschaftspolitische Entwicklung in der Altbundesrepublik, vor allem auf die Sozial- und Arbeitspolitik. Die Zugeständnisse an sozialstaatliche Forderungen, die der westdeutsche Kapitalismus machte, waren auch dem Auftritt dieses »Bundes« zu verdanken. Er bot eine Arena, in der quer zu den Branchen gewerkschaftliche Positionen diskutiert, entwickelt
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Kolumne
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und in die öffentliche Meinung eingebracht werden konnten. Zu erinnern ist hier an die kritische und zugleich antreibende Funktion, die zeitweise die Gewerkschaftsjugend hatte, ebenso an den medialen Einfluss des DGB über seine Wochenzeitung Welt der Arbeit und die Gewerkschaftlichen Monatshefte. Vor allem: Durch den DGB war über lange Jahre hinweg die gewerkschaftliche Idee und Praxis kommunal präsent, auch in Regionen, wo die Einzelgewerkschaften schwach waren. Das alles ist inzwischen Historie – realitätsfern oder schönfärberisch jedoch war es, als jüngst der alte und neue DGB-Vorsitzende Michael Sommer seinem Bundeskongress zurief: »Auch im 61. Jahr des Bestehens hat unser Dachverband nichts an Vitalität eingebüßt.« An dem Medienecho zu diesem Kongress lässt sich erkennen, welchen Bedeutungsverlust der DGB in den letzten Jahren erlitten hat. Das »Parlament der Arbeit« weckte bei Journalisten nur sehr mäßiges Interesse. Diese konzentrierten sich darauf zu berichten, dass die Bundeskanzlerin bei ihrem Besuch den Delegierten »Nachhilfe« gegeben habe: Ein gesetzlicher Mindestlohn sei abzulehnen, »Gastgeschenke« könne sie nicht machen. Sie werde aber weiter »den Gesprächsfaden« zu den Gewerkschaften suchen, die ob ihres »Verantwortungsbewusstseins ausdrücklich zu loben« seien. Die Kongressdelegierten haben das hingenommen. Angela Merkel, so berichteten die Zeitungen, habe beim DGB »mit ihrem Charme gepunktet«. Dass der fast einstimmig wiedergewählte DGBChef Sommer mit Aussagen über gewerkschaftliche Gegenmacht gepunktet hätte, ist leider nicht zu vermelden. Vor dem Kongress hatte er in der Zeitschrift Mitbestimmung sowohl den vergangenen Regierungen als auch der jetzigen gute Zensuren gegeben und eine »wirkliche Renaissance der Sozialpartnerschaft« konstatiert. In der Krise hätten »die politisch Verantwortlichen in den drei Säulen Politik, Gewerkschaften und Arbeitgeber pragmatisch die Zusammenarbeit gesucht«. Beim Kongress rief Sommer, in der Bundesrepublik sei »das soziale
© DGB / Simone M. Neumann
Bundeskongress des DGB in Berlin: In Zukunft gibt es weniger Mittel aus den Einzelgewerkschaften Gleichgewicht empfindlich gestört« – was den Delegierten gewiss schon bekannt war. Der IG-BAUVorsitzende Klaus Wiesehügel verriet der Presse, dass von dieser Stelle ein »Uns ist langweilig« zu hören gewesen sei. Dieses Gefühl war berechtigt. Tatsächlich beschloss der Kongress eine Organisationsreform, die dramatisch ist: Der gewerkschaftliche Dachverband wird weiter an gesellschaftspolitischer Bedeutung verlieren und sich noch mehr als bisher aus der Fläche zurückziehen. Die Mittelzuweisungen der Einzelgewerkschaften an den DGB werden gekürzt, kampagnenfähig wird dieser in Zukunft nicht mehr sein. Die Region als Organisationsebene wird geräumt, hauptamtliche Funktionen im DGB werden in einem weiteren Schritt zentralisiert. Wie üblich ist eine solche »Verschlankung« von wohlklingenden Trostworten begleitet: Nun sei dem ehrenamtlichen Engagement mehr Raum gegeben ... Mit der Organisationsreform setzt sich ein seit Jahren wirkender Trend fort: Die durch Fusionen noch stärker gewordenen drei großen Einzelgewerkschaften (IG Metall, ver.di und IG BCE) drängen den Dachverband an die Seite. Gesamtgesellschaftliche gewerkschaftliche Politik büßt ihren Rang ein, das »Co-Management« mit den Arbeitgebern und Unternehmern in den Branchen erhält Priorität. Jeder
Wunsch der Basis, in Zeiten des massiven Klassenkampfs von oben müsse die Gewerkschaftsbewegung auch in der Bundesrepublik zum politischen Streik fähig werden, gerät damit organisatorisch ins Aus. Im sozialen Alltag wird »die« Gewerkschaft noch weniger als bisher identifizierbar sein, vorfindbar sind dann bestenfalls gewerkschaftliche Branchenvertretungen. Das befördert die Entpolitisierung. Nicht auszuschließen ist, dass in den Vorstandsetagen der drei großen Einzelgewerkschaften der Gedanke umgeht, auf längere Sicht könne man den DGB darauf reduzieren, dass bei der Bundesregierung und den Landesregierungen gewerkschaftliche »Verbindungsbüros« unterhalten werden. Ist der DGB in seiner historischen Funktion ein Auslaufmodell? Dass ein solcher Prozess durch alternative Konzepte von »Organisationsberatern« gestoppt und umgekehrt wird, ist nicht zu erwarten. Aber noch sind die Gewerkschaften Mitgliederorganisationen; also kann von unten her ihr organisationspolitischer Kurs in Frage gestellt, korrigiert und neu bestimmt werden. Voraussetzung dafür ist, dass bewusst wird: Organisationsmethoden wirken sich auf politische Inhalte aus, so oder so. Die Entscheidung darüber, wie der gewerkschaftliche Auftritt im sozialen Konflikt organisiert sein soll, den Vorstandsprofis zu überlassen, ist nicht zu empfehlen. www.marx21.de | Sommer 2010 | Nr. 16
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Perspektive: Gegenmacht Ein »gesellschaftlicher Diskurs« zwischen LINKEN, Grünen und SPD führt nicht zu sozialen Verbesserungen. Dazu ist Bewegung von unten nötig, meint Volkhard Mosler
B Volkhard Mosler ist Soziologe und Mitglied im Kreisvorstand der LINKEN in Frankfurt am Main.
eim Bundesparteitag der LINKEN in Rostock wurde mit knapper Mehrheit ein Aufruf zu einem »gesellschaftlichen Diskurs zwischen den Parteien« verabschiedet. Dort ist die Rede von »vielfältigen Diskursen (…) eines neuen Cross-over-Prozesses«. Als positive Beispiele für einen solchen Prozess werden das von Andrea Ypsilanti (SPD) ins Leben gerufene Institut Solidarische Moderne und eine von Stefan Liebich (DIE LINKE) gegründete Initiative mit dem Namen »Das Leben ist bunter als Schwarz-Gelb« bezeichnet. Diese beiden Initiativen haben zum Ziel, »eine politische Machtperspektive aufzuzeigen« (Ypsilanti) und zu diskutieren, »wie es zu gesellschaftlichen und perspektivisch auch zu parlamentarischen Mehrheiten jenseits von CDU/CSU kommen kann« (Liebich). Allerdings hatte es bereits zwischen 1998 und 2009 solche Mehrheiten »jenseits« von Schwarz-Gelb gegeben, bis 2005 aus Sozialdemokraten und Grünen, danach unter Einschluss der neu gegründeten LINKEN. Oskar Lafontaine hatte der SPD und den Grünen mehrmals die Unterstützung und Zusammenar-
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beit angeboten, vorausgesetzt eine linke Regierung würde den Afghanistankrieg beenden, einen gesetzlichen Mindestlohn einführen, die Rente mit 67 und Hartz IV wieder abschaffen. Dazu waren die beiden Parteien nicht bereit. Stattdessen haben sie den ersten Angriffskrieg mit deutscher Beteiligung nach 1945 geführt und den Sozialstaat übel zugerichtet. Ich gehe davon aus, dass es den Initiatoren des Crossover-Prozesses in der LINKEN um eine Abkehr von Krieg und Sozialabbau geht. Allerdings müssen sie sich die Frage stellen lassen, woher sie den Optimismus nehmen, dass ausgerechnet eine SPD, die sich seit 1914 in allen Krisen und Aufschwüngen des Kapitalismus stets als Agentur der bürgerlichen Klassen innerhalb der Arbeiterschaft betätigt hat und die Spaltungen, Parteiausschlüsse und 1933 sogar ihre eigene Vernichtung kampflos in Kauf nahm, durch einen »Diskurs« zur Umkehr bewegt werden kann. Sven Giegold (Grüne), Andrea Ypsilanti (SPD) und andere Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Initiative sind eher Außenseiter in ihren Parteien. Gespräche und Diskurse zwischen Katja Kipping und Andrea Ypsilanti schaden nicht – sie nutzen aber auch nicht im Sinne einer »Resozialdemokratisie-
