marx21 No 25 / Das komplette Heft als PDF

Page 1

marx 21

Nr. 25 | April – Juni 2012 3,50 € | ISSN 1865-2557 www.marx21.de

MAGAZIN FÜR INTERNATIONALEN SOZIALISMUS

Gewerkschaften Wie umgehen mit der Krise? Piratenpartei Die Stunde

der Außenseiter

Sex & Revolution Die Freiheit

der Liebe in der Weimarer Republik

30 Jahre »The Message«

Tariq Ali

schätzt die aktuelle Lage im Nahen Osten ein

Dietmar Dath & Barbara Kirchner

über die beste aller möglichen Welten

Klaus Kordon

erklärt, was ein spannendes Jugendbuch ausmacht

Die Geburtsstunde des Hip Hop

Fußball-EM & Nationalismus Nicht in meinem Namen

D N I S R I W ! OCCUPY . N E H C E I R ALLE G – T A T K I D R A P S M U Z NEIN JA ZUR REBELLION



Der Inselstaat im Südpazifik erlebt momentan die größten Streiks seit Jahren. Auf immer mehr Branchen weiten sich die Arbeitskämpfe aus. Mittlerweile streiken im ganzen Land Tausende Beschäftigte der Pflege- und Lebensmittelindustrie. Sie fordern deutliche Lohnerhöhungen. Nirgends wird so schlecht bezahlt, wie hier. »In den Streik zu treten war eine schwere Entscheidung. Viele der Beschäftigten können sich einen Lohnausfall nicht leisten, da sie ohnehin schon an der Armutsgrenze leben«, beschreibt eine Sprecherin der Krankenschwesterngewerkschaft »New Zealand Nurses Union« die Lage der Streikenden. »Aber nach neun Monaten gescheiterter Verhandlungen war klar: Es muss etwas geschehen.« Auch der größte Hafen des Landes in Auckland steht seit Wochen still. Die neuseeländische Exportindustrie beklagt bereits einen millionenschweren Schaden.

Liebe Leserinnen und Leser,

i

n der letzten Ausgabe hatten wir euch herzlich zu unserem »Marx is’ muss«-Kongress an Himmelfahrt eingeladen. Doch daraus wird nichts – und das ist auch gut so. Denn Himmelfahrt werden wir (und wir hoffen: ihr auch) gemeinsam mit Tausenden Aktivisten in Frankfurt am Main gegen Bankenmacht und EU-Spardiktat demonstrieren. Die Aktionen des Bündnisses »Bloccupy Frankfurt« starten am 16. Mai, der Höhepunkt ist eine große Demonstration am 19. Mai. Die Proteste sollen auch ein deutliches Signal der Solidarität nach Griechenland senden. Da machen wir gerne mit. Deshalb haben wir diesmal ein Wendecover gestaltet – einmal auf Deutsch und einmal auf Griechisch. Der Frage, wie die Menschen dort die Krise erleben, gehen wir in einem unserer Schwerpunkte nach. Den Kongress haben wir verschoben. Er wird nun vom 7. bis zum 10. Juni stattfinden. Die Terminänderung haben wir genutzt, um auch das Programm noch einmal zu überarbeiten: Es wird noch mehr Veranstaltungen geben, noch mehr unterschiedliche Themenblöcke und auch noch mehr Gastreferenten. Weitere Informationen gibt es im Internet unter www.marxismuss.de. marx21-Leser haben übrigens die Chance, kostenlos an »Marx is’ muss« teilzunehmen. Wir verlosen nämlich drei mal zwei Freikarten. Um an der Verlosung teilzunehmen, müsst ihr nichts weiteres tun, als uns Verbesserungsvorschläge und Anregungen zum Heft oder einen Leserbrief zu schicken (E-Mail- und Postadresse siehe unten). Einsendeschluss ist der 14. Mai. Wir haben noch weitere Preise im Angebot. Unser Redakteur Yaak Pabst traf sich zum Gespräch mit dem Kinder- und Jugendbuchautor Klaus Kordon – und brachte je drei Exemplare von dessen Büchern »Die roten Matrosen« und »Krokodil im Nacken« mit. Auch sie gehen in die Verlosung. Das Interview gibt’s auf Seite 80. Noch eine gute Nachricht: Die marx21-Redaktion wird endlich weiblicher. Mit unseren neuen Redakteurinnen Carla Assmann und Carolin Hasenpusch erhalten wir gleich doppelte Verstärkung. Carolin gibt ihren Einstand mit einem Interview, das sie anlässlich des Weltwasserforums in Marseille mit der türkischen Aktivistin Akgün İlhan führte (Seite 54). Wie Carla uns unterstützt, könnt ihr auf Seite 6 in der Rubrik »Betriebsversammlung« nachlesen. Auch der Kommentar »Wir sind alle Griechen« auf Seite 25 stammt von ihr. Abschließend noch ein Dankeschön an diejenigen Leserinnen und Leser, die auf unseren Spendenaufruf im letzten Heft reagiert haben. Daraufhin sind 2445 Euro auf unserem Konto eingegangen. Nun brauchen wir nur noch 4350 Euro, um das Ziel von 10.000 Euro zu erreichen. Spende doch auch du – jeder Cent hilft. Mehr Infos auf Seite 103. Die nächste Ausgabe wird übrigens aufgrund des verschobenen »Marx is’ muss« erst im Juli erscheinen. Eure Redaktion

Fragen? Anregungen? Kritik? Lobhudelei? Wir freuen uns auf deine Post. Redaktionsadresse Redaktion marx21, PF 44 03 46, 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de, Telefon: 030 / 89 56 25 10

EDITORIAL

© Simon Oosterman / flickr.com / CC BY- ND

Neuseeland

3


Europa: Die Stunde der Außenseiter

Syrien: »Es gibt kein Zurück mehr«

08

11 20

Titelthema: Griechenland

Aktuelle Analyse

Titelthema: griechenland

Schwerpunkt: Gewerkschaften in der Krise

08

Europa: Die Stunde der Außenseiter Von Lucia Schnell

21

Die Gesichter des Widerstands Porträts griechischer Aktivisten

33 Schleckerpleite: »Dann schmeißen wir den Laden selbst« Von Olaf Klenke

11

Syrien: »Es gibt kein Zurück mehr« Von Frank Renken

25

Wir sind alle Griechen Kommentar von Carla Assmann

14 NRW: Wandel im Revier Von Arno Klönne

26 Geschichte: Immer wieder aufgestanden Von Stefan Bornost

Unsere Meinung

30

Filmtipp: »Debtocracy« Von Martin Haller

18 Grass-Gedicht: Eine unfaire Kritik Kommentar von Manfred Ecker

36 Transfergesellschaften: Die Abschieber Von Jürgen Ehlers 39

Jeder Kampf ist ein Gewinn Kommentar von Jürgen Ehlers

40

Arbeiterklasse: Totgesagte leben länger Interview mit Werner Seppmann

Bookwatch 19

Fußball-EM: Gegen den Strom Kommentar von Marcel Bois

Keinen Fußbreit 4

neu auf marx21.de

Nazis mobilisieren am 1. Mai nach Bonn. marx21.de sprach mit antifaschistischen Aktivisten über die Lehren der erfolgreichen Proteste in Dresden. Ein Blick lohnt sich: www.marx21.de

44

Die Krise im Fokus Von Thomas Walter


88

Geschichte: Die Freiheit der Liebe

68 72

Internationales

Geschichte

50

»Selbst von ihren Marionettenregimes werden die USA mittlerweile kritisiert« Interview mit Tariq Ali

68

54

»Die Privatisierung der Wasserversorgung hat katastrophale Folgen« Interview mit Akgün İlhan

Kultur

Grandmaster Flash & the Furious Five »The Message«

Fußball-EM & Nationalismus: Nicht in meinem Naman

Sex & Revolution: Die Freiheit der Liebe in der Weimarer Republik Von Colin Wilson

88 Die Geschichte hinter dem Song: Grandmaster Flash & the Furious Five »The Message« Von Yaak Pabst Rubriken

Fußball-EM: Nicht in meinem Namen Von Nils Böhlke

76

Die beste aller möglichen Welten Von Dietmar Dath und Barbara Kirchner

80

»Ich möchte Geschichte lebendig werden lassen« Interview mit Klaus Kordon

85

Jakob Moneta: Brot und Rosen Nachruf von Christoph Jünke

Netzwerk marx21 60

Serie: Was will marx21 (11) Wie kann direkte Demokratie organisiert werden?

64

»Theorie ist kein geistiger Luxus« Interview mit Nicole Gohlke und Volkhard Mosler

03 Editorial 06 Impressum 06 Betriebsversammlung 07 Leserbriefe 48 Weltweiter Widerstand 58 Neues aus der LINKEN 63 Was macht das marx21-Netzwerk? 90 Review 99 Quergelesen 100 Preview INHALT

72

5


marx21 – Magazin für internationalen Sozialismus 6. Jahrgang Nr. 25, April - Juni 2012 ISSN 1865-2557 www.marx21.de

I

hr wolltet schon immer mal wissen, wer eigentlich dieses Magazin macht? An dieser Stelle präsentieren wir euch die Köpfe hinter marx21.

BETRIEBSVERSAMMLUNG

Herausgeber m21 – Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V. Redaktion Carla Assmann, Marcel Bois, Stefan Bornost (V.i.S.d.P.), Martin Haller, Carolin Hasenpusch, Yaak Pabst Ständige Mitarbeit Natalie Dreibus, Lisa Hofmann, Tobias Paul (Neues aus der Linken), Michael Ferschke, Veronika Hilmer (Was will marx21), David Jeikowski (Weltweiter Widerstand / CD des Monats), Win Windisch (Quergelesen) Mitarbeit an dieser Ausgabe Michael Bruns, Christine Buchholz, Nicole Gohlke, Stefanie Graf, Werner Halbauer, Lisa Hofmann, Brian Janßen, Sven Kühn, Volkhard Mosler, Rosemarie Nünning, David Paenson, Marijam Sariaslani, Lucia Schnell, Dirk Spöri, Oskar Stolz, Ben Stotz, Azhad Tarhan, Christian Vasenthien, Janine Wissler, Luigi Wolf Übersetzungen Rosemarie Nünning Infografiken Karl Baumann Layout Alex Cooper, Yaak Pabst Covergestaltung Yaak Pabst Redaktion Online Frank Eßers, Jan Maas (verantw.), Leon Wagner Aboservice-Team Freek Blauwhof, Phil Butland, Stefan Hanczuch, Renate Heitmann Druck Druckhaus AJSp, Ateities g. 10, LT-08303 Vilnius Abonnement marx21 erscheint fünfmal jährlich. 4 Euro pro Ausgabe (inkl. Porto) Telefon: 030 - 89 56 25 11 Fax: 030 - 56 82 28 84, Mail: abo@marx21.de Bankverbindung GLS Bank | Konto 1119136700 BLZ 430 609 67 Kontoinhaber: m21- Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V. Redaktionsadresse Redaktion marx21, PF 44 03 46, 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de

Die nächste Ausgabe von marx21 erscheint im Juli 2012 (Redaktionsschluss: 20.06.)

Carla Assmann, Redakteurin

I

rgendwie war sie ja schon immer links. Im Alter von acht Jahren malte sie mit ihrem besten Freund Schmähplakate gegen Helmut Kohl. Den Kanzler als grünes Monster, darunter den beliebten Reim: »CDU, blöde Kuh«. Die Plakate haben sie dann in der Nachbarschaft aufgehängt. »Damit wollten wir unseren Beitrag gegen eine zweite Wiederwahl leisten ... Leider vergebens«, erzählt Carla Assmann und lacht. Es ist eine lustige Geschichte, die sie über ihre politische Sozialisation erzählt. Das passt. Denn irgendwie hat Carla immer lustige Geschichten zu erzählen. Wer schon einmal eine ihrer nächtlichen E-Mails gelesen hat, weiß, was gemeint ist. Doch es war nicht nur ihr Humor, der sie für die Mitarbeit bei uns qualifiziert hat. Vielmehr haben wir schon lange jemanden gesucht, der uns beim Redigieren unterstützt. Es ist einer der undankbaren Jobs in einer Redaktion: Autoren davon zu überzeugen, dass man ihre Texte nur deshalb umschreibt und kürzt, weil man möchte, dass möglichst viele Menschen sie lesen. Carla kann das, sie hat das als studentische Hilfskraft an der Uni schon oft gemacht. Seit dem vergangenen Sommer ist Carla Mitglied der LINKEN. Eigentlich fand sie Parteien immer doof. Ende der 1990er Jahre schaute sie sich mal die Berliner PDS an, was sie in ihrer Haltung aber nur bestärkte. Doch »dann hat mich ein Freund mal zum marx21-Forum mitgenommen und da habe ich gesehen, dass es Linke gibt, die für eine Veränderung in der Partei kämpfen wollen. Das hat mich überzeugt.« So einfach ist das manchmal. Und die Geschichte mit den Kohl-Plakaten? »Nun ja, das bleibt vielleicht besser unter uns«, sagt sie. Ist doch selbstverständlich. Die erzählen wir keinem weiter.

Das Nächste Mal: Stefan Hanczuch 6


unter den gegebenen Umständen eine einfache Darstellung, aber vom bürgerlichen Staat haben wir nichts zu erwarten – unabhängig, wer sich Regierung nennt. Die ökonomischen Gesetze verschaffen sich Geltung gegen alles und jeden und das gilt es, immer wieder aufs Neue aufzudecken und zu propagieren. Auch in die, von mir geschätzte, zur Zeit aber noch plan- und theorielos erscheinende Occupy-Bewegung. Christian Plischke, Naunhof/Sachsen

Zur Kuba-Debatte zwischen Edgar Göll und Lucia Schnell (Heft 24) Zum Artikel »Die Fesselung der Giganten« von Stefan Bornost (Heft 23) Zuerst möchte sagen, dass ich eure Arbeit sehr schätze und die sachliche, kompetente und kritische Art und Weise der Berichterstattung sehr gut finde. Macht bitte unbedingt weiter so. Und doch sehe ich mich gezwungen, ein paar kritische Worte zu äußern. Es geht um den Artikel »Die Fesselung der Giganten«, der meines Erachtens einer vom dialektischen Materialismus geprägten Weltanschauung und Geschichtsauffassung entgegensteht. Ich bin der Überzeugung, dass wir als Linke vorurteilsfrei an diesem Weltbild festhalten und alle Erscheinungen damit erklären sollten – zumal der Begründer und Namensgeber dieser Methode auch der Namensgeber eurer Zeitschrift ist. Ich sehe mich auch in den meisten eurer Beiträge in dieser Einstellung bestärkt und freue mich darüber. Oben genannter Artikel fällt da aber leider heraus. Dort wird, wie so oft in der LINKEN (bei bürgerlichen Kräften sowieso), der »gute Staat« dem »bösen Finanzkapital« gegenübergestellt. Dies entspricht der Ansicht der alten bürgerlichen Philosophen der Aufklärungszeit, die der aus egoistischen Individuen bestehenden Gesellschaft den ordnenden und ausgleichenden Staat gegenüberstellten. Marx und Engels zeigten aber, dass der Staat nichts ist als die äußere Organisationsform der herrschenden Klasse, und dass Entscheidungen »hinter dem Rücken« von ökonomischen Naturgesetzen gelenkt werden. Die Frage »Warum ist der Staat untätig gewesen?« lässt sich daher keineswegs mit einem GläubigerSchuldner-Verhältnis beantworten. Zumal sie so ganz falsch gestellt wurde, denn untätig war der Staat ja nicht. Das wurde im Heft mehrfach richtig analysiert. Es ging und geht immer darum, die Produktion und Realisation des Gesamtmehrwerts sicherzustellen, die Profitrate auf Niveau zu halten und Konkurrenz zu zerstören. Das ist

Leider ist das in der Antwort von Lucia Schnell sichtbar werdende Sektierertum typisch für die europäische Linke. Es kann den neoliberalen und neokolonialen Verfechtern unseres Systems nur recht sein, nach der Devise: »Teile und herrsche«. Angesichts des komplexen Sachverhalts sei der von Schnell verwendete verharmlosende Begriff »Embargo« erwähnt. Die Kuba von den USA willkürlich und widerrechtlich auferlegte Wirtschafts-, Handels- und Finanzblockade – die weltweit Firmen, deren Handelsschiffe Kuba angelaufen haben, ein halbes Jahr lang verbieten, die USA anzulaufen, die Firmen blockiert, deren Produkte beispielsweise kubanisches Nickel oder kubanischen Zucker enthalten – bedeutet für die Insel eine viel weitreichendere Beeinträchtigung seiner Entwicklungsmöglichkeiten als Lucia Schnell es wahrhaben will. Zusätzlich muss Kuba bis heute vor Terroranschlägen seitens der Exilkubaner in Habachtstellung sein, die allein bis 1999 3.478 Tote und 2.099 Schwerstverletzte zur Folge hatten (ganz zu schweigen von den wirtschaftlichen Schäden durch Sabotageakte). Außerdem muss es den Subversionsbemühungen seitens der USA mit sogenannten Demokratisierungsprogrammen und Diffamierungskampagnen der Mainstreammedien widerstehen. Kuba braucht natürlich ausländische Investoren, aber wenn es diese einlädt, dann nur auf der »Joint-Venture-Basis«, das heißt: Kuba behält mindestens 51 Prozent Eigenanteil, und es behält sich die Personalentscheidungen innerhalb der jeweiligen Einrichtungen vor. Auch sollte man sich gründlich mit seinem partizipativen Wahlrecht befassen, bevor man Kubas Führung kritisiert, die der kubanischen Bevölkerung mehr Mitspracherecht einräumt, als unsere »repräsentative Demokratie«. Und zuletzt sei der Respekt vor Kubas Geschichte und Kultur angemahnt, sowie es

ihn auch anderen Ländern entgegenbringt, auch wenn es deren Staatsführung nicht übernehmen möchte, wie beispielsweise die koreanische. Josie Michel-Brüning und Dirk Brüning, Jülich

Zur Debatte über das NPD-Verbot und zum Leserbrief von Phil Butland und Lisa Hofmann (Heft 24) Ich hege keine Illusionen darin, dass der bürgerliche Staat seine Blindheit auf dem rechten Auge grundsätzlich ablegt. Die Bedrohung für Profite und Kapitalismus geht von links aus. Die Forderung nach dem NPD-Verbot ist deshalb aber nicht falsch. DIE LINKE und auch marx21 fordern das Verbot von Massenentlassungen und Leiharbeit. Wir sind also nicht per se gegen Verbotsforderungen. Maßnahmen gegen Nazis sind wie Sozialreformen durch Druck von Bewegungen erringbar. Voraussetzung für ein erfolgreiches NPDVerbotsverfahren wäre das Abschalten der V-Leute. Weil dies nicht geschieht, kann mit der Forderung nach dem NPD-Verbot auf das wahre Verhältnis von Staat und Rechten hingewiesen werden. Jede Aktivität gegen Nazis, von No-NPD-Unterschriftenlisten bis zu Blockaden, ist legitim. Antifaschismus braucht breite Unterstützung und Bündnisse. Die Verbotsforderung delegitimiert die NPD. Sich dagegen zu stellen, würde marx21 in ein völlig falsches Licht rücken. Betätigungseinschränkungen würde ich begrüßen. Aus Angst vor einem LINKE-Verbot kein NPD-Verbot zu fordern, ist eine Position der Schwäche. Sie hat als Grundlage, dass wir vor der Totalitarismusdoktrin aus Furcht kapitulieren. Das wäre grundfalsch. Linke treten für Befreiung und gegen Unterdrückung ein. Mit den Feinden der Errungenschaften der bürgerlichen Demokratie sind wir nicht in einen Topf zu werfen. Dies sollten wir offensiv und entschlossen vertreten! Laut den Leitsätzen des Netzwerks marx21 kämpfen wir für die Verteidigung und Erweiterung demokratischer Rechte und Freiheiten. Wir verstehen die Kämpfe gegen Unterdrückung in allen ihren Erscheinungsformen und für vollkommene Gleichberechtigung als Bestandteile des Klassenkampfes um die Abschaffung von Ausbeutung. Michael Bruns, Lippstadt

Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe gekürzt zu veröffentlichen. Zusendungen – bitte mit Absender – an die Redaktionsadresse oder per E-Mail an redaktion@marx21.de

IMPRESSUM | LESERBRIEFE

LeserbriefE

7


AKTUELLE ANALYSE

Die Stunde der Außenseiter Europaweit lassen die etablierten Parteien Federn, neue politische Kräfte wie die Piraten befinden sich im Aufwind. Das hat auch Auswirkungen auf DIE LINKE Von Lucia Schnell ★ ★★

Lucia Schnell ist aktiv in der LINKEN in Berlin und Mitglied des SprecherInnen-Rats der Sozialistischen Linken.

E

rst ungläubiges Staunen, dann grenzenloser Jubel: Die Außenseiter haben es geschafft. Ohne Geld und ohne Parteistrukturen haben sie die Etablierten ausgeknockt. Nein, es ist nicht die Wahlkampfparty der Piratenpartei in Saarbrücken. Wir befinden uns in Bradford. Die nordenglische Industriestadt ist seit Jahrzehnten ein Erbhof der Labour Party. Doch dann kommt George Galloway, Ex-LabourAbgeordneter, Kriegsgegner und Frontmann der kleinen linken Partei RESPECT. Im Wahlkreis Bradford West findet Ende März eine Nachwahl zum Unterhaus, dem britischen Parlament, statt – und Galloway erreicht, so seine eigene Einschätzung, »den sensationellsten Wahlsieg unserer Geschichte«. Es ist in der Tat ein politisches Erdbeben, über das am folgenden Tag die gesamte britische Medienlandschaft debattiert: Er gewinnt den Wahlkreis mit einem Stimmenanteil von 56 Prozent, erzielt also mehr Stimmen als alle anderen Kandidaten zusammen.

Die Existenz der Piraten ist eine Kritik an dem Stil und der Gleichförmigkeit des Politikbetriebs

Paris, Place de la Bastille, am 18. März: Hier steht der Mann, den bei der französischen Präsidentschaftswahl bislang keiner auf dem Zettel hatte: Jean-Luc Mélenchon, ehemaliges Parteimitglied der Sozialisten, jetzt Spitzenkandidat der Front de Gauche, der Linksfront. Er ist sozusagen der französische Oskar Lafontaine. Wie Lafontaine war er Ende der 1990er Jahre Minister einer sozialdemokratisch geführten

8

Regierung, wie Lafontaine brach er mit der Sozialdemokratie und gründete eine Linkspartei, die Parti de Gauche. Mélenchon ist nicht allein auf der Place de la Bastille, sondern hat für seine Massenkundgebung 100.000 Anhänger mitgebracht. Es ist der bisherige Höhepunkt der Wahlkampagne der Front de Gauche. Ihr Kandidat ist der Senkrechtstarter der Präsidentschaftswahl, Mélenchons Umfragewerte sind binnen weniger Wochen von zwei auf fünfzehn Prozent gestiegen. Gegenwärtig liefert er sich mit Marine Le Pen von der rechtsradikalen Front National einen Wettkampf um Platz drei. Spiegel Online beschreibt halb fasziniert, halb angewidert den Charakter von Mélenchons Kampagne: »Sein Publikum ist anders. Die Menschen, die am Dienstagabend vor der Bühne des ›Grand Palais‹ in Lille versammelt sind, haben wenig gemein mit den braven Bürgern von Nicolas Sarkozy oder den biederen Genossen des François Hollande. Hier überwiegen gegerbte Gesichter, gestandene Arbeiter, Studenten und Schüler mit glänzenden Augen. Sie rufen Slogans wie ›Gebt nichts ab‹ oder skandieren schlicht ›Widerstand, Widerstand‹. Die gefühlte Stimmung brodelt vor revolutionärem Elan, als Mélenchon vor 15.000 Fans ans Podium tritt – vor der Halle haben sich weitere 7000 Zuhörer eingefunden.« Eine Umfrage von Ende März zeigt, dass 36 Prozent der Franzosen meinen, Mélenchon führe den besten Wahlkampf – weit vor Sarkozy, Hollande und Le Pen.


© Tobias M. Eckrich / CC BY

Siegreiche Freibeuter. Im Moment sieht es so aus, als ob die Piraten bald auch auf Bundesebene jubeln werden

Saarbrücken ist nicht Bradford und die Piraten sind nicht die »Front de Gauche«. Dennoch gibt es ein verbindendes Element zwischen den politischen Verschiebungen in England, Frankreich und dem kometenhaften Aufstieg der Piraten in Deutschland. Alle drei resultieren aus einer tiefen Unzufriedenheit mit den vorhandenen Parteien. Die Platzhirsche des politischen Systems, Konservative und Sozialdemokratie, haben mit unterschiedlichen Akzenten ähnliche Schlussfolgerungen aus der Wirtschaftskrise gezogen: Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit und strikte Sparpolitik. Die Kosten sollen auf die Beschäftigten, Arbeitslosen, Rentner und Jugendlichen abgewälzt werden. Die Banken, Verursacher der Krise, erfreuen sich hingegen an staatlichen Schutzmaßnahmen und weiter sprudelnden Profiten. Diese Politik hat die schon seit Jahren bestehende Krise der politischen Repräsentanz noch verschärft. In das dadurch geschaffene Vakuum können Kräfte hineinstoßen, die bislang am Rande standen und binnen kürzester Zeit zu unerwarteter Prominenz kommen. Galloway war bis zu seinem Sieg in Bradford, auch durch missglückte Publicity-Stunts wie seinem Fremdschämauftritt beim britischen Prominenten»Big Brother«, ins politische Abseits geraten. Mélen-

chons Kandidatur haben die Medien zunächst unter »linker Spinner« abgebucht und ihn zu Beginn der Kampagne nicht einmal erwähnt. Und die Piraten haben bei der letzten Bundestagswahl gerade einmal zwei Prozent der Stimmen geholt. Dass sie nur drei Jahre später mit den Grünen um den dritten Platz bei den Umfragewerten konkurrieren würden, hat wohl niemand für möglich gehalten – am wenigsten sie selber. Mitgliedern und Anhängern der LINKEN dürfte die Dynamik, die die Piraten jetzt entfalten, bekannt vorkommen. Es ist der gleiche Prozess, der ihre Partei in der Frühphase in zahlreiche westdeutsche Landesparlamente brachte und ihr im Jahr 2009 ein herausragendes Bundestagswahlergebnis von 11,9 Prozent bescherte. DIE LINKE wurde damals als Alternative zu den Etablierten wahrgenommen und gewann als einzige Partei massiv Nichtwählerstimmen. Die Mehrheit erklärte, aus Protest für DIE LINKE gestimmt zu haben, nur eine Minderheit gab an, eine tiefere politische Bindung zu haben. Genau diese Protestwähler verliert die Partei jetzt wieder. Sie gehen entweder gar nicht mehr wählen oder stimmen für die Piraten. Laut ARD-Deutschlandtrend hat von den gegenwärtig 3,3 Millionen potenzieller Piraten-Wähler ein Drittel an der letzten Bundestagswahl gar nicht teilgenommen. Den größten Zuwachs erhält die Partei von der FDP. Rund 600.000 ehemalige Liberalenwähler würden jetzt für die Freibeuter stimmen. Eine halbe Million Stimmen kommt von der LINKEN, 400.000 von

AKTUELLE ANALYSE

Seine Slogans sind »la place au peuple« (»Platz für das Volk«) und »prenez le pouvoir« (»Ergreift die Macht«). Damit klagt er die Aushöhlung der Demokratie durch das dominierende Parteienkartell aus Konservativen und Sozialdemokratie an.

9


der SPD, jeweils etwa 250.000 von Union und Grünen. Das Fazit der Meinungsforscher: »Den Piraten gelingt es, die Unzufriedenen einzusammeln – sowohl jene, die bei der letzten Wahl zu Hause geblieben sind, als auch jene, die von den bisher gewählten Parteien, vor allem der FDP und der Linken, enttäuscht sind.« Zu kurz greifen die Analysen, die den Erfolg der Piraten lediglich mit dem Thema Netzpolitik erklären wollen. So gaben 40 Prozent der Piratenwähler im Saarland an, »soziale Gerechtigkeit« sei ihnen am wichtigsten gewesen, nur 27 Prozent nannten hingegen Netzpolitik. Außerdem gaben 94 Prozent der Piratenwähler an, die Partei sei eine gute Alternative für Nichtwähler. Zudem meinten 84 Prozent, die Piraten seien eine gute Alternative zu den etablierten Parteien. Und 83 Prozent hoffen, dass die Piraten dafür sorgen, die Politik offener und transparenter zu machen. In der Zustimmung für die Piraten drückt sich also ein Protest gegen die etablierten Parteien und den etablierten Politikbetrieb aus – und zwar auf einer sozialen Grundlage, der Wahrnehmung einer sozialen Schieflage der Gesellschaft. Die Piraten drücken eine diffus-linke Proteststimmung aus. Das ist relativ unabhängig davon, welche Positionen sie vertreten. Die sind nämlich oftmals nicht links. Während zum Beispiel im saarländischen Wahlprogramm viele Punkte recht allgemein gehalten sind, bekennt sich die Partei eindeutig zur Schuldenbremse im Grundgesetz. Die wird von den etablierten Parteien genutzt, um massive Sozialkürzungen zu rechtfertigen. Im Piraten-Programm heißt es sogar: »Das Ziel eines ausgeglichenen Haushaltes ohne Neuverschuldung hat für uns unter dem Gesichtspunkt einer nachhaltigen, zukunftsorientierten Wirtschaftspolitik oberste Priorität.« Gelder müssten, argumentieren die Piraten, vor allem in der Verwaltung eingespart werden, um diese effizienter zu organisieren. Das ist nur eine andere Formulierung für Stellenabbau im öffentlichen Dienst. Solche Positionen können im Falle einer Regierungsbeteiligung der Piraten bittere Folgen haben. Und zumindest ein Teil der Partei strebt eine Regierungsbeteiligung an. Ihr Bundesvorsitzender Sebastian Nerz sagte nach der Saarlandwahl: »Wir wollen langfristig Politik in Regierungen gestalten und nicht als Protestpartei beschrieben werden. Das Interesse der anderen Parteien ist groß. Da gibt es intensive Gespräche.« Insgesamt ist die Partei strategisch nicht festgelegt. Überlegungen darüber, ob sie ihre Ziele über das Parlament, durch außerparlamentarische Bewegungen oder die Veränderung des individuellen Verhal-

tens erreichen wollen, stecken noch in den Kinderschuhen. Dabei zielen zahlreiche ihrer Forderungen darauf, die Macht der Konzerne zu brechen. Diese Forderungen sind nur durch große Mobilisierungen durchzusetzen.Neben der politischen Heterogenität ist ein weiteres Problem der Piraten ihre flächendeckende Strukturlosigkeit: Sie sind weitestgehend eine Papier- und Online-Diskutierpartei ohne lokale Gliederungen. Geschäftsführerin Marina Weißband spricht es offen aus: »Wir haben das Geld einer 0,2-Prozent-Partei, Programm und Struktur einer 2-Prozent-Partei – aber an uns werden die Erwartungen einer 12-ProzentPartei gestellt.« Die weitere Entwicklung der Piraten ist also offen. Es ist durchaus denkbar, dass sie aufgrund der zahlreichen ungelösten Widersprüche noch vor der Bundeswahl wieder abstürzen – auch die Grünen konnten ihr Nach-Fukushima-Hoch nicht halten.

DIE LINKE muss deutlich machen, dass Aktivitäten gegen die herrschenden Verhältnisse nach wie vor ihr Kerngeschäft sind

10

Absehbar ist auf jeden Fall, dass SPD und Grüne im kommenden Jahr behaupten werden, dass jede Stimme für die Piraten – und natürlich auch für DIE LINKE – ein mögliches rot-grünes Regierungsbündnis in Gefahr bringe. Da viele Piratenwähler gerne die schwarz-gelbe Koalition beenden wollen, kann diese Kampagne durchaus Druck aufbauen. Doch es ist ebenfalls möglich, dass sich die Piraten langfristig etablieren und mit der LINKEN um diejenigen konkurrieren, die den rot-grünen Heilsversprechungen misstrauen. Eine Herausforderung stellen die Piraten allemal dar. Ihre Existenz ist eine deutliche Kritik an dem Stil und der Gleichförmigkeit des Politikbetriebs, von dem sich auch DIE LINKE zu selten abhebt.Dennoch hat DIE LINKE einige Trümpfe in der Hand, die sie in der Konkurrenz mit den Piraten ausspielen kann: Die Analyse, dass die Gesellschaft zwischen Reich und Arm, zwischen Kapital und Arbeit gespalten ist, und die Tatsache, dass sie Position für die Schwächeren bezieht. Aus einem solchen Klassenstandpunkt folgen dann politische Positionierungen, zum Beispiel zum Mindestlohn und zum Afghanistankrieg. Außerdem benennt DIE LINKE die Ursachen gesellschaftlicher Probleme: Es ist nicht der Machtmissbrauch einzelner Konzerne, sondern der Kapitalismus als Ganzes. Daraus folgt eine Strategie, die auf Gegenmacht setzt, auf Bewegung und Klassenkämpfe. DIE LINKE sollte also daran arbeiten, sich in den kommenden sozialen Protesten zu profilieren. So kann sie deutlich machen, dass Aktivitäten gegen die herrschenden Verhältnisse nach wie vor ihr Kerngeschäft sind. ■


»Es gibt kein Zurück mehr« Die Syrerin Mais Elkrydee war von Anfang an aktiv in der Opposition gegen Assad. Wir trafen uns mit ihr und erfuhren, warum es für sie und viele andere keinen Frieden mit dem Regime geben wird Von frank renken

Ungebrochen: Trotz massiver Repression ist die syrische Bewegung noch auf der Straße. Es herrscht eine Pattsituation zwischen Regimetreuen und -gegnern dabei, als im letzten Jahr die Menschen in Syrien – inspiriert von den Bildern aus Tunesien und Ägypten – auf die Straße gingen. Allerdings hatten sie nicht die Absicht, die volle Konfrontation mit der Regierung zu suchen: »Der Sturz des Regimes von Assad war nicht von Anfang an Forderung der Bewegung. Wir wollten demokratische Reformen und eine Verbesserung der sozialen Lage. Viele Menschen sind arbeitslos, Kinder müssen arbeiten gehen. Die Einkommen sind sehr gering. Die Familie des Präsidenten Assad hat den Reichtum Syriens unter sich aufgeteilt. Wir wollten eine Verbesserung. Doch die Armee schoss auf uns. Da wurde klar: Für Reformen muss das Regime von Grund auf beseitigt werden.« Mit dem Regime meint Mais weit mehr als dessen Galionsfigur Baschar al-Assad. Hinter dem Präsidenten steht ein großer Sicherheitsapparat, der Armee, Poli-

AKTUELLE ANALYSE

Über 8000 Tote hat der Rückschlag des Regimes gegen die Bewegung nach Schätzungen gefordert. Die Stadt Homs, das Zentrum der Aufstandsbewegung, wurde wochenlang von Assads Truppen belagert, ganze Stadtviertel liegen in Schutt und Asche. Doch für Mais ist klar: »Es gibt kein Zurück mehr. Zuviel Blut ist geflossen. Diese Regierung hat keine Legitimität – sie gehört vor Gericht gestellt. Wir wollen Gerechtigkeit.« Die Journalistin aus Damaskus ist auf Einladung der Bundestagsfraktion der LINKEN nach Deutschland gekommen, um über die Situation aufzuklären. Sie gehört dem Koordinierungskomitee für den demokratischen Wandel in Syrien an. Das Koordinierungskomitee sammelt linke Gegner des Regimes. Ihre Prinzipien fasst Mais so zusammen: »Nein zur Gewalt des Regimes, nein zur Einmischung von außen, nein zur Gewalt zwischen den Religionsgruppen.« Mais ist eine Aktivistin der ersten Stunde. Schon seit 2009 ist sie gegen die Politik von Assad aktiv. Im Jahr 2010 verhängte die Regierung ein Ausreiseverbot über sie. Anlass war ihre Arbeit für eine Nichtregierungsorganisation. Selbstverständlich war sie auch

© syriana2011 /flickr.com / CC BY

E

s war Eugen Leviné, Anführer der Münchner Räterepublik, der kurz vor seiner Erschießung 1919 sagte: »Wir Kommunisten sind alle Tote auf Urlaub.« Dieser Satz kommt einem unweigerlich in Erinnerung, wenn Mais Elkrydee von den Zuständen in ihrer Heimat erzählt. Ihre Heimat, das ist Syrien, gezeichnet von einem Jahr Bürgerkrieg. Mais beschreibt, wie junge Leute in weißen Gewändern auf die Demonstrationen gegen das Regime Assads gehen – Totenkleider, wie sie den Verstorbenen bei der Bestattung angezogen werden. Die Aussage ist klar: Wir wissen, dass der Aufstand uns das Leben kosten kann. Wir führen ihn trotzdem fort.

11


zei und Geheimdienste steuert. Die führenden Köpfe dieses Apparats dienten schon unter Assads Vater Hafiz. Er war es, der die heute praktizierte Politik der eisernen Faust etablierte, auch als Antwort auf eine Tradition von sozialen Kämpfen und linker Bewegung in Syrien. Die 1950er und 1960er Jahre waren in Syrien eine Periode der Instabilität und kontinuierlicher Putsche. In der Arbeiterklasse wuchs die Anhängerschaft der kommunistischen Partei enorm. In ihren Reihen fanden sich Muslime, Christen, Araber und Kurden. Im Jahr 1970 kam Hafiz al-Assad an die Macht. Er gehörte dem rechten Flügel der sich sozialistisch nennenden Baath-Partei an. Doch die SozialismusAuslegung der Baath hatte mit linker Politik nichts, mit autoritärer Diktatur hingegen sehr viel zu tun. Assad konzentrierte die politische, militärische und ökonomische Macht in der Partei, deren Führung aus einem kleinen Zirkel rund um seine Familie bestand. Ab 2002 liberalisierte Baschar al-Assad die Wirtschaft Syriens. Seine Familie profitierte am meisten von den Privatisierungen des Staatseigentums. Assads Kousin Rami Makhlouf ist heute Eigentümer von Syriatel, dem größten Telekommunikationsunternehmen des Landes. Makhlouf hat seine Finger auch in anderen lukrativen Sektoren der Wirtschaft: Immobilien, Transport, Banken, Versicherungen, Bau und Tourismus. Er ist der Vizepräsident des Landes und der mächtige Mann der Scham-Holding, die 2007 mit einem Kapital von 360 Millionen US-Dollar und 73 Investoren gegründet wurde. Baschar al-Assad erbte von seinem Vater auch eine politisch gleichgeschaltete Landschaft. Den Kommunisten und anderen politischen Kräften stellte Hafiz al-Assad in den 1970er Jahren ein Ultimatum: Entweder sie reihen sich in seine Regierungsfront ein oder sie werden verfolgt. Viele Kommunisten beugten sich Assad und die Kommunistische Partei wurde 1972 Teil von der Baath gesteuerten Nationalen Front – seitdem ist Syrien ein Land ohne eine relevante linke Opposition. Blutiger Höhepunkt von Hafiz al-Assads Gewaltherrschaft war das Massaker von Hama. Im Jahr 1982 ließ er die Stadt nach einem Aufstand der Muslimbrüder abriegeln und ausbomben. Mindestens 10.000 Menschen wurden von den syrischen Truppen ermordet, Tausende verhaftet – viele von ihnen sitzen 30 Jahre später immer noch im Gefängnis. »Hama prägt ihr Denken bis heute, sie denken, wenn sie nur hart genug zuschlagen, dann können sie die Bewegung brechen«, sagt Mais über die Regierung in Damaskus.

alistisch halten, weil sie sich gegen die Regierungen der USA und Israels stellt. Sie schüttelt den Kopf: »Der Antiimperialismus des Regimes ist eine große Lüge, die die syrische Bevölkerung schon lange durchschaut hat.« Tatsächlich ist das Verhältnis des Regimes zum Westen und zu Israel komplexer, als es die engen Beziehungen zu Russland und Iran vermuten lassen. Seit 1967 besetzt Israel die strategisch wichtigen und wasserreichen syrischen Golanhöhen. Der Versuch, die Region 1973 in einem Krieg zurückzuerobern, scheiterte an der massiven militärischen Unterstützung Israels durch die USA. Seitdem ist der syrischen Regierung klar, dass eine Rückgabe der Golanhöhen nur mittels einer Verständigung mit den USA möglich ist. So marschierte Syrien im Jahr 1976 im Libanon ein, um die rechtsgerichteten Falangisten in ihrem Kampf gegen die PLO und die libanesische Linke zu unterstützen. Syrische Truppen verübten im gleichen Jahr ein Massaker im palästinensischen Flüchtlingslager von Tel al-Zaatar, bei dem bis zu 3000 Menschen starben. Die USA und Israel gaben dem Einmarsch grünes Licht – als Büttel gegen linksgerichtete Kräfte war das syrische Regime dem Westen durchaus recht. Den Einmarsch der USA in Kuwait gegen Saddam Hussein unterstützte Syrien 1991 mit Truppen. Als Gegenleistung durfte Syrien seine Hegemonie im Libanon für die nächsten 15 Jahre ausbauen. Auch während des »Kriegs gegen den Terror« fungierte das Land als Verhör- und Folterzentrum für die CIA und seine Verbündeten. So befragten auch deutsche Ermittler den Islamisten Mohammed Haydar Zammar in einem syrischen Foltergefängnis. Die enge Kooperation in der Vergangenheit hält westliche Politiker nicht davon ab, heute eine Intervention nach libyschem Vorbild zu fordern. Das Thema ist in der syrischen Opposition heiß umstritten, Mais äußert sich deshalb vorsichtig: »Die Menschen in Syrien sind verzweifelt. Das Regime hält ihnen das Messer an die Kehle. Assad provoziert die Debatte über eine Intervention, weil er die Revolution blutig unterdrückt. Ich denke aber, eine militärische Intervention ist keine Lösung.«

Den Krieg der USA gegen Saddam Hussein im Jahr 1991 unterstützte Syrien mit Truppen

★ ★★

frank renken arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundestag zum Thema internationale Politik.

12

Wir sprechen Mais darauf an, dass einige Linke in Deutschland die Regierung Assads für antiimperi-

Wir wollen wissen, wie sich die syrische Bewegung organisiert. Mais geht nicht ins Detail, schließlich liest auch der syrische Sicherheitsapparat mit. Im Gespräch wird aber klar, dass die Bewegung aufgrund der intensiven Repression andere Formen annimmt als zum Beispiel in Ägypten. Dort marschierten die Demonstranten auf dem größten Platz in Kairo auf – in Syrien undenkbar. »Die Menschen haben Angst vor


als linke Frau konnte sie sich im vergleichsweise liberalen Damaskus frei bewegen, sich beruflich und politisch betätigen Anders sieht es in den traditionell geprägten ländlichen Gebieten aus. »Hier hat sich vieles verändert. Vorher war es unüblich, dass Frauen öffentlich eine Meinung vertreten, jetzt sind sie mit den Männern gemeinsam auf der Straße. Die Bewegung hat hier die alten Rollenverteilungen ins Rutschen gebracht. Vieles, was die Frauen seit Jahren theoretisch fordern, nämlich Beteiligung und Gleichberechtigung, wurde jetzt praktisch umgesetzt.« Das Gespräch nähert sich dem Ende, doch eines will Mais noch einmal unterstreichen: »Was in Syrien passiert, ist eine Katastrophe, ein Blutbad. Und die Verantwortung dafür trägt allein Baschar al-Assad. Eine Lösung mit Assad an der Spitze des syrischen Staates wird es nicht geben.« ■

Im Schraubstock der Bewegung: Bei Amtsantritt von Baschar al-Assad im Jahr 2000 erhofften sich viele Syrer soziale und politische Reformen. Mittlerweile hat die Regierung massiv an Legitimität verloren

AKTUELLE ANALYSE

den Panzern und Heckenschützen. Sie gehen nicht dahin, wo die Panzer sind.« Verwackelte YoutubeVideos zeigen Demonstrationen in engen Seitenstraßen, unzugänglich für die schweren Geräte der Streitkräfte. Ein wichtiges Element der Organisation des arabischen Frühlings findet sich jedoch auch in Syrien: das Internet spielt eine zentrale Rolle als Kommunikationsmedium. Mais ist von Haus aus Journalistin, seit Beginn der Revolution schreibt sie nicht mehr in öffentlichen Printmedien, sondern in den Onlinemedien der Bewegung: »Ich schreibe auf Websites, die über die syrische Revolution berichten. Dazu habe ich eine Facebook-Seite mit 4200 Abonnenten – zumeist Jugendliche.« Hat sich für sie als Frau durch die Bewegung vieles verändert? Nein, meint sie, für sie persönlich nicht –

13


AKTUELLE ANALYSE

Wandel im Revier 14

© Holger Hill / flickr.com / CC BY- ND

Von Arno Klönne

Im bevölkerungsreichsten deutschen Bundesland stehen Wahlen an. Sie gelten auch als Weichenstellung für die Bundespolitik. Nordrhein-Westfalen – mit welchen politischen Kulturen und sozialen Problemen hat es DIE LINKE hier zu tun?


D

ie Minderheitsregierung von SPD und Grünen in Nordrhein-Westfalen hat sich verabschiedet, der Landtag wird neu gewählt. Im Wahlkampf wird die Verschuldung der öffentlichen Haushalte in den Mittelpunkt gerückt. So forderte der sozialdemokratische Oberbürgermeister von Dortmund einen bundesweiten »Solibeitrag« für die verarmten Städte im »Revier«, dem nach wie vor größten industriellen Ballungsraum Europas.

nen also sicher sein: Die Stimme ist weg und was damit geschieht, ist ungewiss. Der regierungspolitische Effekt im Land und indirekt auch im Bund ist unberechenbar. Historisch galt Nordrhein-Westfalen als das Land, in dem das »soziale Gewissen« der (alten) Bundesrepublik verkörpert ist. Das »Rheinische« am westdeutschen Kapitalismus hatte hier seine sozialstrukturelle und politische Basis. In der Landesverfassung, die ein Recht auf Arbeit und den Anspruch auf Gemeinwirtschaft proklamiert, finden sich verbale Reste dieser Tradition. Deren Vorgeschichte ist heute leider weitgehend vergessen. Als das 1871 gegründete Deutsche Reich sich in raschem Tempo industrialisierte, bildete das Rhein- und Ruhrgebiet nebst dem Bergischen Land die stärkste regionale Basis dieser Entwicklung. Zugleich war hier auch das Terrain, in dem sich die heftigsten Konflikte zwischen den sozialen Klassen abspielten, wo das Gegeneinander von »Industriebaronen« und Proletariat am deutlichsten hervortrat. Die großen Streikbewegungen im Ruhrbergbau vor 1914 zeugen davon. Für den wilhelminischen Obrigkeitsstaat war diese Region eine besonders empfindliche Stelle: Kohle, Stahl und Eisen hatten dem deutschen Imperialismus das materielle Rückgrat bereitzustellen, die Rüstungsschmiede an Rhein und Ruhr war Garantin der militärischen Ambitionen des Deutschen Reiches. Doch mussten Staat und Kapital gerade hier mit demokratischer und sozialer Opposition rechnen: Schon in frühindustrieller Zeit gab es aktive Arbeitervereine, auch »kommunistische Verschwörer«, und Köln war der Ort, wo im Jahr 1848 die von Karl Marx herausgegebene Neue Rheinische Zeitung erschien.

In weiten Teilen der alten Industriezonen ist die soziale Lage miserabel

In der Zeit zwischen 1871 und 1914 entwickelten sich die Sozialdemokratie und die mit ihr verbündeten Freien Gewerkschaften an Rhein und Ruhr allerdings vergleichsweise schwach. Im katholischen Teil der Arbeiterbevölkerung dominierten die Zentrumspartei, die eigenen Arbeitervereine und die Christlichen Gewerkschaften. Die zahlenstarken polnischen Zuwanderer hatten ihre eigenen Organisationen. Diese Aufgliederung wurde aber von alltäglicher proletarischer Solidarität überbrückt, die bei den Auseinandersetzungen mit den Herren der Zechen und Fabriken praktisch zum Ausdruck kam. Während und nach der Revolution 1918 wurde das »Revier« zum wichtigsten Terrain der Rätebewe-

★ ★★

Arno Klönne ist emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Paderborn und Autor zahlreicher Bücher zur Geschichte der Arbeiterbewegung. Er schreibt regelmäßig für marx21. Weitere Beiträge von ihm gibt es auf marx21.de.

AKTUELLE ANALYSE

Favoritin bei der Landtagswahl ist die bisherige Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD), die CDU hat den Bundesumweltminister Norbert Röttgen als Spitzenkandidaten ins Rennen geschickt. Beide beteuern die »Sozialverpflichtung« ihrer Parteien, als Protagonisten einer ungezähmten »Markt«Wirtschaft hätten sie gerade in diesem Bundesland auch gar keine Chance. Den wahl- und koalitionspolitischen Entwicklungen in Nordrhein-Westfalen wird ein »Schlüsseleffekt« für bundesweite Kräfteverhältnisse und Umgruppierungen zugeschrieben: Mit der Übernahme dortigen der Landesregierung durch die SPD bahnte sich einst die Ablösung der Union in der Bundesregierung an, das nordrheinwestfälische Regierungsbündnis von SPD und Grünen war das Vorspiel für ein solches auf der Bundesebene und die Niederlage der SPD bei einer Landtagswahl in NRW entzog der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder den Boden. Derzeit sind die Koalitionskalküle dort offen, ausgenommen die Partei DIE LINKE. SPD und Grüne stellen zwar heraus, dass sie wieder zusammen regieren wollen, aber prinzipiell kann die SPD auch mit der CDU, die CDU mit den Grünen ein Regierungsbündnis schließen. Selbst die FDP würde von all diesen Parteien als kleine Partnerin akzeptiert, wenn sie denn wieder in den Landtag käme. Nicht in Betracht kommt hingegen die Einbeziehung der Linkspartei in eine regierende Koalition. Sie war nur willkommen als es darum ging, per Enthaltung Hannelore Kraft zur Landesmutter zu machen. Spekuliert wird nun: Gibt demnächst eine Große Koalition in Nordrhein-Westfalen der Kanzlerin die Gelegenheit, eine Partnerschaft mit der SPD auch im Bund auf den Weg zu bringen? Oder könnte ein schwarz-grünes Regierungsbündnis in NRW ein solches auf Bundesebene vorbereiten? Wählerinnen und Wähler, die der SPD, den Grünen oder der CDU ihre Stimme geben, kön-

15


★ ★★ marx21.de Die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen findet am 13. Mai statt. Eine Auswertung und aktuelle Analysen werden wir auf marx21.de veröffentlichen.

gung in Deutschland, die hier geprägt war durch einen Arbeiterradikalismus, der sich nicht an Direktiven von Parteiführungen band. So kam es, dass sich an Rhein und Ruhr nach der Abwehr des Kapp-Putsches im Jahr 1920 eine spontane Kampagne für Sozialisierung ausbreitete und in einen regelrechten Aufstand der Arbeiterbevölkerung mündete. Die Revolte wurde von der Reichswehr in Kooperation mit der sozialdemokratisch geführten preußischen Landesregierung niedergeschlagen. Partei- und wahlpolitisch hatte dies zur Folge, dass im gesamten Verlauf der Weimarer Republik beim rheinisch-westfälischen Proletariat nicht die SPD, sondern – mit der USPD als Zwischenakt ­– die Kommunistische Partei an erster Stelle stand, neben ihr die »schwarzen Roten«, das heißt die Arbeitergefolgschaft der katholischen Zentrumspartei. Bei den Betriebsrätewahlen in dieser Region erzielten syndikalistische, dann kommunistische und christlich-gewerkschaftliche Listen große Erfolge, in Konkurrenz mit denen der Freien Gewerkschaften. Der deutsche Faschismus zerschlug all diese Strukturen der Arbeiterbewegung, gerade in den rheinisch-westfälischen Industriegebieten blieb aber ein Abstand und bei einer Minderheit auch Widerstand gegenüber dem NS-System. Das trifft zu für die Linke wie auch für den Arbeiterkatholizismus. Aus diesem Milieu kamen auch die »wilden« illegalen Jugendgruppen (Edelweißpiraten und andere), die der Hitler-Jugend Konkurrenz machten und als »staatsgefährdend« verfolgt wurden.

Während der Revolution 1918 wurde das »Revier« zum wichtigsten Terrain der Rätebewegung in Deutschland

Aus den historischen Charakteristiken der Arbeiterbewegung im Rheinland und in Westfalen leitete sich die besondere Stellung her, die die Politik nach dem Untergang des »Dritten Reiches« im neugegründeten Bundesland Nordrhein-Westfalen für den Adenauerstaat gewann. Hier konnten in den Nachkriegsjahren die Betriebsräte großen Einfluss nehmen, Sozialisierung der Schlüsselindustrien war zunächst eine selbstverständliche Forderung der gesamten Arbeiterschaft. Auch die CDU machte mit ihrem »Ahlener Programm« von 1947 Zugeständnisse an den Antikapitalismus. Der christdemokratische NRW-Ministerpräsident Karl Arnold wirkte sozialpolitisch als

16

Gegenspieler von Ludwig Erhard. An der ersten Landesregierung waren Kommunisten beteiligt. Im Zuge der Wiederherstellung der alten wirtschaftlichen Machtverhältnisse und der Eingliederung der Bundesrepublik in das westliche Blocksystem veränderte sich auch in Nordrhein-Westfalen die politische Kräftekonstellation. Die CDU in diesem Lande rückte weiter ins bürgerliche Lager, die weiter links stehende restliche Zentrumspartei verlor ihre Gefolgschaft, die KPD große Teile ihrer Mitglieder- und Wählerschaft, weil sie bald als Filiale der SED, des »Ostens«, wahrgenommen wurde. Die SPD wurde schrittweise zum maßgeblichen parteipolitischen Faktor, das Rhein- und Ruhrgebiet zur sozialdemokratischen »Stammlandschaft«. Dazu trug bei, dass sich in der gewerkschaftlichen Organisation nun das Einheitsprinzip durchsetzte, was auch für ehemalige Kommunisten und Zentrumsanhänger eine Annäherung an die SPD beförderte. Es blieben jedoch Wirkungen des linken Profils der rheinisch-westfälischen Arbeitergeschichte bestehen – die gewerkschaftliche Mitbestimmung in den Großbetrieben der Montanindustrie wäre sonst von der Bundesregierung gar nicht akzeptiert worden. Generell lässt sich sagen: Dass die Sozialstaatsnorm im Grundgesetz der Bundesrepublik zu Teilen realisiert wurde, dass dem wiedererstarkten und dann expandierenden deutschen Kapitalismus manche sozialen Zügel angelegt wurden, wäre ohne den politischen Druck aus NordrheinWestfalen gar nicht denkbar gewesen. All das ist Vergangenheit, und in weiten Teilen der alten Industriezonen im Rheinland und in Westfalen ist die soziale Lage miserabel, gekennzeichnet durch eine hohe Quote an Arbeitslosigkeit und an Beschäftigungsverhältnissen, die nicht existenzsichernd sind, sowie durch die berufliche Perspektivlosigkeit junger Leute. Dazu kommen kommunale »Nothaushalte«, die zur stetigen Verringerung gemeindlicher sozialer Leistungen und zur Vernachlässigung der lokalen Infrastruktur führen. »Unsere Griechen« überschrieb neulich die Frankfurter Allgemeine Zeitung einen Bericht über die Situation der Städte zwischen Remscheid, Hagen, Oberhausen und Gelsenkirchen; den Bürgermeistern dort


Die Partei DIE LINKE in NordrheinWestfalen steht vor der Frage, ob und wenn ja, wie, sie den Versuch unternehmen will, diesen frei gewordenen Platz auf ihre eigene Weise zu besetzen. Das ist nicht von heute auf morgen möglich und schon gar nicht auf dem Wege, sich als Nothelferin für SPD-Regierungen zu etablieren. Zu bedenken sind die Veränderungen im Arbeitsalltag und in der Lebenswelt auch des »Reviers«, der weiter wachsende Anteil von Menschen mit »Migrationshintergrund«, der Wechsel der Generationen – die historische Arbeiterbewegung an Rhein und Ruhr lässt sich nicht wiederherstellen. Aber es gibt in Nordrhein-Westfalen eine Fülle von Ansätzen sozialer Bewegung in großer lokaler Vielfalt. Betriebliche und gewerkschaftliche Aktivitäten haben sich nicht verflüchtigt. Eine Partei kann in diesem Zusammenhang zu einem produktiven Faktor werden, wenn sie sich als Teil einer linken politischen Kultur »im Werden« versteht, und nicht als Darstellerin in parlamentarischen Aufführungen agiert, die der Ablenkung von den realen Machtverhältnissen dienen. ■

AKTUELLE ANALYSE

gehe es »wie der Regierung in Athen«. Also auch hier »Rettungsschirme« für die Finanzwelt, noch strengeres Sparen im Sozialsystem, weiterer Ausverkauf der Reste öffentlichen Eigentums und für immer mehr Menschen Armut als »Schicksal«? Die Gegenkräfte zu einer solchen Entwicklung sind in Nordrhein-Westfalen – nüchtern betrachtet – noch schwach. Es ist nicht zu erwarten, dass aus einer Eigendynamik der privaten Großwirtschaft heraus ein neues »Wirtschaftswunder« auf dem Terrain entsteht, das die alte Industrie seit Jahrzehnten verloren hat. Also kommt es auf politische Entwürfe und Interventionen an, auch auf politische Durchsetzungskraft, die wiederum nicht allein im Rahmen der Landespolitik zu Erfolg kommen könnte. Die nordrhein-westfälische Sozialdemokratie hat seit langem die Fähigkeit eingebüßt, als gesellschaftspolitisches Korrektiv zum Kapitalismus zu wirken – sowohl im eigenen Bundesland als auch darüber hinaus. Sie hat die Agenda-Politik von Gerhard Schröder unterstützt und mit ihren Repräsentanten Wolfgang Clement und Peer Steinbrück personell ausgestattet. Nicht nur Wählerinnen und Wähler hat sie dabei verloren, sondern an ihrer Basis auch zahlreiche Aktivisten des alten NRW-Typs, vor allem im betrieblichen und gewerkschaftlichem Feld. Das lässt sich nicht durch Rückkehr zu einem aufgesetzten sozialen Image reparieren. In demselben »Reform«-Prozess ist der Einfluss des »Arbeitnehmerflügels« in der nordrhein-westfälischen CDU äußerst schwach geworden. Das »soziale Gewissen NRW« in seiner traditionellen Ausformung ist nicht mehr existent.

17


UNSERE MEINUNG

Grass-Gedicht

Eine unfaire Kritik Von Manfred Ecker

W

das gesagt werden muss« heißt das Gedicht, das Günter Grass jüngst veröffentlicht hat. Er spricht darin seine Sorgen wegen der Kriegsdrohungen Israels gegenüber dem Iran aus. Und tatsächlich: Die Welle der über Grass hereingebrochenen Kritik erweckt den bedrohlichen Eindruck eines kriegsgeilen Westens. In dem Gedicht rechtfertigt Grass sein bisheriges Schweigen: »Meine Herkunft, die von nie zu tilgendem Makel behaftet ist, verbietet, diese Tatsache als ausgesprochene Wahrheit dem Land Israel, dem ich verbunden bin und bleiben will, zuzumuten.« Damit stellt er klar, dass er kein Gegner Israels ist, dennoch war dem Schriftsteller von vornherein klar, dass ihm »Antisemitismus« vorgeworfen werden würde. Das ist seither in zahlreichen Artikeln geschehen. Seine Kritiker haben alle das Gedicht entweder nicht gelesen oder aber beschlossen, dessen Inhalt zu ignorieren. Vielleicht nicht schwerwiegender, aber in seiner Wirkung schädlicher, ist der Vorwurf Grass würde die Tatsachen verdrehen. Nicht Israel sei eine Bedrohung für den Frieden, vom Iran und seinem Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad gehe die größte Gefahr aus. Viele Journalisten und »Fachleute« beweisen an diesem Punkt Uninformiertheit und Ignoranz gegenüber den jüngsten Entwicklungen. Ist ihnen nicht aufgefallen, wie entschlossen Israels Premier Benjamin Netanjahu sich derzeit gibt, den Iran anzugreifen – obwohl seine Pläne bei Barack Obama und Hillary Clinton auf wenig Verständnis stoßen? Günter Grass macht sich berechtigte Sorgen über einen bevorstehenden Angriff, der schwere Folgen nach sich ziehen würde. Vielen Journalisten ist wohl auch entgangen, dass der Generaldirektor der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO) Yukiya Amano gegenwärtig heftig dafür kritisiert wird, wie unverantwortlich er vage Behauptungen über das iranische Atomprogramm zu Tatsachen umdeute. Die Kritik kommt von seinen ehemaligen Kollegen. So erinnert der ehemalige Leiter der

IAEO in Wien und IAEO-Chefinspektor im Irak Robert Kelley, daran, wie der Westen bereits vor dem Angriff auf den Irak einem Konstrukt von Fehlinformationen über angebliche Massenvernichtungswaffen aufgesessen und in Kriegseuphorie verfallen ist. Der Chef der 16 US-Geheimdienste, James R. Clapper, dem dasselbe Material wie der IAEO vorlag, äußerte sich viel umsichtiger als Amano: Bei einer Anhörung vor dem US-Senat im März vergangenen Jahres sagte er aus, dass der Iran mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit derzeit keine Atomwaffen baue. Aktuelle Berichte würden mit denen aus dem Jahr 2007 darin übereinstimmen, dass der Iran sein Atomwaffenprogramm bereits 2003 aufgegeben habe. Grass hatte sich erst im Jahr 2006 öffentlich dazu bekannt, als 16-Jähriger bei Kriegsende Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein. Seine Kritiker meinen nun, der Autor habe sich durch sein verspätetes Geständnis seiner moralischen Glaubwürdigkeit beraubt. Jedoch ändert Grass’ Vergangenheit nichts an der wirkungsvollen Kritik, die er in seinen Büchern am Nazireich geübt hat. Mit seinem Werk war er entscheidend daran beteiligt, das von oben verordnete Vergessen in der Nachkriegszeit zu durchbrechen. Man muss mit Grass nicht in allem einer Meinung sein: Seine Beschreibung des iranischen Volks als von einem Maulhelden unterjocht und zum organisierten Jubel gelenkt empfinde ich als beleidigend. Sie ist eine der komplexen Realität der iranischen Gesellschaft nicht gerecht werdende Polemik. Dennoch teile ich Grass’ Sorgen über einen möglichen neuen Krieg im Nahen Osten. Es bleibt die Verwunderung und Abscheu gegenüber der unfairen Kritik, die sein Gedicht ausgelöst hat.

Die Kritiker von Grass beweisen Uninformiertheit und Ignoranz

18

★ ★★ Manfred ecker lebt in Wien und ist Herausgeber der Zeitschrift Linkswende.


KARIKATUR © Klaus Stuttmann

FuSSball-europameisterschaft

Gegen den Strom Von MARCEL BOIS gar befördert. Große Katastrophen in der Geschichte der Arbeiterbewegung sind mit ihrem Einknicken vor nationalistischen Stimmungen verbunden. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs im Jahr 1914 ließ die SPD »in der Stunde der Gefahr

Nationalismus bleibt Nationalismus

das eigene Vaterland nicht im Stich«. Gedankt wurde es ihr nicht. Sie verlor große Teile ihrer Mitgliedschaft und blieb für die Rechten nach der Novemberrevolution von 1918 doch die Partei der »Vaterlandsverräter«, die den »Dolchstoß an der Heimatfront« verübt hatte. In jüngster Vergangenheit lobte die Bundeskanzlerin die Gewerkschaften, weil

sie »Verantwortung für Deutschland« gezeigt hätten. Gemeint war die von ihnen akzeptierte jahrelange Lohnzurückhaltung, die dazu beitrug, dass Deutschland Exportweltmeister wurde. Das Lob war vergiftet: Die Gewerkschaften haben durch diese Politik nur verloren, sowohl Mitglieder als auch gesellschaftlichen Einfluss. Die Anpassung an nationalistische Positionen hat die deutsche Arbeiterbewegung zu keiner Zeit ihren Zielen nähergebracht. Denn was nützt es mit dem Strom zu schwimmen, wenn der Strom in die falsche Richtung fließt? Mehr zum Thema: Seite 72 ★ ★★ MARCEL BOIS ist Redakteur von marx21 und Mitglied der Historischen Kommission der LINKEN.

UNSERE MEINUNG

A

nfang Juni ist es wieder soweit: Anlässlich der Fußballeuropameisterschaft wird Deutschland »schwarz-rot-geil«, wie die Bild einst titelte. Meine Nachbarn werden ihre Deutschlandflagge aus dem Fenster hängen und Konservative den »neuen Patriotismus« loben, der ja ach so freundlich daherkommt. Doch Nationalismus bleibt Nationalismus. Er zielt darauf ab, die wahren Trennlinien in der Gesellschaft zu verwischen, nämlich die zwischen Arm und Reich. Für DIE LINKE ist das eine schwierige Situation: Gewohnt, mit der Ablehnung von Hartz IV, Rente mit 67 und Afghanistaneinsatz auf breite Zustimmung zu treffen, muss sie mit der Kritik am »neuen Patriotismus« gegen den Strom schwimmen. Trotzdem: Sie hat nichts zu gewinnen, wenn sie sich dem nationalen Überschwung nicht entgegenstellt oder ihn

19


SCHWERPUNKT GRIECHENLAND

25 26 30

Wir sind alle Griechen Warum die Kürzungen auch uns treffen

Immer wieder aufgestanden Eine lange Geschichte des Widerstands

Filmtipp: »Debtocracy« Manifest gegen die Herrschaft der Schulden

© Design Insane / Petros V / flickr.com / CC BY-NC-SA


Die Gesichter des Widerstands Wir lesen viel über Griechenland, die Nachrichtensendungen sparen nicht mit Bildern von Demonstrationen und Straßenschlachten. Doch wie erleben die Betroffenen die Krise in ihrem Land? Das wollten wir herausfinden und trafen uns mit drei griechischen Aktivisten

Konstantina Daskalopoulou

{

}

Konstantina Daskalopoulou ist Redakteurin der linksliberalen Zeitung Eleftherotypia

Die Journalistin

D

as erste Interview ist ein Gespräch unter Kollegen. Seit 14 Jahren arbeitet Konstantina Daskalopoulou, kurz Dina, als Journalistin. An unzähligen Ausgaben der Zeitung Eleftherotypia hat sie mitgearbeitet. Doch das Blatt, das am 15. Februar an die Kioske geliefert wurde, war auch für sie eine Premiere. Die Eleftherotypia ist griechischen Lesern na-

trugen die Botschaft ihrer Arbeitskämpfe weiter. Ihr Ziel war es, internationale Solidarität zu organisieren. Die Mühe hat sich gelohnt: Schon bei der Auftaktveranstaltung in den Räumlichkeiten der IG Metall in Berlin-Kreuzberg drängelten sich die rund 200 Teilneh-

türlich bekannt. Die Zeitung ist eine Institution im Land. Im Jahr 1975 nach dem Sturz der Diktatur gegründet, stellt sie eine kritische Stimme im neoliberalen Medieneinheitsbrei dar. Neu war jedoch der Untertitel: »Eleftherotypia der Arbeiterinnen und Arbeiter«. Die Belegschaft brachte die Ausgabe vollkommen in Eigenregie heraus, selbstverwaltet, ohne Bosse und Management. Es war ein großer Schritt vorwärts in einem Arbeitskampf, der in der griechischen Medienlandschaft beispiellos ist. Es begann im letzten Sommer, als das Management einfach den Geldhahn zudrehte. Die Gehälter wurden nicht einfach gekürzt, sie wurden gar nicht mehr gezahlt. »Um die Zeitung zu unterstützen, haben wir mehrere Monate unbezahlt weitergearbeitet. Aber irgendwann ging das einfach nicht mehr. Deshalb traten wir am 22. Dezember in einen unbefristeten Streik.« Journalisten, Techniker, Reinigungskräfte, Pförtner: Die ganze 800-köpfige Belegschaft beteiligte sich am Ausstand. An eine selbstverwaltete Zeitung dachte damals noch niemand. Das Ziel des Streiks war lediglich die Auszahlung der

mer auf den Gängen, zum Teil saßen sie vor dem Podium auf dem Fußboden des Saales. Vor der Veranstaltung hatten wir die Gelegenheit, mit den Dreien zu sprechen – und gewannen den Eindruck von einem Land, in dem nichts mehr ist wie es einmal war.

Die Belegschaft bringt die Zeitung vollkommen in Eigenregie heraus, selbstverwaltet, ohne Bosse und Management

TITELTHEMA GRIECHENLAND

E

Sie waren auf Einladung der Rosa-Luxemburg-Stiftung und von Real Democracy Now, einer Gruppe in Berlin lebender griechischer Aktivisten, nach Deutschland gekommen. Bei ihrer Veranstaltungsrundreise berichteten sie über die Situation in Griechenland und

s war ein Angebot, das wir nicht ablehnen konnten: Ein Interviewtermin mit drei griechischen Aktivisten, die mittendrin stecken im Kampf gegen die EU-Abrissbirne, die zurzeit durch ihr Land schwingt.

21


© Odysseas Gp / flickr.com / CC BY-NC-SA

Die Unternehmer setzen darauf, dass die Belegschaften aus Angst vor Arbeitslosigkeit alles unterschreiben

Panagiotis Katsaros

— —

nen. Es gibt aber auch viele, die meinen, wir sollten einfach eine vernünftige Abfindung erstreiken und dann aufhören.« Wie auch immer der Kampf ausgeht, eines steht für die 36-jährige fest: »Wir wissen jetzt, dass wir unser Leben in die eigenen Hände nehmen können. Diese Erfahrung kann uns keiner nehmen.«

}

22

Polizei contra Bevölkerung: Das Vertrauen in Politik und Staat hat stark gelitten

{

ausstehenden Löhne. Doch Dina und ihren Kollegen wurde bald klar: »Ohne Finanzierung konnten wir den Streik nicht halten. Wir mussten uns überlegen, wie wir Ressourcen organisieren. Auf der Streikversammlung kam die Idee: Lasst uns das machen, was wir am besten können – eine Zeitung!« Das war die Geburtsstunde der »Eleftherotypia der Arbeiterinnen und Arbeiter«. Als das Management davon erfuhr, schaltete es die Heizung und das Computersystem ab, um die Belegschaft davon abzuhalten, die Streikzeitung zu erstellen. Die Redaktion gab jedoch nicht auf und erfuhr große Solidarität. Nachbarn und Freunde brachten Decken und warmes Essen vorbei. Als ihre Zeitung endlich erschienen war, konnten die Streikenden allein über die Solidaritätsnetzwerke und über soziale Netzwerke im Internet 31.000 Ausgaben verkaufen. Das war ausreichend, um eine zweite Ausgabe erstellen zu können. Durch die Einnahmen wurde der Streik am Leben erhalten. Die Streikausgaben informierten nicht nur über den Kampf der EleftherotypiaBeschäftigten, sondern sollten auch ein ideologisches Gegengewicht gegen die EU-Troika und die Regierung sein. »90 Prozent der griechischen Presse unterstützen die Regierung. Doch die Leute spüren ja am eigenen Leibe, was die Regierungspolitik für sie bedeutet, deshalb misstrauen sie der Presse. Das ist eine Chance für uns als kritische Stimme.« Der Streik hat die gesamte Belegschaft zusammengebracht. Alle zentralen Entscheidungen fallen auf Streikvollversammlungen, bei denen jeder, ob Redakteur oder Reinigungskraft, eine Stimme hat. »Das ist ein ganz neues Gefühl von Solidarität, das wir so noch nicht kannten«, betont Konstantina. Die Entscheidungen der Hauptversammlung werden von einem 15-köpfigen Rat umgesetzt, dessen Vertreterinnen und Vertreter jederzeit abrufbar sind. Unter den Beschäftigten wird heftig über das weitere Vorgehen diskutiert. Dina ist dafür, den eingeschlagenen Weg konsequent weiterzugehen: Aufs Management zu pfeifen und die Eleftherotypia weiter als linke Zeitung unter vollständiger Kontrolle der Beschäftigten herauszugeben: »Wir haben bewiesen, dass wir die Zeitungsherstellung ohne unsere Bosse auf demokratische Art und Weise leiten kön-

Panagiotis Katsaros arbeitet im Stahlwerk Chalyvourgia Elladas.

Der Stahlarbeiter

P

anagiotis Katsaros redet ruhig und bedächtig. Das ist erstaunlich angesichts dessen, was der zweifache Familienvater und seine Kollegen im Stahlwerk Chalyvourgia Elladas in den letzten Monaten durchgemacht haben. Das Werk befindet sich in Aspropyrgos, einem Vorort der griechischen Hauptstadt Athen. Hier brachte der Herbstanfang im letzten Jahr schlechte Nachrichten. »Unser Arbeitgeber wollte, dass die Basisgewerkschaft der griechischen Stahlarbeiter neue Arbeitsverträge akzeptiert. Diese sahen eine Fünftagewoche und eine Kürzung des Gehalts um 40 Prozent vor. Au-


© Odysseas Gp / flickr.com / CC BY-NC-SA

Die Beschäftigten bei Chalyvourgia Elladas hatten gehofft, dass der rabiate Angriff die Gewerkschaften auf den Plan ruft. Sie wurden bitter enttäuscht: »Die großen Gewerkschaftsverbände stehen der sozialdemokratischen PASOK nahe. Die aber sitzt in der Regierung und unterstützt die Angriffe. Deshalb hat keine der großen Gewerkschaften uns bisher unterstützt.« Die einzige Ausnahme ist die kommunistische Gewerkschaft PAME. Entmutigen lassen haben sich Panagiotis und seine Kollegen dadurch nicht: »Wir werden weitermachen. Denn es ist etwas passiert, das gar nicht unser Ziel war: Die griechischen Stahlwerke wurden zum Symbol der Arbeiterklasse.«

E

in Lächeln huscht über Apostolos Kapsalis Gesicht, als wir unsere erste Frage stellen: »Erleben wir zurzeit eine revolutionäre Situation in Griechenland?« Dann wird er wieder so ernst wie die Lage in seinem Land ist: »Klar ist zumindest, dass die herrschende Klasse nicht mehr so regieren kann, wie sie es vor wenigen Jahren noch getan hat. Die Regierungsparteien befinden sich in einer sehr tiefen Krise.« Tatsächlich sind die Zahlen, die Apostolos nennt, frappierend: Die sozialdemokratische PASOK hatte bei den Parlamentswahlen im Oktober 2009 noch 43,9 Prozent der Stimmen und die absolute Mehrheit der Sitze im Parlament erhalten. Jetzt liegt sie in Umfragen bei elf Prozent. Die Zustimmung für die Konservativen ist von 34 Prozent auf 25 Prozent gefallen. Profiteure der Krise sind die Kräf-

Die Kürzungsmaßnahmen treffen griechische Jugendliche und Rentner gleichermaßen. Daher gehen die gemeinsam auf die Straße TITELTHEMA GRIECHENLAND

— —

Der Wissenschaftler

© Dimitris Agelakis / flickr.com / CC BY-NC-SA

}

Apostolos Kapsalis ist Arbeitsrechtler und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsinstitut des griechischen Gewerkschaftsbundes.

© John Porfyropoulos / flickr.com / CC BY-NC

Apostolos Kapsalis

{

ßerdem sollten sie jeweils auf drei Monate befristet sein«, erzählt der 45-Jährige. Die Monatslöhne wären demnach auf 500 bis 600 Euro gesunken, bei Lebenshaltungskosten, die nur knapp unter denen in Deutschland liegen. Die Arbeiter versammelten sich, die Stimmung war eindeutig: »Mit einem solchen Gehalt kann man nicht überleben, geschweige denn eine Familie ernähren. Wir haben abgelehnt.« Die Bosse reagierten prompt und entließen Ende Oktober 18 Leute. Im November folgten 17 weitere Entlassungen. Die Belegschaft antwortete mit einem spontanen Streik, der bis heute andauert. Sehr schnell erkannten die Stahlwerker, dass sie nicht nur gegen die Unternehmer kämpften: »Wir haben den Werksausgang blockiert, damit keine Lieferungen rein- und rauskommen. Da hat das Management den griechischen Staat um einen Sonderkredit gebeten, um in Werksnähe einen kleinen Hafen zu bauen und die Transporte darüber abwickeln zu können. Der Kredit wurde bewilligt, der Hafen wird gebaut. Unglaublich! Dafür ist Geld da. Die wollen uns mit allen Mitteln brechen, ein Exempel statuieren.« Panagiotis ist sich sicher: Die Regierung hat Angst, dass das Beispiel von Chalyvourgia Elladas Schule macht: »Wir haben große Solidarität von Seiten der Bevölkerung erfahren. Es gibt einen Solidaritätsfonds, aus dem jeder Arbeitnehmer wöchentlich etwa 100 Euro erhält. Wir sammeln Spenden direkt vor der Fabrik, 24 Stunden am Tag. Zusätzlich gibt es ein Spendenkonto. Außerdem bekommen wir immer wieder Lebensmittelspenden. Unser Kampf hat Symbolcharakter, es wird ja in vielen Betrieben genauso hingelangt wie bei uns.« Die Berichterstattung in Deutschland fokussiert auf die Kürzungsprogramme im öffentlichen Dienst, den Kahlschlag bei Sozialleistungen und Renten. Panagiotis weist jedoch darauf hin, dass das nur eine Seite des Angriffes ist. Mit Unterstützung der Regierung versuchen Unternehmer auf breiter Front Löhne zu drücken und Arbeitnehmerrechte zu beschneiden: »In allen Branchen werden zurzeit laufende Verträge aufgekündigt. Das ist zwar illegal, aber die Arbeitsgerichte tun nichts und unterstützen das Kapital. Die Unternehmer setzen darauf, dass die Belegschaften aus Angst vor Arbeitslosigkeit alles unterschreiben.«

23


© Odysseas Gp / flickr.com / CC BY-NC-SA

Wut auf Merkozy: 89 Prozent der Griechen haben mittlerweile ein negatives Bild von Deutschland

te links vor der PASOK, die sich traditionell spinnefeind sind. Dennoch kommen sie derzeit zusammen auf fast 40 Prozent. Leider ebenfalls im Aufschwung befinden sich Nazigruppen wie die »Goldene Morgenröte«, die in einigen Athener Stadtvierteln Schlägertrupps organisieren, die Migranten terrorisieren. »Das ist eine klassische Polarisierung, die politische Mitte bricht angesichts der extremen wirtschaftlichen Situation zusammen.« Wie extrem die Situation ist, macht der Arbeitsrechtler anhand von Fakten deutlich: »Seit Beginn der Krise ist die griechische Wirtschaft um fast ein Fünftel geschrumpft. Dieser Niedergang beschleunigt sich infolge der Kürzungspolitik. Das sind Dimensionen, die wir sonst nur in Kriegsgebieten erleben. Griechenlands Lohngefüge und Sozialsysteme befinden sich in einem Prozess der Zerstörung. Die offizielle Jugendarbeitslosigkeit liegt zurzeit bei 52 Prozent, die realen Zahlen sind um einiges höher. Die allgemeine Arbeitslosigkeit wird dieses Jahr voraussichtlich 28 Prozent erreichen. Die Unternehmer haben angekündigt, dass sie die Löhne im privaten Sektor um 40 bis 60 Prozent senken wollen. Kein Wunder, dass wir die größte Auswanderungswelle seit den 1950er Jahren erleben. Den Behörden liegen allein in elektronischer Form 120.000 Aussiedlungsanträge vor.« Nichts scheint derzeit undenkbar in Grie-

24

chenland. So hat die Regierung auf Druck der EU-Troika ein Gesetz erlassen, das Lohnerhöhungen so lange verbietet, bis die Arbeitslosigkeit auf zehn Prozent gesunken ist. »So etwas hat es in Europa noch nie gegeben. Aber wenn es hier durchkommt, dann dauert es nicht lange, bis ähnliche Gesetze in Spanien, Portugal und anderswo erlassen werden. Wer wissen will, wie sich Europas Kapital und Regierungen den Kontinent im Jahr 2020 vorstellen, der sollte sich jetzt Griechenland anschauen.« Ob die griechische Linke diesen Angriffen etwas entgegensetzen kann? Apostolos ist verhalten optimistisch: »Die Krise der traditionellen Parteien hat in Griechenland ein Machtvakuum geschaffen. Prinzipiell könnte die Linke das nutzen, aber sie ist sehr zersplittert. Einig ist man sich weitgehend bei der Ablehnung der Maßnahmen von Troika und Regierung und bei der Forderung nach einem Schuldenschnitt. Das Gebot der Stunde wäre, auf dieser Grundlage die Kämpfe der Bevölkerung zu unterstützen. Die strittigen Punkte und die Sünden in der Vergangenheit der Linken können wir dann immer noch diskutieren. Wenn die griechische Linke genauso engagiert praktische Solidarität organisieren würde, wie sie um die richtigen Parolen streitet, dann wären wir ein gutes Stück weiter.« ■

Die Krise der traditionellen Parteien hat ein Machtvakuum geschaffen. Die Linke könnte das nutzen, aber sie ist sehr zersplittert


KOMMENTAR

Wir sind alle Griechen Von CARLA ASSMANN

Diese Reformen sind keine kurzfristigen Antikrisenmaßnahmen, sondern auf Dauer angelegt. Die einzelnen Staaten setzen sich über ihre Kostensenkungsstrategien gegenseitig unter Druck. Schon mahnt der IWF, dass auch Niedriglohnländer wie Kroatien und Tschechien ihre Arbeitsmärkte stärker flexibilisieren und Lohnkosten drücken müssen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Diese Entwicklung wollen auch die Spitzen der Europäischen Union, die mehrfach die Absicht bekundet haben, Europa bis zum Jahr 2020 zum »wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt« zu machen. So wie alle Beschäftigten Europas unter dem Lohndumping gelitten haben, das durch die deutsche Agenda 2010 ausgelöst wurde, so werden wir alle unter einem Durchmarsch des Kapitals in Griechenland zu leiden haben. Deshalb ist konkrete Solidarität wichtig. Eine glänzende Gelegenheit, die zu zeigen, sind die geplanten Proteste gegen Bankenmacht und EU-Spardiktat in Frankfurt am Main. Sie finden vor der Bundestagsabstimmung über den Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM statt. Der soll das Kronjuwel eines neoliberalen Europas werden: ein permanenter Kürzungszwang, bürokratisch vollstreckt unter Ausschaltung der Parlamente. Mehrere Gewerkschaftsjugendgliederungen haben bereits angekündigt, die Proteste in Frankfurt zu unterstützen. Das ist gut so: Denn gegen die Standortlogik in den Chefetagen der Gewerkschaften muss Druck von unten aufgebaut werden, damit sich die Erkenntnis durchsetzt, dass wir alle Griechen sind.

Griechenland ist die Ratte im europäischen Reformlabor

★ ★★ CARLA ASSMANN ist Redakteurin von marx21.

TITELTHEMA GRIECHENLAND

E

uropas Unternehmer haben Oberwasser. Sie wittern die historische Chance, im großen Maßstab Arbeitnehmerrechte abzubauen. Der wesentliche Teil dieses Dramas spielt sich zurzeit in Südeuropa ab. Dennoch sollte der Kampf der griechischen Bevölkerung die Gewerkschaften in Deutschland nicht kalt lassen. Denn es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch hierzulande zur nächsten Attacke auf den Sozialstaat geblasen wird. Das wird dann vermutlich mit dem Verweis auf das angenehme Klima für Unternehmer in Griechenland geschehen. Was gegenwärtig im Süden Europas stattfindet, ist nicht einfach eine Kopie der deutschen Agenda-Politik – es ist deren Potenzierung. Es werden neue Negativmaßstäbe gesetzt, die auch hierzulande Druck entfalten sollen. Das Bild, das Apostolis Kapsalis zeichnet, ist drastisch, aber passend: »Griechenland ist die Ratte im europäischen Reformlabor. Hier wird ausprobiert, wie viel Sozialabbau möglich ist.« Schon jetzt werden ähnliche Maßnahmen auch in anderen Ländern durchgeführt. In Spanien hat die Regierung beispielsweise im Februar den Arbeitsmarkt »reformiert«, ohne dabei mit den Gewerkschaften zu sprechen. Die italienische Regierung hat beschlossen, den Paragraphen 18 aus dem Arbeitsgesetzbuch zu streichen. Der garantiert Beschäftigten mit unbefristeten Verträgen einen weitgehenden Kündigungsschutz und war deswegen Unternehmern schon lange ein Dorn im Auge. In Großbritannien hat die konservative Cameron-Regierung einen Haushalt vorgelegt, der weitreichende Steuerentlastungen für Reiche und Unternehmen vorsieht, finanziert durch drastische Kürzungen im Sozialstaat. Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy hat schon angekündigt, im Falle eines Wahlsiegs eine dem deutschen Vorbild folgende Agenda-Politik zu betreiben.