rung« oder Linksentwicklung der SPD. Gespräche mit der Sozialdemokratie in der Opposition sind dann sogar schädlich, wenn die SPD damit Glaubwürdigkeit gewinnt, ohne beweisen zu müssen, dass sie es ernst mit sozialen Versprechungen meint. Leo Trotzki schrieb 1931 an die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) gewandt: »Parlamentarische Vereinbarungen, Wahlabkommen dienten in der Regel der Sozialdemokratie zum Vorteil.« Dagegen seien »praktische Vereinbarungen über Massenaktionen, über Kampfziele immer zum Nutzen der revolutionären Partei«. Auch wenn die LINKE sich im Gegensatz zur KPD nicht als revolutionäre Partei versteht: Sie kann kein Interesse daran haben, die Differenzen zur SPD und zu den Grünen zu verwischen, indem sie parteiübergreifende schöne Erklärungen und Memoranden verfasst. Von der »Resozialdemokratisierung« ihrer Partei reden SPD-Linke schon seit ein paar Jahren. Auch Gregor Gysi hat auf dem Rostocker Parteitag diese Forderung an die SPD herangetragen. Er unterschied dabei zwei Gruppen »in der Geschichte der Linken«: Die eine wolle »die Ungerechtigkeit innerhalb des Kapitalismus bekämpfen, aber den Grundwiderspruch (zwischen Kapital und Arbeit) nicht lösen«. Die andere Gruppe sage, »das bringt alles relativ wenig, ich muss den Grundwiderspruch lösen und strebe deshalb eine demokratische sozialistische Gesellschaft an«. Die SPD und einen Teil der LINKEN-Mitgliedschaft zählte Gysi zur ersten Gruppe, sich selbst und einen anderen Teil der LINKEN zur zweiten. Diese Aufteilung hält einer näheren Betrachtung jedoch nicht stand. Auch die SPD bekennt sich in ihrem Berliner Programm (1989) wieder stärker zum demokratischen Sozialismus, zur Überwindung des Kapitalismus. Außerdem hat der Bruch der Sozialdemokratie mit der Reformpolitik auf dem Boden des Kapitalismus nicht unter Kanzler Schröder eingesetzt, sondern bereits mit dem Sturz Willy Brandts und seiner Ersetzung durch Helmut Schmidt. Hintergrund war der erneute Ausbruch von Wirtschaftskrisen, von denen geglaubt wurde, dass sie für immer überwunden seien. Nicht die SPD hat sich geändert – sie war und ist seit 1914 eine bürgerliche Arbeiterpartei, eine Partei im Dienste der bürgerlichen Klasse zur politischen Kontrolle der Arbeiterschaft. Von der Zustimmung zu den Kriegskrediten 1914 zu Schröders Agenda 2010 zieht sich ein roter Faden. Geändert hat sich der Kapitalismus, er ist von einer langen Phase des Aufschwungs nach dem zweiten Weltkrieg in eine Phase der Stagnation und Krisenhaftigkeit übergegangen. Damit haben sich die Bedingungen für eine erfolgreiche Reformpolitik verschlechtert. Die herrschenden Klassen Europas sind
fest entschlossen, die Kosten der gegenwärtigen Krise auf die Mehrheit der Bevölkerung abzuwälzen. Oskar Lafontaine hat vielleicht in die Fußstapfen Willy Brandts treten wollen, aber Gerhard Schröder hat sich 1998/99 nicht zufällig gegen ihn durchgesetzt, so wie es kein Zufall war, dass Helmut Schmidt 1974, zu Beginn der ersten großen Nachkriegskrise, Willy Brandt verdrängte. So sah sich Lafontaine gezwungen, eine neue, wirklich sozialdemokratische Partei mitzugestalten: die WASG und dann DIE LINKE. Aber auch diese wird scheitern, wenn sie nicht zu einer Partei des außerparlamentarischen Klassenkampfs wird. Erfolgreiche Reformpolitik ist unter Krisenbedingungen nur noch mit den Methoden des Klassenkampfs von unten möglich, nicht durch Regierungskoalitionen mit bürgerlichen Parteien. Denn die SPDFührung hasst den Klassenkampf von unten, ihre ganze Daseinsberechtigung besteht darin, diesen zu verhindern. Noch einmal zu Gysis Rede: Er sagte, es gebe »keine Chance für eine Zusammenarbeit mit der SPD auf Bundesebene, wenn sie nicht wieder ihr sozialdemokratisches Projekt aufgreift«. Das habe sie bisher nicht getan. Allerdings ist die SPD in der Vergangenheit immer in der Lage gewesen, vor Wahlen rhetorisch nach links zu rücken – ohne dass dies etwas an ihrer Regierungspolitik geändert hätte. »Zusammenarbeit« bedeutet für Gysi Regierungskoalition. Eine solche ist in der Tat mit dieser SPD nicht ohne Verrat der LINKEN an ihren Grundsätzen machbar. Eine andere SPD als diese gibt es jedoch nicht. Gleichwohl ist es irreführend und scheinradikal, von einem »Block der neoliberalen Parteien« zu sprechen, zur der die SPD zähle und mit dem es »keine Zusammenarbeit« geben könne. Solche Töne waren im NRW-Wahlkampf vom linken Flügel unserer Partei zu hören. Die SPD hat immer noch mehr als 500.000 Mitglieder, und die Mehrheit der aktiven Gewerkschafter sieht in der SPD noch immer ihren politischen Arm. DIE LINKE muss die »Zusammenarbeit« mit der Sozialdemokratie unbedingt suchen, wenn sie Mehrheiten für eine linke Alternative gewinnen will – nicht im Parlament, sondern auf der Straße: Bei gemeinsamen Aktionen gegen die Verlängerung der AKW-Laufzeiten, für gleiche Bildungschancen und gegen Studiengebühren, gegen faschistische und rassistische Aufmärsche, gegen Sozialabbau gibt es genug Gelegenheiten für produktive Formen der Zusammenarbeit, nicht nur mit den Vorständen und Abgeordneten der SPD, sondern auch mit ihren Mitgliedern und Wählern. Solche Formen der gemeinsamen Aktivität gilt es aufzubauen.
Eine andere SPD als diese gibt es nicht
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»Willy kommt nicht mehr zurück« – Stefan Bornost und Christine Buchholz halten eine Rückkehr der SPD zu ihren Wurzeln für unwahrscheinlich: www.tinyurl.com/ m21willy
★ ★★ Weiterlesen Leo Trotzki: Sozialismus oder Barbarei. Eine Auswahl seiner Schriften, hrsg. von Helmut Dahmer (Promediaverlag 2005).
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Falsche Kronzeugen Gerne werden in der LINKEN marxistische Klassiker als Kronzeugen für die eigene Position zitiert. Nicht immer zu Recht, meint Marianna Schauzu
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Marianna Schauzu ist aktives Mitglied der LINKEN im Berliner Bezirk CharlottenburgWilmersdorf. Sie gehört dem Sprecherkreis der Sozialistischen Linken Berlin an.
ZUM TEXT
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Den Liberalismus als eine der Wurzeln des Sozialismus auszugeben, widerspricht dem gesamten Werk von Marx
missachtet, ist kein Sozialismus. Mehr noch: Für Friedrich Engels war der Liberalismus die (siehe Zitat) ›Wurzel des Sozialismus‹. Was wiederum aktuell bedeutet: Wer einen Demokratischen Sozialismus anstrebt, muss die individuellen Freiheitsrechte jedes Bürgers und jeder Bürgerin hochhalten und verteidigen.« Nun ist es kein Geheimnis, dass der Sozialismus der DDR, jener in Paus Worten »Realsozialismus sowjetischer Prägung«, erhebliche rechtsstaatliche Mängel vor allem beim Schutz individueller Freiheitsrechte aufwies. Dies war einer der Gründe für seinen Niedergang. Die Kritik an der mangelnden Rechtsstaatlichkeit der DDR gehörte denn auch zum Gründungskonsens der PDS. Die von Pau erhobene Forderung: »Wer einen Demokratischen Sozialismus anstrebt, muss die individuellen Freiheitsrechte jedes Bürgers und jeder Bürgerin hochhalten und verteidigen«, ist nicht umstritten. Schon gar nicht ist diese Aussage für jene Parteimitglieder aus dem Westen neu, die aus der SPD oder der DKP gekommen sind. Manche von ihnen waren schon bei den Protesten gegen die Notstandsgesetze dabei. Viele litten unter den Berufsverboten oder standen an der Seite der Opfer. Sie alle wissen nur zu gut um den Wert individueller Freiheitsrechte, sie brauchen keine Belehrung. Doch Petra Pau geht es um mehr. Mit Hilfe von Engels will sie den Liberalismus in die Programmatik der Linkspartei hineinbringen. Sie sagt: »Für Friedrich Engels war der Liberalismus die ›Wurzel des Sozialismus‹ (…)«. Doch stimmt das überhaupt? Ein Blick in den Band 38 der Marx/Engels-Werke bringt Erstaunliches ans Licht.
© marx21 / Karsten Schmitz
Bei diesem Text handelt es sich um eine gekürzte Version des Beitrags »Der Kampf ist eröffnet« aus der jungen Welt (jW) vom 15. Mai 2010. Dort finden sich auch alle Quellenbelege. Wir danken der jW für die Abdruckgenehmigung.