25


Immerwieder

aufgestanden Griechenland hat eine lange Tradition des Widerstands. Ihre Wurzeln liegen im Kampf gegen die deutsche Besatzung während des Zweiten Weltkriegs

E

Von Stefan Bornost

s ist dunkle Nacht, als Manolis Glezos und sein Freund Apolostos Santas das Felsmassiv besteigen, auf dem die Akropolis steht. Wir schreiben den 30. Mai 1941, seit vier Tagen weht die Hakenkreuzfahne über dem Wahrzeichen von Athen. Deutsche Truppen haben die griechische Hauptstadt als Teil ihres Balkanfeldzugs erobert. Bei ihrem Einmarsch ins Land zog die Wehrmacht eine Blutspur hinter sich her, jetzt entfaltet sie den Terror der Besatzer. Die beiden 19-jährigen wollen ein Zeichen setzen, ein Fanal des Widerstandes. Sie holen die Hakenkreuzfahne ein und hissen die griechische Flagge. Diese Aktion macht Manolis und Apolostos zu antifaschistischen Legenden – und setzt den Startpunkt für die größte und erfolgreichste Partisanen- und Widerstandskampagne gegen die Naziherrschaft in Europa. Für Hitlerdeutschland war Griechenland ein strategischer Mittelmeerzugang, aber vor allem eine zu

26

plündernde Region. Die Besatzungstruppen konfiszierten Fahrzeuge, Maschinen und Nahrungsvorräte. Auf diese Weise lösten sie eine soziale Katastrophe aus. Allein im Großraum Athen starben in den beiden Wintern zwischen 1941 und 1943 über 100.000 Menschen den Hungertod. Die Säuglingssterblichkeit stieg auf 80 Prozent. Wer nicht starb, zehrte völlig aus. Im Oktober 1944 wurden 300 Kinder in Athen untersucht. Von ihnen waren 290 an Tuberkulose erkrankt. Die Wehrmacht, die durch den Widerstand der Griechen beim Einmarsch unerwartet hohe Verluste zu verzeichnen hatte, errichtete ein Terrorregime. Kurz nach Einnahme der griechischen Insel Kreta gab General Kurt Student einen Befehl heraus, der zur Blaupause für die gesamte Besatzungszeit wurde: »Es ist einwandfrei festgestellt, (...) dass sich die Bevölkerung von Kreta (auch Frauen u. Jugendliche) im weitesten Umfange am direkten Kampfe beteiligt hat. (...) Jetzt ist die Zeit gekommen, (...) Vergeltung zu üben und Strafgerichte abzuhalten, die auch als Abschreckungsmittel für die Zukunft dienen sollen.« Gemeint


Kämpferinnen und Kämpfer der Griechischen Befreiungsarmee ELAS. Sie war eine der erfolgreichsten Widerstandsgruppen gegen die Naziherrschaft in Europa

war unter anderem »die Ausrottung der männlichen Bevölkerung ganzer Gebiete«. Diese Maßnahmen sollten »mit größtmöglicher Beschleunigung« durchgeführt werden »unter Beiseitelassung aller Formalien u. unter bewusster Ausschaltung von Gerichten«. Tatsächlich führten die deutschen Truppen massenhaft Tötungsaktionen auf der Mittelmeerinsel durch und verursachten großflächige Zerstörungen. Nach griechischen Schätzungen wurden innerhalb von drei Monaten mindestens 2000 Kreter ermordet. Unmittelbar nach der Besetzung Griechenlands starteten die Deutschen die Verfolgung der dort lebenden Juden. Die 50.000 jüdischen Bewohner Thessalonikis wurden binnen Wochen fast vollständig deportiert. Damit wurde eine der größten Gemeinden in der Diaspora mit einer 2000 Jahre alten Geschichte ausgelöscht. Gegen diese Repressionen formierte sich der griechische Widerstand, dessen zentrale Kraft die Kommunistische Partei (KKE) war. In der zweiten Jahreshälfte 1941 gründete sie die Nationale Befreiungsfront

(EAM) und deren militärischen Arm, die Griechische Befreiungsarmee (ELAS). Diese führte ab Mitte 1942 im gesamten besetzten Gebiet einen Partisanenkampf, griff deutsche Armeeposten an und führte Sabotageakte durch. Die Wehrmacht reagierte mit der gewohnten Härte. Am 16. Dezember 1942 erließ das Oberkommando für Griechenland den Befehl, dass der Kampf gegen Partisanen »mit den allerbrutalsten Mitteln« geführt werden solle. Die Truppe sei »berechtigt und verpflichtet, ohne Einschränkung auch gegen Frauen und Kinder jedes Mittel anzuwenden, was zum Erfolg führt. Rücksichten, gleich welcher Art, sind ein Verbrechen gegen das deutsche Volk und den Soldaten an der Front.« Das bekräftigte auch der Chef des Wehrmachtsführungsstabes, Alfred Jodl. Er stellte nachdrücklich klar, dass die Truppe keinerlei Beschränkungen unterläge. Die Soldaten könnten auch mit Frauen und Kindern »machen, was sie wollen«. Jodl hob hervor: »Sie dürfen sie aufhängen, verkehrt aufhängen oder vierteilen.«

TITELTHEMA GRIECHENLAND

Die Kommunistische Partei war die zentrale Kraft des griechischen Widerstands

27


Der Terror nahm dermaßen große Ausmaße an, dass sich der Ministerpräsident der von den deutschen eingesetzten Kollaborationsregierung genötigt fühlte, seinem Dienstherr zu schreiben, dass bei Fortsetzung dieser Kampfführung Griechenland binnen kürzester Zeit vollkommen zerstört sein würde. Er beklagte, dass »einige Dörfer des griechischen Epirus infolge von Erschießungen völlig ausgerottet wurden. So wurde das Dorf Komeno bei Arta, das 1000 Einwohner gezählt hatte, Opfer einer furchtbaren Dezimierung. 750 Einwohner dieses Dorfes wurden von deutschen Soldaten erschossen. In dem Dorf Lyngiades bei Paramythia wurden 82 Einwohner erschossen, unter diesen 42 Kinder unter 15 Jahren.« Den Kampfgeist des Widerstandes brach diese Kampagne nicht – im Gegenteil, die ELAS erhielt massiven Zulauf. Gestartet war sie 1942 mit wenigen Hundert Kämpfern und noch weniger Waffen. Binnen zwei Jahren war aus dem Kampf gegen die Besatzer ein Volksaufstand geworden. Ende des Jahres 1944 engagierten sich zwischen 40.000 und 100.000 Kämpferinnen und Kämpfer in ihren Reihen. Die EAM war in dieser Zeit sogar auf 1,2 bis 1,8 Millionen Mitglieder angewachsen – bei einer Einwohnerzahl Griechenlands von etwas über sieben Millionen. Besonders von der jungen Generation stand eine große Mehrheit hinter EAM und ELAS – obwohl ihr hartes Vorgehen gegen jeden, den sie der Kollaboration verdächtigten, nicht unumstritten war. Im September 1944 begann die Wehrmacht schließlich mit dem Abzug. Er wurde erzwungen durch den Vormarsch der alliierten Truppen an Ost- und Westfront, aber auch durch eine Widerstandsbewegung, die längst viel mehr war als nur ein Guerillakampf.

die Entwaffnung der ELAS. Genau um dieses zu leisten, waren die Briten unter dem Kommando von General Ronald Scobie einmarschiert. Churchill hatte dem Militärkommandeur und dessen Stab klare Befehle gegeben: »Nicht die Deutschen bekämpfen, sondern die Kontrolle über Athen herstellen.« Die britischen Truppen allein waren zu schwach, eine Entwaffnung der ELAS durchzusetzen. Daher suchten sie sich Verbündete vor Ort. Die fanden sie in den Truppen des griechischen Kollaborationsregimes, die vorher an deutscher Seite gekämpft hatten und jetzt als sogenannte »Sicherheitsbataillone« unter britischen Befehl gestellt wurden. Diese Sicherheitsbataillone gingen sofort zum Angriff gegen die EAM über: Sie verwüsteten Büros, überfielen und verprügelten Anhänger der Linken. Vollends eskalierte der Konflikt, als die Briten die vollständige Entwaffnung und Auflösung der ELAS verlangten. Gegen den rechten Terror und die Auflösung der ELAS gingen am 3. Dezember 1944 eine halbe Million Menschen in Athen auf die Straße. Mit Duldung der britischen Armee griff die Polizei die Kundgebung an und erschoss Dutzende Demonstranten. Hunderte wurden verletzt. Als sich die ELAS-Einheiten gegen Polizei und paramilitärische Kräfte wehrten, griff die britische Armee ein. Churchill schrieb an seine Generäle: »Zögern Sie nicht zu handeln, als befänden Sie sich in einer eroberten Stadt, in der eine lokale Rebellion ausgebrochen ist.« Britische Truppen wurden von der italienischen Front abgezogen. Zum Höhepunkt der Intervention standen 75.000 Soldaten des Empire in Griechenland, allein 25.000 davon im Großraum Athen. Die Schlacht um die Hauptstadt zog sich über Wochen hin, mit erbitterten Straßenund Häuserkämpfen. Die britische Luftwaffe bombardierte tagsüber pausenlos jene Viertel der Stadt, die als Hochburgen der ELAS galten. Zeitweilig wurde sie von der US-amerikanischen Luftwaffe unterstützt. Letztendlich zerbrach die griechische Befreiungsbewegung an der militärischen Übermacht der Alliierten. Während der Kämpfe wurden Tausende ELASKämpfer getötet. Die Briten deportierten etwa 8000 Linke in Lager in Nordafrika, weitere 4000 sperrten sie in Griechenland ein. Die Organisationen der Arbeiterbewegung in Athen und Piräus waren zerschlagen. Bis 1949 zog sich der Bürgerkrieg hin. Er endete mit der vollständigen Niederlage der Kommunisten. Bis zuletzt hatten sie auf Hilfe aus der Sowjetunion gehofft, doch die kam nicht. Stalin wusste: Je härter die Alliierten in Griechenland vorgingen, desto besser konnte er die Ausschaltung missliebiger politischer Kräfte in »seiner« Einflusszone rechtfertigen.

Die Studenten forderten, was vorher niemand gewagt hatte: den Sturz der Militärregierung

Griechenland hatte sich also zu großen Teilen selbst von der Besatzung befreit, unter der Führung einer linksgerichteten Massenbewegung. Als nun britische Soldaten in Griechenland landeten, wurden sie als Verbündete begrüßt. Doch keine drei Monate später befanden auch sie sich in heftigen Gefechten mit der ELAS. Denn schon längst hatten die Alliierten die Machtbereiche der Nachkriegsordnung abgesteckt. Griechenland war dem britischen Bereich zugeteilt worden, alle Länder nördlich davon jedoch der Sowjetunion. Das Letzte, was Winston Churchill wollte, war eine kommunistisch beeinflusste Massenbewegung an der Macht. Daher plante der britische Premierminister die Restauration des stramm antikommunistischen Militärregimes, das vor dem Einmarsch der Nazis in Hellas geherrscht hatte. Notwendige Voraussetzung zur Herstellung der Vorkriegsordnung war die Ausschaltung der EAM als Machtfaktor und

28


Manolis Glezos, Held des Widerstands gegen die Nazis und Ikone der griechischen Linken. Heute kämpft er gegen die Politik der Troika. Doch die Polizeigewalt macht auch vor dem 90-Jährigen nicht halt

Sturz der Militärregierung. Auf Transparenten am Universitätsgebäude war zu lesen: »Wenn die Menschen keine Angst mehr haben, beginnen die Tyrannen zu zittern.« Das Signal kam an, Tausende versammelten sich vor der Universität zur Unterstützung der Studierenden. Bauarbeiter besetzten die Präfektur von Attika, der Region rund um die Hauptstadt. Mit jedem Tag wuchs die Zahl der Demonstranten. Zehntausende befanden sich auf den Straßen Athens. Es waren die größten Versammlungen seit Beginn der Diktatur. Die Staatsführung befahl der Armee, den Aufstand niederzuschlagen. In den frühen Morgenstunden des 17. November ließ sie, nachdem die städtische Beleuchtung ausgeschaltet worden war und das Gelände weitgehend im Dunkeln lag, einen Panzer das Eingangstor niederwalzen, an das sich zahlreiche Menschen klammerten. Soldaten erstürmten die Hochschule. Der Aufstand wurde zermalmt, Dutzende Studenten bezahlten ihren Mut mit dem Leben. Die genaue Zahl der Opfer wurde nie ermittelt. Den Obristen war es zwar gelungen, die Bewegung niederzuschlagen. Doch mit der blutigen Aktion waren ihre Tage gezählt. Ein Jahr später, nach einer misslungenen Invasion auf Zypern, fiel das Regime auseinander. Der 17. November ist mittlerweile ein Nationalfeiertag in Griechenland. Und bis heute dürfen Polizei und Armee das Gelände der Athener Universität nicht betreten. Dieses reiche Vermächtnis des Widerstands fließt in die gegenwärtigen Proteste in Griechenland ein. Viele der Demonstranten sehen ihren Protest gegen die Diktatur der EU-Troika als Fortsetzung der vergangenen Widerstandsbewegungen. Unter ihnen ist auch der heute 90-jährige Manolis Glezos, der einst die Hakenkreuzfahne von der Akropolis holte. Ein Foto von ihm ging Anfang März 2010 durch die internationale Presse. Er war bei einer Demonstration gegen das Spardiktat von der Polizei mit Tränengas beschossen und verletzt worden. Zwei Jahre später kämpft er immer noch: Am 12. Februar dieses Jahres nahm er zusammen mit dem linken Komponisten Mikis Thoedorakis an einer weiteren Demonstration teil – und durchbrach mit ihm gemeinsam eine Polizeiabsperrung am Syntagma-Platz. ■

★ ★★

Stefan Bornost ist leitender Redakteur von marx21.

TITELTHEMA GRIECHENLAND

Der beim Abzug der Wehrmacht spürbare linke Aufbruch war innerhalb von fünf Jahren in einem Debakel geendet. Zehntausende linksgerichteter Griechen wurden bereits während des Bürgerkrieges interniert oder mussten ins Exil flüchteten. Fortan regierten in Athen autoritäre Regierungen, zum Teil herrschte sogar eine Militärdiktatur, die zu den brutalsten in Europa zählte. Doch wiederum war es die Härte von Repression und Unterdrückung, die einem neuerlichen Aufschwung linker Bewegung den Boden bereitete. Es war ein Ereignis, das zum Symbol dieses Aufschwungs wurde: der Studentenaufstand an der Polytechnischen Universität in Athen am 17. November 1973. Die Studierenden, die damals ihre Universität besetzten, lebten bereits sechs Jahre unter der Diktatur. Im Jahr 1967 hatten sich die sogenannten Obristen an die Macht geputscht. Ihre Machtübernahme war ein Präventivschlag gegen die zunehmend linke Stimmung, die sich im Rahmen der globalen Studentenbewegung auch in Griechenland ausbreitete. Gleich nach dem Putsch wurden mehr als 10.000 Personen verhaftet, unter ihnen zahlreiche alte Veteranen der Partisanenkämpfe gegen die deutsche Besatzung im Zweiten Weltkrieg. Die Obristen rechtfertigten ihre Erhebung als »Revolution zur Rettung der Nation«. Sie behaupteten, eine kommunistische Verschwörung in der Verwaltung, dem Bildungswesen, den Medien und sogar in der Armee habe einen Umsturz vorbereitet. Besonders die Jugend stand im Fokus der Generäle. Eine Depesche der Militärregierung vom 25. April 1967 zählt die Maßnahmen auf, die Innen- und Erziehungsministerium zur »Disziplinierung der Jugend« getroffen hatten. Demnach mussten »die jungen Männer auf anständiges Aussehen achten, sauber und gepflegt sein und vor allem kurzgeschnittene Haare tragen. Die Beatles und Beatniks, diese ausländischen Früchte des amerikanischen Halbstarkentums, werden in Griechenland nicht mehr geduldet.« Die Mädchen durften keine kurzen Röcke mehr tragen, sondern mussten »schicklich gekleidet sein«. Außerdem wurde allen Schülern befohlen, »jeden Sonntag die Messe zu besuchen und während der Karwoche zum Abendmahl zu gehen«. Der Widerstand gegen diese Politik begann im Jahr 1972 mit der Forderung nach freien Wahlen der studentischen Körperschaften an den Universitäten. Zuvor hatte die Junta massiv in die universitäre Verwaltung eingegriffen und missliebige Studentenvertretungen abgesetzt. Im Februar 1973 besetzten die Hochschüler die juristische Fakultät. Sie forderten die Freiheit von Lehre und Bildung. Da das Regime nicht nachgab, wurde aus einem lokalen Studentenprotest eine politische Großkonfrontation. So besetzten die Studierenden am 14. November 1973 die gesamte Polytechnische Universität und riefen über einen eigens auf dem Campus eingerichteten Radiosender die Bevölkerung zur Solidarität auf. Sie forderten, was vorher niemand gewagt hatte: den

29


FILMTIPP

Wehrt euch! Zum ersten Mal in der griechischen Geschichte haben Zuschauer einen Dokumentarfilm selbst produziert. Herausgekommen ist ein filmisches Manifest für entschlossenen Widerstand gegen die Herrschaft der Schulden

K

★ ★★ DER FILM Debtocracy (OmU) Buch und Regie: Katerina Kitidi und Aris Chatzistefanou Griechenland 2011 74 Minuten Unter www.debtocracy.gr kann der Film kostenlos angeschaut werden.

30

Von Martin Haller

ämpfe nicht gegen den Arzt! Manchmal gibt er dir eine Medizin, die du nicht magst. Aber auch dann ist er da, um dir zu helfen.« Mit dieser Aussage des selbsternannten Wunderheilers und ehemaligen Generaldirektors des IWF, Dominique StraussKahn, beginnt der Dokumentarfilm »Debtocracy«. Doch warum die griechische Bevölkerung die Medizin der Troika aus IWF, EZB und Europäischer Kommission nicht schlucken will, wird schnell klar. Der Giftcocktail der Quacksalber aus Washington und Brüssel beruht auf einer falschen Diagnose und wird die Krise nur verschärfen. Die Griechen seien faul? Reiner Rassismus. Die wahren Gründe der griechischen Schuldenkrise sind ganz andere. In »Debtocracy« kommen Ökonomen, Journalisten und Intellektuelle aus der ganzen Welt zu Wort. Sie beschreiben, wie Griechenland in die Schuldendiktatur getrieben wurde. Manolis Glezos, ein Urgestein der griechischen Linken, erklärt, wie eine griechische Regierung nach der anderen das Land immer weiter in den finanziellen Abgrund steuerte. Der Ökonom Costas Lapavitsas zeigt auf, wie die milliardenschweren Bankenrettungen während der Finanzkrise die Situation eskalieren ließen. Als besonders fatal erwies sich das in der Eurozone. Der Wirtschaftswissenschaftler Samir Amin erklärt, warum: »Es kann keine Währung ohne Staat geben. Meiner Meinung nach war die Eurozone von Anfang an zum Scheitern verurteilt.« »Es ist, wie wenn man Muhammad Ali mit einem Federgewichtsboxer in den Ring stellt und den beiden sagt: Kommt, kämpft! Mal sehen, wer gewinnt«, beschreibt der Politologe Eric Toussaint die Situation. Sahra Wagenknecht räumt mit dem Mythos der »faulen Peripherie« und der »arbeitsamen Deutschen« auf und zeigt, dass Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit

eine direkte Folge der jahrelangen Angriffe auf die Arbeitnehmer ist. Der Film macht deutlich, dass die nun ergriffenen Maßnahmen der Troika ausschließlich dem Schutz der Gläubiger dienen. Sie waren nie dazu gedacht, die Schulden zu reduzieren. Im Gegenteil: Sie werden die Schulden weiter steigen lassen und gleichzeitig die griechische Wirtschaft zerstören. Das Ergebnis sind Betriebsschließungen, Arbeitslosigkeit, Armut, Hunger und Obdachlosigkeit. Doch trotz dieser düsteren Aussichten ist »Debtocracy« ein unterhaltsamer Film, etwa wenn der US-amerikanische Marxist David Harvey, unterlegt mit Bildern des US-Propagandacartoons »It’s everybody’s business« aus dem Jahr 1954, die Krisendynamik des Kapitalismus erklärt. Darüberhinaus ist der Film ein Beispiel für eine neue Art des Journalismus, in dem das Publikum durch »Crowdsourcing« nicht nur an der Finanzierung, sondern auch direkt an der Entstehung beteiligt ist. Allein in den ersten zehn Tagen wurde »Debtocracy« etwa 600.000 Mal angeschaut. In Tausenden Blogs und Foren hat er heftige Diskussionen ausgelöst. Vor allem ist »Debtocracy« aber eines: ein Aufruf zum Widerstand gegen Fremdbestimmung und Spardiktat. Der Film verweist auf Argentinien. Dort gelang es der Bevölkerung nach dem Zusammenbruch der Wirtschaft im Jahr 2001 durch vehemente Proteste und Streiks, sowohl die eigene Regierung als auch den IWF in die Flucht zu schlagen. So skandieren heute die Demonstranten in Athen: »In einer magischen Nacht, wie in Argentinien, werden wir sehen, wer zuerst in den Hubschrauber springt.« In Ecuador gelang es vor einigen Jahren nicht nur, den IWF zu verjagen, sondern auch die Zahlung eines Großteils der Schulden zu verweigern. Ähnliches könnte auch in Griechenland geschehen. Aber nicht von selbst. Die Botschaft von »Debtocracy« ist daher eindeutig: Wehrt euch!

Die Griechen sind faul? Das ist Rassismus


31

TITELTHEMA GRIECHENLAND


SCHWERPUNKT GEWERKSCHAFTEN IN DER KRISE

36 39 40

Die Abschieber Die fragwürdige Bilanz der Transfergesellschaften

Jeder Kampf ist ein Gewinn Kommentar über Gewerkschaften in der Krise

Totgesagte leben länger Interview über die Arbeiterklasse

© Michael Thompson / Freestylee


»Dann schmeißen wir den Laden selbst!« Schlecker ist Pleite. Gegen die drohenden Massenentlassungen forderten linke Gewerkschafter die Übernahme der Filialen durch die Beschäftigten. Doch ließen sich dadurch die Probleme des Einzelhandelsriesen lösen? Von Olaf Klenke solvenz auf einer Schlecker-Betriebsversammlung: »Wir warten nicht ab wie bei Quelle, bis alles am Ende ist. (…) So gut wie Anton Schlecker können wir es selber, wir können eine eigene Genossenschaft daraus machen.« Doch ist die Übernahme des Betriebes eine Perspektive für die Belegschaft?

Die Beschäftigten, die den Reichtum geschaffen und das Unternehmen aufgebaut hatten, blieben außen vor

Die Schlecker-Pleite ist ein Lehrstück kapitalistischen Wahnsinns. Das Unternehmen expandierte ungezügelt, obwohl der Markt gesättigt war. Die Beschäftigten hatten keinen Einfluss darauf. Über zwei Jahrzehnte wuchs Schlecker zum größten Drogeriediscounter Europas. Auf dem Höhepunkt setzte der Konzern jährlich Waren im Wert von über 7 Milliarden Euro um und beschäftigte europaweit 50.000 Mitarbeiter in 14.000 Filialen. Firmengründer Anton Schlecker häufte über die Jahre ein Milliardenvermögen an. Und er gab sich als Alleinherrscher. Die Beschäftigten, die den Reichtum geschaffen und das Unternehmen aufgebaut hatten, blieben außen vor. Zwar gelang es der Gewerkschaft Mitte der 1990er Jahre, Betriebsräte zu gründen und einen Tarifvertrag abzuschließen, was bewies, dass auch Einzelhan-

★ ★★

Olaf KLENKE arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundestag zum Thema Arbeitsmarktpolitik.

SCHWERPUNKT GEWERKSCHAFTEN IN DER KRISE

M

it der Drogeriekette Schlecker erleben wir eine der größten Pleiten der deutschen Nachkriegsgeschichte. Über 30.000 Beschäftigte sind betroffen, überwiegend Frauen. Besonders bitter: Anders als etwa bei Lidl gelang es ver.di bzw. der Vorgängergewerkschaft HBV in dem Unternehmen flächendeckend Betriebsräte durchzusetzen. Etwa 40 Prozent der Beschäftigten sind gewerkschaftlich organisiert. Für die meisten bürgerlichen Politiker und Medien war gleich klar: Das Unternehmen kann allenfalls mit einem Kahlschlag überleben. Der Insolvenzverwalter ordnete an, die Hälfte der Arbeitsplätze und Filialen abzubauen. Die ver.di-Spitze akzeptierte das und forderte eine Transfergesellschaft, um die entlassenen Kolleginnen und Kollegen für einige Monate aufzufangen. Selbst das scheiterte. Nun steht das ganze Unternehmen vor dem Aus. Aus Kreisen der Gewerkschaftslinken gab es allerdings auch andere Stimmen, die offensiv für eine Betriebsübernahme durch die Beschäftigten plädierten. Der Stuttgarter ver.di-Geschäftsführer Bernd Riexinger erklärte unmittelbar nach der Anmeldung der In-

33


delsbeschäftigte in Teilzeitjobs zu organisieren sind. Aber auf die Geschäftspolitik des Unternehmens hatten die »Schlecker-Frauen« keinen Einfluss. Da konnten die Betriebsräte tausendmal vor Ort ein anderes Sortiment und die Umgestaltung des Ladens einfordern. Sie hatten nichts zu bestimmen. Eine Verkäuferin schreibt im Schlecker-Blog: »Wir Schlecker-Frauen müssen Angst um unsere Filialen haben und um unseren Arbeitsplatz – WIR haben aber NULL Einfluss auf die Arbeit der vielen Stuhlbesitzer im Ehinger Glaspalast gehabt!!!« (Das baden-württembergische Ehingen ist der Sitz der Firmenzentrale.) Allerdings wäre es verkürzt, die Schlecker-Pleite als das Ergebnis von Managementfehlern zu sehen. So wie im Kapitalismus insgesamt gibt es auch im Einzelhandel einen mörderischen Wettbewerb, der seine Opfer fordert. Im Einzelhandel wuchsen in den vergangenen drei Jahrzehnten gigantische Konzerne heran. Ob Aldi, Lidl oder die unmittelbaren Schlecker-Konkurrenten Rossmann und dm – sie alle begannen als Familienbetriebe und beschäftigen heute Zehntausende Menschen und bewegen Milliardenbeträge. Der Einzelhandel holte so eine Konzentration nach, die in anderen Wirtschaftszweigen bereits Anfang des letzten Jahrhunderts stattfand. Aber die Ausweitung stößt immer mehr an ihre Grenzen. Denn die Entwicklung der Binnennachfrage hält nicht Schritt mit der Expansion der Einzelhandelsketten. Seit dem Jahr 2005 ist der reale Umsatz im Einzelhandel sogar rückläufig. Dennoch gibt es heute so viel Verkaufsflächen wie nie zuvor. Das Ergebnis ist ein brutaler Verdrängungswettbewerb, der auch den Drogeriemarkt betrifft und auf den zunehmend die Lebensmitteldiscounter drängen. So war es nur eine Frage der Zeit bis einer der »Big Player« zu Fall kommen musste. Schlecker betrieb den Expansionskurs besonders extrem. Das Unternehmen eröffnete immer mehr Filialen, erwirtschaftete aber zu wenig, um die steigenden Kosten zu tragen. Der Wettbewerb im Einzelhandel wird auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen. Im letzten Jahrzehnt wurden Zehntausende Vollzeitstellen abgebaut und in Teilzeit- und Minijobs umgewandelt, von denen man nicht leben kann. Die Reallöhne sind im Einzelhandel in den Jahren 2000 bis 2010 um zwei Prozent gesunken. Müssen nun die Schlecker-Verkäuferinnen für diesen kapitalistischen Wahnsinn mit dem Verlust ihres Arbeitsplatzes auch noch doppelt bezahlen? Die Übernahme des Betriebes durch die Beschäftigten zu fordern, ist allemal offensiver als den Kahlschlag bei Schlecker zu akzeptieren. Der LINKE-Bundestagsabgeordnete und Gewerkschafter Michael Schlecht stellt zu Recht fest: »So wie es jetzt läuft, kann es auf

Dauer nicht weitergehen. Seit 20 Jahren unterschreiben wir einen Notlagentarifvertrag nach dem anderen. Wir müssen versuchen, auch weitergehende Modelle zu entwickeln.« Welche Perspektive kann eine Übernahme von Schlecker durch die Beschäftigten haben, ob als Genossenschaft oder in einer anderen Form? Darüber gibt es Erfahrungen auf nationaler und internationaler Ebene. Die gewerkschaftsnahe Hans-BöcklerStiftung hat im Jahr 2010 eine Bestandsaufnahme zu Betriebsübernahmen durch Belegschaften vorgelegt. Vor dem Hintergrund der Finanzund Wirtschaftskrise wurden einige Belegschaftsinitiativen der vergangenen 30 Jahre in Deutschland untersucht. Dazu zählten zum Beispiel ein Windmaschinenhersteller aus Bremen, die Chemnitzer Werkzeugmaschinen-Union und das thüringische Strike-Bike-Unternehmen. Alle Belegschaftsinitiativen entstanden aus Notsituationen. Viele waren mit Betriebsbesetzungen verbunden, um die Schließung oder den Verkauf des Betriebes an Finanzinvestoren zu verhindern. Die Betriebe in Belegschaftshand wurden dabei übrigens in den wenigsten Fällen als Genossenschaft organisiert, sondern zumeist als GmbH. Die Bilanz ist widersprüchlich. Einerseits machten die Beschäftigten die wertvolle Erfahrung, den Betrieb auch ohne Chefs und Hierarchie erfolgreich führen zu können. Die anfängliche Skepsis, den Betrieb in Eigenregie zu betreiben, wich einem neuen Selbstbewusstsein. Andererseits taten sich kurz- und längerfristige Probleme auf. So wurde die Rettung der Unternehmen oftmals nur mit Lohnverzicht erkauft. Und natürlich standen die Betriebe dauerhaft unter kapitalistischem Verwertungsdruck. Als Achillesferse für den Fortbestand von Belegschaftsübernahmen erwies sich vor allem die Finanzierung. Banken verweigerten Kredite oder wollten deren Vergabe an die Einsetzung eines Managements knüpfen. Nur wenige dieser Belegschaftsinitiativen gibt es heute noch. Zum Teil war auch der gemeinschaftliche Geist nicht auf Dauer aufrechtzuerhalten. Anders als in Deutschland haben in Lateinamerika Belegschaftsübernahmen in den vergangenen zehn Jahren eine ungeheure Dynamik entfaltet. Es war für die Beschäftigten der einzige Weg, um ihre Arbeitsplätze zu retten. Hunderte Betriebe sind oder waren besetzt. Die Arbeiterinnen und Arbeiter stießen damit oft das Tor in ein anderes Leben auf. Ein Leben, in dem selbstbestimmtes Arbeiten und Zeit für gemeinsame Diskussionen über die weiteren Schritte möglich sind. Aber auch sie unterstehen dem Druck des Marktes. Bereits vor über hundert Jahren argumentierte Rosa Luxemburg, die Produktionsgenossen-

Eine Schlecker-Pleite nützt nur der Kapitalseite

★ ★★ WEITERLESEN Herbert Klemisch u.a.: Betriebsübernahme durch Belegschaften Eine aktuelle Bestandsaufnahme, Studie im Auftrag der Hans Böckler Stiftung, online unter: boeckler.de. A.M. Pankratova: Fabrikräte in Russland. Der Kampf um die sozialistische Fabrik (Fischer Taschenbuch 1976). Hierbei handelt es sich um die deutsche Erstübersetzung der 1923 in der Sowjetunion erschienenen Studie, die dort nicht wieder aufgelegt wurde. Das Buch ist nur noch antiquarisch erhältlich. Virtuelle offene Bibliothek mit Dokumenten und Aufsätzen zu Arbeiterkontrolle und Arbeiterselbstverwaltung in Vergangenheit und Gegenwart: workerscontrol.net/de.

34


© crosathorian / flickr.com / CC BY-NC-ND

nützt nur der Kapitalseite. Rossmann und Co. freuen sich schon über die neuen Marktanteile und würden sich gern die besten Filialen des ehemaligen Schlecker-Imperiums als Rosinen herauspicken. Der Kampf um die Zukunft der Beschäftigten bei Schlecker sollte aber zusätzlich mit der Forderung nach einem Eingriff des Staates in den Einzelhandel und einer stärkeren gesellschaftlichen Kontrolle in diesem Sektor verbunden werden. Den Beschäftigten darf nicht das unternehmerische Risiko aufgebürdet werden. Wir haben die paradoxe Situation, dass Überkapazitäten von Läden in den Ballungszentren einer Unterversorgung im ländlichen Raum gegenüberstehen. Handelsketten ziehen sich wegen zu geringer Gewinnmargen von dort zurück. Nach der marktwirtschaftlichen Logik war es auch ein »Fehler« Schleckers, hier anders als Rossmann und dm noch vertreten zu sein. Zu Recht fordert ver.di, die Filialen im ländlichen Raum zu erhalten und notfalls staatlich zu fördern. Im Kern ist dies eine Forderung nach gesellschaftlicher Planung, einer Planung nach menschlichen Bedürfnissen. Solange der mörderische Konkurrenzkampf des Kapitalismus nicht abgeschafft ist, muss der Staat für den Erhalt der Arbeitsplätze garantieren. Das alles ist zu finanzieren, wenn Gewinne und Vermögen der großen Einzelhandelskonzerne abgeschöpft werden. Hier ist einiges zu holen. Die Gewinne in der Einzelhandelsbranche lagen im Jahr 2010 bei 20,2 Milliarden Euro, ein Plus von 71 Prozent in zehn Jahren. Allein bei der Familie Albrecht (Aldi) und bei Dieter Schwarz (Lidl, Kaufland) gibt es Potenzial genug. Mit einem geschätzten Privatvermögen von 33 Milliarden und 10 Milliarden Euro führen sie die Liste der reichsten Deutschen an. ■

Die massive Expansion der Einzelhandelsketten führte zu einem brutalen Verdrängungswettbewerb. Schlecker wuchs am schnellsten. Die Nachfrage hielt jedoch nicht mit

SCHWERPUNKT GEWERKSCHAFTEN IN DER KRISE

schaften stellen »inmitten der kapitalistischen Wirtschaft ein Zwitterding dar: eine im kleinen sozialisierte Produktion bei kapitalistischem Austausche. In der kapitalistischen Wirtschaft beherrscht aber der Austausch die Produktion und macht, angesichts der Konkurrenz, rücksichtslose Ausbeutung, d. h. völlige Beherrschung des Produktionsprozesses durch die Interessen des Kapitals, zur Existenzbedingung der Unternehmung. Praktisch äußert sich das in der Notwendigkeit, die Arbeit möglichst intensiv zu machen, (...) all die bekannten Methoden zu praktizieren, die eine kapitalistische Unternehmung konkurrenzfähig machen.« Zur Lösung dieses Problems fordern einzelne Belegschaften in Lateinamerika die Übernahme des Betriebes durch den Staat bei voller Arbeiterkontrolle. Nur so lässt sich der Druck des kapitalistischen Marktes umgehen. Damit überschreitet der Konflikt die betriebliche Ebene und entwickelt sich zu einer Auseinandersetzung mit dem Staat. So wird ein historischer Faden aus dem revolutionären Russland des Jahres 1917 aufgenommen. In Zeiten von Krieg und Krise fand dort ein Kampf um die Betriebe statt. Fast überall bildeten sich Fabrikräte, die die Produktion aufrechterhielten und kontrollierten. Bald gingen die Fabrikräte mit ihren Forderungen über die betriebliche Ebene hinaus, weil die Aufrechterhaltung der Arbeiterkontrolle auch gesamtgesellschaftliche Kontrolle erforderte. Das Fabrikkomitee der Petrograder Putilow-Werke forderte auf einer Konferenz die »Errichtung einer wirklichen Arbeiterkontrolle«. Die Resolution der Delegierten aus den Betrieben begann mit den Forderungen: »1. Die Arbeiterkontrolle muss sich zur umfassenden Regulierung der Produktion und Verteilung der Produkte entwickeln. 2. Die Arbeiterkontrolle muss auf alle Bank- und Finanzgeschäfte ausgeweitetet werden. 3. Überführung des Großteils der Profite und Einkünfte aus dem Eigentum an großem Kapital in die Hände der Arbeiter.« Die gesamtgesellschaftliche Verfügungsgewalt des Kapitals wurde infrage gestellt. Für kurze Zeit gelang es tatsächlich, eine solche umfassende Arbeiterkontrolle zu verwirklichen, bevor das Land im Bürgerkrieg versank. Die Forderung nach einer Übernahme des Unternehmens durch die Belegschaft mit staatlicher Unterstützung würde es den Schlecker-Frauen ermöglichen, das Unternehmen fortzuführen und umzubauen. Das wäre eine Alternative zur bisherigen Krisenbewältigung, bei der die Beschäftigten ihren Arbeitsplatz verlieren und die Kosten ihrer Arbeitslosigkeit auf die Gesellschaft abgewälzt werden. Eine Schlecker-Pleite

35


Die Abschieber

Transfergesellschaften sollen die Besch채ftigten bei Firmenpleiten vor dem sofortigen Sturz in die Arbeitslosigkeit bewahren. Doch ihre Bilanz ist fragw체rdig Vor J체rgen Ehlers

36


beiter entlassen hat. Die finanzielle Beteiligung von Manroland an der Transfergesellschaft bewegt sich mit insgesamt 23 Millionen Euro in einem sehr überschaubaren Rahmen. Christiane de Santana, Erste Bevollmächtigte der IG Metall in Augsburg, dem Stammsitz des Unternehmens, warnte die Beschäftigten davor, gegen die Kündigungen zu klagen. Gegenüber der Augsburger Allgemeinen erklärte sie: »Die Leute werden feststellen, dass sie kaum eine Chance haben. Auch die Aussicht auf eine Abfindung ist gering. Denn nur wenn finanzielle Mittel da sind, wird eine Summe von maximal zweieinhalb Bruttomonatsgehältern gezahlt.« Das entspricht, wenn man das Kündigungsschutzgesetz zugrunde legt, gerade einmal dem Gegenwert einer fünfjährigen Betriebszugehörigkeit. Ein kurzer Blick in die Jahresbilanz der ManrolandEigentümer MAN und Allianz zeigt aber, dass genügend Geld vorhanden gewesen wäre, um hohe Abfindungen zahlen zu können. Allianz hat allein im letzten Jahr einen Jahresüberschuss nach Steuern in Höhe von 1,328 Milliarden Euro erwirtschaftet, ein Jahr zuvor waren es immerhin 1,006 Milliarden. Die Eigenkapitalrendite ist seit langer Zeit zweistellig. Auch der Gewinn von 722 Millionen Euro, den MAN für das Jahr 2010 nach Zahlung aller Steuern in der Bilanz ausgewiesen hat, kann sich sehen lassen. Gegen diese ausgewiesenen Gewinne der beiden Eigentümer nehmen sich die 23 Millionen Euro, die sie in die Transfergesellschaft stecken, wie Peanuts aus. Auf Grundlage dieser Zahlen hätten die Zuständigen der IG Metall andere Optionen gehabt, als die Belegschaft auf die Transfergesellschaft zu verweisen und vor dem Klageweg zu warnen. Sie hätten den Kampf darauf richten können, dem Allianz-Konzern hohe Abfindungen abzutrotzen. Um arbeitslos gewordene Beschäftigte vor dem Abrutschen in Hartz IV zu bewahren, wären je nach Betriebszugehörigkeit pro Beschäftigten sechsstellige Summen angemessen – und für die Allianz auch bezahlbar gewesen.

Mit dem Wechsel in eine Transfergesellschaft verzichten Entlassene auf jegliche weitere Ansprüche

Diese paar Sätze machen deutlich, worum es bei der Einrichtung von Transfergesellschaften geht. Sie sollen dazu beitragen, der Arbeitslosigkeit ihren Schrecken zu nehmen und damit den Betriebsräten und der Unternehmensführung die Chance eröffnen, Entlassungen ohne ernsthaften Widerstand der Belegschaft abzuwickeln. Mit der Entlassung im alten Betrieb und dem Wechsel in eine Transfergesellschaft für höchstens ein Jahr bezieht der Arbeitslose das sogenannte Transferkurzarbeitergeld. Dessen Umfang entspricht dem des Arbeitslosengelds I, das sind bei Kinderlosen 60 Prozent und bei Arbeitnehmern mit Kind 67 Prozent des zuletzt erhaltenen Nettolohnes. Diese Bezüge vom Arbeitsamt stocken die ehemaligen Arbeitgeber auf 80 Prozent des letzten Nettolohns auf. Im Gegenzug verzichtet der Entlassene mit dem Wechsel in eine Transfergesellschaft auf jegliche weitere Ansprüche gegenüber seinem ehemaligen Arbeitgeber. Für die Arbeitgeber ist das gerade bei langjähriger Betriebszugehörigkeit von älteren Mitarbeitern ein lohnendes Geschäft. Sie sparen hohe Abfindungen und müssen darüber hinaus bei nicht fristgerechten Kündigungen keine Lohnfortzahlung leisten. So auch beim Druckmaschinenhersteller Manroland, der zu Beginn diesen Jahres in den Standorten Augsburg, Plauen und Offenbach insgesamt 2400 Mitar-

Das Einrichten von Transfergesellschaften nutzt vor allem den Unternehmen: »Mit Hilfe des Instruments Transfergesellschaft können Personalanpassungsmaßnahmen schnell und kostengünstig umgesetzt werden. Der Gesetzgeber und die Rechtsprechung bieten einen geschickten Weg an, einen in seiner Existenz gefährdeten Betrieb auf einen Schlag wieder zukunftsfähig zu machen.« Mit diesen Worten preist die Quali Plus Transfergesellschaft im Internet ihre Dienste an. Dabei gibt sie konkrete Hinweise an Unternehmer, welche Taktik den größten Erfolg ver-

★ ★★ Jürgen Ehlers ist Mitglied der LINKEN in Frankfurt am Main und Mitbegründer des Solidaritätskomitees, das die entlassenen Beschäftigten der Steakhauskette Maredo bei ihrem Kampf für Wiedereinstellung unterstützt.

SCHWERPUNKT GEWERKSCHAFTEN IN DER KRISE

O

b bei Manroland, Heidelberger Druck, Opel oder zahllosen anderen Betrieben, die in der Vergangenheit Massenentlassungen durchgeführt haben – fast überall sind Transfergesellschaften zum Einsatz gekommen. Sie sind Bestandteil des Sozialplans, den Gewerkschaften mit den Arbeitgebern aushandeln. In einer Broschüre der Transfergesellschaft Weitblick Personalpartner, die aus dem Berufsfortbildungswerk des DGB hervorgegangen ist, heißt es: »Wenn (…) Restrukturierungen unvermeidbar werden, stehen Geschäftsführung und Betriebsrat vor einer schwierigen Aufgabe: Sie müssen betriebswirtschaftlich notwendige Entscheidungen treffen und dabei gleichzeitig Verantwortung für die Beschäftigten übernehmen. Der Abschluss eines Transfersozialplans trägt dazu bei, Personalanpassungen sozialverträglich zu gestalten und eröffnet den betroffenen Beschäftigten Chancen auf neue berufliche Perspektiven.«

37


© manroland AG / flickr.com / CC BY-NC-ND

Beste Laune in der Chefetage: Die Manroland-Führungsriege bei der Messe Druck & Papier im Jahr 2008. Jetzt ist das Unternehmen insolvent – und die Mitarbeiter werden in eine Transfergesellschaft entlassen

spricht, um größere Konflikte mit der Belegschaft bei Entlassungen zu vermeiden: »Den Arbeitnehmern muss vor Augen geführt werden, dass ohne eine schnelle Personalreduzierung der Insolvenzantrag bzw. die vollständige und endgültige Stilllegung des Geschäftsbetriebes droht. Existiert ein Betriebsrat, so empfiehlt es sich, diesen vorab zu informieren. (…) Erst wenn der Betriebsrat überzeugt ist, sollten alle Mitarbeiter zusammen mit der Präsentation des konkreten Anbieters darüber informiert werden, dass die Transfergesellschaft der einzig mögliche Sanierungsweg ist.« Den Betriebsrat in die Sanierung einzubinden, ist für die Unternehmer der Königsweg. Er soll zum Transmissionsriemen für die Durchsetzung der Eigentümerinteressen gegenüber der Belegschaft gemacht werden, indem er den Beschäftigten die vermeintliche Alternativlosigkeit einer Transfergesellschaft vor Augen führt. Dadurch soll die Belegschaft entmündigt werden. Ihr werden alle relevanten Informationen über die Lage des Betriebes vorenthalten, und sie wird nicht ermutigt über eigene Handlungsperspektiven zu diskutieren. Die Unternehmerseite spekuliert darauf, dass die Transfergesellschaft der Belegschaft den kleinen Trost spendet, ein paar Monate Zeit zu gewinnen. Denn die Verweilzeit in der Transfergesellschaft wird nicht auf die Bezugsdauer vom Arbeitslosengeld I an-

gerechnet. Damit droht das Arbeitslosengeld II (Hartz IV) erst etwas später. Mit dem gemeinsamen Wechsel in die Transfergesellschaft wird auch die trügerische Hoffnung verbunden, dass der Zusammenhalt in der Belegschaft weiter bestehen bleibt. Aber aus den ehemaligen, oft langjährigen Kollegen werden mit dem Wechsel in die Transfergesellschaft Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt, auch wenn sie bis zu einem ganzen Jahr gemeinsam Kurse besuchen.

Der Königsweg für Unternehmer: Den Betriebsrat in die Sanierung einbinden

38

Die Befürworter von Transfergesellschaften werben außerdem damit, dass sie in der Vermittlung und Qualifizierung besser als die Arbeitsämter seien. Diese Behauptung dient aber lediglich dazu, ihre Akzeptanz zu erhöhen. Denn einen Beweis dafür haben sie bisher nicht erbracht. Der profilierteste Kritiker von Transfergesellschaften, Hilmar Schneider, Direktor für Arbeitsmarktpolitik am Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit (IZA) in Bonn, formulierte das im Oktober letzten Jahres so: »Der Verzicht auf Abfindungsansprüche kann sich für Arbeitnehmer lohnen, wenn sie durch die Vermittlung in der Transfergesellschaft tatsächlich wesentlich schneller in eine neue Beschäftigung kommen als wenn sie stattdessen als Arbeitslose die Dienste der Bundesagentur für Arbeit in Anspruch nehmen müssten. Eine schon etwas zurückliegende und bis heute nicht widerlegte Untersuchung des IZA ergab jedoch, dass es im Hinblick auf


kommentar

Jeder Kampf ist ein Gewinn Von Jürgen Ehlers

D

er Kampf gegen Entlassungen ist schwer. Entscheidend ist, dass die von Arbeitslosigkeit bedrohten Beschäftigten von Anfang an selbst entscheiden, ob und mit welchen Mitteln sie für ihre Forderungen kämpfen. Für den Erhalt aller Arbeitsplätze einzutreten, ist die Voraussetzung, die notwendige Geschlossenheit herzustellen. Ein Ziel kann sein, wenn die vorhandene Arbeit nicht für eine Vollbeschäftigung aller ausreicht, Kurzarbeit zu machen und zu fordern, dass Kurzarbeitergeld gezahlt wird. Gleichzeitig sind öffentlichkeitswirksame Aktionen wichtig, um politischen Druck zu erzeugen. Manroland, Opel oder Schlecker werden im Gegensatz zu den Banken nicht als systemrelevant angesehen. Sie können daher nicht einfach mit staatlicher Unterstützung rechnen. Ihre Systemrelevanz muss durch politischen Druck erkämpft werden. Das kann so aussehen, dass vor der Zentrale der Allianz ein Zeltlager entsteht, um die Gewinne der letzten Jahre einzufordern und in Berlin vor dem Kanzleramt zusammen mit den anderen von Arbeitslosigkeit bedrohten Beschäftigten aus anderen Betrieben demonstriert wird. Ob der Kampf gewonnen wird, hängt von vielen Faktoren ab. Vielleicht ist er am Ende nur finanziell ein Gewinn, weil höhere Abfindungen erreicht worden sind. Sogar die Einrichtung einer Transfergesellschaft kann dann ein Gewinn sein, wenn sie kontrollierte Qualitätsstandards erfüllt und den Arbeitslosen eine berufliche Qualifizierung entsprechend ihren Wünschen ermöglicht. Die Verweildauer in einer Transfergesellschaft darf sich ausschließlich danach richten, wie lange diese Qualifizierung dauert. Politisch ist der Kampf gegen Entlassungen in jedem Fall ein Gewinn, weil er die Profitlogik der Standortkonkurrenz in Frage stellt. So ein Kampf kann auch andere Belegschaften ermutigen. Vor allem schafft er überhaupt die Voraussetzung für eine mögliche Solidarisierung von anderen Betrieben. Erst dann besteht auch eine Chance, dass an die Stelle von Demoralisierung die Entwicklung von Klassenbewusstsein tritt.

SCHWERPUNKT GEWERKSCHAFTEN IN DER KRISE

die Vermittlungsgeschwindigkeit im Durchschnitt keinen Unterschied macht, ob die Vermittlung von einer Transfergesellschaft oder der Arbeitsagentur durchgeführt wird. (…) An sich müsste es im Interesse guter Transfergesellschaften liegen, ihre Qualität anhand überprüfbarer und aussagefähiger Kriterien unter Beweis zu stellen. Diesen Qualitätsbeweis sind sie bislang jedoch schuldig geblieben. Über die Gründe mag sich jeder selbst ein Urteil bilden. Statt sich über die Einmischung der Bundesagentur für Arbeit zu beklagen, wäre es geschickter, durch nachweisbar bessere Vermittlungsleistungen zu überzeugen.« Allein im Krisenjahr 2009 sind, so berichtete damals das Handelsblatt, monatlich etwa einhundert neue Transfergesellschaften bei der Bundesagentur für Arbeit angemeldet worden. Ihren Betreibern winkt ein gutes Geschäft. Die Gesellschaften erhalten jeden Monat 200 Euro sogenannte Regiekosten pro entlassenen Mitarbeiter eines Betriebes, der mit ihrer Hilfe entweder in ein neues Beschäftigungsverhältnis vermittelt oder dafür qualifiziert werden soll. Die Versuchung ist groß, den Betreuungsschlüssel entsprechend schlecht ausfallen zu lassen, um möglichst viele Fördermittel abzugreifen. So wie im Jahr 2006 in Rüsselsheim, wo 80 ehemalige Opelaner von einem Mitarbeiter der Transfergesellschaft MyPegasus betreut wurden. Das berichtete damals Die Zeit. Allein für diese Mitarbeiter hat die Transfergesellschaft 192.000 Euro an Regiekosten erhalten, ein durchaus lohnendes Geschäft. Dazu kamen dann noch die Mittel für Schulungs- und Qualifizierungsmaßnahmen, die vom Europäischen Sozialfonds mitgefördert werden und deutlich über den Regiekosten liegen. Der neue Eigentümer von Manroland hat nach den Massenentlassungen der Konkurrenz und den verbliebenen Mitarbeitern den Kampf angesagt, indem er letztere aufforderte, durch Lohnverzicht einen Beitrag zum Erhalt des Standorts zu leisten. Er setzt auf Tariföffnungsklauseln, die ihm durch das sogenannte Pforzheimer Abkommen ermöglicht werden. Hierbei handelt es sich um ein Abkommen zwischen Tarifparteien, das unter dem Druck der Bundesregierung von Gerhard Schröder zustande gekommen ist. Gleichzeitig verkündete der Manroland-Eigentümer laut Frankfurter Allgemeiner Zeitung, dass die Kapazitäten des Offenbacher Werkes wieder zu 90 Prozent ausgelastet seien. Das ist eine Steigerung der Profitrate, die sich sehen lassen kann – vor allem wenn man bedenkt, dass diese Produktionsleistungen mit nur etwa der Hälfte der Belegschaft erbracht werden. Die Konkurrenz wird ihrerseits auf diesen verschärften Wettbewerbsdruck mit Entlassungen und Verschärfung der Ausbeutung reagieren. Von den 650 Manroland-Beschäftigten, die in der Transfergesellschaft gelandet sind, sind zwischen 100 und 150 inzwischen weitervermittelt worden und haben eine Beschäftigung gefunden. Der Rest »parkt« noch, weil die anderen Unternehmen auf Leiharbeit setzten. Soviel zum Vermittlungserfolg. ■

39


• •

40

Marx sah in ihr den Totengräber des Kapitalismus. Doch 150 Jahre später behaupten viele, sie sei selbst bereits dahingeschieden. Ist die Arbeiterklasse tatsächlich ein Fall für die Geschichtsbücher? Nein, meint unser Gesprächspartner Werner Seppmann – und prophezeit ihr eine spannende Zukunft


erner, in deinem Buch »Die verleugnete Klasse« analysierst du die Lage von Arbeitern in Deutschland. Aber ist »Arbeiterklasse« nicht ein Begriff aus der Mottenkiste, der die Realität längst nicht mehr fassen kann? Dass die Arbeiterklasse verschwunden wäre, wird uns ja seit mindestens 50 Jahren erzählt. Der Grund dafür ist einfach: Sie wird von den Herrschenden immer noch als »gefährliche Klasse« angesehen. Die bürgerlichen Wissenschaften sind deshalb nicht zufällig darum bemüht zu zeigen, dass sie sich weitgehend aufgelöst hätte. Theoretische Grundlage dieser Behauptung ist, dass sich in den Metropolen eine Entwicklung von industriellen in sogenannte postindustrielle Gesellschaften vollzogen hätte. Im Kontext dieser Entwicklung wäre dann auch die Arbeiterklasse erodiert und es hätte sich eine sogenannte »Mittelstandsgesellschaft« herausgebildet.

D

iese Entwicklung lässt sich auch nicht vollkommen leugnen ... Ja, aber es muss genau untersucht werden, was sich verändert hat und was konstant geblieben ist. Zunächst einmal ist unsere Gesellschaft nach wie vor eine Arbeitsund Industriegesellschaft. Immer noch ist die Ausbeutung lebendiger Arbeit und die Aneignung des Mehrwertes der Dreh- und Angelpunkt kapitalistischer Ökonomien. Die Behauptung, dass der Teil der Bevölkerung, der tatsächlich im Arbeitsprozess steht, sich stark verringert hat, ist nichts anderes als ein Mythos. Tatsache ist, dass in der Bundesrepublik noch nie so viele Menschen in Lohnarbeitsstrukturen integriert waren wie gegenwärtig. Abhängige Beschäftigung ist zur prägenden Existenzform geworden.

T

rotzdem hat sich doch ein grundlegender Wandel vollzogen. Die Arbeiterklasse ist längst kein homogener Block mehr. Ist sie in ihrer traditionellen Form nicht bereits nahezu verschwunden? Die Arbeiterklasse befindet sich in ständigem Wandel. Ihre Heterogenität ist alles andere als eine neue Erscheinung. Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, dass nur der Metallarbeiter am Hochofen zur Arbeiterklasse zählt. Dieses tradierte Bild traf im Übrigen nie wirklich zu. Zu Marx’ Zeit war die Arbeiterklasse zu einem großen Teil weiblich und im Textilsektor beschäftigt. Seither hat sie sich per-

Werner Seppmann

Werner Seppmann ist Soziologe und Vorstandsmitglied der Marx-EngelsStiftung. Dort engagiert er sich im Projekt Klassenanlayse. Er arbeitete unter anderem zusammen mit Leo Kofler und Peter Hacks und verfasste zahlreiche Bücher zur Marxismusforschung, Sozialstrukturanalyse und Ideologiekritik.

manent verändert. Von einem Aussterben kann jedoch nicht die Rede sein, erst recht nicht auf internationaler Ebene. Allein die südkoreanische Arbeiterklasse ist heute größer als die weltweite Arbeiterklasse vor 150 Jahren. Und auch in Deutschland ist diese Klasse nach wie vor lebendig. Selbstverständlich wurden im Rahmen der Globalisierung in den kapitalistischen Metropolen industrielle Arbeitsplätze abgebaut. Tatsächlich haben auch die viel beschriebenen Dienstleistungsjobs zugenommen. Aber dadurch ist die Arbeiterklasse ebensowenig verschwunden wie durch die Tatsache, dass heute der durchschnittliche Facharbeiter einen Computer bedienen kann. Über die traditionellen Kernbereiche der Arbeitswelt hinaus haben sich auch neue Segmente einer Lohnabhängigenklasse mit hoher Konfliktbereitschaft gebildet. Das ist vor allem in den öffentlichen Diensten und Vorsorgebereichen der Fall, die in den letzen Jahrzehnten unter verstärkten Privatisierungsdruck geraten sind. Trotz der Bedeutungszunahme einer hochtechnologischen Produktionsweise und trotz der Ausweitung von Dienstleistungen haben die Arbeitsverhältnisse in vielen Bereichen nach wie vor einen bemerkenswert traditionellen Charakter. Es gibt zwar in einigen Segmenten mehr Eigenverantwortung, aber in ihrer Grundtendenz ist Arbeit immer noch dirigistisch und zunehmend auch wieder arbeitsteilig organisiert. Noch immer bestimmen Lärm und Schmutz den Alltag vieler Arbeiter und auch körperlich belastende Arbeiten sind nicht verschwunden: Ein Viertel der Beschäftigten in Deutschland muss schwere Lasten tragen, 15 Prozent arbeiten in Zwangshaltungen und 24 Prozent sind starkem Lärm ausgesetzt. Hinzu kommt, dass in vielen Bereichen des Arbeitslebens die psychischen Belastungen stark zugenommen haben, in manchen sogar massiv.

A

ber die Arbeiterklasse wird doch nicht dadurch definiert, dass sie unter schwierigen Bedingungen schuftet, sondern dadurch, dass sie im produktiven Sektor tätig ist. Leben wir nicht längst in einer Dienstleistungsgesellschaft? Immer noch sind in Deutschland fast ein Drittel aller Lohnabhängigen im produktiven Sektor beschäftigt. In absoluten Zahlen ausgedrückt sind das knapp elf Milli-

SCHWERPUNKT GEWERKSCHAFTEN IN DER KRISE

W

41


© chrisb86 / flickr.com / CC BY- ND

Kräftige Kerle unter rauchenden Schloten – dieses Bild traf auch schon zu Marx’ Zeiten nur bedingt zu. Die Arbeiterklasse war schon immer vielfältiger. Auch heute sind die meisten Lohnabhängigen nicht in den traditionellen Kernbereichen der Industrie beschäftigt onen Menschen. Nun wird behauptet, die restlichen zwei Drittel der Beschäftigungsformen hätten einen produktionsfernen Charakter. Davon kann jedoch keine Rede sein. Zum Beispiel sind in vielen Betrieben Bereiche wie die Lagerung, die Logistik oder die Reparatur ausgelagert und werden als Dienstleistungen klassifiziert. In Wirklichkeit aber stellen sie unmittelbar produktionsbezogene Tätigkeiten dar. Genau die Hälfte der Lohnabhängigen, die in den Statistiken als Beschäftigte im Dienstleistungssektor geführt werden, üben unmittelbar produktionsbezogene Tätigkeiten aus. Es gibt sehr viele Überschneidungseffekte. Etwa kann bei der Computerherstellung kaum noch sinnvoll zwischen Hardund Software unterscheiden werden. Kein Element kann ohne das andere existieren. Dennoch werden Arbeiter in der Hardwareproduktion als industriell Beschäftigte kategorisiert, während Softwareentwickler als Dienstleister gelten. Gleiches gilt für die Automobilproduktion. Niemand wird leugnen, dass hier die Bedeutung von elektronischen Komponenten gewachsen ist. Aber kann man dadurch sagen, dass das Auto ein immaterielles Produkt geworden wäre?

42

Schon an diesen einfachen Beispielen wird deutlich, dass sich industrielle Arbeit in einer einschneidenden Weise verändert hat. Sie ist nicht weniger industrielle Arbeit als in der Vergangenheit, hat aber einen differenzierteren Charakter bekommen. Grundsätzlich muss man sagen, dass in zentralen Bereichen der Industrie die Unterscheidung zwischen materiellen und immateriellen Produktionselementen keinen großen Sinn mehr macht. Es gibt eine Vielzahl technologisch bedingter Überschneidungen. Die Vorstellung, dass wir mittlerweile in einer postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft leben, muss daher deutlich relativiert werden.

chen sie jedoch nur noch die Hälfte der Beschäftigten aus. Außerdem reichen die Prämien kaum aus, um wenigestens die Lohneinbußen der letzten beiden Jahrzehnte zu kompensieren. Wenn man eine plausible Antwort auf die Frage nach der Arbeiterklasse als Totengräber des Kapitalismus geben will, muss man sich genau anschauen, welche Rolle sie bei Marx im historischen Prozess einnimmt. Eine solche Beschäftigung ist umso wichtiger, da kaum ein anderer Theoriekomplex des Marxismus so nachhaltig von interpretatorischen Verzerrungen und kontraproduktiven Verallgemeinerungen überlagert ist.

B

W

leiben wir doch gerade mal bei der Automobilindustrie. Marx sah in der Arbeiterklasse den Totengräber des Kapitalismus. Die Beschäftigten in dieser Branche erhalten dieses Jahr jedoch Prämien in bis zu fünfstelliger Höhe. Wie können sie noch als revolutionäres Subjekt betrachtet werden? Zunächst einmal sollte man bedenken, dass die Prämien innerhalb der Betriebe sehr ungleich verteilt sind. Nur die Stammbelegschaften profitieren davon. In den meisten Automobilbetrieben ma-

ie sieht ihre Rolle denn deiner Meinung nach aus? Die Basis des Marxschen Begründungsschemas bilden die objektiven Existenzbedingungen der Arbeiterklasse, also die Tatsache, dass sie durch ihre Stellung im Produktionsprozess eine kollektiv produzierende und kollektiv ausgebeutete Klasse ist. Einfach ausgedrückt: Vereinzelt können sich Arbeiter nicht wehren, gemeinsam besitzen sie jedoch eine gewaltige Macht. Wenn es zu Widerstandsaktionen der Arbeiterklasse kommt – was


telbares Produkt der ausbeutungsorientierten Umgestaltungen, die unter dem Signum Neoliberalismus in den letzten drei Jahrzehnten stattgefunden haben. Diese haben nicht nur in der Arbeitswelt, sondern auch in vielen anderen Lebensbe-

Unsere Klassenmentalität hat sich durch die Konflikterfahrungen des Arbeitsalltags entwickelt beiterklasse zugewiesen haben, ein ganz wesentlicher Gesichtspunkt. Auch wenn sie nur für mehr Lohn oder ihren Arbeitsplatzes kämpfen, positionieren sich Lohnabhängige in letzter Konsequenz automatisch gegen die totalitären Ansprüche des Kapitals. Dies wurde in der Vergangenheit immer wieder unter Beweis gestellt. Wenn es in der Bundesrepublik überhaupt wirksamen Widerstand gegen die neoliberalen Klassenkampfstrategien gegeben hat, dann durch Streiks. Dass die Gewerkschaftsbürokratien die vorhandene Konfliktbereitschaft der Belegschaften oft unterlaufen und die Chance, sich als Kraft des sozialen Widerstands zu profilieren, nicht aufgreifen, steht auf einem anderen Blatt.

W

ie du bereits angesprochen hast, sind jedoch in vielen Betrieben die Belegschaften in Festangestellte und Leiharbeiter gespalten. Ist ein kollektiver Kampf trotzdem noch möglich? Kämpft da nicht vielmehr jeder für sich? Die einen für höhere Prämien und die anderen dafür, dass sie am nächsten Tag wiederkommen dürfen? Ja, das ist sicherlich eine richtige Zustandsbeschreibung. Aber Marxisten streben ja danach, bestehende Zustände zu verändern. Daher ist der Kampf gegen die Spaltung der Belegschaften in Festangestellte und Leiharbeiter in den Auseinandersetzungen auf gewerkschaftlicher und betrieblicher Ebene von immenser Bedeutung.

U

nd was müsste konkret getan werden? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zunächst einmal schauen, wie diese Spaltung entstanden ist. Sie ist ein unmit-

reichen eine Spur sozialer und kultureller Verwüstung hinterlassen. Die Lebensverhältnisse sind insgesamt unsicherer geworden. Keiner kann sich seiner Stellung noch sicher sein, selbst mittlere Gesellschaftsschichten sind bedroht und prekäre Beschäftigungsverhältnisse breiten sich aus. Die Folge davon ist, dass viele nicht mehr von ihrer Arbeit leben können. Laut aktuellen Studien sind acht Millionen Menschen in Deutschland im Niedriglohnsektor beschäftigt. Sie arbeiten also für einen Stundenlohn von unter 9,15 Euro. Das Tragische an dieser ganzen Entwicklung ist, dass diese prekäre Beschäftigung die Belegschaften spaltet, und zwar in vielerlei Hinsicht. Es gibt Festangestellte, Zeit- und Leiharbeiter, geringfügig Beschäftigte und Scheinselbstständige. Hauptmerkmal dieser Situation ist, dass für die gleiche Arbeit immer seltener der gleiche Lohn gezahlt wird. Das wird natürlich vom Kapital als Herrschaftsmittel eingesetzt. Prekäre Beschäftigung beeinträchtigt nicht nur die unmittelbar Betroffenen, sondern stellt auch eine bedrohliche Erfahrung für die Kernbelegschaften dar. Ihnen wird täglich vor Augen geführt, dass sie austauschbar sind. Genau hier liegt allerdings auch eine Chance. Gerade weil alle Lohnabhängigen unter den Angriffen des Kapitals und der steigenden Unsicherheit ihrer Arbeitsplätze leiden, könnte sich auch wieder ein gemeinsames Bewusstsein herausbilden. Das ist der einzige Weg, um der Machtdominanz des Kapitals etwas entgegenzusetzen. Dass etwas gemacht werden kann und muss, hat glücklicherweise mittlerweile auch die IG Metall begriffen. Ihre Aktivitäten zur Gleichbehandlung von Leiharbeit weisen zumindest in die richtige Richtung.

Mit diesem gesamten Komplex wird sich übrigens auch mein neues Buch beschäftigen, dass im Herbst unter dem Titel »Ausgrenzung und Ausbeutung. Prekarisierung als Herrschaftsform« im Laika-Verlag erscheinen wird.

I

m Moment sieht es jedoch so aus, als hätten die lohnabhängig Beschäftigen überhaupt kein Klassenbewusstsein. Die Unvereinbarkeit ihrer Interessen mit denen des Kapitals, von der du sprichst, scheint nicht mehr die Grundlage von Arbeitskämpfen zu sein. Im Gegenteil: Immer häufiger wird die Kompatibilität von Kapital und Arbeit betont – sei es im Namen der Produktivität, des Standorts oder der kaufkräftigen Binnennachfrage. Wird dadurch nicht jegliches Klassenbewusstsein untergraben? Empirischen Untersuchungen über die Gesellschaftsbilder und Bewusstseinseinstellungen von Lohnabhängigen deuten auf eine gewisse Schizophrenie hin. Es gibt zwar den unmittelbaren Interessenhorizont, der besagt: »Wir müssen unsere Arbeit effektiv machen. Der Betrieb muss sich in der Konkurrenzsituation positionieren, sonst verlieren wir unseren Arbeitsplatz.« Doch trotz massiver sozialer Einschüchterung und dem regelrechten Zwang zur Selbstunterdrückung hat die Forcierung des Klassenkampfes von oben ein deutliches Konfliktbewusstsein erzeugt. Das Wissen um ihre existentielle Unsicherheit zählt zu den Konstanten des Gesellschaftsbewusstseins der Lohnabhängigen. Es handelt sich dabei noch nicht um Klassenbewusstsein. Aber man kann von der Existenz einer Klassenmentalität sprechen, die sich durch die Konflikterfahrungen des Arbeitsalltags entwickelt hat, aber von einer ganzen Reihe anderer Einflussfaktoren überlagert bleibt. Nur durch Kämpfe kann die Arbeiterklasse zu einem Bewusstsein ihrer gemeinsamen Interessen kommen. Und es zeichnet sich bereits ab, dass sich die Konflikte zukünftig in allen Bereichen der Arbeitswelt verschärfen werden. Auch die unmittelbaren Tagesinteressen werden nur durch kampfbereite Strategien durchzusetzten sein. Die Fragen stellte Martin Haller ★ ★★ WEITERLESEN: Werner Seppmann: Die verleugnete Klasse (Kulturmaschinen 2010).

SCHWERPUNKT GEWERKSCHAFTEN IN DER KRISE

natürlich viel zu selten geschieht – zeigt sich darin auch die gesellschaftliche Verallgemeinbarkeit der Interessen der Lohnabhängigen. Genau diese Tatsache war für die Revolutionstheorie von Marx und Engels und für die Bedeutung, die sie der Ar-

43


BOOKWATCH

Waren, Wert und Widersprüche Die Finanzkrise hält die Welt in Atem. Doch wer versteht eigentlich noch, was da passiert? Wir geben einen Überblick, welche Bücher zum Thema sich zu lesen lohnen

D

Von Thomas Walter

ie aktuelle Krise wirft neue Fragen auf und stellt alte Fragen neu. Was sind ihre Ursachen? Welche Rolle spielt der Staat in der Wirtschaft? Wie ist das Verhältnis von Industrie und Banken? Die Ideen von Karl Marx sind da hoch aktuell. In jeder Krise stellt sich auch die Frage, wie die Menschen sich gegen die Auswirkungen wehren können und welche Alternativen zum Kapitalismus sich abzeichnen. Es geht nicht mehr nur um kritische theoretische Darstellungen des Kapitalismus, sondern um Möglichkeiten zu seiner Überwindung. Die folgende Bücherschau soll einen Einblick in dazu laufende Debatten innerhalb der Linken geben.

44 44

Ein Klassiker zur Thematik ist Alfred Müllers Buch »Die Marxsche Konjunkturtheorie«. In dessen Mittelpunkt steht das von Marx so bezeichnete Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate. Für Müller führt diese Tendenz periodisch zu Krisen, die langfristig länger und tiefer werden. Der Ökonom und Publizist verteidigt das Gesetz gegen Kritik, auch die einiger Marxisten. Müllers Konjunkturzyklus beginnt mitten in der Krise: Wegen niedriger Profitraten sind die Kapitalisten gezwungen, technische Neuerungen einzuführen – teure Maschinen, die die Arbeitsproduktivität steigern und somit den sogenannten relativen Mehrwert. Gleichzeitig wird in der Krise technisch veraltetes Kapital entwertet und die Löhne sinken. Die Profitrate erholt sich. Auch andere Kapitalisten müssen die neuen Maschinen bei sich einführen, wollen sie mithalten. Dies treibt den Aufschwung. Doch jeder


ferfahrung und die sozialistische Perspektive sich (…) entwickeln«, kann der Kapitalismus überwunden werden. Müllers Werk ist dreißig Jahre nach der ersten Veröffentlichung hoch aktuell. Es entwickelt die wichtigsten Kernthesen von Marx und grenzt sie gegen andere Positionen ab.

Es geht nicht mehr um die Kritik am Kapitalismus, sondern um Möglichkeiten seiner Überwindung

BOOKWATCH SCHWERPUNKT GEWERKSCHAFTEN IN DER KRISE

Sozusagen in den Fußstapfen von Alfred Müller legt jetzt Stephan Krüger eine insgesamt 1600 Seiten schwere Analyse zur Kapitalakkumulation vor. Dafür hat der Volkswirt zahlreiche statistische Daten der Bundesrepublik Deutschland ausgewertet. Im ersten Band erklärt Krüger, wie die langfristigen Akkumulationstendenzen des Kapitalismus schließlich in Finanzkrisen enden. Im zweiten Band stellt er das Finanzsystem der Weltwirtschaft mit seinen Krisen dar. Er arbeitet die Rolle der Zentralbanken heraus, die zwar staatlich sind, aber trotzdem kaum einer demokratischen Kontrolle unterliegen. Wie Müller verteidigt Krüger wichtige Thesen von Marx gegen Kritik. Anders als Müller sieht er aber auch Spielräume für Reformen innerhalb des Kapitalismus. Er kritisiert den bürgerlichen Ökonomen Keynes nicht

© Künstler: Rallito X Foto: Dr Case / flickr.com / CC BY-NC

macht das auf eigene Rechnung. Es gibt keine gesamtwirtschaftliche Abstimmung. Unternehmen und Branchen entwickeln sich ungleich. Am Ende des Aufschwungs steht die Überakkumulation: Teure Maschinen können nicht ausgelastet werden, weil die Nachfrage fehlt. Konsumgüter können nur unter Wert verkauft, produzierte Produktionsmittel nicht profitabel eingesetzt werden. Eine Krise bricht aus und bildet den Ausgangspunkt für den neuen Zyklus. Über den Zyklus hinweg sinkt die Profitrate, weil mit immer teureren Maschinen produziert wird, die, wenn überhaupt, nur ausgelastet werden können, wenn die Waren unter Wert verkauft werden. Müller argumentiert gegen die in Gewerkschaften beliebte und heute mit dem Namen John Maynard Keynes verbundene Unterkonsumtionstheorie. Über höhere Löhne und Staatsausgaben könne keine Nachfrage entstehen, die dem Kapitalismus aus der Krise helfe. Dazu müsste man die Gesamtwirtschaft planen. Das wäre dann aber nicht mehr Kapitalismus. Müller betont, dass Krisen den Kapitalismus nicht automatisch beenden. Nur wenn »die Empörung, der Vertrauensverlust, die Organisierung der Arbeiterklasse, die Kamp-

45


nur, sondern greift dessen Kritik an kapitalistischen Erscheinungen und einige seiner Reformvorschläge auf. Für Krüger sind der private Konsum der Arbeiter und der Sozialstaat eine Grundlage, um zwar nicht dauerhaft, aber einstweilen den Kapitalismus zu stabilisieren. Während Müller als Akteur für Veränderungen klar die Arbeiterklasse benennt, aber keine konkreten Maßnahmen vorlegt, sind umgekehrt Krügers Vorschläge sehr detailliert und sachkundig, er bleibt aber vage darüber, wer das alles durchsetzen soll. Krüger fordert zwar keine Weltrevolution, aber doch eine Art linken DIE BÜCHER Weltkeynesianismus: »Neue, emanzipatorische Regulationsformen sind gefragt, die die kaAlfred Müller: Die pitalistische Marktwirtschaft an Marxsche Konjunkturtheorie. Eine überzentralen Punkten zugunsten akkumulationstheorenicht-kapitalistischer, sozialistitische Interpretation, scher Formen überwinden.«

PapyRossa, Köln 2009.

Stephan Krüger: Allgemeine Theorie der Kapitalakkumulation. VSA, Hamburg 2010.

Stephan Krüger: Politische Ökonomie des Geldes. VSA, Hamburg 2011

Lucas Zeise: Geld – der vertrackte Kern des Kapitalismus. PapyRossa, Köln 2011.

Christian Christen: Politische Ökonomie der Alterssicherung. Metropolis-Verlag, Marburg 2011.

Margit Frackmann: Gute Arbeit – Gute Bildung. Supplement der Zeitschrift Sozialismus 1/2011.

46

Während Krüger die bürgerliche »politische Ökonomie« insgesamt kritisch darstellt, konzentriert sich Lucas Zeise, bis vor kurzem Kolumnist der Financial Times Deutschland, auf einen »Versuch über die politische Ökonomie des Finanzsektors«. Zeise war einer der ersten, der die Finanzkrise kapitalismuskritisch dargestellt hat. Jetzt hat er mit seinem neuen Buch »Geld – der vertrackte Kern des Kapitalismus« nachgelegt. Er zeigt, dass in den herrschenden ökonomischen Theorien Geld gar keine Rolle spielt. Es sei nur ein Hilfsmittel, um den Warentausch zu erleichtern. Eine Finanzkrise könne es deshalb eigentlich gar nicht geben. Kein Wunder, dass diese Krise auch zu einer ideologischen Krise des Kapitalismus geworden ist. Zeise setzt sich auch mit der Lehre von Sylvio Gesell auseinander, die aktuell neue Anhänger bei Kapitalismuskritikern findet. Der 1930 verstorbene Gesell war Begründer der Freiwirtschaftslehre. Zeise bemängelt, dass diese zu kurz greife, da Gesell zwar den Zins, nicht aber, wie Marx, auch den Profit kritisiert habe. Fachkundig und mit vielen geschichtlichen Materialien aufbereitet schildert Zeise sowohl die gegenwärtige Finanzkrise

als auch, wie im Kapitalismus das Finanz-un-wesen grundsätzlich funktioniert. Finanzsektor und Staat seien eng verzahnt. Der Staat sei aber weder ohnmächtig noch neutral. Insbesondere durch die Zentralbanken greife er zugunsten des Kapitals und gegen die Arbeitnehmer in den Finanzsektor ein. Für Müller und Krüger ist die langfristige Tendenz fallender Profitraten Grundlage der Analyse. Laut Krüger führt diese Tendenz auch dazu, dass die Löhne zurückbleiben. Je stärker die zurückgedrängt würden, desto schwächer falle die Nachfrage der Arbeitnehmer nach Konsumgütern aus. Mit fehlender Nachfrage entfalle aber auch der Anreiz zu investieren. So komme es erst recht zu Krise und Stagnation. Auch Zeise sieht das so. Für ihn ist dies sogar die Hauptkrisenursache: »Das neoliberale Wirtschaftsmodell des Kapitalismus ist ganz unoriginell an den Schranken der ungleicher werdenden Einkommensverteilung gescheitert. Es besteht nun in der Krise kein Grund, von der alten grundlegenden Forderung nach mehr Gleichheit abzurücken. Nun, da die Organisatoren des neoliberalen Modells erkennbar nicht weiterwissen, haben die linken, fortschrittlichen, sozialen Kräfte keine schlechte Chance, endlich in die Offensive zu kommen.« Zeise sieht ähnlich wie Krüger Möglichkeiten, den »Amok gelaufenen Finanzsektor« zu bändigen. Vielleicht ist aber diese Krise so tief und die notwendigen staatlichen Eingriffe so groß, dass diese ideologisch und politisch von den Herrschenden als Gefahr angesehen werden. Sowohl Zeises »Versuch über die politische Ökonomie des Finanzsektors« als auch Krügers Kritik der gesamten bürgerlichen »politischen Ökonomie« weisen somit über Analysen und politische Vorschläge hinaus zu den unmittelbar von der Krise Betroffenen und deren Handlungsmöglichkeiten. Dies führt zu zwei weiteren Autoren, Christian Christen und Margit Frackmann, die sich eben mit den Folgen befassen, die Neoliberalismus und Finanzkrise für die Menschen haben. Der Sozialökonom Christian Christen beschreibt in seiner »Politischen Ökonomie der Alterssicherung«, wie die Altersvorsorge in der neoliberalen Ära vor Beginn der Krise immer stärker den Finanzmärkten ausgeliefert wurde. Banken und Versicherungen werden auch in Zukunft trotz Finanzkrise auf diese Profite zu Lasten der Arbeitnehmer und Rentner nicht verzichten wollen. Die Abwicklung der Altersvorsorge über private, freilich staatlich mit Steuergeldern subventionierte Finanzmärkte dient auch dazu, von vornherein der Bevölkerung die Folgen einer Krise aufzubürden. Christen stellt dar, dass die Interessen der Finanzindustrie mit Scheinargumenten massenwirksam bedient werden sollten. Vor allem mit Hilfe keynesianischer Modelle entkräftet er die Behauptungen der Finanzindustrie. Zudem verdeutlicht er, dass die private, sogenannte kapitalgedeckte, staatlich subventionierte Altersvorsorge Arbeitnehmer und Rentner im


Bei Margit Frackmann, Hochschullehrerin am Institut für Berufspädagogik der Universität Hannover, stehen die Arbeiter und Arbeiterinnen im Vordergrund, die gegen die anhaltende Krisentendenz des Kapitalismus kämpfen müssen. Ausgangspunkt ihrer Schrift »Gute Arbeit – Gute Bildung« ist, dass das Kapital trotz allem »arbeitssparenden technischen Fortschritts«, der mit dem tendenziellen Fall der Profitrate einhergeht, auch zukünftig auf die Ausbeutung von Menschen angewiesen bleiben wird. Versuche zur Vollautomatisierung, wie in der »Halle 54« im VW-Werk, seien gescheitert. Aber auch die sogenannte Gruppenarbeit sei aus Sicht des Kapitals nicht erfolgreich gewesen, weil das Kapital den Arbeitern keine Verantwortung überlassen wollte. Im Krisenjahr 2009 zeigte sich die Abhängigkeit des Kapitals von den Arbeiterinnen und Arbeitern darin, dass das Unternehmensmanagement Entlassungen möglichst vermieden hat – aus Angst, später ohne erfahrene Arbeiter dazustehen. Die krisenhafte Entwicklung des Kapitalismus hinterlässt im Alltag der Arbeiter und Angestellten tiefe Spuren. Schlafstörungen, Angst und Stress nehmen zu. Dabei ist für die Menschen Arbeit zentral, um ein erfülltes Leben führen zu können. Frackmann erteilt deshalb einem bedingungslosen Grundeinkommen eine Absage. Sie meint: Die Menschen möchten keine Almosen, sondern sinnvoll arbeiten. Die Produktivkräfte der Arbeitnehmer geraten zunehmend in Widerspruch zu den kapitalistischen Produktionsverhältnissen. Höhere Konkurrenzfähigkeit erfordert eigentlich Produktivitätssteigerungen mit Hilfe gut ausgebildeter, gemeinsam handelnder Arbeiter. Dem stehen aber die Kontrollbedürfnisse des Kapitals entgegen. Das Ergebnis sind immer neue sinnlose Umstrukturierungen, die sich im Kreis bewegen und die Frustration der Arbeitnehmer verstärken. Das Kapital setzt weiter auf niedrige Löhne und versucht mithilfe einer Kampagne zum »Fachkräftemangel«, die Verhandlungsmacht der Arbeiter und der Gewerkschaften zu schwächen. Gleichzeitig findet eine gesellschaftliche Entsolidarisierung statt. Teile der Mittelschichten springen aus Angst vor größerer Konkurrenz auf die Sarrazin-Kampagne auf. Sie sind nicht deshalb gegen an Migranten »verschwendete«

Bildungsausgaben, weil sie Sarrazins rassistischen Thesen glauben, sondern weil sie fürchten, dass gut ausgebildete Ausländer ihnen oder ihren Kindern auf dem Arbeitsmarkt Konkurrenz machen könnten. Die Weltfinanzkrise macht gerade in den Gewerkschaften so manchen mutlos. Umso wichtiger ist es, dass Frackmann nüchtern den Klassenkampf in der Geschichte der Bundesrepublik, die Rolle der Gewerkschaften, die Kompromisse und den Kampf um den Arbeitsalltag schildert. Sie zeigt, dass Arbeitnehmer nicht hilflos sind, sondern dass – im Sinne von Gramscis Stellungskrieg – ein zähes Ringen zwischen den Klassen die Arbeitswelt prägt, mit Fortund Rückschritten, mit Zugeständnissen und Teilerfolgen. »Gute Arbeit«, schließt die Verfasserin, »setzt entsprechend ausgebildete und motivierte Arbeitnehmer voraus. Die Ressourcen und die entsprechende gesellschaftspolitische Prioritätssetzung werden aber ohne Druck von den Gewerkschaften und allen Bündnispartnern (...) vom Staat nicht zur Verfügung gestellt werden.«

Die Krise hinterlässt im Alltag der Arbeitnehmer tiefe Spuren. Schlafstörungen, Angst und Stress nehmen zu

★ ★★ Thomas Walter ist Ökonom aus Berlin und Mitglied der LINKEN.

Wer sich grundsätzlich mit der Marxschen Ökonomie auseinandersetzen will und etwas Geduld mitbringt, der kann zu den Büchern von Alfred Müller und Stephan Krüger greifen, wobei Krüger ausführlich auf die jetzige Krise eingeht, die er letztlich als für den Kapitalismus nicht überwindbar hält. Wer nicht gleich in die marxistische Kapitalismuskritik einsteigen und sich lieber erst mal mit der laufenden Finanzkrise auseinandersetzen möchte, ist bei Lucas Zeise gut aufgehoben. Interessenten für politische Gegenmaßnahmen finden bei Krüger und Zeise Vorschläge, durchaus mit unterschiedlichen Stoßrichtungen. Auch Christian Christens MARX IS MUSS 2012 Buch ist hier hilfreich, wenn es die reaktionären Argumente zur Privatisierung der Alterssicherung auseinander nimmt. Nach Analyse und AntikapitalismusrezepEXTRA-THEMENBLOCK ten interessiert nicht zuletzt ZUR EUROKRISE das Kräfteverhältnis zwischen Arbeit und Kapital. Hierzu sei die Schrift von Margit Frackmann empfohlen. ■

KRISE SCHON VORBEI? BOOKWATCH AKTUELLE ANALYSE

Vergleich zum bisherigen umlagefinanzierten Rentensystem schlechter stellt. Profiteur sei das Kapital.