Der im März 2010 von Oskar Lafontaine und Lothar Bisky vorgelegte Programmentwurf für DIE LINKE erfährt Widerspruch von prominenter Seite. Die Bundestagsabgeordnete und stellvertretende Parlamentspräsidentin Petra Pau lehnt ihn ab: »Ich würde dem Entwurf, so wie er ist, nicht zustimmen. Er ist mir zu schwarz-weiß. Er ist mir zu widersprüchlich. Er ist mir zu beliebig.« So Pau auf dem Landesparteitag der Berliner Linken am 24. April 2010. Sie wünscht sich statt dessen eine »moderne sozialistische Bürgerrechtspartei«. Wer den Kampf um die Geschichte gewinnt, der gewinnt auch die Zukunft, so heißt es. Das gilt besonders für eine Partei wie DIE LINKE, die sich auf die Arbeiterbewegung beruft. Petra Pau weiß, dass man einer solchen Bewegung nur dann eine grundsätzlich andere, in diesem Fall eine libertäre Richtung geben kann, wenn man hierfür auf linke Klassiker zurückgreifen kann. In einem Vortrag, den sie am 22. März 2010 vor Mitgliedern des LINKEN-Bezirksverbands Berlin-Reinickendorf hielt, hat sie dies versucht. Sie begann ihre Ausführungen mit einem Zitat von Friedrich Engels, der am 5. März 1892 an Karl Kautsky schrieb: »Der Liberalismus ist die Wurzel des Sozialismus, will man also radikal verfahren, so muß man den Liberalismus kaputtmachen, dann verdorrt der Sozialismus von selbst!« (Friedrich Engels an Karl Kautsky, Brief vom 5. März 1892, Marx/Engels-Werke (MEW) 38, S. 288). Für Pau ist klar: »Im Zentrum des politischen Liberalismus steht demnach die individuelle Freiheit des Menschen. Die Mahnung von Friedrich Engels bedeutet nichts anderes: Ein Sozialismus, der die individuellen Freiheitsrechte
Engels behandelt in seinem Schreiben an Kautsky zunächst eine ganze Reihe von persönlichen, tagespolitischen und redaktionellen Fragen. Dann kommt er zu politischen Ereignissen im Berlin jener Tage. Zum Hintergrund: Im Februar 1892 war es im Berliner Zentrum zu Arbeitslosenunruhen gekommen. Die Sozialdemokratie hatte sich von diesen spontanen und teilweise gewaltsamen Protesten distanziert, auch aus Sorge, dass sie nach der langen Zeit der Sozialistengesetze erneut in die Illegalität verbannt werden könnte. Unterstützt wurden diese Proteste aber von den sogenannten Jungen Wilden in der Partei. Engels nennt sie in seinem Brief »Krawaller«. Die entscheidende Passage des Engels-Briefes, aus der Pau zitiert, hat nun folgenden Wortlaut: »Ich glaube nicht, daß Du vorderhand gefährdet bist. Die Berliner Gelüste sind so wackelig und vielseitig, daß keins zur wirklichen Befriedigung kommt – jetzt sind die liberalen Bourgeois plötzlich bête noire (die Angstgegner – M.S.). Der Liberalismus ist die Wurzel des Sozialismus, will man also radikal verfahren, so muß man den Liberalismus kaputtmachen, dann verdorrt der Sozialismus von selbst. Dies ausgezeichnet schlaue Manöver können wir uns einstweilen mit stiller Heiterkeit ansehn. Sind erst die liberalen Philister wild gemacht, und sie scheinen wirklich in die Wut wider Willen hineingejagt zu werden, dann ist’s auch mit Schreckschüssen gegen uns vorbei. Abgesehn davon, daß es auch Machthaber in Deutschland gibt, denen dieser Berliner Wind anjenehm sein dürfte, um sich ihm gegenüber wohlfeil populär zu machen und für Partikularismus und Reservatrechte Kapital herauszuschlagen. Als die Berliner Straßenaufläufe anfingen, war ich nicht ohne Besorgnis, es könne sich daraus die so heiß ersehnte Schießerei entwickeln, als aber die Krawaller den jungen Wilhelm anhochten und dieser damit beruhigt war, war alles in Ordnung (…).« Jeder verständige Leser erkennt auf den ersten Blick, was Engels mit der Bezeichnung des Liberalismus als »Wurzel des Sozialismus« gemeint hatte. Er gibt www.marx21.de | Sommer 2010 | Nr. 16
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damit nichts anderes als den Gedankengang der preußischen Aristokraten und Junker wieder, die zu dieser Zeit den liberalen Bourgeois wieder einmal als ihren Hauptfeind ausmachten, auch weil sie im Liberalismus die Ursache des Sozialismus sahen. Engels macht sich über »dies ausgezeichnet schlaue Manöver« lustig und rät dazu, es »mit stiller Heiterkeit« anzusehen. Auf den damals im Deutschen Reich erneut ausgebrochenen Kampf Aristokratie gegen Bourgeoisie geht Engels auch in einem Brief an Friedrich Adolph Sorge ein, gleichfalls vom 5. März 1892. Darin belustigt er sich über die Ansichten Kaiser Wilhelms II., dass die Sozialdemokraten Abkömmlinge des Liberalismus seien: »Zum Glück richtet sich die regis voluntas (des Kaisers Willen, d. Red.), die so gern suprema lex (oberstes Gebot, d. Red.) würde, heut gegen uns und morgen gegen die Liberalen, und nun hat er gar entdeckt, daß alles Pech von den Liberalen kommt, deren Abkömmlinge wir sind – das haben ihm seine Pfaffen beigebracht.« (Friedrich Engels an Friedrich Adolph Sorge, Brief vom 5. März 1892, MEW 38, S. 290) Das von Petra Pau angeführte Engels-Zitat ist vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen und dabei grotesk verdreht worden. Sie oder ihre überfleißigen Mitarbeiter haben kräftig danebengegriffen! Den Liberalismus als eine der Wurzeln des Sozialismus auszugeben, widerspricht dem gesamten Denken und Werk von Marx und Engels, die zeit ihres Lebens im bewussten und ausdrücklichen Gegensatz zur bürgerlichen Gesellschaft und zum Liberalismus standen.
der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt, wenn die ›Freiheit‹ zum Privilegium wird« (Rosa Luxemburg, Zur russischen Revolution, in: Gesammelte Werke, Band 4, 6. Aufl., Berlin 2000, S. 359). Mit ihrem Hinweis, dass sie die Freiheit nicht »wegen des Fanatismus der ›Gerechtigkeit‹« für wichtig hält, sondern weil die Freiheit für die Bewegung, für den erfolgreichen Kampf, für die Behauptung der Revolution (die Aussage steht bekanntlich in ihrer Schrift über die Russische Revolution) notwendig ist, hatte Luxemburg klargestellt, wie sie diesen Satz verstanden wissen wollte: eingebettet in eine konkrete Analyse der konkreten Situation. In seiner neuen Biografie über Rosa Luxemburg schreibt Dietmar Dath: »Verkürzt man das Denken der streitbaren Gelehrten auf solche Maximen und Sentenzen, dann unterschlägt man, dass für Marxisten wie sie alle Ideen, auch die richtigsten und die schönsten, Momente eines dynamischen Prozesses sind, nicht Gebote vom Berg Horeb. Theoretiker dieser Schule sind strenge Historisten: Sie glauben, dass das, was Tatsachen und Ideen bedeuten, jederzeit und überall historischen Veränderungen unterworfen ist.« Und so ist es überhaupt nicht überraschend, dass Rosa Luxemburg in anderen historischen Situationen zu anderen Schlüssen kam. In ihrem Werk finden sich zahlreiche Belege dafür, dass sie in und nach der Revolution eine harte und kompromisslose Unterdrückung der Gegner für absolut notwendig hielt. Noch einmal Dietmar Dath: »Bei der Bodenverstaatlichung, Zerschlagung der letzten ständischen Reste in der Landwirtschaft, quasi-militärischen Reformierung der Industrie, bei der Agrarkollektivierung etwa gingen ihr gerade die Bolschewiki anfangs keineswegs zu weit, sondern im Gegenteil nicht weit genug. Wie hat sie sich das Etikett der milderen, freiheitlicheren, auf schwer zu bestimmende Weise irgendwie gemäßigten Linksradikalen zugezogen?« Die Antwort darauf könnte lauten: Weil viele von dieser großen Revolutionärin eben nur noch diesen einen Satz kennen und weiterverbreiten. Mit dem formulierten Anspruch der libertären Linken, aus der Partei DIE LINKE eine »moderne, sozialistische Bürgerrechtspartei« machen zu wollen, hat die Debatte über das Programm eine Zuspitzung erfahren. Der Kampf um die Identität der Partei ist eröffnet.
Der Kampf um die Identität der Partei ist eröffnet.
★ ★★ WEITERLESEN Der Vortrag von Petra Pau findet sich online unter: www.die-linkereinickendorf.de/ politik/dokumente/ petra_pau_zur_programm_debatte/
Kommen wir zu Rosa Luxemburg, der nächsten von Petra Pau zur Rechtfertigung eines libertären Sozialismus angerufenen Größe marxistischen Denkens. Über sie sagt Pau: »Schon Rosa Luxemburg erstrebte einen ›demokratischen Sozialismus‹. Davon zeugen unter anderen ihre Widerworte gegen Lenin. Bekannt ist ihr Zitat: ›Die Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden‹.« Pau zitiert nur diesen einen Satz. Doch erst wenn man ihn im Kontext liest, versteht man ihn. Der ganze Absatz lautet: »Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden. Nicht wegen des Fanatismus der ›Gerechtigkeit‹, sondern weil all das Belebende, Heilsame und Reinigende
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Jenseits von Bullerbü Seit Anfang Juni läuft der dritte Teil von Stieg Larssons »Millennium«-Trilogie in den Kinos. Marcel Bois stellt die Romane und ihren 2004 verstorbenen Autor vor
Ü
ber Wochen haben sie mich begleitet. Auf dem Weg zur Arbeit, im Urlaub und vorm Schlafengehen. Fast immer waren Mikael Blomkvist und Lisbeth Salander dabei. Als ich schließlich das dritte Buch beendet hatte, verspürte ich einen Anflug von Wehmut, als wäre ich zweier guter Freunde beraubt worden. Selten hat mich ein Roman so gefesselt wie die drei dicken Bände von Stieg Larssons »Millennium«Trilogie. Ganz offensichtlich bin ich nicht alleine: Weltweit wurden die Bücher über 21 Millionen Mal verkauft, in Deutschland stehen sie seit Monaten in den Bestsellerlisten. Allein in Larssons Heimat Schweden gingen sie 3,5 Millionen Mal über den Ladentisch – und das bei einer Einwohnerzahl von nur knapp neun Millionen. Zudem wurden die Bücher mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Stieg Larsson hat diesen Erfolg nicht mehr miterlebt. Kurz vor Veröffentlichung seiner Romane ist er 2004 im Alter von nur 50 Jahren an den Folgen eines Herzinfarkts gestorben. Er hatte sich im wahrsten Sinne des Wortes zu Tode gearbeitet. »Man kann nicht über Stieg schreiben, ohne auf seine Schlaflosigkeit einzugehen«, meint Larssons langjähriger
Freund Kurdo Baksi. »Stieg ging meist erst ins Bett, wenn andere aufstanden. Müde, rote Augen, unregelmäßige Atmung und immer trägere Reflexe sprachen eine deutliche Sprache.« Zwanzig Tassen Kaffee und mindestens ein Päckchen Zigaretten am Tag waren Larssons Standard. »Wir sagten immer, er arbeitete von neun bis fünf: von neun Uhr morgens bis fünf Uhr in der Nacht.« In den Stunden nach Mitternacht ist die »Millennium«-Reihe entstanden. Larsson schrieb die Bücher »zur Beruhigung«, wie Baksi sagt. Denn tagsüber war er ein Kämpfer für eine bessere Welt. Politisiert worden war Larsson durch den Vietnamkrieg. In den 1970er Jahren schloss er sich der trotzkistischen Gruppe »Kommunistiska Arbetarförbundet« (Kommunistischer Arbeiterbund) an und ging nach Eritrea, um bei der Ausbildung der Guerilla zu helfen. Zeit seines Lebens war ihm sein Großvater ein Vorbild – ein aktiver Antifaschist, der während des Zweiten Weltkriegs einige Zeit wegen seiner Gesinnung im Gefängnis verbringen musste. Wieder zurück in Schweden, widmete sich Larsson in den 1980er Jahren selbst dem Kampf gegen rechts. Er schrieb Bücher, hielt Vorträge und wurde bald zu einem www.marx21.de | Sommer 2010 | Nr. 16
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angesehenen Experten für die rechtsextreme Szene in Europa. Seit 1982 arbeitete er als SkandinavienKorrespondent für das britische antifaschistische Magazin Searchlight. Nachdem Neonazis innerhalb kurzer Zeit sieben Menschen in Schweden umgebracht hatten, gründete er 1995 die antirassistische Stiftung Expo. Seitdem war er Herausgeber und Redakteur der gleichnamigen Zeitschrift. Mit seinen Aktivitäten machte er sich viele Feinde. Die letzten 15 Jahre seines Lebens verbrachten er und seine Lebensgefährtin Eva Gabrielsson in permanenter Gefahr. Regelmäßig erhielt Larsson Morddrohungen. »Er wurde von Nazis beschattet, wenn er U-Bahn fuhr, und war er in der Stadt unterwegs, so hatten ihn die Rassisten stets auf dem Schirm. Sie wussten immer genau, wo er sich befand«, erinnert sich Baksi. Einmal erwartete ihn vor seinem Büro eine Gruppe rechter Skinheads mit Baseballschlägern. Kurz nachdem 1999 der Gewerkschafter Björn Söderberg von Nazis ermordet worden war, fand die Polizei in der Wohnung einer Unterstützerin der rechten Szene Fotos von Larsson und Gabrielsson. Um seine Lebensgefährtin nicht in Gefahr zu bringen, führte das Paar nach außen hin ein getrenntes Leben. Es gab keine gemeinsamen Konten und offiziell auch keine gemeinsame Wohnung. Öffentlich zeigten sich die beiden nie zusammen.
In »Verblendung« beispielsweise beauftragt der greise Großunternehmer Henrik Vanger den Journalisten Mikael Blomkvist damit, den Verbleib seiner Nichte Harriet aufzuklären. Seit 1966 ist sie spurlos verschwunden. Vanger vermutet, dass sie von einem Mitglied seiner Familie ermordet wurde. Blomkvist begibt sich auf die verschneite Insel Hedeby, auf der der Vanger-Clan in aller Abgeschiedenheit lebt. Henrik warnt ihn: »Meine Familie besteht größtenteils aus Räubern, Geizkragen, Tyrannen und Taugenichtsen. Ich habe das Unternehmen fünfunddreißig Jahre geführt – fast die ganze Zeit in unversöhnlichem Konflikt mit allen anderen Familienmitgliedern. Sie waren meine schlimmsten Feinde.« Tatsächlich trifft Blomkvist auf einen Familienclan, hinter dessen bürgerlicher Fassade sich eine dunkle Familiengeschichte verbirgt. Einige Mitglieder waren in den 1930er Jahren glühende Anhänger der Nationalsozialisten und haben bis heute ihre Gesinnung nicht aufgegeben. Mit Hilfe der begnadeten Researcherin Lisbeth Salander deckt Blomkvist aber noch ganz andere Geheimnisse der Vangers auf.
Die Presse bezeichnete Larsson als den »Heath Ledger der Krimiautoren«
Marcel Bois ist Redakteur von marx21.
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Angesichts Larssons Biografie verwundert es nicht, dass die Romane der »Millennium«-Reihe mehr sind als einfach nur Krimis. Oberflächlich betrachtet handelt es sich bei den drei Teilen um Polizeiromane oder Politthriller – allesamt enorm intelligent, detailreich und vor allem ungeheuer spannend geschrieben. Doch Larsson liefert zudem eine tiefgehende Gesellschaftskritik und zeichnet dabei ein finsteres Bild des sozialdemokratischen Musterlandes Schweden. Von der heilen »Bullerbü«-Welt, die Astrid Lindgren in ihren Büchern beschrieben hat, bleibt bei ihm nicht viel übrig. Damit steht Larsson in der Tradition von schwedischen Krimiautoren wie Maj Sjöwall, Per Wahlöö oder Henning Mankell. Sjöwall, die in den 1970er Jahren mit Romanen um die Figur des Kommissars Beck berühmt wurde, erklärte vor einigen Jahren in einem Interview: »Im Krimi kann man verschiedene Gesellschaftsschichten hervorragend schildern. Es soll ja immer die Guten und die Bösen geben. Außerdem bietet der Kriminalroman die Möglichkeit, gewisse Milieus genau zu schildern.« Genau das macht Larsson. Nr. 16 | Sommer 2010 | www.marx21.de
Larsson schildert in der Trilogie diverse gesellschaftliche Missstände. Er schreibt über kriminelle Großunternehmer, die Scheinfirmen in Osteuropa aufbauen, um staatliche Gelder einzustreichen. Es geht in seinen Büchern um Polizisten, die Zwangsprostitution unterstützen, und um eine große Verschwörung in den Reihen des Nachrichtendienstes. Für Larssons Lebensgefährtin Gabrielsson macht gerade das den Erfolg der Werke aus: »Die Verkaufszahlen sagen etwas über unsere Welt aus. Die Menschen scheinen in dem, was in den Büchern beschrieben ist, etwas wiederzuerkennen: den Kampf gegen Korruption, die Rohheit und Diskriminierung, die Feigheit der Medien, die Blindheit und Korruption der Politiker. Das scheint universal zu sein. Ich interpretiere es immer als eine Art Wahl: Sie stimmen für Stiegs Ideale.« Ein weiteres Thema, das alle drei Bände durchzieht, ist Gewalt gegen Frauen. Zu Beginn eines Kapitels von »Verblendung« erfahren die Leser, dass 46 Prozent aller schwedischen Frauen über fünfzehn schon einmal Opfer männlicher Gewalt geworden sind. Passend lautet der Originaltitel des Buchs »Männer, die Frauen hassen«. Diese Frage war Larsson in seiner politischen Aktivität genauso wichtig wie sein Kampf gegen Nazis. Als beispielsweise im Januar 2002 die junge kurdischstämmige Frau Fadime Sahindal von ihrem Vater ermordet
wurde, löste dies in Schweden eine große Debatte über »Ehrenmorde« aus. Larsson veröffentlichte ein Buch hierzu. Gegen die rassistischen Untertöne in der Diskussion verwahrte er sich. Stattdessen erklärte er, Gewalt gegen Frauen geschehe »in Südafrika, Saudi-Arabien, Norwegen, Mexiko, Tibet und im Iran. Unterdrückung von Frauen hat nichts mit Religion oder ethnischer Zugehörigkeit zu tun.« In den »Millennium«-Romanen werden mehrere Frauen misshandelt, vergewaltigt oder sogar ermordet. Larsson schildert das teilweise sehr detailliert und realistisch, und auch in der Verfilmung wird mehr gezeigt, als es vermutlich manchem Zuschauer lieb ist. Das mag schockierend sein, doch bringt es einem die Leiden der Frauen nahe. Zugleich schildert Larsson – und das ist seine Stärke – die Gewalt gegen Frauen immer eingebettet in soziale Zusammenhänge. Bei ihm hassen nicht alle Männer Frauen, sondern es sind stets Männer, die ihre gesellschaftliche Macht ausnutzen, um sexuelle Gewalt auszuüben, so beispielsweise ein Anwalt, der eine unter seiner Vormundschaft stehende junge Frau vergewaltigt. Jedoch stellt Larsson seine
8Die bücher und Die Filme
Die Romane der »Millennium«-Trilogie sind unter den etwas unpassenden deutschen Titeln Verblendung (2007), Verdammnis (2008) und Vergebung (2009) bei Heyne erschienen. Sie sind als Taschenbuch erhältlich und kosten jeweils 9,95 Euro. Während »Verblendung« eine abgeschlossene Geschichte erzählt, bauen »Verdammnis« und »Vergebung« direkt aufeinander auf. Der Film »Verblendung« (Regie: Niels Arden Oplev) ist mittlerweile auf DVD erschienen. Während dieser Teil der »Millennium«-Reihe hervorragend umgesetzt ist und sich stark an der Erzählstruktur des Buches orientiert, fällt die Verfilmung von »Verdammnis« (Regie: Daniel Alfredson) leider wesentlich schwächer aus. Sie erschien am 4. Juni auf DVD. Einen Tag zuvor kam »Vergebung« (Regie: Daniel Alfredson) in die deutschen Kinos.
Frauen nicht nur als Opfer dar. Allen voran Lisbeth Salander, die seit Kindertagen viele schreckliche Erlebnisse durchstehen musste, wehrt sich stets gegen ihre Peiniger. Selten tut sie dies in Einklang mit den schwedischen Gesetzen und doch, oder gerade deswegen, gewinnt sie die Sympathien der Leser. Überhaupt machen die beiden Hauptfiguren einen großen Teil des Erfolgs der Bücher und der Verfilmungen aus. Mikael Blomkvist ist Herausgeber und Redakteur des kleinen, linken Magazins mit dem Namen Millennium, einer »aufgehübschten Version« von Larssons Zeitschrift Expo, wie es der Guardian formuliert hat. Blomkvist hat sich als Enthüllungsjournalist einen Namen gemacht. Bei Lisbeth Salander handelt es sich um eine gepiercte, tätowierte und bisexuelle Computerhackerin mit einem fotografischen Gedächtnis. Sie ist hochintelligent, ihr Verhalten trägt leicht autistische Züge, und sie setzt einmal gefällte Beschlüsse mit einer Konsequenz um, die einen neidisch machen könnte. Weder Blomkvist noch Salander sind Superhelden, sondern sie haben Ecken und Kanten. Genau das erleichtert die Identifikation mit ihnen. Dieser Aspekt ist auch in der Verfilmung, vor allem des ersten Teils, sehr gut umgesetzt. Die einzelnen Figuren werden ausführlich charakterisiert und sind bis in die Nebenrollen hervorragend besetzt. Herausragend ist Noomi Rapace als Lisbeth Salander. Nicht umsonst wurde sie für den Europäischen Filmpreis als beste Darstellerin nominiert. Monatelang hat sie sich auf die Rolle der zähen, zierlichen Kämpferin vorbereitet – mental und körperlich. Sie trainierte Thai- und Kickboxen, machte einen Motorradführerschein und ließ sich eigens für den Film piercen. Soeben ist mit »Vergebung« der dritte Teil der Trilogie in die Kinos gekommen. Der Rummel um Stieg Larsson wird also weitergehen. Die Welt bezeichnete ihn kürzlich als den »Heath Ledger der Krimiautoren«. Tatsächlich hat »Millennium« mittlerweile sogar Hollywood erreicht, für 2011 ist dort eine Neuverfilmung der Bücher geplant. Das lässt nichts Gutes hoffen und wäre vermutlich auch kaum in Larssons Sinne gewesen. Der Autor, der höchst ungern als Gast in Talkshows auftrat, konnte mit besonderer Aufmerksamkeit für seine Person nie viel anfangen. Dementsprechend hätte ihn der Erfolg wohl auch nicht verändert, vermutet Kurdo Baksi: »Er hätte weiter seine Zigaretten geraucht, schlecht gegessen, zu wenig geschlafen und noch mehr Bücher geschrieben. Und vor allem hätte er weiterhin ein wachsames Auge auf Intoleranz in der Gesellschaft gehabt.« www.marx21.de | Sommer 2010 | Nr. 16
★ ★★ Weiterlesen Kurdo Baksi: Mein Freund Stieg Larsson (Heyne 2010).