47


WELTWEITER WIDERSTAND

Mehr als einhundert Studierende und Schüler kommen auf einem zentralen Platz in Chiles Hauptstadt Santiago zusammen, um küssend gegen die neoliberale Bildungs­ politik Regierung zu demonstrieren Hunderttausende Studierende ziehen Ende März durch die der Straßen Montreals. Sie passieren

das »Îlot voyageur«, einen leerstehenden Bau der Universität, der das Missmanagement des Landes symbolisiert 48


KANADA

Im kanadischen Quebec sollen die Studiengebühren um 75 Prozent erhöht werden. Dagegen formiert sich eine neue Studierendenbewegung Von Moritz Wichmann

E

twa 200.000 Studierende, Eltern und Hochschulangehörige haben Ende März in Montreal gegen die geplante Erhöhung der Studiengebühren protestiert. Die Demonstration war der vorläufige Höhepunkt einer neuen Studierendenbewegung, die die Provinz Quebec seit Wochen in Atem hält. »Eine der größten Demonstrationen in der Geschichte Quebecs«, berichtet Olivier Lavoie (Name geändert, d. Red.) begeistert über den Tag. Der Student der Université du Québec à Montréal war mit auf der Straße. Von einem Dach grüßten Studierende den Demozug mit einer Banderole: »Blockieren wir zusammen die Erhöhung«. Die Provinzregierung will die Studiengebühren in den nächsten fünf Jahren stufenweise von aktuell 2.168 kanadischen Dollar auf 3.793 Dollar pro Jahr erhöhen. Eine Steigerung von 75 Prozent. Seit Mitte Februar boykottieren die Studierenden in Quebec ihre Universitäten und Colleges, beinahe täglich gab es Demos, Aktionen und auch Blockaden. Laut Angaben des linkssyndikalistischen Zusammenschlusses »Coalition large de l’Association pour une solidarité syndicale étudiante« (Classe) befanden sich Ende März fast 400.000 Studierende im Streik. In Quebec zahlen die Studierenden die niedrigsten Gebühren aller Provinzen Kanadas. Das hat auch historische Gründe, sagt Olivier. Wie in Deutschland ist in Kanada Bildung Ländersache. Im traditionell eher linken Quebec gibt es seit der Studierendenbewegung der sechziger Jahre eine »Deckelung« der Studiengebühren, erzählt Olivier. Die will die Provinzregierung nun, in Zeiten klammer öffentlicher Haushalte, aufheben. Zielscheibe des Protests auf der Großdemo war auch der Premierminister der regierenden liberalen Partei John James Charest. Dessen Reaktion auf die Proteste: »Darüber haben wir schon jahrelang debattiert, die Studierenden und ihre Eltern hatten nun wirklich genug Zeit, zu sparen.« © Robin Dumont / flickr.com / CC BY NC-SA

»Keine Festnahmen, keine Verletzten, keine Gewalt«, so beschrieb eine Zeitung die Großdemo. Das lag wohl auch daran, dass die Polizei sich zurückgehalten hatte – angesichts der massenhaften Beteiligung. In den Wochen zuvor hatte es immer wieder Auseinandersetzungen mit Studierenden gegeben. Dabei setzte die Polizei wiederholt Tränengas und Pfefferspray ein. Höhepunkt war die Verletzung des 22-jährigen Studenten Francois Grenier. Sein rechtes Auge wurde Anfang März durch eine Blendgranate der Polizei schwer verletzt. Ob der Student auf diesem Auge jemals wieder sehen kann, ist unklar. Derweil debattieren die Studierenden, wie der Protest verstärkt werden könne. Die beiden größten Studierendengewerkschaften Quebecs kündigten an, auch bei öffentlichen Auftritten von Parlamentsabgeordneten zu demonstrieren. Dieses Jahr stehen in Quebec Parlamentswahlen an. Ob es bei der »Bearbeitung« von Abgeordneten bleiben wird, ist unklar. Ein offensiveres Vorgehens fordert der linkssyndikalistische Zusammenschluss »Classe«. Mitglieder der Gruppe zogen ein riesiges Transparent über einen Teil der Demonstration. »Der 22. März ist nur der Anfang«, stand darauf. Das hofft auch Olivier. Er will weiter streiken: »Wir befinden uns im unbefristeten Streik, bis die Bildungsministerin auf unsere Forderungen eingeht«, sagt er. Die hat schon klargestellt, dass sie an der Erhöhung der Studiengebühren festhalten will und Gespräche mit den Studierenden ablehnt. Olivier erwartet deshalb eine Eskalation der Proteste. »Es wird militanter werden«, prophezeit er. Im April wollen die Studierenden erneut auf die Straße gehen. ★ ★★ Moritz Wichmann studiert Sozialwissenschaften in Berlin. Er ist freier Mitarbeiter von taz und Jungle World. Sein Text ist ursprünglich auf taz.de erschienen.

8DÄNEMARK In Aarhus demonstrierten Ende März etwa 8000 Antifaschistinnen und Antifaschisten gegen eine Konferenz, die von der rechtsradikalen English Defence League organisiert worden war. Ziel des »Counter-Jihad Meetings« war es, Islamfeinde aus verschiedenen europäischen Ländern zu vernetzen. Doch letztendlich kamen nur 150 Rechte in die dänische Stadt.

8MAROKKO Im März haben Tausende Marokkaner gegen ein Gesetz protestiert, das Vergewaltigungsopfer dazu zwingt, ihren Peiniger zu heiraten, um so vermeintlich die Familienehre wiederherzustellen. Anstoß zum jüngsten Protest gegen das schon lange umstrittene Gesetz gab der Selbstmord einer 16-Jährigen, die sich nach der gesetzlich verordneten Zwangshochzeit mit ihrem Vergewaltiger das Leben nahm.

8INDIEN Aus Protest gegen Inflation und schlechte Arbeitsbedingungen folgten Millionen Inder Ende Februar dem Aufruf der Gewerkschaften zum Generalstreik. Es war einer der größten Streiks seit der Unabhängigkeit im Jahr 1947.

KENIA

Krankenschwestern streiken Nach einem zweiwöchigen Streik, der das Gesundheitssystem Kenias beinahe zum Erliegen gebracht hat, haben die Gewerkschaften des westafrikanischen Landes einen grandiosen Sieg erringen können. Wegen Unterfinanzierung und Einsparungsplänen drohte insgesamt 25.000 Krankenschwestern und anderen Mitarbeitern des Gesundheitssystems der Verlust ihres Jobs. Premierminister Raila Odinga ließ Mitte März verkünden, die Stellenstreichungen seien nun vom Tisch und man werde sich mit den Forderungen der Demonstranten befassen. Das Gesundheitssystem Kenias gilt insgesamt als sehr marode, bereits im Dezember letzten Jahres machte die Ärzteschaft mit einem landesweiten Streik darauf aufmerksam.

Weltweiter Widerstand

»Es wird militanter werden«

8NEWS

49


INTERNATIONALES

»Selbst von ihren Marionettenregimes werden die USA mittlerweile kritisiert« Droht ein Krieg gegen den Iran? Zerbricht das Bündnis der Amerikaner mit Pakistan? Der britische Aktivist und Autor Tariq Ali gibt im Gespräch eine Einschätzung der Situation im Nahen Osten

T

ariq, auf welche Seite neigt sich die Waage des US-Imperialismus mit Blick auf den Irak? Haben die USA an Macht und Einfluss verloren? Politisch gesehen war der Irakkrieg eine Katastrophe für die US-amerikanische Außenpolitik. Das Ziel lautete, einen »demokratischen« Staat zu errichten, der wie ein Leuchtturm auf die anderen Staaten des Nahen Ostens ausstrahlen sollte. Faktisch haben die USA einen klerikalen Staat geschaffen, der mit polizeistaatlichen Mitteln arbeitet. Einige Iraker empfinden die Unterdrückung heute stärker als in den letzten Herrschaftsjahren Saddam Husseins. Die Gesellschaft ist nach religiösethnischen Linien gespalten, wobei die schiitische Mehrheit gegen die sunnitische Minderheit ausgespielt wird – und zwar in einem Land, wo religiöse Unterschiede früher keine Rolle spielten. Durch diese Entwicklung ist der Iran zum Hauptakteur in der Region geworden, was die USA zweifellos nicht beabsichtigt hatten. Wieso sie das allerdings nicht voraussehen konnten, kann einen schon verwundern. Militärisch gesehen werden die USA behaupten, dass sie ein feindliches Regime beseitigt haben, oder eins, das zum Feind wurde. Sie werden sagen, dass sie ihre Pflicht gegenüber Israel erfüllt haben, das am meisten Druck für einen Krieg ausgeübt hatte. Aber der Krieg ist sie teuer zu stehen gekommen. Wir sollten dennoch vorsichtig sein, von einem Abzug der USA

50

Tariq Ali

Tariq Ali ist ein britischer Autor, Filmemacher und Historiker. Sein neuestes Buch »Das Obama-Syndrom. Leere Versprechungen, Krisen und Kriege« erscheint im August im Heyne Verlag.

aus dem Irak zu sprechen. Es gibt immer noch amerikanische Truppen dort, Söldner oder sogenannte Subunternehmer. Ihre Zahl geht in die Tausende. Die USamerikanischen Soldaten sind jetzt überwiegend auf regionalen Stützpunkten in anderen Ländern des Nahen Ostens stationiert worden. Wenn die USA also eingreifen wollen, könnten sie das sehr schnell von ihrem Armeestützpunkt in Katar aus tun, von wo der Krieg auch begonnen wurde. Das heißt keineswegs, dass der Rückzug eine rein kosmetische Angelegenheit wäre. Aber die USA haben dort trotzdem noch genug Leute, um jederzeit losschlagen zu können. Deshalb würde ich sagen, dass sie auf militärischer Ebene nicht in jeder Hinsicht verloren haben. Der Zustand, in dem sie den Irak hinterlassen haben, wird in den westlichen Medien nur selten angesprochen. Die soziale Infrastruktur des Lands wurde zerstört, es gibt unglaubliche Einschränkungen für Frauen. Die Zahl der Todesopfer ist umstritten. Aber wenn selbst das irakische Marionettenregime sagt, es gebe fünf Millionen Waisenkinder, müssen wir davon ausgehen, dass mindestens eine Million Erwachsene gestorben sind. Zwei Millionen sind obdachlos. Hinzu kommen die Flüchtlinge, die jetzt in Nachbarstaaten leben. Für die Menschen im Irak war dieser Krieg eine absolute Katastrophe. Durch ihn wurden neue Spaltungen geschaffen. Die Kur-

FORTSETZUNG AUF SEITE 52


INTERNATIONALES

ANZEIGEN

51


denführer in den Nordgebieten des Lands haben die Rückendeckung der USA und Israels. Dann gibt es verschiedene schiitische Fraktionen, die um Unterstützung aus Teheran konkurrieren. Die Lage bleibt instabil, weil die Leute sehen wollen, wie lange sich Iraks Ministerpräsident Nuri al-Maliki ohne die Anwesenheit von USTruppen in der Grünen Zone Bagdads halten kann. Ich würde also sagen, wir sollten noch sechs Monate abwarten, ehe wir genauer erkennen können, wohin sich die Waage in diesem Desaster neigt.

ralen, die einen Einmarsch begrüßen würden, aber sie haben in Teheran nur wenig Einfluss. Die Mehrheit des Lands würde Widerstand leisten und die Iraner haben eine richtige Armee und Luftstreitkräfte, die nicht so schnell demobilisiert werden können wie die libyschen. Die Verhängung von Sanktionen ist einfach absurd. Warum tun sie das? Um das Land zu schwächen? Die Chinesen haben mit den Iranern einen 30-Jahres-Vertrag über die Lieferung von Öl und Gas. Ich glaube nicht, dass die Chinesen die Sank-

»Bleibt nicht stehen – holt euch auch Damaskus und Teheran« Israels Botschafter in den USA

W

ie ernst sind die Spannungen zwischen den USA und dem iranischen Regime zu nehmen? Wird es zu militärischen Zusammenstößen oder gar zum Krieg kommen? Meiner Ansicht nach liegt es nicht im Interesse des amerikanischen Imperiums, Krieg gegen den Iran zu führen. Das ist zurzeit aus unterschiedlichen Gründen auch die Ansicht des Pentagons. Das bedeutet nicht, dass sie es ganz ausschließen – denkt nur daran, was nach dem Fall Bagdads geschah: Es gab eine sehr interessante Stellungnahme des israelischen Botschafters in den USA. Er sagte: »Bleibt nicht stehen – holt euch auch Damaskus und Teheran.« Genau das ist das Ziel der »Ultras« in der amerikanischen herrschenden Klasse. Aber es ist auch nicht einfach durchzusetzen. Bis heute haben sie Assad in Syrien nicht gestürzt, obwohl er und sein Regime geschwächt sind. Das iranische Regime ist hingegen kein schwaches, auch wenn es uns nicht gefällt. Es verfügt über eine breite Anhängerschaft in der Bevölkerung, und wenn die Amerikaner etwas anderes glauben, werden sie sich noch wundern. Was also passiert, wenn sie den Iran angreifen? Zunächst wird es großen Widerstand geben. Außerdem würde sich die iranische Bevölkerung weitgehend hinter die Regierung stellen, weil niemand einen Einmarsch der USA erleben will. Vielleicht gibt es einige Gruppen von Libe-

52

tionen befolgen werden, und die Russen sagen auch, dass sie sich nicht anschließen. Diejenigen, die zurzeit die Sanktionen befolgen, sind nur die Handlanger des amerikanischen Imperiums. Das reicht nicht aus, um die iranische Wirtschaft in die Knie zu zwingen, und in jedem Fall – wie wir beim Irak gelernt haben – treffen die Sanktionen niemals die herrschende Elite. Immer sind es die Armen, die darunter leiden, und das treibt die Menschen in die Arme der Geistlichkeit. Die Frage lautet eher, ob die USA die Israelis ermutigen werden, Irans Atomreaktoren anzugreifen. Aber selbst das glaube ich nicht, weil es Krieg bedeuten würde. Die Reaktoren sind überall im Land verteilt, und einige der strategisch wichtigsten befinden sich nahe der heiligen Stadt Ghom. Wollen sie die wirklich bombardieren? Das wäre für die Schiiten auf der ganzen Welt so, als würden die USA Mekka bombardieren. Das ist also ein Problem. Daher denke ich, dass die USA größtmöglichen Druck auf die Iraner ausüben werden, erst gar keine Atomwaffen herzustellen.

B

licken wir noch ein Stück weiter Richtung Osten: Steht die Beziehung zwischen den USA und Pakistan vor dem endgültigen Zerwürfnis? Auf jeden Fall steht sie unter enormen Druck. Die USA haben sich entschieden, einen offiziellen Armeekontrollpunkt zu

bombardieren, dabei sind Dutzende Soldaten und auch Zivilisten getötet worden. Das war eine schwere und bewusste Provokation – und kein unglücklicher Fehler.

W

arum also haben sie das getan? Verschwörungstheoretiker in Pakistan denken, die USA wollen die Armee destabilisieren, dann einmarschieren und das Land atomwaffenfrei machen. Ich glaube, das ist etwas weit hergeholt. Wenn sie das täten, würden sie einen Bürgerkrieg entfesseln, die Armee würde sich in anti- und proamerikanische Fraktionen spalten und die Antis wären die absolute Mehrheit. Das ist also keine Option. Der Krieg gegen Afghanistan barg immer das Potenzial, Pakistan wegen der engen Verbindungen zwischen der paschtunischen Bevölkerung auf beiden Seiten der Grenze zu destabilisieren. Je länger sich dieser Krieg hinzieht, desto größer ist das Risiko der Destabilisierung Pakistans. Die Lösung für dieses Problem liegt nicht in Pakistan, sondern in Afghanistan und dem Abzug aller NATO-Truppen, sofort und ohne Bedingungen. Seit Jahren haben die USA hinter den Kulissen mit dem afghanischen Widerstand verhandelt. Sie versuchen eine gesichtswahrende Lösung zu finden, die beinhaltet, dass sie riesige Armeestützpunkte aufrechterhalten können. Das ist aber für die Chinesen nicht hinnehmbar. Der Krieg gegen Afghanistan ist also auf militärischer Ebene nicht gut für die USA verlaufen. Die afghanische Guerilla hat sich nicht spalten lassen. Im Süden haben vor allem die Paschtunen Widerstand geleistet. Versuche, eine Spaltung der Bevölkerung anhand religiöser Linien voranzutreiben, funktionieren nicht, weil 60 Prozent der Paschtunen auch Sunniten sind. Deshalb ist den USA das nicht gelungen, was sie im Irak geschafft haben, wo der Widerstand überwiegend von den Schiiten getragen wurde. In Afghanistan ist die Mehrheit der Bevölkerung gegen das Marionettenregime. Selbst das Marionettenregime kritisiert heute die USA.

W

elche Strategie haben die Amerikaner gegenüber dem Arabischen Frühling verfolgt? Die Aufstände haben sie völlig aus der Bahn geworfen. Die USA und auch Europa waren absolut überrascht. Die Franzosen boten sogar an, Fallschirmjäger nach Tunis zu schicken, um den Aufstand nie-


derzuschlagen. So etwas war in Ägypten nicht möglich. Aber die USA haben dennoch bis zum Ende an Mubarak festgehalten. Sie ließen ihn erst fallen, als sie sicher sein konnten, dass Verteidigungsminister Mohammed Tantawi und die alte Armeeführung, die Mubarak unterstützt hatte, ihre Macht behielten. Die Wahlen waren vor allem ein Sieg für die Muslimbruderschaft. Das heißt, dass die USA, die entgegen aller Behauptungen immer Beziehungen zu den Muslimbrüdern unterhielten, jetzt dafür sorgen müssen, die Bruderschaft auf ihre Seite zu bringen. Was die USA am meisten beunruhigt, ist nicht, dass die Muslimbruderschaft antikapitalistisch sein oder ein radikales So-

MARX IS MUSS 2012

TARIQ ALI KOMMT. DU Auch? JETZT ANMELDEN

★ ★★ HINTERGRUND: Bei diesem Text handelt es sich um die gekürzte Version eines Interviews, das Tariq Ali im Februar der britischen Zeitschrift Socialist Review gegeben hat. Wir danken für die Nachdruckgenehmigung.

INTERNATIONALES

© Greg Lilly

Antikriegsprotest in Los Angeles. Auch viele Amerikaner fürchten sich vor einem neuen Angriffskrieg der USA

zialprogramm umsetzen könnte. Das ist sehr unwahrscheinlich, obwohl sie natürlich durch Druck von unten gezwungen sein könnte, ein paar Sozialreformen einzuleiten. Worüber sich die USA aber wirklich Sorgen machen, ist die Frage, ob das neue Ägypten das Abkommen mit Israel einhält. Aus der ägyptischen Bevölkerung kommt der Druck, die Palästinenser zu unterstützen und notfalls die Beziehungen mit Israel zu beenden. Kürzlich wurde zum ersten Mal überhaupt die israelische Botschaft in Kairo besetzt. Das kann zu einer schwierigen Situation für die Bruderschaft werden. Meinem Gefühl nach wird die Mehrheit in der Führung einknicken, wenn die USA die Einhaltung der Verträge fordern – allerdings vorausgesetzt, dass sie von den USA im Gegenzug etwas zurückbekommen. Ich hoffe, ich täusche mich, aber ich fürchte, das ist eine mögliche Alternative. Die Amerikaner werden mit der Armee und der Muslimbruderschaft ins Geschäft kommen, wenn die hinter den Kulissen entscheiden, das Land gemeinsam zu regieren. Was in Ägypten passiert ist, war ein riesiger nationaler Aufstand, um einen Diktator zu stürzen. Im Großen und Ganzen war es eine Erhebung für Demokratie. Ihre Ziele waren beschränkt und das ist bis zu einem gewissen Grad auch ein Problem. Die Leute, die den Verlauf der Ereignisse bestimmt haben, sind die großen politischen Parteien, weshalb ich mich mit der Ansicht nicht anfreunden kann, die Ereignisse hätten gezeigt, dass wir keine politische Organisation brauchen. Das ist Unsinn. Diejenigen, die vor dem Sturz Mubaraks politischen Parteien angehört haben, sei es illegal oder halb verdeckt, haben auch die Wahlen gewonnen. Andererseits ist bemerkenswert, dass die Menschen ein Gefühl für ihre eigene Macht bekommen haben. Das ist das Wichtigste überhaupt an den Aufständen in Ägypten und Tunesien. Vor allem ist es eine Hoffnung für die Zukunft. Die Fragen stellten Sahrah Ensor und Mark L. Thomas

53


INTERNATIONALES

»Die Privatisierung der Wasserversorgung hat katastrophale Folgen« Nur scheinbar gibt es genug davon. Noch immer haben Millionen Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Um über dieses Phänomen zu sprechen, trafen wir uns mit der langjährigen Wasseraktivistin Akgün İlhan. Von ihr erfuhren wir, wie eine nachhaltige und gerechte Nutzung dieser lebenswichtigen Ressource aussehen muss Zwischen dem 12. und 17. März fand in Marseille das sechste Weltwasserforum statt. Unter dem Motto »Time for Solutions« kamen etwa 20.000 Teilnehmer aus 140 Ländern zusammen, um über Themen der Wasserversorgung und des Wassermanagements zu diskutieren. Doch die offensichtliche Nähe des Forums zu großen Wasserkonzernen stößt immer wieder auf Kritik. Wie schon vor drei Jahren in Istanbul riefen daher Aktivisten parallel zu der Hauptveranstaltung ein Alternativforum ins Leben. Wir wollten mehr dazu erfahren. Da traf es sich gut, dass unsere Redakteurin Carolin Hasenpusch im vergangenen Sommer für die »Recht auf Wasser«-Kampagne in der Türkei aktiv war. Aus dieser Zeit kannte sie noch die Aktivistin Akgün İlhan. Ein Anruf genügte und schon war das Interview abgemacht.

A

kgün, die Oberfläche der Erde besteht zu zwei Dritteln aus Wasser, dennoch herrscht auf unserem Planeten laut einer UN-Studie Wasserknappheit. Wie kann das sein? Es gibt zwar eine große Menge Wasser auf der Welt, aber nur wenig davon ist für den Menschen wirklich brauchbar. Das liegt zum einen an natürlichen Einschränkungen, wird aber auch von den Menschen selbst verursacht. So ist in manchen Regionen beispielsweise die Niederschlagsmenge sehr gering oder Regenfälle sind

54

Akgün İlhan

Akgün İlhan hat sich im Rahmen ihrer Doktorarbeit an der Autonomen Universität Barcelona mit der Thematik Wasser beschäftigt. Seit ihrer Rückkehr in die Türkei engagiert sich die Politikwissenschaftlerin in der »Recht auf Wasser«Kampange (suhakki.org) und führt unabhängige Untersuchungen durch.

selten. In anderen Fällen wird das vorhandene Wasser durch übermäßige wirtschaftliche Nutzung stark verunreinigt und kann deshalb nicht als Trinkwasser verwendet werden. Schmutziges Wasser lässt sich nur bis zu einem bestimmten Grad aufbereiten und das ist oft mit hohen Kosten verbunden. Daher mangelt es vor allem in armen Ländern an sauberem Wasser. Die Lage wird noch dadurch verschärft, dass der Wasserverbrauch in den Industriestaaten zunimmt. Das hat nicht nur dramatische Konsequenzen für die ärmeren Länder, sondern betrifft uns alle.

I

n welchem Bereich wird denn am meisten Wasser verbraucht? Das ist von Land zu Land unterschiedlich und hängt stark von den vorhandenen Ressourcen, aber auch von den jeweiligen Regulierungen im landwirtschaftlichen Bereich ab. So ist der Wasserverbrauch in Entwicklungsländern meist in der Landwirtschaft am größten, während in Industrieländern der industrielle Sektor die größten Mengen verbraucht. Zudem lässt sich in vielen Ländern der Trend zu einer »intensiven« Landwirtschaft erkennen. Der weltweit gestiegenen Nachfrage nach Nahrungsmitteln wird dort durch die Ausschlachtung aller lokalen Wasserressourcen begegnet. Das Problem ist, dass oftmals nur die Quantität des Wassers zählt, aber keine Informationen über sei-


ne Qualität erhoben werden. Es gibt viel weniger Süß- als Salzwasser auf der Erde. Das knappe Süßwasser wird als Trinkwasser gebraucht, die Aufbereitung dafür verursacht zudem erheblich weniger Verschmutzung als der Einsatz im ökonomischen Sektor. Letztlich werden durch diese »intensivere« Nutzung in der Landwirtschaft die ohnehin geringen Süßwasservorräte immer knapper, also das Trinkwasser immer weniger.

Wasser muss als öffentliches Gut verstanden werden

ie Privatisierung der Wasserversorgung hat ebenso zugenommen wie die Durchführung sogenannter Public Private Partnerships, also öffentlich-privater Partnerschaften. Begründet wird das oft mit einer vermeintlichen Effizienzsteigerung. Funktioniert das? Nein, das tut es nicht. Weder die Technik noch die Finanzierungsmöglichkeiten dieser Firmen reichen aus, um ein gutes Wassermanagement zu gewährleisten. Die Befürworter solcher Privatisierungsprojekte klammern einen entscheidenden Faktor komplett aus: das Soziale. Dabei kann es katastrophale Konsequenzen haben, Entscheidungen über Wasserverteilung zu treffen ohne die konsumierende Bevölkerung mitzudenken. In der bolivianischen Stadt Cochabamba beispielsweise wurde das Wasser um 300 Prozent teurer, nachdem die Regierung die Wasserversorgung dem multinationalen Konzern Bechtel übertragen hatte. Die Erhöhung der Preise ging einher mit ausbleibenden Subventionen. Das führte nicht nur zu einer starken sozialen Bewegung gegen die Privatisierung, sondern ließ letztlich einen regelrechten Krieg um Wasser ausbrechen. Ähnliche Entwicklungen gab es in Indien und Südafrika. Wasser muss als öffentliches Gut verstanden werden, um solche Folgen zu verhindern.

W

as verstehst du unter »öffentlich«? Darunter verstehe ich in diesem Zusammenhang vor allem den demokratischen Umgang mit der Ressource, also die offene Teilhaberschaft und das direkte Einbeziehen der Bürger. Transparenz und Vertrauen zwischen Wasserversorgern und Konsumenten kann nur dann entstehen, wenn ein aktiver Austausch zwischen ihnen stattfindet. Außerdem stellt ein solcher Austausch die Grundlage für einen weiteren wichtigen Faktor eines alternati-

INTERNATIONALES

© marx21 / CC BY-NC-SA

D

55


© marx21 / CC BY-NC-SA

Proteste während des Weltwasserforums in Marseille. Parallel organisierten Aktivisten ein alternatives Forum, um gegen die Privatisierung der Wasserversorgung zu protestieren und ihre Alternativen vorzustellen ven Wassermanagements dar, nämlich die Berücksichtigung von regionalen Unterschieden und Gegebenheiten. Zwar propagiert der Begriff des Public Private Partnership eine »öffentliche« Komponente, aber die Realität sieht leider ganz anders aus: Privatwirtschaftliche Interessen werden über die der Bevölkerung gestellt. Der Begriff ist lediglich eine Reaktion der Privatisierungslobby auf die erstarkten sozialen Bewegungen.

A

nfang März hat die UN Zahlen veröffentlicht, wonach im vergangenen Jahr 89 Prozent der Weltbevölkerung täglich Zugang zu sauberem Wasser hatten. Im Jahr 1990 waren es nur 76 Prozent. Sprechen solche Fakten nicht für die Privatisierung? Man muss solche Zahlen immer mit Vorsicht betrachten, sie haben keine große Aussagekraft. Hinter solchen Untersuchungen steht immer eine politische Agenda, die maßgeblich zum Forschungsergebnis und der Art beiträgt, wie ein Thema behandelt und präsentiert wird. Zahlen und Statistiken machen eine wissenschaftliche Untersuchung nicht notwendigerweise objektiv. Außerdem bringt die starke Vereinfachung der Wasserproblematik auf den Aspekt »Trinkwasser haben oder nicht« nichts. Das führt meistens zu unzulässigen Rückschlüssen. So geht

56

die Wasserqualität gegenwärtig in vielen Regionen der Welt zurück. Das Wasser, das wir heute »sauber« nennen, unterscheidet sich erheblich von dem, was noch vor zwanzig Jahren als sauber galt. Zusätzlich müssen wir auch erst einmal klären, über welche Art von Wasserzugang wir überhaupt sprechen. In der Türkei hat zwar die Mehrheit der Bevölkerung »theoretisch« Zugang zu Wasser, doch müssen viele Menschen einen Großteil ihres Einkommens für hohe Wasserrechnungen ausgeben, was zu einer wachsenden Armut führt. Solche Zahlen zu veröffentlichen hat also vielmehr mit Werbung für die Wasserprivatisierung zu tun als mit objektiver Wissenschaft.

I

n den vergangenen Jahrzehnten hat der Bau von Staudämmen und Wasserkraftwerken massiv zugenommen. Sie sollen vor allem der Energieversorgung dienen. Ist das ein nachhaltiger Ansatz? Nein. Staudämme und Wasserkraftwerke zerstören nicht nur die Umwelt, sondern auch gesellschaftliche Strukturen. In der Türkei wird beispielsweise der Bau von Kraftwerken und Staudämmen dazu genutzt, Kontrolle über andere Staaten im Nahen Osten und vor allem über die Menschen in der kurdischen Region zu erlangen. Viele große Staudämme wurden an deren Hauptflüssen, Euphrat und Tigris,

geplant. Sie liefern einen Großteil der dortigen Wasserversorgung, die durch den Bau der Staudämme gefährdet wird. Diese Projekte sind also alles andere als nachhaltig, außerdem entstehen sie auf Kosten der Bevölkerung.

D

er Ilısu-Staudamm in der Nähe der Ortschaft Hasankeyf im kurdischen Südosten der Türkei gehört zu einem der umstrittensten Projekte dieser Art. Trotz massiver Proteste treibt die türkische Regierung das Bauvorhaben weiter voran und verstärkt die Repressionen gegen Aktivistinnen und Aktivisten. Du bist selbst seit Jahren in der dortigen Antistaudammbewegung aktiv. Welche Konsequenzen hätte der Bau für die Region? Mit Fertigstellung und Inbetriebnahme des Ilısu-Staudamms würden etwa 75.000 Bewohner der Gegend gezwungen, ihre Heimat zu verlassen und in die Slums der angrenzenden Regionen umzusiedeln. Die Anfänge des Projekts gehen in die 1960er Jahre zurück. Als die ersten Gerüchte um das Bauvorhaben aufkamen, begannen die Menschen langsam, aber stetig, ihre Heimatorte zu verlassen. So schrumpfte etwa Hasankeyf im Lauf der Zeit von 14.000 auf mittlerweile nur noch 1000 Einwohner. Diese Ortschaft und auch andere Orte der betroffenen Region haben eine zehntausendjährige Sied-


lungsgeschichte. Das Tigrisdelta wird als eine Wiege der Zivilisation angesehen. Der Staudamm wird somit viele wichtige Kulturgüter und Referenzpunkte von Kurden, Arabern und anderen ethnischen Gruppen einfach zerstören und damit kulturelle Identitäten auslöschen. Einheimischen Tierarten droht die Ausrottung. Ein weiterer Aspekt ist, dass die türkische Regierung in der Vergangenheit den Bau von Dämmen an Euphrat und Tigris immer wieder strategisch benutzt hat, um eine hegemoniale Stellung im Nahen Osten zu erlangen. Das kann ernsthafte soziale und politische Konsequenzen für die Region haben und die bereits vorhandenen Konflikte verschärfen. Besonders konnte man das Ende der 1990er Jahre an den Spannungen zwischen der Türkei und Syrien beobachten.

I

m Juni 2010 wurde das Recht auf sauberes Wasser in die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte aufgenom-

Wasserknappheit führt zur Verwüstung immer größerer Landstriche. Jedes Jahr verliert die Erde etwa 12 Millionen weitere Hektar fruchtbaren Bodens

★ ★★ WEITERLESEN Eine gute Einführung ins Thema liefert: Maude Barlow, Tony Clarke: Das blaue Gold. Das globale Geschäft mit dem Wasser (Verlag Antje Kunstmann 2003). Empfehlenswert ist zudem der Film »Der große Ausverkauf« (Deutschland 2006), weitere Infos unter: dergrosseausverkauf.de.

Daha fazla bilgi için Leider nur auf Türkisch ist das Buch »Yeni Bir Su Politikasına Doğru.Türkiye’de Su Yönetimi, Alternatifler ve Öneriler« (Sosyal Değişim Derneği 2011) unserer Gesprächspartnerin Akgün İlhan erschienen, ebenso der Band »Türkiye’de Suyun Özelleştirilmesi ve Su Hakkı« (Sosyal Değişim Derneği 2012), an dem marx21-Redakteurin Carolin Hasenpusch mitgeschrieben hat.

men. Wird das deiner Meinung nach zu einem Umdenken im Umgang mit dem nassen Gut führen? Ich glaube nicht, dass es so etwas wie ein Patentrezept oder eine einzige Lösung für alle Probleme wirklich gibt. Den Zugang zu sauberem Wasser zum Menschenrecht zu erklären, ist zwar ein wichtiger Schritt, aber er nützt nur wenig, wenn die Herrschenden gleichzeitig wesentliche Prinzipien der Konzepte von Gerechtigkeit, Demokratie und Nachhaltigkeit schwächen oder untergraben. Um das Recht auf Wasser für alle zu gewährleisten, müssen wir den Begriff des Menschenrechts immer wieder, je nach Kontext und Gegend, neu deuten und reformulieren. Nur dann kann so etwas wie Nachhaltigkeit wirklich entstehen. Die Fragen stellte Carolin Hasenpusch

INTERNATIONALES

ie organisiert ihr euren Widerstand? Unsere »Initiative zur Rettung von Hasankeyf« setzt sich aus 86 zivilgesellschaftlichen Organisationen zusammen. Wir veranstalten internationale Kampagnen, leiten rechtliche Schritte ein, veröffentlichen wissenschaftliche Berichte über das Ilısu-Projekt, organisieren Festivals, Konzerte oder Solidaritätscamps, um die Öffentlichkeit auf dem Laufenden zu halten, was gerade vor Ort passiert. Am 14. März dieses Jahres haben wir außerdem zusammen mit drei anderen zivilgesellschaftlichen Organisationenn (CSOs) aus dem Iran und dem Irak die Aktion gestartet, das Tigris-Bassin zum Unesco-Weltkulturund Naturerbe erklären zu lassen. Unsere Strategie ist hier, den Fall auf eine internationale Ebene zu bringen, indem wir auf die undemokratischen Strukturen in der Türkei hinweisen. Zusätzlich versuchen wir, lokale Akteure zu stärken und einzubeziehen, um so der zentralistischen türkischen Regierungskultur entgegenzuwirken. Außerdem beschränken wir uns nicht auf den Umweltschutz, sondern machen auf die gegenseitige Abhängigkeit von gesellschaftlichen und ökologischen Themen aufmerksam, indem wir »politischökologische Diskurse« veranstalten. Durch das Zusammendenken beider Bereiche lassen sich letztlich auch mehr Leute mobilisieren.

© Gillie / flickr.com / CC BY-NC-SA

W

57


NEUES AUS DER

FOTOFEATURE

DIE LINKE unterstützt Cinest

ar-Beschäftigte

Die Dortmunder Genosin nen und Genossen zeigten sich mit den Kollegen des örtlichen Cinestar-Kinos solidarisch. Die führten am 28. Januar einen Warnstrei bessere Lohn- und Arbeits k für bedingungen durch. Die Cinestar-Gruppe weigert als einziger deutscher Kin sich okonzern immer noch, ein en Tarifvertrag anzuwend en.

© Jan Schalauske

Unikliniken wehren sich gegen Jobabbau

D

ie Beschäftigten der seit 2006 privatisierten mittelhessischen Universitätskliniken Giessen und Marburg (UKGM) traf Anfang Februar beinahe der Schlag, als sie erfuhren, dass 500 Arbeitsplätze an beiden Standorten abgebaut werden sollen. Begründet wurde dieses Vorhaben seitens der Rhön Klinikum AG mit der negativen Entwicklung der Geschäftszahlen. Kein Wunder – seit dem Jahr 2006 wurden umfangreiche Baumaßnahmen durchgeführt

58

und komplett aus dem laufenden Geschäft finanziert. In Zahlen ausgedrückt bedeutet dies eine Belastung von über 250 Millionen Euro, die sich natürlich auch in der Bilanz ausdrücken musste. In Wahrheit geht es der Rhön Klinikum AG nur darum, weiter Personal abzubauen. Am 17. März haben in Marburg knapp 3000 Menschen gegen diese Pläne demonstriert. Viele Beschäftigte, aber auch Bürgerinnen und Bürger, sind dem Aufruf der

Gewerkschaft ver.di gefolgt und haben ihrer Empörung Ausdruck verliehen. DIE LINKE hat die Proteste im Vorfeld unterstützt und sich vor Ort beteiligt. »Bei diesem Leuchtturmprojekt der Landesregierung ist nicht nur die Glühbirne kaputt, sondern das ganze Fundament marode«, sagt die Vorsitzende der hessischen Linksfraktion Janine Wissler zu der Kette von Problemen und Konflikten, die sich seit 2006 um die privatisierte Universitätskliniken entsponnen hat. Die hessische Landesregierung strebt nun eine Mediation zwischen Eigentümer und Betriebsräten an. Letztere wissen allerdings, dass sie sich hierauf nicht verlassen dürfen. Nur öffentlicher Protest und Widerstand haben in der Vergangenheit die Rhön Klinikum AG beeindruckt und zur Umkehr gezwungen. TOBIAS PAUL

© DIE LINKE Kreisverband Dortmund

s der LINDie Rubrik »Neues au beit der KEN« lebt von der Mitar Redaktion marx21-Leser. Die – aber das n sei kann nicht überall schon. Magazin und seine Leser e wolAuf dieser Doppelseit nte Aktilen wir über interessa der LINn ne onen und Kampag nende an KEN berichten sowie sp Wenn Termine ankündigen. n habt, ihr etwas beizutrage an ail E-M eine schickt Re Die redaktion@marx21.de. f au t Rech daktion behält sich das r. Auswahl und Kürzung vo


NEWS

Mobilisieren, bloggen, wetten: Die LINKE im Westen macht sich fit für den Widerstand

D

Von Azad Tarhan

IE LINKE hat beschlossen, sich in den kommenden Krisenprotesten als starke Partnerin an der Seite der internationalen Bewegung in Europa einzubringen. Nun gilt es, diesen Beschluss auf allen Ebenen umzusetzen. Ergänzend zur Projektgruppengründung auf Bundesebene wurde daher am 10. März auch in Nordrhein-Westfalen eine landesweite Projektgruppe ins Leben gerufen. Etwa dreißig Genossinnen und Genossen aus allen Teilen NRWs trafen sich, um in drei zentralen Workshops die Mobilisierung zu planen. Sie erarbeiteten Konzepte zur Ansprache und Mobilisierung der Kreisverbände. Außerdem stellten sie erste Materialvorschläge vor und sprachen über den Bündnisaufbau. Die Ergebnisse können sich sehen lassen: Neben der Ansprache der Kreisverbände über alle Partei-Medien soll eine Wette abgeschlossen werden: »Schaffen wir mit 53 Kreisverbänden mindestens 53 kreati-

ve Infostände zum Thema Krisenmobi?« Für die Vorbereitung der Stände soll das bereits vorhandene Aktionshandbuch für NRW angeglichen und durch mehr Beispiele mit Lokalbezug erweitert werden. Darüber hinaus wollen wir unsere Aktionen in einem Blog dokumentieren, damit unser Engagement auch im Netz sichtbar wird und andere Kreisverbände zu ähnlichen Aktionen anregen kann.

Werde Aktiv Gegen die KRISE Mehr Informationen zu den Europäischen Aktionstagen und den Proteste in Frankfurt am Main gibt es auf www.blockupy-frankfurt.org. Hier findest du auch den Aufruf des Bündnisses. Außerdem bekommst du einen Überblick über den Ablauf der Proteste und kannst Mobilisierungsmaterial bestellen.

Auf zu neuen Ufern Die Konferenz »DIE LINKE entwickelt sich – Auf zu neuen Ufern« des Hamburger Landesverbands war ein voller Erfolg. Über 150 Menschen sind am 20. und 21. Januar zusammengekommen, um in verschiedenen Workshops zu diskutieren und Erfahrungen auszutauschen. Themen wie »Community Organizing« oder »Partei und Bewegung« standen auf der Tagesordnung. »Sich damit zu beschäftigen, welche Mittel die Partei benötigt, um bestimmte Zielgruppen anzusprechen – und überhaupt erst mal diese Frage bei unserer Parteiarbeit aufzuwerfen –, war eines der zentralen Anliegen dieses Kongresses«, erzählt Jan Rübke, Mitglied im Landesvorstand der Hamburger LINKEN. Entscheidend ist natürlich, welche Ergebnisse der Konferenz sich in der politischen Praxis niederschlagen. Auf jeden Fall haben die Hamburger eine Debatte angestoßen, die wir auch woanders führen sollten. TOBIAS PAUL

Zu einer Kundgebung der französischen Faschistin Marine Le Pen kamen nicht nur ihre Anhänger von der Front National nach Straßburg, sondern auch über 500 Menschen aus dem linken Spektrum. Aus Ortenau beteiligten sich Mitglieder der LINKEN sowie des VVN an der Demonstration, um unsere französischen Freundinnen und Freunde im Kampf gegen die Faschisten zu unterstützen.

Nein zu Rüstungstransporten Am 26. Februar 2012 fand in Berlin der Auftakt der Kampagne gegen Rüstungsexporte statt. Mit der »Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel« ließen einhundert Personen symbolisch einhundert Bomben vor dem Bundestag »hochgehen«. Der LINKE-Bezirksverband Neukölln hat die Aktion, die unter anderem von der DFG-VK und von Pax Christi getragen wurde, unterstützt.

In Frankfurt an der Oder ist kein Platz für Nazis Mit Slogans wie »Raus aus Europa« und antipolnischem Rassismus wollte die NPD am 24. März in der deutsch-polnischen Grenzregion in Erscheinung zu treten. Ein breites, länderübergreifendes Bündnis von linken Gruppen, dem SDS, der LINKEN und zivilgesellschaftlichen Organisationen mobilisierte dagegen – denn Dresden ist überall.

Solidarität mit Griechenland Am 29. Februar hat der Bundestag mit großer Mehrheit dem zweiten sogenannten Rettungsschirm für Griechenland zugestimmt. Lediglich die Linksfraktion stimmte geschlossen gegen dieses Armuts- und Verelendungsprogramm. Diese Entscheidung nahm der Freiburger Kreisverband der LINKEN am 1. März zum Anlass, um auf der Straße seine Solidarität mit der griechischen Bevölkerung zu demonstrieren. »Die jetzt beschlossenen 130 Milliarden Euro kommen nur den Banken zugute, die Griechenland im Würgegriff halten«, so Kreissprecherin Uta Spöri. Bewaffnet mit Infostand, Zelt, Transparenten und griechischer Flagge haben die Genossinnen und Genossen auf unsere Position aufmerksam gemacht, und für die geplanten Krisenproteste geworben. Wir meinen: eine sinnvolle Aktion, zur Nachahmung empfohlen!

NEUES AUS DER LINKEN

Nordrhein-Westfalen rüstet sich für die Krisenproteste

Gemeinsam gegen Marine Le Pen

59


SERIE: WAS WILL MARX21?