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Geschichte hinter dem song
Public Enemy: »By the Time I Get to Arizona« Von Yaak Pabst
S Yaak Pabst ist Redakteur von marx21. Er schreibt an dieser Stelle regelmäßig über die Hintergründe berühmter Songs.
ergio Cortéz ist 32 Jahre alt. 17 Jahre lang hat er in den USA geschuftet, ohne Aufenthaltsgenehmigung, ohne Arbeitsverträge, ohne Rechte. Als er zum fünften Mal von der Polizei geschnappt wird, schiebt ihn die US-Einwanderungsbehörde nach Mexiko ab. Mit nicht mehr als zwei Plastiktüten in der Hand wird er zurück in sein Geburtsland deportiert. So wie Cortéz kann es jedem der elf Millionen Menschen ergehen, die ohne Papiere in den USA leben. Schon jetzt sitzen Hunderttausende in den US-amerikanischen Abschiebegefängnissen. Die Zahl der Ausweisungen aus den USA hat sich zwischen 1999 (183.114) und 2008 (358.886) nahezu verdoppelt. Mexikaner sind mit 70 Prozent die weitaus größte Gruppe unter den Abgeschobenen. Im Bundesstaat Arizona leben 460.000 Einwanderer ohne Papiere. Das sind zwar nur vier Prozent aller in den USA Illegalisierten, doch weil Arizona im Süden an Mexiko grenzt, versuchen dort jeden Tag Menschen unbemerkt über die Grenze zu kommen. Die neoliberale Wirtschaftspolitik im Zuge eines Freihandelsabkommens mit den USA hat den Auswanderungsdruck in Mexiko verstärkt. Viele Kleinbauern können seitdem der Konkurrenz des multinationalen Agrobusiness nicht mehr standhalten und werden von ihrem Land verdrängt. Sie gehen in die Städte und in die Grenzregion, wo die Maquiladoras, die Weltmarktfabriken, angesiedelt sind. Die Arbeitsbedingungen dort sind unzumutbar: lange Arbeitszeiten, Fließbandarbeit und niedrige Löhne. Fünfzig Millionen Menschen leben in Mexiko unterhalb der Armutsgrenze. Etwa 40 Millionen haben weniger als zwei Euro am Tag zur Verfügung. Ob sie einen Job haben oder nicht, diesen Mexikanern wird keine andere Zukunft angeboten als, zu betteln, kriminell zu werden oder ihr Glück nördlich der Grenze zu versuchen. Genau diesen Menschen hat Janice Brewer, die Gouverneurin von Arizona, den Krieg erklärt. Sie unterzeichnete ein Gesetz, wonach es strafbar ist, ohne Pass, Aufenthaltserlaubnis oder Führerschein die Straße zu betreten. Die Polizei in Arizona kann künftig jeden Menschen kontrollieren, bei dem der
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»begründete Verdacht« besteht, er könnte sich unerlaubt in den Vereinigten Staaten aufhalten. Gefahndet wird nach rassistischen Kriterien – ausgesucht werden Menschen, die aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer Haare und Augen, ihrer Kleidung, Sprache und anderer Merkmale eine hispanische Herkunft haben könnten. Kann die kontrollierte Person ihren legalen Status nicht auf der Stelle nachweisen, droht ihr die Festnahme, Gefängnis und Abschiebung. Das Gesetz stellt somit alle Bürger unter Generalverdacht, die ursprünglich aus Mexiko, Mittelamerika oder anderen Regionen Lateinamerikas stammen. Schlimmer noch: Jeder US-Bürger in Arizona kann Polizisten anweisen, Menschen auf ihren Aufenthaltsstatus hin zu kontrollieren. Polizeibeamte, die dieser Gesetzespflicht nicht genügen, können verklagt werden. Für Jennifer Allen, die Leiterin des »Border Action Networks«, ist klar: »Dieses Gesetz ist ein Auftakt zur Jagd auf alle Latinos. Es ist eine Anstiftung zu Rassismus.« Aus Empörung über das Gesetz haben amerikanische Künstler um die Rapperin Queen Yonasda die Initiative ergriffen und einen Protestsong veröffentlicht. Ihre Vorlage: eines der angriffslustigsten Lieder der legendären Politrapper Public Enemy: »By the Time I Get to Arizona« aus dem Jahre 1991. Im Visier von Public Enemy stand damals Gouverneur Fife Symington. Die Hauptrolle in dem Rap spielte jedoch Martin Luther King. Mit dem Song protestierte die Band dagegen, dass sich Symington weigerte, den Bürgerrechtsaktivisten mit einem Feiertag zu würdigen. Der konservative Republikaner kritisierte Kings Opposition zum Vietnamkrieg und beschuldigte ihn, den »aktionsorientierten Marxismus« zu unterstützen. Public Emeny antworteten darauf, indem sie im Video zum Song die schwarze Bürgerrechtsbewegung wieder auferstehen ließen. Originalaufnahmen von Straßenprotesten, Sit-ins und Aktionen des zivilen Ungehorsams vermitteln durch schnelle Schnitte die Dynamik der Bewegung. Die Schlussszene sorgte für einen Eklat. Zu sehen ist die Ermordung Martin Luther Kings – in Zeitlupe. Nachdem der
© Charles Dee Rice Photography / cdricephotography.com
Protest gegen das neue Immigrationsgesetz in Arizona: »Das ist ein Auftakt zur Jagd auf alle Latinos« Bürgerrechtler in sich zusammensackt, zeigt das Video bewaffnete Guerillakämpfer, die ein Bombenattentat auf den Gouverneur von Arizona verüben. In dem Moment, in dem sein Auto in die Luft fliegt, endet das Lied. In den gesamten Vereinigten Staaten wurde das Video verboten, in Arizona auch der Song. Trotzdem verkaufte sich das dazugehörige Album »Apocalypse 91… The Enemy Strikes Black« über eine Million Mal und kletterte auf Platz eins der R’n’B/Hip-Hop-Charts. Public Enemy treffen den Nerv einer ganzen Generation. Die Band predigt, rappt und agitiert. Für den Frontman Chuck D. ist Rap das »CNN für Schwarze«. Public Enemy rücken auf ihren Platten die Sorgen und Nöte der Menschen in den Ghettos in den Mittelpunkt. Rassismus, Polizeibrutalität, Armut, Arbeitslosigkeit, die Einseitigkeit der Medien – in den Songs der Band wird zurückgeschossen. Im Jahr 1988 produzieren sie mit »It Takes A Nation Of Millions To Hold Us Back« eines der einflussreichsten Alben der HipHop-Geschichte. Die Texte sind bissig, radikal, geladen und gewagt, der Sound ist hart, wütend und entschlossen. Das musikalische Rückgrat der Band ist das Produktionsteam »Bomb Squad«. Mitte der 1980er Jahre perfektioniert Public Enemy die Technik des »Sampling«. Hierbei wird ein bestimmter Ausschnitt aus einer Ton- oder Musikaufnahme heraus kopiert, um daraus einen eigenen Song zu komponieren. Im Fall von » By the Time I Get to Arizona« ist es ein Gitarrenriff der Funkgruppe Mandrill und ein Drum-
loop der Jackson Five. Hank Shocklee, der Kopf des »Bomb Squad«, arrangiert mit Sampels einen Sound, der Public Enemy den Geist des Punkrock atmen lässt. Ende der 1980er Jahre steht keine andere Band so für Widerstand und Rebellion wie Public Enemy. Das jetzt veröffentlichte Remake des Public-Enemy-Songs bezieht sich auf diese Tradition. Ganz im Stile Chuck D.s beginnt DJ John Blaze: »Brüder und Schwestern, es ist Zeit aufzustehen und zu protestieren«. Die Rapperin Queen Yonasda übernimmt und stellt klar: »Die Regierung ist kein Gott. Wir müssen das Einwanderungsgesetz stoppen.« Die 13 Musiker sind nicht die Einzigen, die der Regierung von Arizona den Kampf angesagt haben. Der Rapper Pitbull und die Hip-Hop-Veteranen von Cypress Hill sagten ihre Konzerte in dem Bundesstaat ab. Die Sängerin Shakira spricht bei Kundgebungen gegen das Gesetz. Bei den Billboard Latin Music Awards bekam der Popsänger Ricky Martin minutenlangen Applaus, als er aussprach, was Millionen denken: »Schluss mit dieser Diskriminierung. Stoppt den Hass. Stoppt den Rassismus.« Chuck D. von Public Enemy rief zum Boykott von Arizona auf: »Wir fordern Musiker, Künstler, Sportler, Wissenschaftler und Unternehmen auf, ihre Arbeit in Arizona zu verweigern, bis die Behörden nicht nur dieses Gesetz aufheben, sondern auch die Menschenrechte von Migranten anerkennen. Was sie den Einwanderern zumuten, ist erschreckend, aber es wird noch schlimmer, wenn wir schweigen.« www.marx21.de | Sommer 2010 | Nr. 16
★ ★★ WEITERSEHEN Das Bild ist Teil einer Fotoserie von den Protesten gegen das neue Immigrationsgesetz. Mehr Bilder des Fotografen Charles Dee Rice findest du unter www.cdricephotography.com/immigration
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Friedliche Zombies
der Insel – auf Betreiben von O’Flynns eigener Tochter. Der andere Patriarch, Seamus Muldoon, behauptet,
tigen die Lebenden eigentlich keine Untoten, um zu sterben. Zuverlässig blasen sie sich gegenseitig das Licht aus.