Alle Macht dem Volk Mit der Serie »Was will marx21« möchten wir die politischen Grundlagen des marx21-Netzwerkes vorstellen. Diesmal fragen wir: Wie kann direkte Demokratie organisiert werden? Teil 11 der Serie

W

ie viel Demokratie verträgt der Kapitalismus? Diese Frage ist in den letzten Jahren immer wieder Kern von politischen Auseinandersetzungen gewesen. Zehntausende stemmten sich gegen das von Politik und Wirtschaft verordnete Bahnhofsprojekt Stuttgart21. In Berlin unterschrieben Hunderttausende ein Volksbegehren zur Offenlegung geheimer Verträge, mit denen die Stadt im Zuge der Teilprivatisierung der Wasserversorgung Großkonzernen Profite zugesichert hat, die über enorme Preissteigerungen von der Bevölkerung bezahlt werden. Solche Kampagnen und Bewegungen weisen einerseits auf die Demokratiedefizite des etablierten Politikbetriebes hin. Zugleich zeigen sie, wie groß – allem Gerede von der »Politikverdrossenheit« zum Trotz – das Bedürfnis nach wirklicher Mitsprache in gesellschaftlichen Anliegen ist. Der Aufstieg der Piratenpartei ist ebenfalls ein Ausdruck dieses Wunsches – die Forderungen nach mehr Transparenz und direkter Demokratie sowie eine horizontale Kommunikationskultur gehören zum Kernprofil der neuen Partei. Tatsächlich ist etwas faul in der bürgerlichen Demokratie. Zwar können wir alle vier Jahre bei Wahlen für einige Sekunden Einfluss auf die Regierung nehmen. Wir stimmen jedoch, genau genommen, nicht über politische Fragen ab, sondern wählen Abgeordnete. Diese sind laut Verfassung aber weder ihren Wählern noch der gesamten Bevölkerung gegenüber verantwortlich, sondern nur »ihrem Gewissen«. Zurzeit ist es ziemlich egal, welche der etablierten Parteien die Wahlen gewinnt, denn alle Politiker handeln größ-

60

tenteils für die Unternehmer und gegen die Bevölkerung. Tatsächlich leben wir nicht in einer Demokratie, denn der wichtigste Teil der Gesellschaft, die Wirtschaft, ist komplett undemokratisch organisiert. Wir können weder unseren Chef, noch unseren Vorarbeiter oder Supervisor wählen. Aber diese Leute treffen täglich Entscheidungen, die unser Leben bestimmen, angefangen von Investitionen über Einstellungen und Entlassungen, bis hin zur Kontrolle der Arbeitsleistungen. Wie undemokratisch Deutschland ist, zeigt sich auch deutlich an den anderen Machtzentren der Gesellschaft. Weder Richter, Generäle, Diplomaten, Polizeikommandanten noch hohe Beamte, die einen Großteil der Politik entwerfen und umsetzen, werden gewählt. Viele dieser Leute kontrollieren aber mehr Machtmittel als Parlamentsabgeordnete. Die Posten werden jedoch von Vorgesetzten in den Staatsbürokratien besetzt. Deswegen kann eine umfassende Demokratisierung der Gesellschaft nicht durch Parlamentsabstimmungen durchgesetzt werden. Die Kapitalistenklasse und der Staatsapparat agieren weitgehend unabhängig von demokratischer Kontrolle. Und darüber hinaus schützen die Institutionen des Staates die Interessen des Kapitals gegenüber der Masse der Bevölkerung, weil auch der Staat von einer gelingenden Kapitalakkumulation abhängig und eng mit den ökonomischen Eliten verflochten ist. Die Linke kann diese undemokratische Herrschaft letztlich nur bezwingen, wenn Massenbewegungen bereit und in der Lage sind, die herrschende Klasse zu enteignen und den bestehenden, undemokratischen Staatsapparat durch Organe der direkten Demokra-


tie zu ersetzen. Keimformen echter demokratischer Strukturen gab und gibt es bereits in den zugespitzten Auseinandersetzungen mit den Herrschenden. Auf den Höhepunkten breiter antikapitalistischer Bewegungen bildeten sich immer wieder Formen der Rätedemokratie als Institutionen der Selbstorganisation.

schnittlichen Facharbeiterlohn entlohnt wurden. Die gewählten Volksvertreter der Kommune waren – anders als im System der bürgerlichen Gewaltenteilung – sowohl für die Gesetzgebung als auch für die Durchsetzung der Beschlüsse verantwortlich und jederzeit absetzbar. Das Zusammenlegen von legislativer und exekutiver Macht sollte verhindern, dass sich in Staatsapparaten eigene Machtgruppen organisieren und gegen die gewählten Volksvertreter agieren können. Alle Fabriken, Betriebe und Werkstätten, die von ihren Besitzern verlassen oder stillgelegt worden waren, wurden an Arbeitergenossenschaften übergeben. Diese Ansätze, die Produktion umzustellen, waren für Marx entscheidend, denn »die politische Herrschaft des Produzenten kann nicht bestehen neben der Verewigung seiner gesellschaftlichen Knechtschaft. Die Kommune sollte daher als Hebel dienen, um die ökonomischen Grundlagen umzustürzen, auf denen der Bestand der Klassen und damit die Klassenherrschaft ruht.« Marx betont damit die Bedeutung der demokratischen Kontrolle der Wirtschaft: Ohne die Enteignung der Kapitalisten kann die politische Macht der Arbeiter nur von kurzer Dauer sein. Seit der Pariser Kommune bildeten sich solche Räte in revolutionären Bewegungen immer wieder: in den russischen Revolutionen von 1905 und 1917, der deutschen Revolution 1918/19, der

WAS WILL MARX21

Räte sind im Wesentlichen spontane, durch die praktische Notwendigkeit zur Koordination und Führung von Konflikten mit der Obrigkeit geschaffene Kampforgane der Arbeiter, die Delegierte aus einzelnen Betrieben bzw. einzelnen Einheiten der Armee umfassten. Oftmals entstanden sie aus einfachen Streikkomitees. Diese Rätebewegungen durchbrechen als Orte der Eigeninitiative der Arbeiterklasse die zu normalen Zeiten vorherrschende Logik, wo Experten und Berufspolitiker »stellvertretend« für die einfachen Menschen über die gesellschaftlichen Geschicke entscheiden. Über ihre Funktion als Widerstandszellen der Arbeiter hinaus können sich Räte zu Organen der politischen und ökonomischen Herrschaft der Lohnabhängigen entwickeln, als alternativer Gesellschaftsentwurf zur bürgerlichen Demokratie. Revolution bedeutet, mit dem Sturz der alten Ordnung die Formen von Demokratie und Selbstverwaltung auszuweiten, die sich im Widerstand gegen den Kapitalismus bilden: Betriebskomitees in den Fabriken und Büros; Nachbarschaftskomitees in den Stadtteilen, Streikkomitees in Schulen und Universitäten. Die Idee der Rätedemokratie bzw. Arbeiterdemokratie ist eine aus der Praxis der Arbeiterbewegung entstandene theoretische Verallgemeinerung, nicht die schlaue Idee eines genialen Kopfes. Marx spricht erst 1871, nach der Erfahrung des Aufstandes in Paris, von der »endlich entdeckten politischen Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen« könne. Die Pariser Kommune begründete erstmals eine völlig neue, von der Arbeiterklasse getragene, demokratische Staatsform: Das stehende Heer wurde aufgelöst und durch die allgemeine Bewaffnung des Volkes ersetzt. Ebenso sollten alle leitenden Beamten demokratischer Kontrolle unterstellt werden – etwa durch Wählbarkeit und jederzeitige Absetzbarkeit von Richtern und leitenden Polizeibeamten. Die Privilegien der Staatsbürokratie wurden abgeschafft, indem alle Angestellten der Kommune mit dem durch-

© marx21 / CC BY-NC-SA

Demokratie blüht auf, wenn Menschen sich organisieren und aktiv sind

61


spanischen Revolution 1936/37, dem Aufstand in Ungarn 1956, der iranischen Revolution 1978/79 und den Massenprotesten der Solidarnosc-Bewegung in Polen 1980/81. Als Interessensvertretungen gegenüber der herrschenden Klasse schlossen sich die einzelnen Räte untereinander zum Teil überregional zusammen. So gab es in der deutschen Revolution 1918/19 landesweite Rätekongresse. Auch die großen Bewegungen für Demokratie und soziale Gerechtigkeit des letzten Jahrzehnts in Lateinamerika waren geprägt von neuen Formen der Selbstorganisation der Bevölkerung. »Asambleas«, Nachbarschaftskomitees mit breitester Beteiligung, waren Zentren des Widerstands in den Stadtteilen, wo sich die Armen regelmäßig versammelten um ihren Widerstand zu koordinieren. Dies passierte meistens parallel zur Selbstorganisation der Arbeiter in den Betrieben. So erzwang im Jahr 2000 ein Volksaufstand in der Stadt Cochabamba in Bolivien, dass die Privatisierung der Wasserversorgung rückgängig gemacht wurde. In den Jahren 2003 bis 2005 organisierten die Bolivianer riesige Proteste in La Paz, dem Regierungssitz, um die Verstaatlichung der Gasförderung zu erzwingen und stürzten in dem Prozess zwei Präsidenten. Die etwa 600 Nachbarschaftskomitees der Indio-Stadt El Alto spielten eine zentrale Rolle bei der Organisation der Massenstreiks, täglichen Demonstrationen und der Blockade des angrenzenden La Paz. Auch die Kokabauern waren ein wichtiger Teil der Bewegung. Ein entscheidender Unterschied des erfolgreichen Aufstandes 2005 zu den vorherigen war, dass die Organisationen der Arbeiter landesweit im Zentrum der Proteste standen.

sich Befreienden bestimmt sein müssen. Das muss klar sein. Dennoch ist es nach den Erfahrungen vieler Revolutionen und des Stalinismus heute notwendig, eine sozialistische Gesellschaft zumindest in groben Umrissen beschreiben zu können, nicht zuletzt um der einflussreichen Kritik an Vorstellungen sozialistischer Wirtschaft etwas entgegenzusetzen. Aus der Geschichte bisheriger Kämpfe lassen sich vier konstituierende Merkmale einer sozialistischen Rätedemokratie nennen. Erstens muss es im Sozialismus zur Vertiefung von Demokratie kommen: Die Ersetzung der auf Passivität beruhenden heutigen bürgerlichen Wahlvorgänge, in der wir nur allzu oft die Wahl zwischen Pest und Cholera haben, durch eine partizipative Demokratie. Die Macht muss so weit wie möglich verteilt werden und die Menschen insbesondere an den Entscheidungen beteiligt sein, die ihr Leben berühren. Zweitens würde dies institutionell eine »Regierungsform« bedeuten, die sich von allen bisherigen fundamental unterscheidet: es würde ein sich selbst verwaltender Zusammenschluss von Arbeiter-, und Nachbarschafts- bzw. Stadtteilräten sein. Die Räte entscheiden auf verschiedenen Ebenen über die Geschicke der Gesellschaft. Drittens braucht jeder Mensch freien Zugang zu Informationen und die Möglichkeit, an öffentlichen Diskussionen teilzunehmen, damit eine solche Demokratie funktioniert. Heute ist die »Öffentlichkeit« dominiert von privaten Medienkonzernen, die auch die Inhalte bestimmen – die Möglichkeiten moderner Technologie machen aber freien und gleichen Zugang zu allen Informationen realisierbar. Viertens bedarf eine solche Demokratie auf der ökonomischen Ebene der Vergesellschaftung der meisten produktiven Ressourcen und der Massenmedien. Hierbei überträgt sich die gesamte Entscheidungsgewalt und Kontrolle auf die Bevölkerung. Zusätzlich würde eine demokratische Planung das Chaos des Marktes ersetzen – indem die Entscheidungen über den Verbrauch und die Verteilung der Güter kollektiv bestimmt werden. Eine solche demokratische Gesellschaftsform fällt nicht vom Himmel. Sie kann nur entstehen aus den Kämpfen gegen die bestehende Ordnung. Demokratie blüht auf, wenn Menschen sich organisieren und aktiv sind. Die Erfahrungen der Rätebewegungen sollten uns anspornen, diese Kämpfe voranzutreiben. ■

Eine umfassende Demokratisierung wird kaum durch Parlamentsabstimmungen erreicht

Marx selbst verbrachte seine Zeit nicht damit, genaue Pläne für das Zusammenleben der Menschen in einer postkapitalistischen GesellMARX IS MUSS 2012 schaft zu schmieden. Mit gutem Grund: Weil Befreiung nur als Selbstbefreiung gedacht werden kann, wird auch die SEI DABEI! Art und Weise des ZuJETZT ANMELDEN sammenlebens von den

marx21 STELLT SICH VOR.

62


Flexibel reagiert

Was macht Marx21?

Die bundesweite marx21-Unterstützerversammlung diskutiert munter über Perspektiven für Protest, Partei und Netzwerk – um am folgenden Tag festzustellen, dass Teile der Planungen bereits überholt sind

E

uropa brennt, Deutschland pennt. Das ist grob verkürzt die Sachlage, die etwa 70 Unterstützerinnen und Unterstützer des Netzwerks marx21 bei der jährlichen bundesweiten Versammlung im Februar in Frankfurt am Main diskutieren wollten. Ein Vorbereitungspapier hatte versucht, diesen Umstand griffig zu formulieren: Deutschland ist gleich und doch anders. Es gleicht anderen Ländern darin, dass auch hierzulande eine tiefsitzende Unzufriedenheit mit den politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen herrscht. Ein Ausdruck dafür ist die große Sympathie mit der Occupy-Bewegung. Anders

ist Deutschland, weil die Wirtschaft trotz Krise boomt und das Niveau der Klassenkämpfe weiter niedrig bleibt. Daran hat auch DIE LINKE schwer zu knabbern. Die Innenwendung der Partei ist auch Resultat dieser objektiven Umstände. Doch was tun? Diese Frage diskutierten auch die 400 Teilnehmer einer Aktionskonferenz, die zeitgleich mit der marx21Versammlung und nur wenige hundert Meter entfernt stattfand. Gegen Abend fiel hier die Entscheidung: Die Konferenz ruft zu Aktionstagen gegen die europaweite Kürzungspolitik vom 17. bis 19. Mai auf. Eine gute Nachricht, die den versam-

melten Netzwerk-Unterstützern aber eine schnelle Entscheidung abverlangte. Denn der Protesttermin kollidierte mit dem bisherigen Termin des Kongresses »Marx is’ muss 2012«. Doch das Meinungsbild war einhellig: Um den Protesten keine Konkurrenz zu machen, haben wir den Kongress um drei Wochen verschoben – eine Entscheidung, die auch von den Protestaktivisten mit Dankbarkeit aufgenommen wurde. Daneben bot die marx21-Unterstützerversammlung einen Erfahrungsaustausch über den Aufbau lokaler Gliederungen der LINKEN und des Studierendenverbandes Die Linke.SDS.

ONLINE ANGEKLICKT

TOP TEN februar / märz 2012

marx21.de besser nutzen:

9. 10.

Warum dem Iran ein Krieg droht Israel auf dem Kriegspfad Ein Lob auf Marx Atompolitik: Von Hiroshima bis Fukushima »Deutschland exportiert die Agenda 2010« Rettet China das Exportmodell Deutschland? Eurokrise: Der Fehler liegt im System Chile: »Spannung zwischen Neoliberalismus und Demokratie« »Die gesellschaftliche Stimmung ist links« Joachim Gauck: Immer die Freiheit des Kapitals

Insgesamt waren 11.719 Besucher im März (13.341 im Februar) auf marx21.de

(772) (679) (533) (479) (454) (447) (398) (381) (378) (369)

marx21.de bei Facebook: ★  plus 42 Fans in den letzten zwei Monaten (1166 Fans insgesamt) ★  60 Pinnwandeinträge, Kommentare und Verwendungen von »Gefällt mir« in den letzten vier Wochen ★  Durchschnittliche Wöchentliche Reichweite in den letzten vier Wochen: ca. 1400 (plus 500 seit Anfang Februar)

Die meistgelesenen Artikel auf marx21.de 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

So diskutierten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, wie die stark innengewendete Routine vieler Ortsgruppen aufgebrochen werden kann. Kontrovers war auch die Debatte darüber, ob marx21 ein Theoriejournal herausbringen soll. Sie endete in einer Grundsatzdiskussion über den Sinn von marxistischer Theorie – und der Entscheidung, ein solches Journal zu entwickeln (weiteres hierzu auf der nächsten Seite). Die Ergebnisse der Versammlung sind festgehalten in der Resolution »Perspektiven für 2012«, die ihr online unter marx21.de finden könnt (unter der Rubrik »marx21-Netzwerk«).

ABO KAMPAGNE Stand: 917 (+20)

Ziel: 1000


»Theorie ist kein geistiger Luxus« Das Netzwerk marx21 wird eine neue regelmäßig erscheinende Theoriepublikation herausbringen. Hier soll Gesellschaftsanalyse mit linker Strategiebildung zusammenkommen. Nicole Gohlke und Volkhard Mosler aus der Redaktionsgruppe stellen das Projekt vor

D

as Netzwerk marx21 hat bei seiner Unterstützerversammlung im Februar entschieden, eine regelmäßig erscheinende Theoriepublikation herauszugeben. Ihr beide gehört der neu gegründeten Redaktionsgruppe an. Gibt es in der deutschen Linken nicht schon genug marxistische Theorieorgane? Nicole Gohlke: Das Interesse an Marx und marxistischer Theorie ist in den vergangenen Jahren sprunghaft gestiegen. Aber wir haben den Eindruck, dass dieses Revival eine gewisse Schlagseite hat. Zwar wurden der Kapitalismuskritiker, der Krisentheoretiker und der Globalisierungskritiker Marx wiederentdeckt, aber der Klassenkämpfer Marx blieb weitgehend unentdeckt. Auch innerhalb der LINKEN sind Klassentheorien oder politische Ansätze der Selbstbefreiung keineswegs unumstritten. Vielmehr fokussieren die meisten Strategien auf gesellschaftliche Veränderungen, die durch Parlamentswahlen erreicht werden sollen. Das ist in einem Land, in dem die Klassenwidersprüche zwar enorm angewachsen sind, der Widerstand von unten allerdings unterentwickelt ist, wenig verwunderlich. Dieser Zustand schlägt sich auch in den theoretischen Diskursen der Linken innerhalb und außerhalb unserer Partei nieder. Das gilt auch für die marxistischen Publikationen, von denen du gesprochen hast. Es ist kein Zufall, dass etwa die ak, die sich heute »Analyse und Kritik« nennt, früher mal »Arbeiterkampf« hieß. Und kaum jemand erinnert sich noch daran, dass die Prokla, die den Untertitel »Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft« trägt, ursprünglich »Probleme des Klassenkampfes« hieß. Wir wollen mit unserer Publikation den Revolutionär Karl Marx, der sich in die Kämpfe seiner Zeit einmischte, neu entdecken und seine Theorien auf heutige Bedingungen anwenden.

64

D

ie Streikzahlen sind in Deutschland auf dem niedrigsten Niveau seit zwanzig Jahren, ebenso die Zahl der Arbeitslosen. DIE LINKE erhält immer weniger Zuspruch. Wie wollt ihr denn da mit dem Revolutionär Marx ansetzen? Volkhard Mosler: Auf der Titanic schien auch alles in bester Ordnung, bevor sie an einem Eisberg zerschellte. Deutschland ist keine Insel, die sich von der weltweiten Krise abschotten kann. Die Entwicklung in Europa und in Deutschland ist geprägt von einer Ungleichzeitigkeit sowohl der Krise als auch der Klassenkämpfe. In der arabischen Welt und vielleicht auch bald in Griechenland ist der Revolutionär Marx sehr aktuell. Die Popularität von Bundeskanzlerin Angela Merkel in Deutschland geht Hand in Hand mit Regierungsstürzen und politischer Instabilität in Südeuropa. Was heute in den arabischen Ländern geschieht, kann morgen auf unseren Kontinent übergreifen. Deswegen beginnen wir genau mit diesem Punkt: »Arabellion – Zur Aktualität der Revolution« lautet der Titel unserer ersten Ausgabe. Es geht dabei nicht darum, revolutionäre Bewegungen in fernen Ländern abzufeiern. Ich verstehe Theorie nicht als geistigen Luxus, sondern als Kompass zur Orientierung in kommenden Auseinandersetzungen, gerade weil die Wege dahin manchmal etwas verschlungen sind. Die wichtigsten theoretischen Fragen stehen immer in einem Verhältnis zu den wichtigsten Fragen der politischen Praxis. Manchmal ist dieses Verhältnis sehr direkt, etwa wenn es um marxistische Krisentheorie und die Frage der Euro-Rettung geht. Manchmal ist es aber eher indirekt. Wer hätte voraussagen können, dass es für Marxisten plötzlich zentral werden würde, sich mit Religion zu befassen? Das war lange Zeit nicht die wichtigste Priorität. Doch mit Beginn der arabischen

NICOLE GOHLKE

Nicole Gohlke ist Bundestagsabgeordnete der LINKEN und Unterstützerin des Netzwerks marx21.

VOLKHARD MOSLER

Volkhard Mosler ist Gründungsmitglied des Netzwerks marx21. Er ist im Kreisvorstand der LINKEN in Frankfurt am Main aktiv.

FORTSETZUNG AUF SEITE 66


Liebe Leserinnen und Leser, Das Netzwerk marx21 gibt eine neue Theoriepublikation heraus. Die erste Ausgabe wird am 1. Juni unter dem Titel »Arabellion! Zur Aktualität der Revolution« erscheinen. Darin unter anderem: Alex Callinicos über »Die Rückkehr der arabischen Revolution« Anne Alexander zur ägyptischen Arbeiterbewegung im revolutionären Prozess Stathis Kouvelakis zur Frage, ob eine Revolution in Griechenland auf der Tagesordnung steht

Christine Buchholz und Frank Renken zu den Erfolgsperspektiven des Volksaufstandes gegen Assad in Syrien Mona Dohle hat revolutionäre Aktivistinnen aus Ägypten interviewt und sie gefragt, was die Revolution und Frauenbefreiung miteinander zu tun haben Leandros Fischer über die deutsche Linke und die arabische Revolution Abonniere die neue Publikation jetzt – und leiste so Starthilfe für die ersten Ausgaben.

Ja, ich möchte ein Jahresabo bestellen 2 Ausgaben frei Haus. Danach kann ich mein Abonnement jederzeit kündigen. Normal-Abo (13,00 Euro für zwei Ausgaben inkl. Versand) Soli-Abo (20,00 Euro für zwei Ausgabe inkl. Versand) Name, Vorname

Straße, Hausnummer

PLZ, Ort

Geburtsdatum

E-Mail

Festnetz

Mobil

Kontoverbindnung Name, Vorname

Bankleitzahl

Kontonummer

Datum, Ort

Unterschrift

Bitte schicke das ausgefüllte Formular an: marx21 | Postfach 44 03 46 | 12003 Berlin | abo@marx21.de | 030 / 89 56 25 11

WAS WILL MARX21

Name und Ort des Geldinstituts

65


N

un hast du die internationale Perspektive beschrieben. Aber was sagt das über die Situation in Deutschland aus? Volkhard Mosler: Die Warnstreiks im öffentlichen Dienst haben doch eines gezeigt: Immer dann, wenn die Gewerkschaften ernsthaft mobilisieren, gibt es auch Solidarität aus der Bevölkerung. Die deutschen Gewerkschaften sind im europäischen Vergleich noch immer sehr stark. Gleichzeitig haben wir aber hierzulande seit Ende der 1990er Jahre die niedrigste Reallohnsteigerung. Daher ist die Frage, wie wir wieder zu einer kämpferischen Gewerkschaftsbewegung kommen und welche Rolle DIE LINKE dabei spielen kann. Wir brauchen eine Theoriepublikation, weil man für strategisches Handeln treffende Diagnosen benötigt. Gerade hier lag DIE LINKE schon öfter mal falsch. Beispielsweise gehen viele Vertreter des linken Keynesianismus davon aus, dass nur höhere Löhne und eine Steigerung der Massenkaufkraft zu Wirtschaftswachstum führen. Tatsächlich erleben wir aber gegenwärtig, dass die Löhne sinken und die Wirtschaft trotzdem wächst. Das Beispiel Deutschland zeigt, wie mit einer auf Export ausgerichteten Strategie und einer Erhöhung der Ausbeutungsrate zumindest kurzfristig die Krise gemeistert werden kann. An diesem Widerspruch wollen wir anknüpfen. Mit unserer Theoriepublikation wollen wir neue Akzente setzen, indem wir versuchen, die marxsche Krisentheorie im Lichte der heutigen Entwicklung auf ihre Aus-

66

© Raul Lemesoff

Revolution ist genau das geschehen. Nun muss sich die Linke mit dem Verhältnis zwischen Islam und Bewegung auseinandersetzen. Zugleich können linke Selbstverständlichkeiten plötzlich in Frage gestellt werden. Sozialisten verteidigen die internationale Solidarität als ein hohes Gut. Aber was bedeutet »Hoch die internationale Solidarität« in Bezug auf die gegenwärtige Situation in Syrien? Die einen ziehen aus der Losung den Schluss, das Regime von Assad gegen den Westen zu unterstützen. Für die anderen heißt es, nach einer westlichen Intervention zu rufen, um die Widerstandsbewegung im Land zu unterstützen. In Fällen wie diesem wollen wir versuchen, eine neue sozialistische Perspektive zu entwickeln.

»Waffen der Masseninstruktion«: Mit Hilfe von 900 Büchern baute der argentinische Künstler Raul Lemesoff einen alten Ford Falcon zu einem Aufklärungsmobil um. Auch unsere Waffe ist die Theorie sagekraft zu prüfen. Dabei gehen wir von einer grundsätzlichen Unversöhnlichkeit der Klasseninteressen zwischen Kapital und Arbeit aus.

K

lassenkampf international, Klassenkampf in Deutschland – das sind ja die klassischen Felder der marxistischen Linken. Aber sind die heutigen Fragen nicht ganz andere? Ich möchte nur einmal die Stichwörter Netzpolitik, Frauenbefreiung und ökologische Wende nennen. Sind das nicht die großen Herausforderungen für die marxistische Theorie? Nicole Gohlke: Ich glaube, dass in all diesen Feldern die marxistische Theorie einen deutlichen Erkenntnismehrwert bringen kann. Sind es denn in der Netzpolitik nicht die menschlichen Produktivkräfte, die gegen die Eigentumsverhältnisse rebellieren? Oder haben nicht gerade Marxisten wie John Bellamy Foster oder Elmar Altvater eine fundierte Analyse der umweltfeindlichen Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise geliefert? Leider finden diese Analysen oft von der Strategiebildung der Linken abgekoppelt statt – zum Beispiel, wenn die Radikalität der ökologischen Analyse einer zahmen Hoffnung auf einen Elitenkompromiss in einem »Green New Deal« oder der Hoffnung

auf einen grünen Kapitalismus gegenübersteht. Auch in Bezug auf die Gleichstellung meinen wir, einen spezifisch marxistischen Beitrag leisten zu können. Wir erleben in den letzten zwanzig, dreißig Jahren, dass sich eine spezifisch »weibliche Arbeiterklasse« im Dienstleistungssektor herausbildet. In der akademischen Linken gibt es schon lange eine Diskussion über Frauenarbeit oder »Care-Ökonomie«. Aber kaum jemand beschäftigt sich damit, wie sich weibliche Pflegekräfte, Erzieherinnen oder die Kassiererinnen bei Schlecker selbstständig organisieren können – und dass, obwohl sie so viel streiken wie nie zuvor. Ich will Frauen nicht nur als Reproduktionsarbeiterinnen, als Ausgebeutete der »Care-Ökonomie«, sondern auch als Subjekte in den Klassenkämpfen des 21. Jahrhunderts begreifen. Diesen Blick habe ich auch auf DIE LINKE. Ich stelle mir die Partei als einen Akteur in sozialen Auseinandersetzungen vor und nicht nur als ein parlamentarisches oder politisches Sprachrohr. Theorieentwicklung für einen solchen Akteur, quasi als organisch-intellektueller Aktivismus – das wünsche ich mir von unserer Publikation. Die Fragen stellte Luigi Wolf


ANZEIGEN

ANZEIGEN

67


GESCHICHTE

Die Freiheit der Liebe ★ ★★

Colin Wilson ist Autor der Broschüre »Gay Politics. Der Kampf um Gleichberechtigung von Lesben und Schwulen«.

★ ★★ HINTERGRUND: Dieser Artikel ist im Februar 2012 unter dem Titel »Sex and the German Revolution« in der englischen Zeitschrift Socialist Review erschienen

68

B

Von Colin Wilson

erlin 1919. Eine stille Revolution weht durch die Stadt. Es ist nicht die mit den roten Fahnen, die kurz zuvor den Kaiser gestürzt hatte, sondern eine sexuelle. In ihrem Zentrum steht der Arzt Magnus Hirschfeld. Schon seit mehr als zwei Jahrzehnten hatte er sich für die Rechte von Lesben und Schwulen eingesetzt. Vor allem bemühte er sich um die Abschaffung des umstrittenen Paragrafen 175, der sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe stellte. Hirschfeld verfasste Petitionen an den Reichstag und warb bei Anwälten und anderen Ärzten, ihn zu unterstützen. Einige seiner Ideen wirken aus heutiger Sicht ziemlich ausgefallen. Er behauptete zum Beispiel, Lesben und Schwule seien ein »drittes Geschlecht«, weder ganz männlich noch ganz weiblich. Die kaiserliche Regierung hatte ihn stets ignoriert. Jetzt aber, in der neu geschaffenen Republik, bot ihm der preußische Staat eine Villa an, um dort sein Institut für Sexualwissenschaft zu eröffnen. Es war die erste wissenschaftliches Einrichtung dieser Art. Dort wurden Sexualberatungen angeboten, Studien durchgeführt, Wissenschaftler hielten Vorträge und veröffentlichten Aufklärungsschriften. Möglich geworden war das durch die politische Revolution am Ende des Ersten Weltkriegs. Sie begann im November 1918 mit einer Meuterei der Matrosen auf den Kriegsschiffen und breitete sich schnell über das ganze Land aus. Der Kaiser floh in die Niederlande und die Republik wurde ausgerufen. Das war der Beginn einer Radikalisierung, die bis zum Jahr 1923 anhielt. Allerdings übernahmen die deutschen Arbeiter, die die Revolution begonnen hatten, nie endgültig die Macht in den Betrieben, so wie es die russische

Die Novemberrevolution von 1918 sprengt auch die repressive Sexualmoral. Lesben und Schwule können sich in der Weimarer Republik einen ungeahnten Grad von Freiheit erkämpfen. Die erste große Bewegung für Abtreibung entsteht


★ ★★ marx21.de Schon im Kaiserreich und der Weimarer Republik haben Linke den Kampf für die Gleichberechtigung der Frau geführt. Mehr unter: marx21.de/content/ view/1040/1.

In den 1920er Jahren blühte in den deutschen Großstädten das Nachtleben. Schwule und Lesben trafen sich in Kneipen und Tanzlokalen. Sie mussten ihre Sexualität nicht länger verstecken

GESCHICHTE

Auch das Leben von Homosexuellen veränderte sich durch die Revolution drastisch. Lesben- und Schwulenklubs entstanden in jeder deutschen Stadt, Maga-

zine wurden in Tausenderauflagen herausgebracht und an Zeitungskiosken legal verkauft. Eine erste Massenorganisationen von Lesben und Schwulen wurde gegründet. Der Bund für Menschenrecht, der sich für die Rechte der Homosexuellen einsetzte, wuchs auf 48.000 Mitglieder an, es waren sowohl Männer als auch Frauen. Sie organisierten gesellschaftliche Aktivitäten und nahmen an Kampagnen teil, verbreiteten Broschüren und schickten Briefe an die Presse. Im Jahr 1919 schon kam ein Dokumentarfilm mit dem Titel »Anders als die Anderen« heraus. Darin waren Szenen zu sehen, in denen Männer miteinander tanzten. Zudem zeigte der Film, wie das gesetzliche Verbot von Sex zwischen Männern zu Erpressung führte, und es wurde aufgerufen, den Paragrafen 175 abzuschaffen. Diese Veränderungen wirkten sich selbstverständlich auch auf das Privatleben vieler Homosexueller aus. In Erinnerungen an diese Zeit erzählen Frauen, wie sie als Jugendliche Mitglied des Kommunistischen Jugendverbands wurden und gleichzeitig ihre erste lesbische Beziehung eingingen. Sexualität und Politik gehörten zusammen. Hilde Radusch war Mitglied der Kommunistischen Partei. Sie arbeitete im Telegrafenamt, wo sie Betriebsrätin, und im Jahr 1929 mit 26 Jahren für drei Jahre zur Stadtverordneten der KPD in Berlin gewählt wurde. Sie erinnert sich auch daran, wie sie in den Lesbenklub »Topkeller« ging, wo Frauen den »Wäschetanz« tanzten: »Die Röcke waren ja damals ziemlich lang, und darunter waren die Unterröcke mit Spitzen. Es wurde also getanzt, man

© Index Verlag

Arbeiterklasse im Oktober 1917 getan hatte. Die politische Rechte war zu keinem Zeitpunkt bereit, die neue Republik zu akzeptieren. In den 1920er Jahren herrschte eine Art Pattsituation zwischen Linken und Rechten, was den Anschein von Stabilität erweckte. Der Börsenzusammenbruch an der Wall Street im Jahr 1929 beendete diese Zeit, das Land rutschte in eine Finanz- und Wirtschaftskrise ab. Die Rechten nutzten die Gelegenheit und verhalfen im Jahr 1933 den Nazis zur Macht. Deshalb war die Weimarer Republik in ihrer gesamten Geschichte von politischen Konflikten zerrissen und von Widersprüchen geprägt. Einerseits gab es große Fortschritte in der bis dahin sehr undemokratisch verfassten deutschen Gesellschaft. Redefreiheit und allgemeines Wahlrecht wurden eingeführt. Gesellschaftliche Umwälzungen wie Verstädterung und Industrialisierung beschleunigten sich. In den großen Städten traten Frauen in die neue Industriearbeiterschaft ein. Die Familiengröße schrumpfte deutlich – nur noch wenige Leute wollten mehr als zwei Kinder haben, während 50 Jahre zuvor noch Großfamilien üblich waren. Zudem brachte die Revolution große kulturelle Umwälzungen mit sich – die Bauhaus-Schule aus Dessau entwarf Möbel, die bis heute modern sind, und bei den Frauen kam die Kurzhaarfrisur, der »Bubikopf«, in Mode.

69


Alle Bilder © Index Verlag

Erotik war in der Weimarer Republik kein Tabu mehr. Gleichgeschlechtliche Liebe, Transvestitentheater und FKK-Baden – der US-amerikanische Theaterwissenschaftler Mel Gordon hat in seinem Bildband »Sündiges Berlin – Die zwanziger Jahre: Sex, Rausch, Untergang« unzählige Photographien, Aktbilder und zeitgeschichtliche Dokumente des sexuellen Aufbruchs der Jahre 1919 bis 1933 gesammelt

70

durfte den Rock so ein bisschen anheben, und das war furchtbar sexy. Dann kam die Polonaise, bei der man über die Stühle klettern musste, die in dem Kellergang standen, um endlich zu dem ersehnten Küsschen zu kommen. Das war so aufregend, dass Frauen aus allen Klassen dahin kamen, auch Schauspielerinnen. Immer war es voll, und freitags kam man kaum noch rein.« Die Sängerin Claire Waldoff war schon vor dem Ersten Weltkrieg eine bekannte Kabarettistin. In den 1920er Jahren lebte sie offen lesbisch und trat mit dem Lied »Hannelore« auf, in dem sie das »schönste Kind vom Hall’schen Tor« feierte: »Sie hat ’n Bräutjam und ’ne Braut. (…) Süßes, reizendes Geschöpfchen / Mit dem schönsten Bubiköpfchen! / Keiner unterscheiden kann, / Ob du ’n Weib bist oder ’n Mann!« Anfang der 1930er Jahre nahm Waldoff an Solidaritätsveranstaltungen für Arbeitslose teil und arbeitete in der Roten Hilfe mit, einer kommunistischen Hilfsorganisation für politische Gefangene. Insgesamt veränderte sich im Land die Einstellung zur Sexualität. Zu dieser Zeit waren Abtreibungen in Deutschland verboten und Aktivisten schätzten, dass über 10.000 Frauen jedes Jahr aufgrund von verpfuschten illegalen Schwangerschaftsabbrüchen starben. Die Rechtslage in Bezug auf Verhütung war unklar – im Jahr 1930 wurden zum Beispiel Aktivisten vor Gericht gestellt, weil sie Verhütungsmittel verteilt hatten. Die Parteien der Mitte und der Rechten bestanden darauf, dass Homosexualität und Abtreibung weiterhin strafbar sein sollten. Die Nazis standen den Sexualreformideen besonders feindlich gegenüber, obwohl es auch unter ihnen Homosexuelle gab – der Bekannteste war Ernst Röhm, der Anführer der Sturmabteilung (SA). Doch waren tausende Menschen, darunter viele Arbeiter, in Organisationen aktiv, um Abtreibung und Verhütungsmittel allgemein zugänglich zu machen. Sowohl Sozialdemokraten als auch Kommunisten waren in der Bewegung für Sexualreform aktiv. Im Jahr 1933 gab es bereits über 1000 Beratungsstellen in Deutschland, zu denen auch 34 Berliner Kliniken gehörten, die Verhütungsmittel anboten. In vielen dieser Kliniken arbeiteten sozialistische und kommunistische Ärzte, darunter auch viele Frauen. Einige Krankenhäuser boten Frauen Stillberatung an und Hilfe bei Kindesmissbrauch und häuslicher Gewalt. Dazu entstanden kommunale Gesundheitshäuser mit einem breiten Angebot zur Gesundheitsvorsorge. In dem ersten und bekanntesten in Berlin-Pankow gab es einen Gesundheitsdienst für Schulen, eine Poliklinik, sportmedizinische Versorgung, Ehe- und Sexualberatung, Tuberkulosefürsorge, Hilfe bei Geschlechtskrankheiten, psychischen Problemen und Drogenhabhängigkeit, einen Vortragssaal für bis zu 500 Personen, eine Bibliothek und einen Ausstel-


lungsraum. Allerdings ging es bei der Vorstellung von einem gesunden Leben oft auch um Eugenik, »Erbgesundheit« – Tausende meldeten sich freiwillig zur Sterilisation an. Der Kampf für sexuelle Freiheiten hatte auf der Linken eine lange Tradition. Schon im Jahr 1895 hatte Eduard Bernstein, ein führender sozialdemokratischer Theoretiker, die Verfolgung des irischen Schriftstellers Oscar Wilde verurteilt, der damals wegen seiner Homosexualität ins Gefängnis kam. Drei Jahre später hatte der SPDVorsitzende August Bebel im Parlament die Reform des Strafgesetzes für Homosexuelle gefordert. Bebel unterstützte nicht nur den Kampf von Lesben und Schwulen, sondern hatte auch ein vielgelesenes Buch verfasst, in dem er gegen Frauenunterdrückung argumentierte (»Die Frau und der Sozialismus«, 1879). Allerdings nutzten einige Sozialdemokraten auch homophobe Einstellungen in der Gesellschaft opportunistisch aus: Im Jahr 1902 enthüllte ihre Zeitschrift Vorwärts, dass der Industrielle Friedrich Alfred Krupp, ein Freund des Kaisers, schwul war – Krupp starb eine Woche später, vermutlich beging er Selbstmord.

★ ★★ tet diese Vorgänge gemäß den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen der neuen Zeit als Sonderform geschlechtlicher Befriedigung und verlangt gegenüber diesen Formen des Geschlechtslebens die gleiche Freiheit und Begrenzung wie im Verkehr der verschiedenen Geschlechter untereinander.« Kommunisten und Sexualreformer arbeiteten zusammen in der Weltliga für Sexualreform, die mehrere internationale Konferenzen abhielt. Kommunisten stellten sich wie in der Frage gleichgeschlechtlicher Liebe an die Spitze des Kampfs für das Recht auf Abtreibung. Sie forderten legale und kostenlose Abtreibung. Als im Jahr 1931 die Abtreibungsärztin Else Kienle und der Arzt Friedrich Wolf zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden, spielten Kommunisten eine wesentliche Rolle in der Kampagne für ihre Freilassung. Auf dem Höhepunkt dieses Kampfs versammelten sich 15.000 Menschen in Berlin unter dem Schlachtruf: »Dein Körper gehört dir!« Die Deutsche Revolution trug erheblich zur Verbesserung des Lebens von Lesben und Schwulen bei. Die Kommunisten, die die Revolution vorantreiben wollten, um den Kapitalismus zu stürzen, waren auch die entschiedensten Kämpfer für sexuelle Befreiung. Am Ende jedoch wurden all die Errungenschaften von 1918 zunichte gemacht, als die Nazis im Jahr 1933 die Macht übernahmen. Die Geschichte der Weimarer Republik zeigt, wie eng politische und gesellschaftliche Freiheit zusammengehören, erinnert aber auch daran, wie schnell diese Freiheit durch Wirtschaftskrise und Faschismus gefährdet werden. ■

WEITERLESEN: Die Lebenserinnerungen von Hilde Radusch und anderer homosexueller Frauen der Weimarer Republik lassen sich auf der Website lesbengeschichte.de nachlesen. Mel Gordon: Sündiges Berlin - Die zwanziger Jahre: Sex, Rausch, Untergang. 288 Seiten; Großformat 28×28 mit Audio CD (Index Verlag 2011).

GESCHICHTE

Während des Ersten Weltkriegs spaltete sich die Sozialdemokratie. Einige ihrer Mitglieder waren Revolutionäre, die den Kapitalismus überwinden wollten. Sie gründeten die KPD. Andere waren Reformisten, die darauf hofften, Verbesserungen im Kapitalismus zu erreichen. Sie blieben in der SPD. Das Bestreben der Sozialdemokraten, innerhalb der herrschenden Ordnung als respektable Partei zu gelten, zeigte sich auch an ihrer Einstellung zu den Rechten von Lesben und Schwulen. Als Hirschfeld an Friedrich Ebert, den ersten Reichspräsidenten der Weimarer Republik und langjährigen SPD-Vorsitzenden, schrieb und auf Reformen pochte, vertröstete dieser ihn mit Phrasen: »(…) eine moderne Reform unseres Strafrechts (ist) notwendig. Diese wird in Angriff genommen werden, sobald die politische Lage und die Arbeitsverhältnisse der Regierung das irgend gestatten.« Historiker sind sich darüber einig, dass die radikale Kommunistische Partei sehr viel entschiedener für sexuelle Freiheit kämpfte. Als sie im Jahr 1927 im Parlament Gesetzesreformen forderte, erklärte der Kommunist Bernard Koenen: »Wir haben gegenüber diesem Gesetz die Verpflichtung, den Standpunkt der Verfolgten, der Unterdrückten, der Opfer des Strafrechts zu vertreten.« Richard Linsert, ein führender Kommunist, war am Institut für Sexualwissenschaften beschäftigt und übernahm ab 1931 den Vorsitz der Kampagnenorganisation von Hirschfeld. In einem von dem Juristen und KPD-Mitglied Felix Halle im Jahr 1931 verfassten Buch wurde die Position der Kommunisten klipp und klar dargelegt: »Auch bezüglich der gleichgeschlechtlichen Neigung und Betätigung zwischen Erwachsenen lehnt das Proletariat das theologische Vorurteil ab. Es betrach-

Der Arzt Magnus Hirschfeld war ein Pionier der Sexualwissenschaft und ein Kämpfer für die Emanzipation sexueller Minderheiten. Sein Buch »Berlins lesbische Frauen« beschrieb unter anderem die Treffpunkte der Frauen

71


KULTUR

Nicht in meinem Namen

Im Sommer findet die Fußball-EM statt. Unser Autor erklärt, warum er kaum ein Spiel verpassen und sich trotzdem keinesfalls Schwarz-RotGold auf die Wange malen wird Von Nils Böhlke

72


I

ch bin Fußballfan, seit ich denken kann. Das erste Mal war ich im Alter von sieben Jahren im Stadion. Ich habe mich heiser geschrien für den FC St. Pauli und mit den anderen Fans den Aufstieg gefeiert. Während der Europameisterschaft werde ich mir so viele Spiele wie möglich anschauen. Aber eins werde ich ganz sicher nicht tun: Mir SchwarzRot-Gold auf die Wange malen, eine Fahne schwenken und dabei »Deutschland, Deutschland« grölen. Die Bild-Zeitung wird mich und andere, die ähnlich denken, als »Spaßbremse« und »Miesmacher« bepöbeln. Egal. Denn ich bin Überzeugungstäter: Ich bin überzeugt davon, dass der absehbare schwarz-rotgoldene Taumel im besten Falle eine Ablenkung ist, die unseren Herrschern gut in den Kram passt – und

im schlechtesten Falle Kräfte der radikalen Rechten stärkt. Über »schwarz-rot-geil« (Bild) freuen sich die falschen Leute. So jubelte zum Beispiel die notorisch rechte CDU Hessen nach der WM 2006: »Die Fußballweltmeisterschaft in unserem Land hat den Umgang mit nationalen Symbolen wieder selbstverständlicher gemacht. Die Diktatur der Nationalsozialisten und die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs hatten das deutsche Nationalgefühl stark beschädigt. In den Jahrzehnten nach 1945 hatten wir Deutsche große Probleme, zu einem normalen Patriotismus zurückzufinden. Das scheint nun gelungen zu sein.« Gerhard Haslinger, Bezirkspolitiker der rechtsextremen FPÖ in Österreich, freute sich damals: »Eine herrliche Zeit! Man darf ungestraft zeigen, dass man auf seine Nation stolz ist und man darf öffentlich sein Land lieben. (…) Die gepredigte Vielfalt weicht der Nation, das Miteinander zerfällt zu Gegnern.«

MARX IS MUSS 2012

LASS UNS ÜBER FUSSBALL REDEN.

KULTUR

DIE DEBATTE ZUM ARTIKEL - AUF DEM KONGRESS

73 © phirue / flickr.com / CC BY-NC-SA


Auch Jürgen Gansel, Ideologe der NPD, freute sich über die Deutschlandfahnen: »Die Herrschenden in Politik und Kultur müssen feststellen, dass über 60 Jahre nach Kriegsende nationale Gemeinschaftssehnsüchte nicht länger unterdrückt und Nationalbewusstsein nicht mehr unter moralische Quarantäne gestellt werden kann.« Nun will nicht jeder, der bei der WM einen Deutschlandwimpel schwenkt, die Wiederherstellung des Dritten Reichs in den Grenzen von 1936. Man kann sogar recht sicher davon ausgehen, dass das nur auf einen minimalen Teil der Deutschlandfans zutrifft. Tatsache ist jedoch: Die schwarz-rot-goldene Woge schafft eine Atmosphäre, in der sich die Rechte pudelwohl fühlt. Richtig hässlich wird es, wenn sich Patriotismus noch mit Spekulationen über einen feststehenden Nationalcharakter oder obskuren biologischen Annahmen paart. So meint Franz Beckenbauer: »Wir Deutschen haben etwas im Blut, um das uns die ganze Welt beneidet. Wir geben nie auf.« Der ehemalige DFB-Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder variiert das völkische Motiv soziobiologisch, wenn er pseudowissenschaftlich analysiert: »Der südamerikanische und afrikanische Fußball haben genetisch andere Voraussetzungen.« Die Spielweise, durch gezielte Zerstörung der Offensivbemühungen der gegnerischen Mannschaft das Spiel zu gewinnen, wird oft als »deutsche Tugend« bezeichnet. Die Annahme, dass sich in einer Nationalmannschaft und ihrer Spielweise ein Nationalcharakter manifestiert, ist absurd – vor allem weil die deutsche Nationalmannschaft schon seit Jahren nicht mehr besonders »deutsch« spielt. Statt Zerstörung gibt es technisch anspruchsvollen Hochgeschwindigkeitsfußball. Aber abgesehen davon: So etwas wie »das Deutsche« existiert nicht. Nationalismus – und damit auch die Annahme einer feststehenden »deutschen Nation« – ist das Produkt frühkapitalistischer Gesellschaften. Der Begriff in seiner heutigen Bedeutung ist erst im späten 18. Jahrhundert entstanden, wie der Historiker Benedict Anderson in seinem Buch »Die Erfindung der Nation« aufgezeigt hat. Das, was wir heute als Deutschland kennen, war noch im frühen 19. Jahrhundert ein Mosaik verschiedener Königreiche und Fürstentümer. Lange Zeit gab es keine einheitliche deutsche Sprache. Ein Bewohner Badens hätte sich mit einem Einwohner

Mecklenburgs nicht einmal unterhalten können. Nachdem die Nationalstaaten entstanden waren und mit ihnen der Nationalismus, wurden im Nachgang eine Nationalgeschichte und ein Nationalcharakter konstruiert, die nach Möglichkeit tausende von Jahren in die Vergangenheit zurückreichten. Der Germanenfürst Arminius, der im Jahr 9 unserer Zeitrechnung die Römer in der Varusschlacht besiegt hatte, wurde 1800 Jahre nach seinem Tod zu »Hermann«, dem Gründungsvater der Deutschen. So etwas soll der eigenen Nation historische Tiefe geben, ist aber ein unhistorisches Konstrukt.

Das große deutsche »Wir« wird beschworen, um die soziale Spaltung zu verkleistern

★ ★★

nils böhlke ist Politikwissenschaftler und Fußballfan. Er arbeitet als Referent der Linksfraktion für Arbeitsmarkt- und Gesundheitspolitik im Landtag von Nordrhein-Westfahlen.

74

Bislang ist jeder Versuch der Konservativen, in »Leitkulturdebatten« festzulegen, was deutsch ist, im Sande verlaufen. Die Leitkulturvertreter scheiterten schon daran, dass seit Jahren Pasta und Pizza die unangefochtenen Lieblingsessen der Deutschen sind, und nicht der Sauerbraten. Gesellschaften sind permanent im Fluss und im Wandel, Auffassungen ändern sich, erfolgreiche Bewegungen setzen oftmals auch einen Wandel in den Mentalitäten durch. Debatten wie die über die »deutschen Tugenden« der Nationalmannschaft und die Leitkultur verfolgen nur einen Zweck: eine Einteilung in »wir« und die »anderen«, in Deutsche und Nichtdeutsche. Da hilft es auch wenig, dass mittlerweile ein großer Teil der Nationalspieler einen Migrationshintergrund hat – im Gegenteil. Ihnen werden dann von der Boulevardpresse besonders »deutsche Tugenden« angedichtet. Wieder ein Beispiel aus der Bild: »Er singt die Nationalhymne lauthals mit, sein Spitzname ist ›Helmut‹. Die Rede ist von unserer WM-Hoffnung Cacau. Gebürtiger Brasilianer, der deutsch spricht, deutsch spielt und deutsch tickt. Cacau grinst: ›Ich war nie ein typischer Brasilianer. Ich kam nie 60 Minuten zu spät, sondern nur 20 Minuten. Meine ganze Mentalität ist deutsch‹.« Was das Blatt damit eigentlich sagen will: Der gemeine Brasilianer ist unpünktlich. Wie schnell aus solchen Klischees bösartige Anschuldigungen werden können, dürfen wir derzeit bei der Welle nationalistischer Hetze gegen die Griechen beobachten.

Warum das alles? Weil den Konservativen »das gebrochene Verhältnis der Deutschen zur Nation« ein Dorn im Auge ist. Das hat einen Grund: Die deut-


Politik und Wirtschaft setzen ganz bewusst auf den »Patriotismuseffekt«. Im Vorfeld der WM 2006 ließen es sich 25 Konzerne 30 Millionen Euro kosten, um uns von Plakatwänden, aus Zeitungen und im Fernsehen immer wieder dieselbe Botschaft zu predigen: Du bist Deutschland! In ihrem Manifest appellieren die Initiatoren: »Behandle dein Land doch einfach wie einen guten Freund. Meckere nicht über ihn, sondern biete ihm deine Hilfe an.« Ähnlich argumentiert der SpiegelAutor Matthias Matussek: »Umfragen zeigen ja, dass die Deutschen (...) im Prinzip zu schmerzhaften Einschnitten bereit sind. Wenn es dann allerdings um die konkreten Maßnahmen geht, dann antworten die jeweiligen dann betroffenen Gruppen wiederum anders. Aber ich glaube, dass es ein Nationenzusammengehörigkeitsgefühl braucht, um gerade durch schwierige Zeiten zu kommen und zu sagen: Okay, das muss jetzt sein, diesen Einschnitt machen wir. Und da ist Patriotismus natürlich sehr tauglich.« Diese Rolle hat Nationalismus seit jeher gespielt: eine zwischen arm und reich, zwischen Klassen ge-

spaltene Gesellschaft unter dem Banner der »Nation« zu vereinen, um dann für diese Opfer abzufordern. Deutlich wird das bei Henrik Müller, wenn sich der stellvertretende Chefredakteur des Manager-Magazins in seinem Buch »Wirtschaftsfaktor Patriotismus – Vaterlandsliebe in Zeiten der Globalisierung« beklagt: »Statt sich auf den ökonomischen Wettbewerb einzustellen und mitzuspielen, verlangen viele in Deutschland nach internationalen Lösungen: zum Beispiel nach einer Harmonisierung der Steuer- und Sozialsysteme innerhalb der EU, mit dem Ziel, den Standortwettbewerb zu begrenzen. Es liegt auf der Hand, welche Reformen in Deutschland anstehen: ein grundlegender Umbau der Sozialsysteme, die weitere Öffnung des Arbeitsmarkts und der Märkte für Dienstleistungen.« Neidisch blickt der Journalist auf die erfolgreiche Konkurrenz: »Andere Länder haben es vorgemacht (...). Sie alle haben sich in kollektiven Kraftakten auf die neuen Realitäten eingestellt, haben grundlegende Reformen durchgesetzt.« Müller wirbt deshalb für die entsprechende Ideologie, um diesen »kollektiven Kraftakt« auch im Interesse der deutschen Konzerne durchzusetzen: »Das Bindemittel des Patriotismus – das Zugehörigkeitsgefühl zu dem und die Opferbereitschaft für das nationale Kollektiv – wird offenkundig benötigt als emotionaler Gegenpol zu einer ökonomischen Globalisierung.« Leute wie Henrik Müller reden vom Weltmeistertitel und meinen den Exportweltmeister – eine Position, die errungen wurde auf dem Rücken von immer schärfer ausgebeuteten Beschäftigten. Dieses Spiel sollten Linke nicht mitmachen und auch während der Europameisterschaft über die wirklichen Probleme im Land reden. Und das ist nicht ein mögliches Ausscheiden in der Vorrunde, sondern Dinge wie Schäubles Spardiktat. Auch dieses Mal wird die Bundesregierung den Windschatten der medialen Konzentration auf die EM zu nutzen wissen. Während wir auf den Ball gucken und die Arme zum Jubel heben, wird hinter unserem Rücken der Sozialstaat weiter demontiert. Bereits im Umfeld der WM 2006 wurden Verschärfungen bei Hartz IV verabschiedet. Für Sparkommissar Schäuble ist auch diese Europameisterschaft ein Geschenk des Himmels, um seine Grausamkeiten mit einer schwarz-rot-goldenen Schleife zu versehen. Politiker, Manager und Medien werben für den angeblich »unverkrampften« Patriotismus, weil sie hoffen, hinter der Fassade des neuen »Wir-Gefühls« Politik gegen die Menschen in Deutschland machen zu können – egal, ob sie Deutsche, Türken, Griechen oder Italiener sind. Weder Deutsche noch Ausländer sollten der Regierung dabei helfen, indem sie das Bild ihrer Städte mit schwarz-rot-goldenen Fahnen prägen. ■

★ ★★ HINTERGRUND: Bei diesem Artikel handelt es sich um eine leicht gekürzte und aktualisierte Version eines Textes, den wir bereits im Sommer 2010 veröffentlich haben. Er erschien damals im Rahmen eines Schwerpunktes anlässlich der Fußballweltmeisterschaft in Südafrika. Dort beleuchteten wir zusätzlich die Situation in dem Land zwanzig Jahre nach dem Ende der Apartheid und analysierten das Verhältnis von Sport und Kapitalismus. Diese und andere ältere Ausgaben können nachbestellt werden unter: abo@marx21.de.

KULTUR

sche Gesellschaft ist tief gespalten. Die oberen fünf Prozent der Bevölkerung verfügen über 46 Prozent des Vermögens und die oberen zehn Prozent sogar über zwei Drittel. Allein das oberste Prozent besitzt über 23 Prozent des Reichtums in Deutschland. Gleichzeitig haben zwei Drittel der Bevölkerung nahezu kein eigenes Vermögen. Als Folge des Sozialabbaus der letzten Jahre öffnet sich die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter und immer schneller. Die konservative Antwort darauf: Das große deutsche »Wir« beschwören, um die soziale Spaltung zu verkleistern. Der Spiegel brachte es im Jahr 2006 auf den Punkt: »Es ist tatsächlich eine Stimmung der Einheit, die Deutschland erfasst hat. (…) Für die Dauer eines Turniers interessieren sich Hartz-IVEmpfänger, Investmentbanker und Intellektuelle für dasselbe, im Jubel sind die Grenzen sozialer Herkunft verwischt.« Die Süddeutsche Zeitung zeigte in einer Reportage anschaulich, wie selbst Menschen, deren soziale Existenz völlig zerstört ist, das Nationalgefühl annehmen. Unter einer Brücke in München machte das Blatt obdachlose Fußballfans ausfindig: »›Wir haben oft genug vom Staat auf den Sack bekommen‹, sagt Indie, ›aber wir stehen trotzdem für Deutschland, weil wir hier geboren sind, weil das unser Vaterland ist.‹ Sein Feuerzeug hat die Farben Schwarz-Rot-Gold.« Die Süddeutsche Zeitung wollte mit diesem Artikel die allumfassende Begeisterung dokumentieren. Doch eigentlich ist diese Geschichte sehr traurig. Indie bräuchte ein Dach über dem Kopf, eine Gesellschaft, die sich um ihre Schwächsten kümmert. Stattdessen bekommt er Schwarz-RotGold. Und das kann man bekanntlich nicht essen.

75


© Künstler: Shepard Fairey Foto: Scott Beale / flickr.com / CC BY-NC

KULTUR

76


Die

beste aller

Welten Über die Chance, eine andere Art von Geschichte zu schreiben (und zu machen) als die, die wir vorfinden Von Dietmar Dath und Barbara Kirchner

W

enn Brecht seine Heilige Johanna der Schlachthöfe sagen lässt, es helfe nur Gewalt, wo Gewalt herrscht, dann ist das eine schnittige Parole. Schaut man sich die (was bei Kampfparolen bekanntlich gar nicht so einfach ist) einmal in Ruhe an, so fällt zunächst auf, dass sie Zwecke und Mittel, Zustand und Handlung, Absicht und Praxis, Aufstand und Gewohnheit verwechselt, also »schief ist«: ein plausibler Kurzschluss (wie alles, was als Metapher überzeugt). Denn wie soll das gehen: »Gewalt herrscht«? Sie ist kein Subjekt, sondern Herrschaftsmittel (genauer: Herrschaftserzwingungsmittel, Herrschaftssicherungsmittel. Man

herrscht nicht mit Gewalt, man herrscht dank Gewalt). Unter diesen Mitteln gehört sie zu den auffälligeren. Sie tut weh, man will sie daher häufig noch dringender loswerden als die Herrschaft selber (der »gute König« erscheint als etwas Wünschenswertes, weil es den bösen gibt und der die Leute schinden lässt). Gewalt ist eine spürbare Handlung oder eine abzählbar große, vielleicht potentiell unendliche Menge solcher Handlungen, selbst in dieser Unendlichkeit aber immer etwas Konkretes (man kann die einzelnen Gewaltakte benennen und beschreiben, es lässt sich sagen »wer – wen« et cetera). Herrschaft dagegen ist

★ ★★

Dietmar Dath ist Schriftsteller, Journalist, Übersetzer. Er hat neben diversen Romanen auch eine Rosa-Luxemburg-Biographie geschrieben.

★ ★★

Barbara Kirchner ist Professorin für theoretische Chemie in Leipzig. Neben naturwissenschaftlichen Fachbüchern hat sie einen Roman und diverse Essays veröffentlicht.

KULTUR

möglichen

77


eine Beziehung (die, wenn sie sich überhaupt irgendwie »anfühlt «, nicht als körperliche Empfindung, sondern als Zustand gewordene Handlungsdisposition erlebt wird). Über Beziehungen, Handlungsdispositionen und dergleichen denkt man, wenn man unter Gewalteinwirkung steht, nicht mehr klar nach. Von Pawlow bis Freud, Skinner bis Festinger sind sich die meisten, die dem Problem genauer nachgegangen sind, einig darin, dass Gewalt das Nachdenken über alles Mögliche, vor allem aber über Gewalt, sehr grundlegend stört bis verhindert. Johannas Bild hängt schief. Aber politische Kunst ist nicht dazu da, Bilder geradezuhängen (dafür hat man Aufklärung), sondern dazu, welche zu finden, die an den Denkstörungen und Empfindungshemmungen vorbeiwirken, unter denen die Individuen abgestumpft, in die sie eingekerkert, denen sie ausgeliefert sind und die ihnen ihr Nichthandeln in der ungerechten Welt plausibel, ja alternativlos vorkommen lassen. Der Trick, den Brecht hier zünden lässt, ist ein doppelter: Erstens verspricht der Satz etwas dadurch, dass die, die ihn sagt, sich immerhin traut, die Gewalt überhaupt beim Namen zu nennen, und sie schon damit objektiviert (was nichts anderes besagt, als dass sie diese Gewalt einer Diskussion zugänglich macht, die mögliche Verabredungspartner darüber führen könnten, wie man sie bricht und die von ihr gestützte Herrschaft stürzt) – sie spricht, als wäre sie dem Wirkungskreis der Gewalt bereits entzogen. Zweitens, und wichtiger, rückt der Satz formal der abstrakten Struktur hinter der Gewalt, dem Unrecht, auf den nur scheinbar unverwundbaren Leib – Unrecht ist ein asymmetrisches Verhältnis, Johannas Satz aber wiederholt das Wort »Gewalt« auf den beiden Seiten, die von den zwei Parteien in diesem Verhältnis eingenommen werden, und setzt so zunächst gedanklich – aber implizit eben dadurch: praktisch, die beiden Verben reden ja vom Tun, vom Helfen oder Herrschen – genau diejenige Symmetrie, auf deren Verhinderung es den Gewalthabern zuallererst ankommen muss. In der Gewalt, sagt Brecht, steckt die Möglichkeit zur Gegengewalt. In der Untersuchung der Gründe für das Vergessen von historischen Linken – aus der Erinnerung gedrängt durch systemische Gewalt – steckt die Chance,

eine andere Art von Geschichte zu schreiben (und zu machen) als die, die wir vorfinden. Spricht man von solchen Chancen, klingt das schnell bieder und naiv – die leerste Form des Nichteinverstandenseins und der Hoffnung zugleich ist die beliebte Parole »Eine andere Welt ist möglich«. Wenn »möglich« nicht mehr als »denkbar« heißt, hat man damit so gut wie nichts gesagt: Sehr vieles ist denkbar, für dessen Verwirklichung man besser keine Kraft vergeuden sollte, weil es zwar gedacht, aber aus inneren, äußeren, logischen oder historischen Gründen nicht gemacht werden kann. Das Machbare an dem, was sich zu hoffen lohnt, interessiert uns, und umgekehrt das Wünschenswerte am Machbaren. Wir haben den Begriff »Implex« bei Paul Valéry gestohlen und unser Buch danach benannt, weil wir den Gedanken, den er damit bezeichnet – in einer Sache stecken verschiedene Möglichkeiten, die Zukunft eines Dings ist in seiner Gegenwart eingekapselt und an ihr ablesbar, nicht als zwangsläufige, sondern als Katalog von Optionen – für etwas halten, das sich sehr gut auf Gesellschaftskritik anwenden lässt. Unser Interesse gilt dem sozialen Fortschritt. Darunter verstehen wir den mit Wissens- und Produktivitätszuwächsen verbundenen Gewinn an Freiheit, Teilhabe, Auskommen für immer mehr Menschen und die gleichzeitige Beseitigung von Ausschluss, Unterdrückung, Ausbeutung. In unserer Definition ist der Implex eines sozialen Sachverhalts (zum Beispiel einer Gesellschaftsordnung) all das, was wahrscheinlich genug ist, dass menschliches Handeln es bewirken kann. Zum deutschen Implex des Jahres 1932 gehörte also der Faschismus ebenso gut wie der ihn vielleicht verhindernde Generalstreik und manches andere, nicht aber beispielsweise die Einführung der Atomenergie in Bayern oder Preußen. Was, weil die materiellen Voraussetzungen fehlen, kein Mensch bewirken kann, gehört nicht dazu. Wir haben diesen Begriff so bestimmt und in unserem Buch an geschichtlichen Tatsachen aus Politik, Wirtschaft, Ästhetik ausprobiert, weil wir glauben, dass die meisten bisherigen Fortschrittstheorien sich an dem Scheinproblem »kommt der Fortschritt oder kommt er nicht?« die Zähne ausgebissen haben. Fort-

Uns interessiert das Machbare an dem, was sich zu hoffen lohnt

★ ★★ HINTERGRUND: Dieser Text ist zuerst am 18. Februar in der Tageszeitung Neues Deutschland erschienen. Wir danken für die freundliche Abdruckgenehmigung.

78


MARX IS MUSS 2012

DIETMAR DATH KOMMT. DU Auch? JETZT ANMELDEN

★ ★★ WEITERLESEN: Dietmar Dath und Barbara Kirchner: Der Implex. Sozialer Fortschritt: Geschichte und Idee (Suhrkamp 2012). KULTUR

»Die beste Welt« war die vorhandene für Leibniz deshalb, weil sie nicht abgeschlossen ist, weil sie die Chance zu ihrer Verbesserung enthält. Er wusste, dass Wirklichkeit und Möglichkeit keine starr einander gegenüberstehenden Größen sind, weil es zur Wirklichkeit gehört, dass sie Möglichkeiten öffnet. Jede soziale Situation hat ihren Implex und der nächste Schritt, den er erlaubt, das wollen wir beweisen, kann immer auch ein Fortschritt sein. ■

© Künstler: Shepard Fairey Foto: Scott Beale / flickr.com / CC BY-NC

schrittstheorien dürfen nicht deterministisch sein. Sie müssen – nicht nur von den Naturwissenschaften, auch aus der Ästhetik, wie der Fall Valéry lehrt – den Umgang mit Wahrscheinlichkeiten lernen, wenn sie ihrer Sache gerecht werden wollen. »Der Implex« ist also ein Begriff, den wir als Beschreibung von Startfenstern für Veränderung nutzen wollen, nicht für eine Heilslehre, etwas Utopisches oder Apokalyptisches. Weder das, was ist, noch das, was sein kann, noch das, was sein wird, noch das, was sein soll, ist der feste Grund und Boden, von dem Theologie wie Spekulation jahrtausendelang glaubten, seine Beschaffenheit oder Lage im Weltganzen angeben zu können, um von da aus dann zu konstruieren, wie es weitergehen muss. Es gibt überhaupt keinen festen Grund und Boden dieser Art, auch wenn man viele Namen dafür erfunden hat: »Letzte Dinge« (das »Eschaton«), Weltgeist, Entelechie, Orthogenese, »Esemplasy« (Samuel Taylor Coleridge). Dies alles sind Wörter für Sachen, bei denen man sich viel denken, mit denen man aber nichts machen kann. Sie wollen allen Handlungsergebnissen vorgreifen und die Praxis auf theoretisch Bestimmbares reduzieren. Das Wichtigste, was der Implex uns dagegen als Begriff leisten soll, ist die systematische Weigerung, dieser Reduktionsversuchung nachzugeben. Er ist kein archaischer, kein erster unter anderen und kein letzter, kein messianischer, kein Tiefenfund, sondern ein spätes, aber bewusst vorläufiges Produkt der Geschichte des Fortschrittsdenkens. Er ist für unseren Zweck, die Idee des sozialen Fortschritts von den Brandmalen der Niederlagen konkreter historischer Versuche zu reinigen, die diesen Fortschritt verwirklichen wollten, der nützlichste aller denkbaren Begriffe in dem Sinne, in dem der Philosoph Leibniz die vorhandene Welt die »beste aller möglichen Welten« nannte. Er ist dafür oft angefeindet worden; die Zuversicht, die man jenem Einfall später übel nahm, ist aus der Weltbetrachtung der modernen, der kritischen Zeiten gründlich entfernt worden. Man hat Leibniz sehr missverstanden: Er war nicht der Meinung, diese Welt sei nicht zu verbessern (sonst hätte er, wie der unlängst verstorbene LeibnizAnhänger Hans Heinz Holz zu betonen nicht müde wurde, kaum soviel Arbeit in Verbesserungsvorschläge, in Forschung und ins Argumentieren investiert).

79


»Ich möchte Geschichte lebendig werden lassen«

D

ie Vergangenheit lässt die Kassen klingeln: Auf den Bestsellerlisten landen historische Romane ganz weit vorne. Aber was macht solche Bücher interessant? Wir trafen den Kinder- und Jugendbuchautor Klaus Kordon und sprachen mit ihm über die Novemberrevolution, ein Krokodil im Nacken und die Frage, wie aus trockenen Fakten lebendige Romanfiguren werden

80


istorische Romane sind zurzeit so beliebt wie nie zuvor. Sie waren einer der ersten Schriftsteller, der Kinderund Jugendromane veröffentlichte, die sich mit der deutschen Geschichte befassen. Wie sind Sie auf diese Idee gekommen? Mein Interesse an Geschichte hat viel mit meiner eigenen Lebensgeschichte, meiner Kindheit, zu tun. Mein Großvater ist im Ersten Weltkrieg gefallen, mein Vater im Zweiten Weltkrieg. Ich wurde 1943, noch mitten im Krieg, geboren und bin in der Trümmerstadt Berlin groß geworden – zwischen Ost und West. Das war eine hochpolitische Zeit. Am 17. Juni 1953 habe ich als Zehnjähriger den Arbeiteraufstand im Osten der Stadt miterlebt und gesehen, wie die russischen Panzer mit Steinen beworfen wurden. Als ich achtzehn

schichte ansiedeln. Was macht für Sie einen interessanten historischen Roman aus? Ich unterscheide zwischen jenen Büchern, die zurzeit die Bestsellerlisten anführen, und denen, die ich als gute historische Romane bezeichnen würde. Beispielsweise haben Lion Feuchtwanger mit »Jud Süß« oder Heinrich Mann mit seinem »Henri Quatre« bereits in den 1920er und 1930er Jahren wunderbare historische Romane geschrieben. Heute bedient ein Großteil der Geschichtsbelletristik einfach nur ein Unterhaltungsbedürfnis. Das ist in Ordnung, aber die Autoren spielen mit der Geschichte und erklären kaum die politischen Verhältnisse. Ich möchte Geschichte lebendig werden lassen. Es geht mir darum, die politischen Strömungen in der jeweiligen Zeit zu behandeln und Hinter-

Gute Kinder- und Jugendbücher werden auch von Erwachsenen gelesen war, wurde die Mauer gebaut. Ich wollte einfach wissen, warum die Dinge waren, wie sie sind. Ich wollte wissen, warum mein Großvater für den Kaiser und mein Vater für Hitler in den Krieg ziehen mussten, beide gegen ihren Willen – und warum sie sterben mussten.

A

ber warum dann ausgerechnet historische Romane für Jugendliche? Das hat sich so entwickelt. Mein erstes Jugendbuch, »Tadaki«, spielt in Indonesien. Es wurde 1977 veröffentlicht und beschreibt die Armut eines Jugendlichen. Mit dieser so genannten Dritten-WeltGeschichte begann ich, Jugendbücher zu schreiben. Bei Lesungen in Schulen, die ich oft und gerne mache, kam ich mit den Schülern in Diskussionen auch auf die deutsche Geschichte zu sprechen, auf das Nazireich und die Frage, was eigentlich vorher war. Da habe ich gemerkt: Die wussten überhaupt nichts. Fünfzehnjährige Schüler wussten, dass es den Ersten Weltkrieg gab, aber mehr nicht. Die Novemberrevolution? Keinen blassen Schimmer, nie davon gehört. Das hat mich nicht mehr losgelassen.

© Wonge Bergmann

V

iele Autoren nutzen Geschichte lediglich als Kulisse, vor der sie eine Kriminalhandlung oder eine Liebesge-

gründe zu beleuchten. Geschichtsbücher sind wichtig, aber oft trocken und faktenorientiert. Emotional spricht das den Leser wenig an. Aber wenn man einen Roman liest und mit den Figuren durch die Straßen von damals spaziert, dann bekommt man das Gefühl, dass man dabei ist und versteht die Zeitumstände plötzlich besser.

V

on der Literaturkritik werden Ihre Werke als »Geschichte von unten« beschrieben. Was verstehen Sie darunter? Für mich bedeutet das, einen ganz bestimmten Blick auf Geschichte zu entwickeln. Anders könnte ich Geschichte gar nicht erzählen, weil mich die »Oberen« nicht besonders interessieren. Entweder waren sie die Täter oder sie haben zumindest nicht so gelitten wie die einfache Bevölkerung. Ich will ein Beispiel nennen: Mein Buch über den Ersten Weltkrieg hätte auch aus der Sicht einer Familie im Berliner Reichenviertel Grunewald spielen können. Die Protagonisten hätten dann vielleicht irgendwelche Gemälde oder andere Gegenstände verkauft, um an Essen zu kommen. Sie hätten aber nicht gehungert. Die Leute im Arbeiterbezirk Wedding konnten nichts verkaufen, die haben gehungert, sind krepiert in diesem Krieg. Ich

glaube, wenn man Geschichte erzählen will, muss man sie aus der Sicht derer erzählen, die unter dem, was die oben machen, am meisten leiden.

W

ie entwickeln Sie aus trockenen historischen Fakten lebendige Romanfiguren? Wie sich die Romanfiguren so lebendig herausbilden, weiß ich manchmal auch nicht so genau. Das lässt sich nicht planen, sondern es passiert im Laufe des Schreibens. Dazu gehört sicher auch das Talent des Schriftstellers. Aber Berthold Brecht hat einmal gesagt: »Talent ist Interesse.« Ohne dass man sich für etwas interessiert, entwickelt man kein Talent. Für mich ist es wichtig, dass meine Figuren möglichst realistisch erscheinen. Sie müssen sich verlieben können, Enttäuschungen erleben, Ecken und Kanten haben. Um die Gefühle und die Lebensumstände der Menschen genau schildern zu können, muss ich sie kennen. Um die jeweilige Zeit zu verstehen, muss ich also lesen, lesen, lesen. Material finde ich in alten Flugblättern und Zeitungen und auch in Geschichtsbüchern. Interessant ist, dass viele der Jugendbuchautoren, die ich schätze, eine ziemlich schwere Kindheit hatten. Genau wie ich. Wahrscheinlich nimmt man so Kindheit und Jugend ernster.

I

n Jugendbüchern wie »Twilight« oder »TKKG« werden überwiegend Klischees bedient: Jungs sind stark und mutig, Mädchen ängstlich und zurückhaltend. Was macht für Sie wertvolle Kinderliteratur aus? Schriftsteller sollten Kinder und Jugendliche ernst nehmen, sie nicht belehren, sondern erklären. Kinder sind sehr moralisch und haben ein feines Gespür für Gerechtigkeit. Sie sollten die Wirklichkeit erfahren ...

A

ber sind Krise, Krieg, Revolution, Tod und Hunger wirklich die richtigen Themen für Jugendliche? Das überfordert sie doch. Als Schriftsteller darf ich Jugendliche durchaus »beunruhigen«. Sie sind es ohnehin. Die Welt, in der sie leben, ist keine heile Welt. Jugendliche bekommen Katastrophen, Kriege und Ungerechtigkeiten mit. Einmal in der Woche Tagesschau reicht dafür schon aus. Aber die Nachrichten liefern keine »erklärende Beunruhigung«, sondern eine, die kopflos macht. In

KULTUR

H

81


Bücher regen die Fantasie an, darum haben sie eine Zukunft

Jugendbüchern darf nichts geschönt oder verniedlicht werden – aber alles sollte weitgehend erklärt werden. Ich habe Döblins »Berlin – Alexanderplatz« zum ersten Mal mit fünfzehn gelesen. Der Roman hat mir keine Angst gemacht, obwohl er mich beunruhigt hat. Aber er hat mir meine Stadt, meine Welt erklärt.

K

DAS GROSSE MARX21-

GEWINNSPIEL 3 x 2 TICKTES für den Kongress Plus Bücher von Klaus Kordon

Neugierig geworden auf Klaus Kordon? Dann schreibt uns – Anregungen, Kritik oder einen Leserbrief. Unter den Einsendungen verlosen wir drei mal zwei Freikarten für unseren »Marx is’ muss«-Kongress und jeweils drei Exemplare von »Krokodil im Nacken« und »Die Roten Matrosen«. Vielen Dank an den BeltzVerlag, der uns die Bücher zur Verfügung gestellt hat. Warum Freikarten und Bücher gegen Feedback? Ganz

82

einfach: Wir sind uns bewusst, dass es eine große Menge bedrucktes Papier auf dem Markt gibt, dazu unermesslich viel Onlineinhalt. Es ist nicht selbstverständlich, dass unser Heft gelesen wird. Daher wollen wir wissen, welche Themen euch interessieren, welche Artikel euch gut gefallen haben und welche nicht so. Eure Meinung kann uns helfen, marx21 weiter zu verbessern. Zuschriften bitte an: redaktion@ marx21.de. Einsendeschluss ist der 14. Mai.

onservative halten Ihnen vor, Sie wollten Kinder und Jugendliche dazu anstiften, die Erwachsenenwelt in Frage zu stellen... Selbstverständlich prägen Bücher die Moralvorstellungen von Kindern und Jugendlichen. Ich möchte junge Leute über Geschichte informieren und beim Schreiben bin ich natürlich nicht neutral. Wer »Die roten Matrosen« liest, wird die Hauptfigur Helle sympathisch finden und nicht einen der Reichswehroffiziere. Bücher, vor allem für Kinder und Jugendliche, haben auch eine pädagogische Aufgabe. Mir geht es darum, die Leserinnen und Leser zum Nachdenken zu bringen. Ich möchte sie dazu anregen, einen eigenen Standpunkt zu historischen Themen zu entwickeln. Gute Kinder- und Jugendbücher werden auch von Erwachsenen gelesen und manche entdecken darin die deutsche Geschichte noch einmal ganz neu und freuen sich darüber, andere eben nicht.

D

ie Erfahrungswelt vieler Kinder und Jugendlicher aus Patchwork- oder Migrantenfamilien, mit alleinerziehendem Elternteil oder arbeitslosen Eltern spielt in aktuellen Jugendbüchern kaum eine Rolle. Warum bedienen viele dieser Bücher nach wie vor Klischees und Vorurteile? Das Schlimme ist ja, dass die Klischees zurückgekommen sind. Wir waren schon mal weiter. In den 1970er und 1980er Jahren gab es wichtige Veränderungen im Kinder- und Jugendbuchbereich – nicht nur, was den Inhalt der Bücher angeht. Beispielsweise wurden in den Buchhandlungen die getrennten Regale für Mädchen- und Jungenbücher abgeschafft. Selbstverständlich wurden auch in dieser Zeit des gesellschaftskritischen Aufbruchs Fehler begangen. Nicht alles, was gut gemeint war, wurde auch gut gemacht. Aber viele Autorinnen und Autoren hatten den Antrieb zu Veränderungen. Sie wollten die Alltageswelt von Kindern und Jugendli-

chen ohne Klischees und Vorurteile darstellen. In den vergangenen fünfzehn Jahren hat sich der Wind merklich gedreht. Die Alltagswelt der Kinder spielt immer weniger eine Rolle. Stattdessen boomt der Markt für Fantasybücher.

A

uch die Verlage machen da mit ... Ja, richtig. In der heutigen Bücherwelt dominieren wenige große Buchhandlungsketten den Markt. Dort steht nicht der literarische und gesellschaftskritische Inhalt der Bücher im Vordergrund, sondern der finanzielle Gewinn. Auch wenn noch kleinere Buchhandlungen existieren, die kritische Literatur anbieten, haben die großen die Kontrolle darüber, welche Bücher richtig erfolgreich werden. Die Verlage leben von den Bestellungen des Buchhandels. Die kleineren können daher nicht wirklich gegen diese Ketten arbeiten. Früher, als es die Konzentration auf dem Büchermarkt noch nicht so gab, konnten auch kleinere Verlage Akzente setzen. Das ist heute anders. Heute bestimmen die großen Ketten, was Erfolg haben darf und was nur so nebenher läuft. Was sich so mancher Autor zu Herzen nimmt und dementsprechend schreibt.

H

at denn das Kinder- und Jugendbuch überhaupt noch eine Zukunft? Die digitale Welt macht ja auch vor dem Kinderzimmer nicht halt. Ich glaube schon. Auch wenn die Konkurrenz für das Buch groß ist, wird es immer Menschen geben, die lesen. Es werden sicher weniger, aber das Buch hat eine wunderbare Kraft. Die Leser können sich selber einbringen. Beim Fernsehen bin ich eher Konsument. Doch bei einem Roman bin ich der Regisseur, kann Buchstaben in Bilder umsetzen. So schafft sich jeder eine eigene Vorstellung von den Figuren und Plätzen. Bücher regen die Fantasie an, darum haben sie eine Zukunft.

I

n Bayern wurden kürzlich die Lehrpläne für Geschichte radikal gekürzt: NSZeit und Weimarer Republik werden jetzt im Schnelldurchlauf behandelt, die beiden Weltkriege und die Novemberrevolution 1918/19 sind komplett gestrichen worden. Ihre Buchreihe »Trilogie der Wendepunkte« behandelt genau diese Zeitabschnitte deutscher Geschichte. Sie beginnt mit dem Buch »Die roten Matrosen«, in dem ein 13-jähriger Junge und sein Kumpel sich mit den meuternden


Januar 1919 in Berlin. Ein Redner läßt die Republik hochleben. Klaus Kordon will in seinen Büchern an solch wichtige geschichtliche Wendepunkte erinnern. Im Interview erklärt er warum und Liebknecht sahen die bessere Zukunft der Menschheit in wahrhaft sozialistischen Demokratien und nicht in Funktionärsdiktaturen.

Klaus Kordon

I

n Ihrem autobiografischen Buch »Krokodil im Nacken« beschreiben Sie die Lebensgeschichte ihres Alter Ego Manfred Lenz. Im Jahr 1972 werden Lenz und seine Frau Hannah nach einem missglückten Fluchtversuch aus der DDR im Stasi-Untersuchungsgefängnis BerlinHohenschönhausen festgehalten. Die Familie wird auseinandergerissen und die Kinder kommen ins Heim. Erst als die Bundesrepublik die Familie freikauft, wird sie aus der Haft in den Westen entlassen. Im Roman beschreiben Sie akribisch die Haftbedingungen und Befragungen durch die Stasi. Warum? Ich wusste, weshalb ich wegwollte. Ich wollte frei schreiben und das war in diesem Staat nicht möglich. Aber selbst wenn ich es nicht gewusst hätte, im Knast hätte ich es festgestellt. Wie dort mit Häftlingen umgegangen wurde, war für mich vorher unvorstellbar. Ich wurde wegen Republikflucht zu zwei Jahren und zehn Monaten Haft verurteilt, davon habe ich sechs Monate in Hohenschönhausen abgerissen, sechs weitere in der Strafvollzugsanstalt Cottbus.

Klaus Kordon ist Kinder- und Jugendbuchautor. Eines seiner bekanntesten Werke ist »Die roten Matrosen«. Seine zahlreichen Veröffentlichungen wurden in viele Sprachen übersetzt und mit nationalen und internationalen Preisen bedacht. Für seinen autobiographische Roman »Krokodil im Nacken« erhielt er den Deutschen Jugendliteraturpreis, für sein Gesamtwerk den Alex-WeddingPreis der Berliner Akademie der Künste.

KULTUR

A

ber ein Sieg der Revolutionäre um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht hätte enden können wie in Russland: Diktatur statt Sozialismus. Die Mehrzahl der Menschen, die in jenem Winter 1918/19 auf die Straßen gingen, demonstrierten für mehr Gerechtigkeit und kämpften für ein besseres Leben, für weniger Not, gegen den Krieg. Nur wer sich an Elendsviertel wie die alte Berliner Ackerstraße erinnert und versucht, sich das unendliche Leid dieser Menschen vorzustellen – den vierjährigen Hunger, das endlose Sterben – kann die Verzweiflung der Opfer jener unmenschlichen Politik am Anfang des letzten Jahrhunderts nachempfinden. In den Ländern des »realexistierenden Sozialismus« berief man sich auf das Erbe von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Doch deren Schriften durften bis zum Zusammenbruch dieser Staaten nicht vollständig erscheinen. Allein das zeigt doch, wie wenig zu Hause sich diese beiden Symbolfiguren der internationalen Arbeiterbewegung unter der Diktatur ihrer Nachfolger gefühlt hätten. Luxemburg

© wikimedia

Matrosen der Hochseeflotte anfreunden und die Revolution hautnah miterleben. Warum ist Ihnen dieses Ereignis so wichtig? Wir dürfen unsere Geschichte nicht vergessen. Der Winter 1918/19 spielt nicht nur in den Schulen kaum eine Rolle, er ist auch im Bewusstsein vieler Erwachsener nicht mehr präsent. Die bitteren Erfahrungen von zwölf Jahren Hitlerdiktatur, des Zweiten Weltkriegs und seiner Folgen überlagern die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg und die Revolution, die ihn beendete. Aber jener Winter stellt eben nicht nur eine Zäsur der deutschen Geschichte dar. Was in jenen Monaten geschah, bedeutete zugleich eine politische Weichenstellung für die Zukunft. Geschichte baut aufeinander auf. Es ist wie bei einer Mauer. Ein Stein liegt auf dem anderen. Und wenn ein Stein schief liegt, wird die ganze Mauer schief. Ob die Nationalsozialisten um Adolf Hitler je an die Macht gekommen wären, wenn die Revolution von 1918/19 einen anderen Verlauf genommen hätte, ist eine rein hypothetische Frage. Dennoch sollte sie gestellt werden. Denn wenn wir uns nicht mit den Fehlentwicklungen der Vergangenheit beschäftigen: Wie wollen wir dann unsere Gegenwart verstehen, wie die Zukunft gestalten?