ist. Splatter kann auch linksliberal sein, das hat der Altmeister erneut bewiesen. Dabei sollte man allerdings keine ausgefeilte
dem Wort Gottes zu folgen und deshalb die auf Menschenfleisch versessene frühere Verwandtschaft »domestizieren« zu wollen – bis ein Heilmittel für diese gefunden ist. Er legt sie in Ketten und beginnt ein entsprechendes »Training«. Ein Gnadenakt ist dieser »fromme« Wunsch Muldoons allerdings nicht. Denn der reiche Farmer beabsichtigt, aus der Katastrophe einen geschäftlichen Vorteil zu ziehen, indem er aus den nicht dahinscheiden wollenden Muldoons willige und billige Arbeitssklaven macht. Dass er mit diesem Experiment die noch Lebenden der Gefahr aussetzt, von Untoten gefressen oder infiziert zu werden, stört ihn nicht. Doch O’Flynn gelingt es, auf die Insel zurückzukehren. Er setzt nun alles daran, Rache zu üben und seinen Kontrahenten Muldoon zu erledigen. Jener lässt sich nicht lange bitten und ruft seine »Cowboys« zu den Waffen. Ein groteskes Bild: Auch angesichts des drohenden Untergangs der Menschheit bekriegen sich die beiden Clans. So ist es in allen Teilen der Romero-Saga: Gewöhnt an Macht und Herrschaft, entsolidarisiert durch den Alltag in einer Klassengesellschaft benö-
Dagegen sind die Zombies geradezu harmlos und liebenswert. Sie erscheinen tolerant und egalitär. Hautfarbe spielt keine Rolle und Klassenunterschiede existieren bei ihnen nicht. Selbst beim Fressen kommen sie ohne Rangfolge aus. Dass Zombies sich nicht bekriegen, ist auch der Hauptgrund, warum sie in Romeros Filmen nach und nach die Menschen verdrängen. Mitleid mit dem arg in Bedrängnis geratenen Homo sapiens will beim Zuschauer deshalb nicht so recht aufkommen. Eher wünscht man den Zombies guten Appetit. Dabei deutet Romero in seinen Filmen immer wieder an, dass eine Koexistenz von Untoten und Lebenden durchaus möglich wäre. Doch Letztere verspielen jede sich bietende Chance. »Survival of the Dead« ist sehenswert, wirkt aber blass gegen den brillanten Erstling »Night of the living Dead« (»Die Nacht der lebenden Toten«) von 1968, in dem Romero Rassismus und Krieg anklagte. Viele Gags in »Survival« sind platt und es mangelt nicht an plumpen Charakteren. Aber Romero liefert dennoch einen Film, der anderen des Genres überlegen
Gesellschaftsanalyse erwarten. Denn einen Widerspruch kann auch ein so solider filmischer Handwerker wie Romero nicht lösen: Mit den Mitteln des auf Gewalt angewiesenen Zombiefilms lässt sich der reale Horror im Kapitalismus nur schwer kritisieren. Frank Eßers
Survival of the Dead Regie: George A. Romero USA 2010 90 Minuten Kinostart: 6. Mai 2010 uch im sechsten Teil seiner Untoten-Saga lotet HorrorAltmeister George A. Romero die Abgründe der US-amerikanischen Gesellschaft und den Zerfall sozialen Zusammenhalts aus. In »Survival of the Dead« (»Die Toten leben weiter«) entwirft er eine Endzeitvision, die den amerikanischen Gründungsmythos beerdigt. Plum Island, der Ort des Geschehens, ist eine Insel vor der Küste des US-Bundesstaats Delaware. Sie steht als Symbol für alles, wovor die ersten Siedler aus Europa eigentlich geflohen sind: (religiöse) Intoleranz, Unfreiheit und Ausbeutung. Romero packt seine Kritik in einen in der Gegenwart spielenden und mit viel Ironie gespickten Zombie-Western. Auf der Insel leben nur zwei Großgrundbesitzerfamilien, beide Nachkommen irischer Einwanderer. Deren Anführer, zwei rechthaberische, sturköpfige Patriarchen, sind hoffnungslos zerstritten über die Frage, wie man mit den Zombies umgehen soll, die sich seit Kurzem in den ganzen USA – und auch auf der Insel – »vermehren«. Der eine, Patrick O’Flynn, kennt kein Pardon und jagt jedem Wiedergänger eiskalt eine Kugel in den Kopf – was selbst Untote nicht überleben. Das stößt nicht bei allen Inselbewohnern auf Verständnis, sind doch die Zombies auf Plum Island keine »Fremden« (die hier niemand duldet), sondern ehemalige Familienangehörige. Als O’Flynn versucht, zwei untote Kinder zu erschießen, verjagen ihn die Muldoons von
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Das andere London
Madness The Liberty of Newton Folgate Ministry of Sound/Warner 2010
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n den frühen achtziger Jahren war Madness die erfolgreichste Gruppe des Ska Revivals. Obwohl bei dem anti-rassistischen Label »2-Tone« unter Vertrag, waren sie nicht so explizit politisch wie ihre Zeitgenossen von The Specials (»Ghost Town«, »Free Nelson Mandela«) oder
The Beat (»Stand Down Margaret«). Dennoch haben ihre Songs über das normale Leben der Arbeiterklasse damals Kids wie mir gezeigt, dass unsere Erfahrungen auch in Popsongs dargestellt werden können. Jedoch nur über die politische Bedeutung von Madness in den 1980ern zu schreiben, würde das Thema verfehlen. Madness machte zudem Spaß. Ihre lustigen Drei-Minuten-Songs, ihre innovativen Videos und besonders ihre Konzerte haben uns viel Freude bereitet. Mittlerweile sind die Mitglieder der Band älter geworden und haben nun ihr erstes Album seit zehn Jahren veröffentlicht. Das könnte schrecklich sein: Derzeit tummeln sich auf den Bühnen der Welt große Bands aus den Achtzigern und Neunzigern, die mehr oder weniger fähig sind, ihre alten Hits zu recyceln, aber der heutigen Generation nichts Interessantes mehr mitzuteilen haben. Deswegen freut es mich umso mehr, dass die neue CD
von Madness vielleicht die konsequenteste ist, die die Gruppe je produziert hat. Es gibt zwar weniger schnelle Popsongs als früher, aber die Qualität ist geblieben. Die neuen Songs sind raffinierter, aber ein Besuch der aktuellen Tour hat mir gezeigt, dass sie trotzdem tanzbar sind. Das Album »The Liberty of Norton Folgate« ist zum Teil ein Liebesbrief an London. Viele Songs (»We are London«, »NW5«, »Clerkenwell Polka«) spielen in ihren Namen auf Stadtteile oder die englische Hauptstadt als Ganzes an. Der titelgebende Song des Albums basiert auf »einem von einem Mittelständler geschriebenen Buch, der versuchte, die für ihn fremde Kultur der Arbeiter [in Ostlondon] zu verstehen, fast wie ein Entdecker des 18. Jahrhunderts, der zum Amazonas reist«, schreibt Sänger Suggs im Begleittext. Es geht um das London von unten. Das »Liberty of Newton Folgate« war ein historisch unabhängiges Gebiet in London,
das formell der Kirche gehörte, aber seine eigenen Gesetze und Regeln entwickelt hatte. Es befand sich in der Nähe des Hafens, seine Einwohner waren »Schauspieler, Schriftsteller, Denker, Lümmel, Zwielichtige und Freidenker, Außenseiter und Randalierer«. Diese Vielfältigkeit und relative Autonomie feiern Madness. Das London von Madness ist auch eine multikulturelle Migrantenstadt. In den Liedern der Band geht es um Moscheen, afrikanische Seefahrer und chinesische Händler. Gegen Ende des Songs »The Liberty of Norton Folgate« heißt es im Refrain: »In the Beginning was the Fear of the Immigrant« (am Anfang war die Angst vor dem Migranten). Das ist – angesichts zweier faschistischer Europaabgeordneter aus Großbritannien – jetzt leider noch immer relevant. Aber Madness feiern in ihrer Musik nicht die Angst, sondern die Migranten und Migrantinnen selbst. Zusammengefasst: »The Li-
berty of Newton Folgate« liefert einen spannenden kulturellen Kommentar zu einem sich in Veränderung befindlichen London. Solch ein Kommentar wäre jedoch nutzlos, wenn die Musik schlecht wäre. Hier die gute Nachricht: Madness are back. And they rock. Phil Butland
Frida – neu entdeckt Frida Kahlo – Retrospektive Martin-Gropius-Bau, Berlin, Noch bis 9. August 2010 Täglich 10–20 Uhr Eintritt: 10 Euro, ermäßigt 8 Euro
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rida Kahlo ist die bekannteste Künstlerin Lateinamerikas. Berühmt wurde sie durch ihre Selbstportraits, ihre surrealistischen Bilder und auch durch »Frida«, den 2002 erschienenen Spielfilm über ihr Leben. Wie
Foto: Jakob Montrasio
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„Lasst 100 Blumen blühen!“ Die Euphorie der MaoÄra ist Geschichte. Heute erblühen zehntausende postmoderne Betontürme in Chinas smogverhangenem Himmel. China ist Top-Markt für Luxusartikel. Es schuften und vegetieren Hunderte Millionen Entwurzelte und Prekäre. Im neuen Heft von Lunapark21: Ein China-LP21-Spezial von Karl Heinz Roth, Christa Wichterich, Tomasz Konicz, Boy Lüthje und Peter Strotmann. Dazu zwei weitere Schwerpunkte: Griechenland und die neuen Staatenkrisen und Attac und das Bankentribunal.
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© Banco de México Diego Rivera & Frida Kahlo Museums Trust, México, D.F./VG Bild-Kunst, Bonn 2010
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viel wissen wir jedoch wirklich über Frida Kahlo? Die Ausstellung im Berliner Martin-Gropius-Bau vereint bekannte und unbekannte Bilder der mexikanischen Malerin. Es ist die größte Werkschau Kahlos in Deutschland. 150 Werke wurden mühsam über Jahre gesammelt, einige von ihnen werden erstmalig ausgestellt. Viele der unbekannten Stücke sind Zeichnungen, darunter Skizzen, Akte, Figuren und Landschaften. So gibt es viel Neues zu sehen. Allerdings bleibt das Gefühl, dass Kahlo wie in vielen Büchern und Filmen über zwei Erfahrungen definiert wird: ihr körperliches Gebrechen, vor allem infolge eines schweren Busunfalls, und ihre fast selbstzerstörerische Beziehung zu dem Maler Diego Rivera, der sie mit seinen Affären in den Wahnsinn trieb. Sicher sind das zwei prägende Aspekte ihres Lebens, aber Frida Kahlo ist mehr als das. Sie ist pointiert, witzig und selbstironisch. Diese Seite können wir besonders gut in den bisher
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unbekannten Arbeiten der Künstlerin erkennen: Auf Bitten einer Freundin und Psychologin zeichnete sie zwölf Gefühlsregungen wie Lachen, Zorn und Angst. Jede davon bringt sie mit gezielten Strichen gekonnt auf den Punkt. Ein ganzer Ausstellungsraum widmet sich ihrem Verhältnis zu Ärzten – darunter ihrem Zahnarzt. Ihm schenkt sie ein Stillleben, auf dem ein zerklüftetes Stück Melone mit großen schwarzen Kernen zu sehen ist. Damit spielt sie selbstironisch auf ihre schlechten Zähne an. Auch das politische Geschehen verarbeitet sie in ihren Zeichnungen. Eine zeigt die Freiheitsstatue, die einen Geldsack und die Atombombe in der Hand hält, »Uncle Sam« schaut ihr über die Schulter. Der damalige US-amerikanische Präsident Harry S. Truman, die Diktatoren Franco und Hitler sowie der Papst sind um ihren Oberkörper gruppiert. Das Fundament, auf dem die Freiheitsstatue steht, ist ein Gefängnis.
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Die Ausstellung dokumentiert umfassend Frida Kahlos eigenständigen, eigenwillig symbolhaften und ironisch surrealistischen bis volkstümlichen Beitrag zur Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts. Sie bietet Neulingen über die erklärenden Tafeln und vielen Fotos einen guten Überblick über das Leben und die unterschiedlichen Schaffensperioden von Kahlo. Kennerinnen und Kennern liefert sie viele neue Aspekte zum Entdecken. Offen bleibt allerdings die Frage, wie sehr unsere Sichtweise von Frida Kahlo durch die Geschichten geprägt ist, die über sie erzählt werden. Diese muss sich jede und jeder selbst beantworten. Christine Buchholz
Für Anfänger und alte Hasen
Bernd Hüttner / Christoph Nitz (Hrsg.) Weltweit Medien nutzen – Medienwelt gestalten VSA-Verlag, Hamburg 2010 212 Seiten, 16,80 Euro
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ebatte, Weiterbildung, Vernetzung. Das war der Dreiklang, der die 7. Linke Medienakademie im März dieses Jahres in Berlin bestimmte. Mit 950 Teilnehmenden wurde die LiMA zu einer wichtigen Verbindung zwischen hauptberuflichen und ehrenamtlichen Medienmacherinnen und Medienmachern. So konnte mit
der neuen Veranstaltungsreihe LiMAunion die Zusammenarbeit mit Gewerkschaftern ausgeweitet werden, insbesondere mit den Medienschaffenden von ver. di. Einen guten Einblick in Themenvielfalt und Ergebnisse der LiMA gibt die gerade erschienene Dokumentation »Weltweit Medien nutzen – Medienwelt gestalten«. In diesem Band sind die instruktivsten Beiträge zusammengefasst. Der Typograf Kurt Weidemann beispielsweise, der diverse Schriften entworfen hat – unter anderem die von der LINKEN in ihren Drucksachen eingesetzte »Corporate« – »setzt Zeichen« und schreibt linken Medienmachern seine Grundauffassung hinter die Ohren: »Für mich richtet sich die Form immer nach pragmatischen funktionellen Kriterien, und das ist eben die Lesbarkeit und Verständlichkeit.« Linkspartei-Fraktionschef Gregor Gysi äußert sich über die »Rhetorik in der Welt der Politik« und darüber, warum DIE LINKE auch hier noch was zu lernen hat. SWRChefreporter Thomas Leif beschäftigt sich mit der Recherche als Instrument gegen gesteuerte Kommunikation. Mit welchen Methoden nehmen Wirtschaftsunternehmen Einfluss auf politische Entscheidungen? Einen Ausflug in den deutschen Lobbydschungel unternimmt Günter Bartsch. Braucht die Linke ein eigenes Boulevardformat als Alternative zur BILDZeitung? Ist das überhaupt möglich und mit linken Ansprüchen vereinbar? Jörg Staude, langjähriger Redakteur des Neuen Deutschlands, versucht Antworten auf diese Fragen zu geben. Marcel Bois und Stefan Bornost, Redakteure von marx21, greifen die Erfahrungen der ArbeiterIllustrierten Zeitung (AIZ) auf, die in den 1920er und 1930er Jahren von Willi Münzenberg als Verleger im Spannungsfeld von kommunistischer Parteipresse und Massenzeitung geprägt wurde. Sie verweisen darauf,
dass die AIZ zu einem Erfolg werden konnte, weil sie sich »kompromisslos auf die Seite der Unterdrückten« gestellt hat und sich die Redaktion auf ein Netzwerk von etwa 3500 Arbeiterreportern stützen konnte. Bei den Weiterbildungsveranstaltungen standen die neuen Entwicklungen im Internet einmal mehr im Mittelpunkt. In die Dokumentation wurden Beiträge von Richard Heigl, zum Einsatz von Web 2.0 in Unternehmen, und von Carlo Ponti aufgenommen, der Antworten auf die Frage sucht: »Was taugen Twitter, Facebook & Co. für politische Arbeit?« Die LiMA kann von sich zu Recht sagen, dass bei den jährlich stattfindenden Akademien Anfänger, Fortgeschrittene und alte Hasen aufeinandertreffen, um voneinander zu lernen. Ein Team junger Journalistinnen und Journalisten hebt in seinen »Impressionen von der 7. Linken Medienakademie« hervor, was ihnen in den mehr als 200 Veranstaltungen aufgefallen ist. Lesenswert! Klaus-Dieter Heiser Anzeige
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Eine andere Politik ist machbar!
Auf den Schultern von Giganten
Ulla Plener Rosa Luxemburg und Lenin: Gemeinsamkeiten und Kontroversen NORA Verlagsgemeinschaft, Berlin 2009 306 Seiten, 23,50 Euro
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osa Luxemburg und Lenin werden in der Linken meist als Gegenspieler gesehen: Auf der einen Seite Luxemburg mit ihren Vorstellungen von einem demokratischen »Rätesozialismus«, für die Bewegungen wichtiger waren als Parteien. Auf der anderen Seite Lenin, der mit seiner Schrift »Was tun?« von 1902 das Modell für eine »zentralistische Partei« schuf, die, so wird behauptet, die Revolution steuern sollte, um den Sozialismus von oben einzuführen – eine Theorie, die angeblich schon den Keim des Stalinismus in sich trug. .Mit dieser EntgGegenüberstellung stellungmöchte die Historikerin Ulla Plener, die auch Mitglied der LINKEN ist, brechen. Sie stellt uns die beiden als radikale Demokraten vor, für die der einzige Weg zu wirklichen gesellschaftlichen Veränderungen das Vorantreiben von Massenbewegungen war. Beide meinten: Nur durch den aktiven Kampf für ökonomische und politische Reformen in den bestehenden Verhältnissen könnten Arbeiterinnen
und Arbeiter herausfinden, welche Organisationsformen und Methoden sie bräuchten, um ihre Interessen durchzusetzen. Mit Massenaktionen, vor allem Streiks, könnten sie ihre Vereinzelung und Fremdbestimmtheit überwinden und ihre Handlungsmacht als Kollektiv entdecken. In diesem Prozess war für Luxemburg und Lenin das Wechselverhältnis von Organisation und Bewegung zentral. Damit aus den Reformkämpfen eine revolutionäre Bewegung entstünde, bräuchte es eine sozialistische Massenpartei, die diese Kämpfe vernetzen und politisch führen könne. Sie müsse mit praktischen Vorschlägen in die Bewegung intervenieren, um die Auseinandersetzungen auf das jeweils höchstmögliche Niveau zu heben, und mit politischen Analysen, um kollektive Bewusstseinsprozesse zu befördern. Ziel sei es, dass die Massen durch eigene Erfahrung erkennen, dass sie die politische Macht erobern müssen, um auch die Wirtschaft demokratisch zu kontrollieren. Die Strukturen die sie in ihren Kämpfen entwickeln, seien zugleich Grundlage für eine neue Gesellschaft, die sich von unten demokratisch selbst verwaltet. Sowohl Lenin als auch Luxemburg betonten, dass es dabei keine Abkürzungen gebe. Die Partei könne die Lernprozesse der Bewegung nicht ersetzen, sie jedoch beschleunigen. So schrieb Lenin 1918: »Den Sozialismus aber kann nicht eine Minderheit – die Partei – einführen. Einführen können ihn Dutzende von Millionen, wenn sie es lernen, das selbst zu tun. Wir sehen unser Verdienst darin, dass wir danach streben, der Masse zu helfen, das sofort in Angriff zu nehmen«. Diese Strategie, so zeigt Plener, verfolgten sowohl Luxemburg als auch Lenin vom Anfang ihrer politischen Aktivität in den 1890ern an bis zu ihrem Lebensende. Sie sahen sich
durch die russische Revolution von 1905 bestätigt und stritten gemeinsam dafür, dass sich die Zweite Internationale der sozialdemokratischen Parteien auf außerparlamentarische Kämpfe konzentrierte. In den Rahmen dieser grundsätzlichen strategischen Gemeinsamkeiten stellt Plener nun die Kontroversen über Luxemburg und Lenin – und verdeutlicht deren inhaltliche und zeitliche Begrenztheit. Die erste Kontroverse betrifft Luxemburgs Kritik an »Was tun?« aus dem Jahr 1904. Sie warf Lenin damals »Ultrazentralismus« vor,. DseKritik wird was bis heute gerne zitiert wird. Jedoch nehmen die wenigsten wahr, dass Luxemburg schon 1905 ihre Bedenken beseitigt sah. Plener kann zudem anhand vieler zeitgenössischer Reden und Briefe aufzeigen, dass Lenin bereits mit »Was tun?« auf eine Bewegungspartei abzielte, allerdings unter den schwierigen Bedingungen der Illegalität des russischen Zarenreichs. Ein allgemeingültiges Parteimodell zu schaffen, sei nie sein Anliegen gewesen. »Das Postulat von der ›Parteilehre Lenins‹ war und bleibt die eigennützige, zur Doktrin erhobene Konstruktion Stalins nach Lenins Tod mit schlimmen Folgen für die kommunistische Bewegung des 20. Jahrhunderts«, betont Plener. So wurde in der Zeit des Stalinismus die Behauptung kanonisiert, Lenin habe mit »Was tun?« die Grundlagen für die »Partei neuen Typus« geschaffen. Während viele heutige Kritiker Lenins dies ebenfalls gerne als seine Intention ausgeben, bleibt Ulla Plener beim tatsächlichen Wortlaut. Sie verweist darauf, dass Lenin die Formulierung »Partei neuen Typus« überhaupt nur einmal verwandt habe und zwar 1922 im Sinne einer Bewegungspartei. Bei Plener stoßen wir auf einen sehr flexibel agierenden Lenin. Die Revolution von 1905 schuf bessere Bedingungen für die politische Arbeit. Daher setzte er sich für die volle
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Lesen, Hören, Sehen Öffnung und Umstrukturierung der Partei ein: »Ruft alle sozialdemokratischen Arbeiter zu euch, reiht sie zu hunderten und tausenden in die Parteiorganisationen ein.« Nach der Revolution von 1917 bekräftigte Lenin, dass die Partei »Organe der Kritik« brauche, um ihre Fehler kollektiv und ehrlich auszuwerten. 1921 wandte sich Lenin gegen die internationale Verbreitung von »Was tun?«. Zumindest brauche es Anmerkungen eines gut informierten Genossen, damit es nicht zu »falschen Anwendungen« komme. Eine Aussage des Revolutionärs, die bisher wenig beachtet worden ist. Pleners kompakte Einführung von 99 Seiten kann keinesfalls auf die gesamte Organisationsdebatte innerhalb der kommunistischen Bewegung eingehen. Der Grunddissens auch nach 1905 bestand darin, ob sich revolutionäre Arbeiter in einer Partei mit reformistischen Arbeitern organisieren sollten (Luxemburg), oder ob sie ihre eigene Partei haben und dann in Bündnissen mit allen anderen zusammenarbeiten (Lenin). Der Konflikt hielt bis zur Gründung der KPD (1918/19) an. Hier müsste man an anderer Stelle weiterlesen, aufbauend auf Plener, die das Terrain für uns übersichtlicher macht und stalinistische Verfälschungen sowohl des »Leninismus« als auch des »Luxemburgismus« berichtigt. Die zweite Kontroverse betrifft die Politik der Bolschewiki (der Partei Lenins) im ersten Jahr nach der Oktoberrevolution 1917. Luxemburg hatte dazu im Gefängnis mit mangelhaften Informationen eine Kritik geschrieben, sie aber nicht veröffentlicht. Das geschah erst nach ihrem Tod. Ulla Plener streicht heraus, dass alle Lenin-Kritiker den Grundtenor der Broschüre, nämlich die volle Solidarität mit der Russischen Revolution, übersehen. »sZudem führt sie zwei Belege dafür an, dass Luxemburg ihre Position änderte, nachdem sie durch die Novemberrevolution wieder in Freiheit gekommen
war. Zum einen existiert ein Bericht Clara Zetkins, wonach Luxemburg eine längere Abhandlung statt einer Broschüre plante. Zum anderen wollte Luxemburg beim Gründungsparteitag der KPD einen Redebeitrag zur Russischen Revolution und zu Lenin halten. Aufgrund einer Änderung der Tagesordnung und der Ermordung Luxemburgs einige Wochen später ist uns ihre wirkliche Meinung leider nicht bekannt. Plener zeichnet ebenfalls ein anderes Bild von Lenin als der Mainstream, wenn es um die »Diktatur des Proletariats« geht, was man heute wohl als »Arbeitermacht« bezeichnen würde. Folgt man ihr, so wollte er sowohl vor als auch nach der Revolution unter den Arbeitern und Bauern das Bewusstsein verbreiten, dass sie mit ihrer Selbstorganisation die Macht übernehmen können und sollen. »Die Demokratie muss sofort aufgebaut werden, von unten her, durch die Initiative der Massen selber, durch ihre aktive Teilnahme am gesamten staatlichen Leben, ohne ›Überwachung‹ von oben (...) das ist die Gewähr für eine Freiheit, die keine Zaren, keine wackeren Generale, keine Kapitalisten mehr zurücknehmen können.« Plener beschreibt seine immense Tätigkeit als aufklärender Aktivist: »Er sprach, solange er dazu physisch in der Lage war, 1917–1922 vor Eisenbahnern, vor Bergbau-, Metall-, Textil- u.a. Arbeitern, vor Bauern, in der Bildung Tätigen, auch auf Parteilosenkonferenzen u.a.m.« An seine Partei appellierte er, dass man, um führen zu können, Verbindungen zur gesamten Bevölkerung brauche und daher auch Bündnisse mit Nichtkommunisten eingehen müsse. Doch die Probleme des isolierten, rückständigen Russlands waren nach drei Jahren Bürgerkrieg zu groß. Lenin bemängelte, dass ein zu niedriges kulturelles Niveau der weniger bewussten Werktätigen dazu führe, dass sie sich nicht an den Arbeiterräten beteiligten. Er war der Erste, der
ihrer Arbeit besteht darin, dass 1920 vor der aufkommenden sie nicht nur die ausgetretenen Bürokratie und der Rückkehr Pfade der bekannten Schriften der alten zaristischen Beamten Lenins geht. Während die meiswarnte. Seine Lösung für dieses ten Kritiker ihn nur indirekt oder Problem war jedoch nicht die mit den Worten Luxemburgs alleinige Parteiherrschaft – im wiedergeben, nutzt Plener ihre Gegenteil: »Es gilt den Kommuumfassende Kenntnis seiner nisten zu helfen, denn die Lasten Werke, um ähnliche Formulieübersteigen ihre Kräfte. (...) Die rungen der beiden in weiteren breiten Massen der Parteilosen Texten und Reden zu sammeln. müssen alle StaatsangelegenheiSo entsteht ein Bild von Lenins ten kontrollieren und es lernen, Wirken, das dem Rosa Luxemselber zu regieren.« burgs in vielem nahe steht, und Dies gelang nicht. Lenin starb einiges auch konsequenter und Anfang 1924, und im wirtschaftgenauer zu Ende gedacht hat. lich rückständigen und internatiAuf Pleners Studie folgt noch onal isolierten Russland verloren ein 175 Seiten langer Anhang die Arbeiterräte zunehmend mit Originaltexten vor allem von an Einfluss, bis sich schließlich Lenin. Auf diese stützt Plener Ende der 1920er Jahre die staihre Argumentation. Zudem linistische Bürokratie als neue geben sie die Möglichkeit, sich herrschende Klasse durchgesetzt ein eigenes Bild zu machen. hatte. Dieses Buch liefert wichtige Die Erklärungen Pleners sind ErkenntnisseAnregungen für an diesem Punkt leider nicht den Aufbau einer neuen Linken zufriedenstellend. Meines Erachin Deutschland. Die Lektüre ist tens wäre es hier hilfreich geweein großer Gewinn für jeden, der sen, die Theorien Leo Trotzkis sich mit dem Wechselverhältnis mit einzubeziehen. ,Aber eine von Organisation und Bewegung Analyse des Stalinismus ist auch beschäftigt – und für jeden, der nicht die Hauptaufgabe des daran mitwirken möchte, dass Buchs. DIE LINKE eine BewegungsparDer britische Marxist Tony tei wird. Cliff sagte gerne, durch die TheWin Windisch orien großer Revolutionäre würden wir auf den Schultern von Anzeige Giganten stehen. Von dort Beiträge zu aus könnten wir sozialistischer Politik weiter sehen. Beiträge zu sozialistischer Politik Genau darin liegt der außergewöhnliche Gebrauchswert Staat Staatsinterventionismus, und Krise Finanzmarktkrise, Green New Deal; Staaten in Afrika; dieser Studie. Finanzmarktkrise, Staatsinterventionismus, Geschlechtergerechtigkeit; Staatsleitbilder und Green New Diskurs; Deal; Staaten in Afrika; Ulla Plener marktliberaler Finanzund Steuerpolitik; Geschlechtergerechtigkeit; Staatsleitbilder und Kritische Arbeitssoziologie; Post-Neoliberalismus; lässt uns einen marktliberaler Diskurs; Finanz- und Steuerpolitik; Deglobalisierung – Strategie von unten; Kritische Arbeitssoziologie; Post-Neoliberalismus; Blick über die Arbeitnehmer/innenrechte in Europa Deglobalisierung – Strategie von unten; Arbeitnehmer/innenrechte in Europa Schulter zweier E. Altvater, H. Melber, B. Sauer, H.-J. Bieling, E. Altvater, H. Melber, B. Sauer, H.-J. Bieling, D. Lampart, W. Vontobel, J. Wissel, K. Dörre, Giganten des D. Lampart, W. Vontobel, J. Wissel, K. Dörre, U. Brand, H. Schäppi, P. P. Rechsteiner U. Brand, H. Schäppi, Rechsteiner revolutionären Marxismus werDiskussion Diskussion fen und räumt M. Vester: Wirtschaftlicher Pfadwechsel M. Vester: Wirtschaftlicher Pfadwechsel P. Oehlke: Soziale Demokratie und Verfassungspolitik zugleich mit P. Oehlke: SozialePost-patriarchale Demokratie undZivilisation Verfassungspolitik C. v. Werlhof: C. v.W.Werlhof: Post-patriarchale Zivilisation Völker: André Gorz’ radikales Vermächtnis Irrtümern und W. Völker: André Gorz’ radikales Vermächtnis Verfälschungen Seiten,/ X 16.– (Abo. X 27.–) Marginalien /208 Rezensionen Zeitschriftenschau der letzten 85 zu beziehen im Buchhandel oder bei Marginalien / Rezensionen / Zeitschriftenschau WIDERSPRUCH, Postfach, CH-8031 Zürich Jahre auf. Die Tel./Fax 0041 44 273 03 02 29. Jg./2. Halbjahr 2009 Fr. 25.– / C 16.– Besonderheit vertrieb@widerspruch.ch www.widerspruch.ch
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