83


Ich wollte den Menschen, die damals große Träume hatten, ein Denkmal setzten

In der Stasi-Haft existierte keinerlei Rechtsstaatlichkeit. In Hohenschönhausen wurde ich fünf Monate in Einzelhaft gesperrt, getrennt von meiner Frau, die auch im Gefängnis festgehalten wurde, und meinen Kindern, die sie in ein Heim gesteckt haben. Fünf Monate, in denen ich niemand anderen sehen konnte als meinen Vernehmer. Ich war ohne Chance auf ein faires Verfahren, ohne einen echten Rechtsbeistand, in einer engen Zelle, ohne Zeitung, ohne Bücher – das war eine schreckliche Erfahrung. Für mich war es ein Bedürfnis, diese Erlebnisse niederzuschreiben. Für mich selbst, aber auch um anderen, die die DDR nicht erlebt haben, diesen Teil der deutschen Geschichte zugänglich zu machen.

S

DIE BÜCHER / EINE AUSWAHL Die roten Matrosen oder ein vergessener Winter (erster Teil der Trilogie der Wendepunkte) Neuauflage, Beltz 2011. Krokodil im Nacken Beltz 2002.

Fünf Finger hat die Hand (zweiter Band der Jacobi-Saga, Nachfolgegeschichte von 1848 - Die Geschichte von Jette und Frieder) Beltz 2006. Auf der Sonnenseite (Nachfolgeband von Krokodil im Nacken) Beltz 2009.

84

ie haben »Krokodil im Nacken« aber erst im Jahr 2002 fertig gestellt. Warum so spät? Wenn ich das Buch gleich, nachdem ich 1973 in den Westen übergesiedelt bin, geschrieben hätte, dann wäre es eine bitterböse Abrechnung geworden. Aber die erste Wut ist kein guter Ratgeber. Ich wollte ein faires Buch über die DDR schreiben. Ich wollt nichts verteufeln, aber auch nichts beschönigen. Ich brauchte Zeit, die Dinge zu verarbeiten, bevor ich darüber schreiben konnte.

W

arum sitzt der Romanfigur Manfred Lenz ein »Krokodil« im Na-

cken? Das Krokodil ist sein schlechtes Gewissen. Der Roman hat ja zwei Spannungsebenen. Zum einen gibt es die Situationen im Gefängnis. Zum anderen erzähle ich in Rückblenden die ersten 30 Jahre der DDR und was Manfred Lenz dazu bringt, in diesem Staat nicht mehr leben zu wollen. Er hat einen guten Job und könnte sich arrangieren. Aber er ist ein widerständiger Charakter. Im Jahr 1968 muss er als Abteilungsleiter seinen Mitarbeitern ein Papier des Zentralkomitees der SED verlesen, in dem die Niederschlagung des Prager Frühlings durch Truppen des Warschauer Paktes gerechtfertigt wird. Da kommt das Krokodil. Gegen jeden Satz in dieser Rede sträuben sich Lenz die Nackenhaare. Aber er hat sie brav verlesen. In der Nacht darauf taucht das Krokodil erneut auf und er kommt sich unglaublich mies vor. Von da an geht es nicht mehr weg. Irgendwann wird Lenz klar, dass er dort nicht mehr leben kann. Die DDR hat

ihn zur Flucht getrieben. Haben Sie eigentlich meinen Folgeband »Auf der Sonnenseite« gelesen?

N

ein, leider noch nicht. Aber er liegt ganz oben auf meinem Büchersta-

pel. In Ordnung (lacht). In diesem Buch beschreibe ich nämlich, dass das Krokodil auch bei Manfred Lenz bleibt, als er schon in der Bundesrepublik lebt. Er kann jetzt zwar so schreiben, wie er denkt, und muss nicht mehr verstecken, was er geschrieben hat. Auch kann er durch Europa und die ganze Welt reisen. Aber es gibt auf dieser Sonnenseite eben auch Schatten: das ungebremste Erwerbsstreben, die Ellenbogenmentalität so vieler, die zu wenig vorhandene Solidarität mit den Zukurzgekommenen – alles Beobachtungen, die das Krokodil in Lenz beschäftigen. Aber wenigstens darf er das Krokodil jetzt von der Leine lassen. Sprich: Das schlechte Gewissen, das mit Krokodilszähnen an ihm nagt, in Worte fassen und diese Worte laut sagen und sogar in den Druck geben.

D

as ist eine schöne Überleitung zu meiner letzten Frage: Im November 1989 stürzte eine Massenbewegung die scheinbar unantastbare Parteidiktatur in der DDR. Nun, zwanzig Jahre später, sorgt der Arabische Frühling für neue Wendestimmung. In den USA hat die Occupy-Bewegung dem Kapitalismus den Kampf angesagt. Wie könnte die nächste Wendezeit aussehen? Wenn ich das wüsste! (lacht) Aber ganz ehrlich: Ich frage mich auch, was nach dem Kapitalismus kommen könnte. Ich denke hier in Deutschland schlucken viel zu viele Menschen einfach herunter, was sie eigentlich stört. Das Beeindruckende an der Revolution 1989 war ja, dass wirklich so viele Menschen auf der Straße waren: Die oben konnten einfach nicht mehr, wie sie wollten, und die Diktatur ist dann zusammengefallen wie ein Kartenhaus. Aber wie eine neue Wendezeit aussehen könnte, weiß ich auch nicht. Mit meiner »Trilogie der Wendepunkte« wollte ich zumindest den Menschen, die damals große Träume hatten, ein Denkmal setzten. Es stimmt natürlich, dass ein Leben ohne Krieg und Not, wie es sich die Revolutionäre von 1918 erhofften, auch heute noch ein Traum geblieben ist. Er muss auf jeden Fall weitergeträumt werden. Die Fragen stellte Yaak Pabst


NACHRUF

&

Brot Rosen Er war ein heimatloser Linker und Antistalinist, später wurde er Chefredakteur einer der größten Gewerkschaftszeitungen Westdeutschlands. Vor allem war er aber Vermittler zwischen der »alten« und der neuen« Linken. Am 3. März ist Jakob Moneta gestorben

er Mensch lebt nicht vom Brot allein und hat auch dies nicht ohne Kultur. Als der US-amerikanische Poet James Oppenheim diese Lebensweisheit im Jahre 1911 in einem seiner Gedichte in die Chiffre »Brot und Rosen« übersetzte, wurde sie nur ein Jahr später, vor nun genau einem Jahrhundert, zur zündenden Streik-Parole, als mehr als 20.000 Textilarbeiterinnen mit Migrationshintergrund (wie man heute sagt) im US-Bundesstaat Massachusetts für einen gerechten Lohn, sprich: Brot, und eine menschenwürdige Arbeits- und Lebensumgebung, sprich: Rosen, kämpften. Die Arbeiterinnen erstritten so eine 25-prozentige Lohnerhöhung, eine gerechtere Bezahlung von Überstunden und die Zusage, dass Streikende in Zukunft nicht mehr diskriminiert werden sollen. Seitdem gehört das damals entstandene Lied »Her mit dem ganzen Leben: Brot und Rosen« zum Liedgut der internationalen Arbeiterbewegung – und wurde zu einem der Lieblingszitate von Jakob Moneta, der am 3. März, im stolzen Alter von 97 Jahren in Frankfurt am Main gestorben ist. Der 1914 im damals noch österreichisch-ungarischen Ostgalizien Geborene war eine der beeindruckendsten Gestalten der deutschen Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung.

Aufgewachsen im Köln der Zwischenkriegszeit, schloss sich Moneta Anfang der 1930er Jahre der Jugendorganisation der aus einer linksoppositionellen Strömung der SPD hervorgegangenen Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) an und engagierte sich im Arbeitersport. Ende 1933 verließ der junge Jude und Sozialist das faschistische Deutschland und ging nach Palästina, um in einem Kibbuz nicht nur zu überleben, sondern auch am Aufbau einer neuen solidarischen Welt Anteil zu nehmen. Hier lernte er eine praktisch gelebte sozialistische Kollektivität, die ihn zeitlebens prägen sollte, die ihn aber auch politisch ernüchtern ließ, als er aus dem Kibbuz ausgeschlossen und mit 27 Monaten Internierung bestraft wurde, weil er 1939 gegen den politischen Zionismus auftrat und gewerkschaftliche Streiks organisierte und dabei wie selbstverständlich auch mit nichtjüdischen Arabern zusammenarbeitete. Im Jahr 1948 gelang ihm über Frankreich und Belgien die Rückkehr nach Westdeutschland – der deutsche Osten bot ihm, dem trotzkistisch beeinflussten Antistalinisten, keine wirkliche Perspektive. Zurück in Köln wurde er Redakteur der von Willi Eichler und Heinz Kühn geführten sozialdemokratischen Rheinischen Zeitung und Mitglied der neuen Sozialdemokratie. Er stärkte dort den linkssozialistischen Flügel und ging, als er verstand, dass dieser zu Beginn der 1950er Jahre in die hoffnungslose Defensive geraten war, im Jahre 1953 als Sozialreferent an die bundesdeutsche Botschaft nach Paris. Im Geiste und hinter vorgehaltener Hand blieb er jedoch ein Trotzkist und heimatloser Linker jenseits von

★ ★★

Christoph JünkE lebt als Historiker und Publizist in Bochum. Zuletzt hat er den Band »Begegnungen mit Leo Kofler. Ein Lesebuch« (Papyrossa 2011) mitherausgegeben, in dem sich auch ein Beitrag von Jakob Moneta findet.

NACHRUF

D

Von Christoph Jünke

85


kommunistischem Bürokratismus und sozialdemokratischem Reformismus und erzählte später immer gerne, wie er die Immunität des Botschaftsangehörigen dazu benutzte, den französischen und nichtfranzösischen (auch deutschen) Aktivisten der algerischen Befreiungsbewegung zu helfen. Er hielt zwar den Kontakt in die Heimat, doch das Westdeutschland, in das er 1962 zurückkehren sollte, hatte sich während der vergangenen fast zehn Jahre nachhaltig verändert. Große Teile seiner Generation heimatloser Linker hatten sich nach langen und intensiven Kämpfen gegen die Godesbergisierung der SPD enttäuscht und zermürbt geduckt oder gar zurückgezogen. Und die neue, an den Universitäten heranwachsende linke Generation wollte von der ersten Generation einer Neuen Linken nicht mehr viel wissen – was zu tiefgreifenden gegenseitigen Vorbehalten führte und, anders als in Ländern wie Frankreich und Großbritannien, eine fruchtbare und für die Zeit nach ’68 folgenreiche Zusammenarbeit zwischen »alter« und »neuer« Linken verhindern sollte. Nur ganz wenige derjenigen, die in den fünfziger Jahren politisch führend aktiv waren, sehen wir nach ’68 auf der politischen Bühne wieder. Einer dieser wenigen war Jakob Moneta, den der IG Metall-Vorsitzende Otto Brenner 1962 zum Chefredakteur der beiden einflussreichen IG-Metall-Zeitungen Metall und Der Gewerkschafter machte, und damit auch zum IG Metall-Vorstandsmitglied. Mit seinem tatkräftigen Optimismus und seiner bemerkenswerten Fähigkeit, junge Talente (in Theorie wie Praxis) zu erkennen und zu fördern, gelang Moneta der Brückenschlag zwischen den Generationen, und er ging als einer der wenigen Exponenten des linken Gewerkschaftsflügels in die Geschichtsbücher der sechziger und vor allem siebziger Jahre ein. Später gefragt, was er denn als neuer Metall-Chefredakteur geändert hätte, antwortete er bestechend schlicht: »Ich habe keine Leserbriefe mehr weggeworfen, wenn sie einem nicht passten, sondern habe sie veröffentlicht. Dann habe ich einen ganz konsequenten antimilitaristischen Standpunkt vertreten. Als der Vietnamkrieg kam, haben die amerikanischen Gewerkschaften interveniert, weil wir gegen den Vietnamkrieg waren.« Und als die Studenten aufbegehrten und ihr »Wir wollen alles – und zwar sofort« auf der Straße skandierten, wusste er zwar, dass dieses »sofort« eine Illusion war, aber immerhin eine heroische Illusion, denn dass hier jemand endlich wieder einmal alles begehrt, das gefiel ihm sehr. Entsprechend kritisierte er seine reformistischen Kolleginnen und Kollegen nicht dafür, dass sie sich als Re-

formisten verstanden, sondern dafür, dass sie nicht reformistisch genug waren, dass sie nicht das politische Bündnis mit den Radikalen suchten, um ihrem Reformismus den nötigen Nachdruck zu verleihen. Ob als Journalist und Publizist oder als Gewerkschafter und Intellektueller, ob als Herausgeber und Übersetzer oder als Mitglied der SPD und, unter der Hand, der Gruppe Internationaler Marxisten (GIM), ob als späteres Mitglied der Vereinigten Sozialistischen Partei (VSP) oder der nun gesamtdeutschen Partei des demokratischen Sozialismus (PDS) – Jakob Moneta hat immer Position bezogen, sich eingemischt und Bewusstsein angestoßen, sei es im direkten Gespräch oder in den Gremiensitzungen, sei es auf Tagungen und bei Vorträgen oder mit seinen zahllosen publizistischen Texten und Kolumnen. Und auf angenehme Weise belehrend mischte er bei diesen zumeist kurzen Interventionen aktuelle Fragen mit grundsätzlichen, Alltagsbegebenheiten mit politischen Großwetteranalysen, Deutsches mit Internationalem, politische Argumente mit sozialgeschichtlicher Aufklärung. Er hatte was zu sagen. Er hat gerne angestoßen und gefördert, konnte aber auch zuhören und das Gehörte und Erlebte verarbeiten. Sektierertum, die selbstgewählte Abschottung gegen andere, war ihm fremd, obwohl er sich seines gesellschaftlich marginalisierten Standpunktes immer bewusst blieb. Ihm war klar, dass er nicht in Zeiten des Barrikadensturmes lebte. Doch ein Grund, deswegen nicht mehr alles zu wollen, war auch dies für ihn nicht. Er vertraute darauf, dass »die Leute« bald schon verstehen würden, dass es nicht reicht, nur die eigenen Lohnerhöhungen erkämpfen und nur die eigenen Arbeitsplätze verteidigen zu wollen. Und sei diese Erkenntnis endlich wieder gereift, würden auch die Bedürfnisse der Menschen wieder zum entscheidenden Kriterium des Wohlbehagens und Fortschritts und nicht mehr die Gesetze von Profit und Konkurrenz. Bis dahin konnte er aus einem reichhaltigen und turbulenten Leben zehren, aus seinen Kämpfen gegen den aufkommenden Nazi-Faschismus und den politischen und gewerkschaftlichen Kämpfen im Palästina der dreißiger Jahre, aus seinen praktischen wie intellektuellen Kämpfen gegen die stalinistisch entartete kommunistische Bewegung und gegen den westdeutschen Adenauer-Staat. Er schöpfte dabei aus seinem Internationalismus ebenso wie aus seinen jüdischen Wurzeln und seinen sozialistischen Überzeugungen. Sein unaufdringlicher sozialistischer Humanismus war gleichermaßen Zielvorstellung wie auch persön-

Mit seinem tatkräftigen Optimismus gelang Moneta der Brückenschlag zwischen den Generationen

★ ★★ WEITERSEHEN: Einen ersten Eindruck über das Leben von Jakob Moneta bietet das Filminterview von Juri Hälker: Jakob Moneta: Jude – Gewerkschafter – Sozialist (Deutschland 2006, 84 Minuten), online unter labournet.tv.

86


Unser Autor Christoph Christoph Jünke im Gespräch mit Jakob Moneta. Das Foto entstand im Jahr 1999

Für Jakob blieb es nicht nur eine echte Sünde wider den Menschen, wenn man diesem kein Brot gibt,

sondern auch, wenn man ihm nur Brot gibt und dann sich selbst überlässt. »Verbrecher werden nicht geboren, sie werden gemacht«, schrieb er vor nun sechzig Jahren in direkter Auseinandersetzung mit den neoliberalen Vordenkern Wilhelm Röpke und Walter Eucken: »Alkoholiker sind leere oder ausgebrannte Menschen, aber warum war niemand und nichts da, um diese Leere auszufüllen, und warum wurde der Brand nicht rechtzeitig gelöscht? Zu warten, bis der Mensch sich schuldig macht, um hinterher über ihn zu Gericht sitzen zu können, heißt, sich mitschuldig machen. Es nutzt nichts, die Symptome zu bekämpfen.« Der Liberalismus sei nicht nur unfähig, solche Probleme zu lösen, er mache sie auch noch schlimmer, wo er sich dem Credo des individuellen carpe diem verschreibe, dem Imperativ, den Tag zu nutzen, den Tag zu genießen. Für Moneta war dagegen dieses carpe diem die »gespenstisch anmutende Aufforderung, Freudentänze auf den Grabhügeln menschlicher Skelette aufzuführen, die uns die jüngste Geschichte als Erbe hinterlassen hat«. Es könne deswegen nicht darum gehen, den Tag einfach nur zu genießen. Es müsse vielmehr darum gehen, den Tag zu nutzen, um die Zukunft vorzubereiten, den Tag zu nutzen, um die menschliche Persönlichkeit in ihrer ganzen Vielfältigkeit als Gattungswesen zu entfalten: »darin liegt unser Glück«. Jakob Moneta hat auf bemerkenswerte Weise, ebenso selbstbewusst wie selbstlos, seine Tage genutzt, um diese nicht nur ihm eigene Vision der Zukunft vorzubereiten. Er wollte das ganze Leben, er wollte Brot und Rosen – nicht für sich allein, sondern für alle. ■

★ ★★ HINTERGRUND: Dieser Text ist zuerst online auf den Seiten der Rosa-LuxemburgStiftung erschienen: www.rosalux.de. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.. NACHRUF

lich gelebtes Ethos. Jakob Moneta nahm die radikaldemokratischen Versprechen der frühbürgerlichen Aufklärungstradition ebenso ernst wie die Emanzipationsversprechen des alten Arbeiterbewegungsmarxismus. Niemals hat er sich darauf verlassen, dass wo Demokratie drauf steht auch Demokratie drin ist, oder, dass wo Sozialismus drauf steht auch Sozialismus drin ist. Denn beide gehörten ihm untrennbar zusammen. Ein konsequenter Demokrat müsse eben auch Sozialist sein, wurde er nicht müde zu betonen. Und kein Sozialist verdiene Glaubwürdigkeit, der nicht verstanden hat, dass demokratische Freiheiten eine Errungenschaft sind, die man für keine noch so schön gemeinte Erziehungsdiktatur auch nur vorübergehend suspendieren kann. Sich von dieser radikal-demokratischen Aufgabe nicht bürgerlich vereinnahmen zu lassen, das hat er verstanden – nicht zuletzt, weil er nicht vergessen hat, dass demokratische Fortschritte in den letzten beiden Jahrhunderten nur gegen jene bürgerliche Klasse durchzusetzen waren, die doch gleichzeitig als deren vermeintlich natürlicher Exponent betrachtet wird. Seine Parteinahme für die Ohnmächtigen dieser Welt war deswegen das geduldige Bohren dicker Bretter, und die Ausdauer und der optimistische Elan, mit der der linke Aufklärer diese Arbeit verrichtete, sind bewundernswert. Die meisten seiner linken Zeitgenossen haben diese Standhaftigkeit im Zeitalter des Skeptizismus nicht aufzubringen vermocht.

87


Geschichte hinter dem Song

Grandmaster Flash & the Furious Five: »The Message« Der Song »The Message« von Grandmaster Flash & the Furious Five aus dem Jahre 1982 ist eine wortgewaltige Reportage aus dem Niemandsland: der South Bronx in New York, dem damals berüchtigtsten Ghetto der USA. Mit ihrem sozialkritischen Rap-Sound elektrisiert die Band weltweit eine ganze Generation und gibt damit den Startschuss für eine Kulturrevolution, die die Popmusik für immer verändert

I

m Jahr 1982 befindet sich Amerika in einer Wirtschaftskrise. Die Zahl der Arbeitslosen steigt unter dem neuen konservativen Präsidenten Roland Reagan auf zwölf Millionen, der höchste Stand seit 1941. In New York ist einer von drei Jugendlichen zwischen sechzehn und neunzehn Jahren ohne Arbeit. Nur 15 Minuten von Manhattan entfernt ist die Lage noch dramatischer: In der South Bronx sind in den letzten zehn Jahren 40 Prozent der Unternehmen im industriellen Sektor pleitegegangen. Zehntausende Arbeitsplätze sind vernichtet, in manchen Straßenzügen sind bis zu 80 Prozent der Bewohner ohne Job. Wer es sich leisten kann, zieht weg. Übrig bleiben die, die nichts haben: Zwischen 1970 und 1980 schrumpft die Bevölkerung in den drei Kernbezirken der South Bronx von 383.000 auf 166.000 Einwohner. Während die Mittelschichten in die Vororte ziehen, verslumt die South Bronx. Sie wird zum weltweiten Symbol für den urbanen Verfall. Beschleuniger der Ghettoisierung sind die Stadtplaner in New Yorks Senatsverwaltung. Sie bauen Anfang der 1960er Jahre eine Autobahn, den Cross Bronx Expressway, der direkt durch die dicht besiedelten Arbeiterviertel der Bronx führt. Die Konsequenzen sind fatal: Zehntausende Menschen werden zwangsumgesiedelt, die Anzahl der leer stehenden Gebäude steigt rapide an. Die Besitzer der abbruchreifen Wohnblöcke finden bald heraus, dass sie mehr Geld durch Versicherungsbetrug verdienen können als durch die reguläre Vermietung. Sie heuern Brandstifter an, um

88

Von Yaak Pabst

Die Block Parties bringen DJs, Rapper, Tänzer und Graffiti-Sprüher zusammen – es ist die Geburtsstunde des Hip Hop die Versicherungsprämien zu kassieren. Zwischen 1970 und 1975 werden in der Bronx 68.000 Brände gemeldet, das sind mehr als 33 am Tag. Insgesamt werden 43.000 Gebäude durch Brandstiftung zerstört, die meisten davon im Süden des Bezirks. Doch anstatt dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen, beschließt die New Yorker Stadtverwaltung, gezielt Sozialhilfeempfänger in der South Bronx unterzubringen. Gleichzeitig setzt der Senat wegen der Wirtschaftskrise in New York rigide Sparmaßnahmen durch. Die Bronx trifft es besonders hart: Das Gesundheitssystem ist eine Katastrophe, die Schulen leiden unter Lehrermangel, Polizei und Feuerwehr sind aufgrund von Personalkürzungen völlig überfordert. Mitte der 1970er Jahre liegt das Viertel in Schutt und Asche, die öffentliche Ordnung ist nahezu kollabiert. Schätzungen zufolge gibt es mittlerweile hundert Gangs mit insgesamt 11.000 Mitgliedern. Schießereien auf offener Straße, Raubüberfälle und Prügeleien stehen auf der Tagesordnung.

Mittendrin in diesem Großstadtdschungel lebt der 19-Jährige Joseph Saddler. Im Jahr 1977 gründet er zusammen mit den Rappern Melle Mel, Cowboy, Kidd Creole, Mr. Ness aka Scorpio und Rahiem die Band Grandmaster Flash & the Furious Five. Fünf Jahre später kommt das erste Studioalbum der sechs Hip-Hop-Pioniere auf den Markt. Ohne danach gefragt zu haben, erfährt die Welt im Titelsong »The Message« wie es in der South Bronx aussieht. In sieben Minuten und acht Sekunden rappen sich Grandmaster Flash & the Furious Five den Frust von der Seele. Sie erzählen von der Lebenswirklichkeit ihrer Zuhörer, berichten von Armut und Arbeitslosigkeit, Prostitution und Drogen, Verwahrlosung und Polizeibrutalität. Weil der Song zu langsam zum Tanzen ist, zwingt er zum Zuhören. Er startet mit schleppenden Drums, der Rhythmus klingt abgehackt. Der Bass ist tief, reduziert und klar, dazu stößt ein verwackeltes Synthesizer-Riff. Der Rapper Melle Mel klagt schmallippig: »Schubs mich nicht, denn ich stehe Nahe am Abgrund / Ich versuche, meinen Kopf nicht zu verlieren / Manchmal ist es wie im Dschungel, ich frage mich, wie ich es schaffe, nicht unterzugehen«. Die Single ist nicht der erste Raptrack, der Themen wie Armut, Rassismus oder Arbeitslosigkeit anspricht. Kurtis Blows »Hard Times«, Tanya Sweet Tee Winleys »Vicious Rap« oder Brother D and the Collective Efforts »How We Gonna Make the Black Nation Rise?« sind nur ein paar Beispiele. Doch bei niemandem klingt es so glaubwürdig, innovativ, wütend und überraschend wie bei Grandmaster Flash.


© Sugar Hill Records / LP Cover: Grandmaster Flash & the Furious Five: »The Message«

Grandmaster Flash & the Furious Five auf dem Cover ihres ersten Album »The Message«. Ohne danach gefragt zu haben, erfährt die Welt im gleichnamigen Titelsong wie es in der South Bronx aussieht. In sieben Minuten und acht Sekunden rappen sich den Frust von der Seele der neue Kunstform. Er übt, trainiert und probiert, bis er ein DJ-Set zusammen hat und zum ersten Mal auf einer Block Party auftreten kann. In einem Interview erzählt er rückblickend über diese Zeit: »Ich erinnere mich genau, wie wir an einem Sonntagnachmittag unser Soundsystem in einem Park in der Bronx aufbauten, und sich eine neugierige Menge um die Lautsprecher sammelte. Es sollte meine Premiere werden: Erst ein Schlagzeugbreak aus dieser Bluesplatte, dann ansatzlos ein Bongo-Solo von einer Rocknummer, das in ein James-Brown-Bläserriff übergeht. Ich hatte es wochenlang im Keller einstudiert. Und dann: eine schweigende Menge. Warum tanzte niemand? Ich schlich heulend nach Hause und versteckte mich eine Woche in meinem Zimmer.« Trotzdem ist es ein historischer Moment. Denn ab jetzt wird mit einem Mischpult und zwei Plattenspielern die Musikgeschichte zerlegt, wieder zusammengefügt, uminterpretiert und so etwas Neues erschaffen, das die Popmusik für immer verändert. Zu den Breakbeats der DJs entwickelt sich eine eigenständige Tanzform der Breakdance. Die Block Parties bringen DJs, Rapper, Tänzer und Graffiti-Sprüher zusammen – es ist die Geburtsstunde des Hip Hop. Grandmaster Flash & the Furious Five treten jetzt regelmäßig in Clubs vor Hunderten Menschen auf. DJ Grandmaster Flash wird zur Attraktion. Im Jahr 1980 erhält

die Band einen Plattenvertrag bei Sugar Hill Records, dem ersten bedeutenden Hip-Hop-Label. Ein Jahr später erscheint die für viele nachfolgende DJs wegweisende Platte »The Adventures of Grandmaster Flash on the Wheels of Steel«. Erstmals ist ein DJ-Mix von Grandmaster Flash auf Platte zu hören. Er verarbeitet dort unter anderem den Discohit »Good Times« von Chic und Queens »Another One Bites the Dust«. Im selben Jahr spielen Grandmaster Flash & the Furious Five als Vorgruppe bei der Tour der Punkband The Clash. Die New-Wave-Formation Blondie huldigt ihn in ihrem Nummer-1-Hit »Rapture«. Die Sängerin Debbie Harry rappt: »Flash is cool. Flash is fast.« Auch wenn die Gruppe 1985 unter dem Erfolgsdruck auseinanderbrach, ist ihr Einfluss bis heute enorm. Nach »The Message« entwickelte sich Hip Hop von einem lokalen Partyphänomen zu einer neuen internationalen Subkultur. An Aktualität hat der Song nichts eingebüßt. Der grimmige Text von Melle Mel und Bootee Fletcher trifft auch heute noch die Lebensrealität von Millionen Menschen. ■ ★ ★★ Yaak Pabst ist Redakteur von marx21. Er schreibt an dieser Stelle regelmäßig über die Hintergründe berühmter Songs.

GESCHICHTE HINTER DEM SONG

Die Band ist Teil einer neuen Jugendbewegung. Während die Welt naserümpfend auf die Bronx schaut, geben sich die Menschen im Ghetto nicht geschlagen. Aus den Ruinen ihres Bezirks steigt im wirtschaftlichen Niedergang der 1970er Jahre die Hip Hop Kultur auf. Weil es zu teuer ist, in Manhattan auszugehen, verlegen die Jugendlichen die Tanzfläche einfach auf die Straße. Inspiriert von den mobilen Diskotheken, den jamaikanischen Soundsystems der 1950er und 1960er Jahre, werden Straßenfeste organisiert, sogenannte Block Partys. Die Feiern ziehen Tausende Jugendliche an – eine Abwechslung zur Gewalt der Gangs, zur Langeweile und Perspektivlosigkeit. Das Epizentrum der Block Parties ist der DJ. Um das Publikum zu rocken, beginnen die DJs der Bronx sich von der Funktion des reinen Plattenauflegers zu emanzipieren. Wurde bis dato brav ein Stück nach dem anderen aufgelegt und zwischendurch moderiert, regiert ab jetzt der Beat. Die DJs verwandeln den Plattenspieler vom bloßen Abspielgerät in ein Musikinstrument. Sie mixen die sogenannten »Breaks« (die instrumentalen Rhythmussektionen eines Songs) aus den verschiedenen Funk- und Soulsongs ineinander und erfinden so den Breakbeat. Als einer der ersten mixt Kool DJ Herc zwei als Schlagzeugsoli angelegte Breaks nahtlos ineinander. Doch auch Joseph Saddler, der sich später DJ Grandmaster Flash nennen wird, stürzt sich in die Entwicklung

89


Review © Foto: David Paeson / Künstler: George Condo


AUSSTELLUNG

Städelmuseum | Frankfurt

Ein Loch in der Stirn Das Städelmuseum in Frankfurt am Main wurde um einen unterirdischen Saal erweitert. Die dort ausgestellten Exponate lassen den Betrachter schmunzeln und wirken im nächsten Moment verstörend. Eine Wanderung durch die Kunst der Gegenwart Von David Paenson nde Februar wurde der neue, 3000 Quadratmeter große unterirdische Saal des Städelmuseums in Frankfurt am Main eröffnet. Licht strömt von oben herein durch 195 kreisrunde Oberlichter. Alles ist in Weiß gebadet. Man wandert frei herum. Der Raum ist unterteilt durch hohe und dicke Wände, die einem das Gefühl vermitteln, getrennte Räumlichkeiten zu betreten. Gleichzeitig sind die einzelnen Raumabschnitte durch mehrere Öffnungen zugänglich, die zu einem Weiterwandern auffordern. Und so schlendert man hin und her, kommt zum zweiten oder dritten Mal am gleichen Kunstwerk, aber aus einer anderen Richtung, vorbei. Die Blickwinkel variieren ständig. Aspekte, die einem beim ersten Durchgang noch nicht auffielen, lassen einen länger stehen und die kurzen, aber aussagekräftigen Beschreibungen genauer durchlesen. Ein wahrer Genuss. Die Werke in dieser Sammlung der Gegenwartskunst seit 1945 sind überraschend vielfältig und stehen dennoch im Einklang miteinander. Viele deutsche Künstler sind vertreten, aber nicht nur. Ein Großteil der Werke ist sehr politisch oder zumindest äußerst kritisch. Im großen, mittleren Bereich, den man als ersten betritt, wenn man die breite Treppe heruntersteigt, ragt das Bild »Horde« von Daniel Richter aus dem Jahr 2007 heraus. Die überlebens-

großen Uniformierten mit Hund und Knüppeln bewaffnet, ihre Gesichter teilweise bis auf die Schädelknochen entblößt, bewegen sich auf den Betrachter in bedrohlicher Manier zu. Die dominierende Farbe Dunkelblau lässt an die Nacht denken, die roten Tupfer deuten die lauernde Gewalt an. »Straßenarbeiter« des Neoexpressionisten Karl Horst Hödicke aus dem Jahr 1976 ist in rostiger Farbe gemalt – die Arbeiter sind zu einem unterschiedslosen Teil ihrer Arbeit geworden. »Madonna Mercedes« mit Kind von Thomas Bayrle aus dem Jahr 1989, besteht aus zusammengestückelten MercesBenz-Autos. Das Ende der Religiosität? Santiago Sierra zeigt in einem lebensgroßen SchwarzWeiß-Foto aus dem Jahr 1999 sechs junge kubanische Männer in Demutshaltung. Sie haben dem Betrachter den Rücken zugewendet und lassen sich eine Tätowierung auf Schulterblatthöhe einritzen. Eine Besucherin ist entsetzt. Sie meint, es wäre unverantwortlich, mit einer einzigen Nadel mehrere Menschen zu tätowieren und dadurch womöglich Krankheiten zu übertragen. Hat hier der Künstler die Grenze zur Ausbeutung überschritten? Oder ist es seinerseits eine Kritik am kubanischen Sozialismus? Viele der Bilder und Plastiken lassen einen schmunzeln. So das Bild des »Verrückten Geistlichen« mit Zigaretten in den

Ohren und einem Blumentopf auf der Stirn von George Condo aus dem Jahr 2004 oder die Plastik einer Figur aus dem Nibelungenlied, »Hagen von Tronje« von Jonathan Meese aus dem Jahr 2007. Sie hat einen Kopf, der an einen gallischen Helm erinnert, nur dass in der Mitte ein tiefes Loch auf Stirnhöhe zu sehen ist. Andere Bilder wirken verstörend. Beispielsweise die acht großformatigen Fotos von Teresa Hubbard und Alexander Birchler von 1998, die einen Mann in seinen vier ziemlich ärmlichen Dubliner Wänden, seine Einsamkeit und Ziellosigkeit zeigen. Andere wiederum sind einfach wunderbar farben- und formenfroh. Aber auch diese sind keine rein dekorativen Werke, sondern haben ein Innenleben, das die glücklicheren Momente des eigenen Innenlebens anspricht. Die Erweiterung des Städelmuseums liefert also einen Grund, doch einmal Frankfurt zu besuchen. Lediglich der viel zu hohe Eintrittspreis von 12 Euro und ein Katalogpreis von 35 Euro trüben die Freude.

★ ★★ AUSSTELLUNG | Städelmuseum | Frankfurt am Main | Dienstag, Freitag bis Sonntag 10–18 Uhr, Mittwoch/Donnerstag 10–21 Uhr | Eintritt: 12 Euro, ermäßigt 10 Euro

REVIEW

E

91


E

ine flauschig-rote, an die Muppetshow erinnernde Puppe foltert einen Gefängnisinsassen, der trotzdem vom Widerstand singt. Diabolisch lachend und head-bangend treiben rosa Handpuppen einen Mann durch die Hallen und verprügeln einen anderen, bis die Gefangenen gemeinsam den Aufstand proben. Was im ersten Moment ein bisschen verstörend und unzugänglich wirkt, ist das Video zu »This Is The New Sound«, der neuesten Single von Anti-Flag. Der Clip der USamerikanischen Punkrocker ist in Kooperation mit Amnesty International entstanden. Er soll auf NDAA hinweisen, ein kürzlich verabschiedetes Gesetz, das der US-Regierung ermöglicht, Verdächtige ohne Gerichtsverfahren für unbegrenzte Zeit zu inhaftieren. Ein unterhaltsames Video mit politischem Hintergrund also. Genau das scheint das Spannungsfeld zu sein, in dem sich Anti-Flag spätestens seit dem erfolgreichen Album »The Terror State« und ihrer Zeit beim Majorlabel RCA-Records bewegen: Eine antikapitalistische und antimilitaristische Haltung zu bewahren und gleichzeitig erfolgreich zu sein, um möglichst viele Menschen zu erreichen. Mit »The General Strike« müsste dem ein weiteres Mal nichts im Wege stehen. Nach einem sehr kurzen, wütenden Anfangslied, das wie ein Extrakt der nachfolgenden Songs daherkommt (»keine Gerechtigkeit in einem Rechtssystem, das von Kriminellen geführt wird«), folgt »The Neoliberal Anthem«. Das schon vorab veröffentlichte Lied nimmt die Rücksichtslosigkeit der Finanzakteure geschickt aufs Korn, indem es den Zusammenbruch der Weltwirtschaft als neoliberales Spektakel beschreibt: »Zerstörung! Mach es gleich noch mal!/ Schnall dich an und schau zu, wie die Welt zerfällt/ (...) das ist keine Laune oder Mode/ das ist die neoliberale Hymne der Welt«. Dabei ist das Lied, wie fast alle auf

92

Anti-Flag | The General Strike

CD DES MONATS Die US-amerikanischen Punkrocker von AntiFlag haben ein neues Album veröffentlicht. Es ist der Soundtrack zur Occupy-Bewegung und zum Arabischen Frühling Von David Jeikowski

★ ★★ Anti-Flag | The General Strike | SideOneDummy Records (Cargo) 2012 dem Album, impulsiv, mitreißend, wie ein punkrockiger Soundtrack zur OccupyBewegung und zum Arabischen Frühling. Anti-Flag beziehen sich dabei aber nicht nur textlich in ihren Liedern auf die jüngsten Aufstände, wie etwa in »The Ghosts of Alexandria«, sondern nehmen auch aktiv an den Bewegungen teil, zuletzt an »Occupy Wall Street«. Musikalisch ähnlich mobilisierend, aber die Geschichte noch unmittelbarer im Rücken, erzählt der Song »1915« von dem in den USA legendären Gewerkschafter und

Liedermacher Joe Hill. Der Wanderarbeiter, der die 40-Stunden-Woche miterkämpft hat, wurde 1915 wegen Mordes hingerichtet, ohne dass seine Schuld hinreichend bewiesen war. Interessant ist auch das etwas ruppigere »I don’t wanna«, das zu schnellen Gitarrenriffs und harten Drums eine Aufzählung von Dingen enthält, denen der Sänger, im Guten wie im Schlechten, entgegenfiebert: »Ich will auf kein Mikrowellenessen warten/ (...) Ich will nicht auf ihren nächsten Krieg warten/ Ich will nicht darauf warten, dass

Guantanamo Bay schließt«. Fast als Antwort hierzu lässt sich das darauffolgende Lied »Nothing Recedes Like Progress« verstehen, in dem etwas pathetisch die soziale Lage der USA dargestellt wird: »Sie schlafen in Seidenlaken/ Während die gedrängten Massen in den Straßen schlafen«. Doch dann stellen sie sowohl dieser Schilderung als auch quasi der hilflosen Ungeduld des vorherigen Liedes ein entschiedenes »Das ist Klassenkampf/ Worauf wartest du?« entgegen. Dass dieser Kampf aber ein internationaler ist und nur durch die Massen getragen werden kann, betonen Anti-Flag in »The Ranks of the Masses Rising«. Das Lied, das anfangs ein bisschen an The Clash erinnert, schlägt den Bogen zwischen Nordafrika und den USA (»Von Tunesien bis Washington rufen die Leute ›Nein‹!«) und bringt die beiden Konflikte mit dem kämpferischen Aufruf »Steht auf/ eure Stimmen werden gebraucht/ Werdet der Puls der Revolution/ in den Reihen der aufstehenden Massen« wieder zusammen. Ein geschicktes, vielleicht ungewolltes Wortspiel in dem Satz »another shake down and a slap in the face/ and he knew he’d had enough« lässt sich auf die Dynamik dieser Bewegungen beziehen. Denn hier lässt sich »shake down« verstehen, was im US-amerikanischen Englisch »ausquetschen«, erpressen« oder »filzen« bedeutet, oder »Sheikh down«, also der Sturz eines Schahs. Diese Mischung aus motivierenden politischen Texten und eingängiger, punkig-mitreißender Musik machen »The General Strike« zu einem sehr schönen Album, das durch die vorsichtig eingestreuten raueren Songs nie langweilig wird. Mit diversen Bezügen zu aktuellen Bewegungen und Kämpfen werden manche Songs vielleicht nicht zu Klassikern des linken Punkrocks. Sich das Album einmal anzuhören und die Band auf ihrer kommenden Deutschlandtour live zu sehen, lohnt sich aber in jedem Fall.


BUCH

Albert Scharenberg | Martin Luther King. Ein biografisches Porträt

Glaube, Kampf, Hoffnung Martin Luther King prägte die amerikanische Nachkriegsgeschichte. Unter seiner Führung zwang die die schwarze Bürgerrechtsbewegung die Herrschenden der USA in die Knie. Albert Scharenbergs neue KingBiografie erzählt vom steinigen Weg zur Befreiung Von MICHAEL FERSCHKE

stern 1963: Martin Luther King erwacht frierend in einer düsteren, fünf Quadratmeter kleinen Zelle im Stadtgefängnis von Birmingham. Die Stadt im Bundesstaat Alabama ist eine Hochburg des rassistischen Ku-Klux-Klans. King wurde festgenommen, weil er eine Protestaktion gegen Rassentrennung angeführt hatte. Der Bürgermeister und die Polizei von Birmingham reagierten mit harten Repressionen und sind entschlossen, die Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung aufrecht zu erhalten. ie Zukunft der Bürgerrechtsbewegung, die sich schon lange gegen die Rassentrennung engagiert, steht auf dem Spiel. Seit einigen Jahren waren größere Erfolge ausgeblieben und viele jüngere Aktivisten drängen auf eine radikalere Gangart. Albert Scharenberg setzt diesen Moment an den Anfang seiner spannenden King-Biografie. Von dort aus blickt er zurück auf die Kindheit Martin Luther Kings und widmet sich den ereignisreichen Folgejahren bis zu dessen Ermordung im Jahr 1968. Der Politikwissenschaftler schildert schonungslos den alltäglichen Rassismus, den die Schwarzen ertragen mussten: Sozial zu Bürgern zweiter Klasse degradiert, wurden sie von den Behörden drangsaliert und von rassistischen Mobs verfolgt.

D

Auch in anderen Südstaaten der USA war die Erniedrigung der Schwarzen durch »Rassengesetze« institutionalisiert. Das Buch zeigt, wie eng der Werdegang von King mit dem Emanzipationskampf der Schwarzen verbunden war. In einer Pfarrersfamilie geboren, trat er das Theologiestudium an und wurde selbst Prediger. Als progressiver Theologe legte King, wie viele seiner schwarzen Kollegen, die christliche Lehre als Triebkraft für den Kampf gegen Unrecht schon im Diesseits aus. Die vielen von Scharenberg sorgfältig ins Deutsche übersetzen Zitate aus Kings Reden und Schriften bringen uns dessen Ideen sehr nahe.Zugleich veranschaulichen sie die weltliche Dimension seiner Spiritualität. Vielerorts waren die Kirchen der Schwarzen Zentren der Bürgerrechtsbewegung. So beschreibt Scharenberg, wie sich auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung im Jahr 1963 die schwarze Gemeinde in Birmingham täglich in der Kirche versammelte. Die Polizei marschierte vor dem Gotteshaus auf, um die Aktivisten einzuschüchtern. Als sie dann sogar schwarze Schulkinder mit Wasserwerfern von der Straße spülte und die Medien darüber berichteten, schlug landesweit die Stimmung um. Die Welle der Empörung verhalf der Bürgerrechtsbewegung zum Durchbruch und die

Regierung sah sich gezwungen, Antidiskriminierungsgesetze zu verabschieden. Doch war das für King nur ein Etappensieg. Denn die formelle Gleichstellung vor dem Gesetz beendete nicht zugleich die drastische soziale Diskriminierung der Schwarzen, die sich am deutlichsten in den Ghettos der Großstädte im Norden der USA zeigte. In mehreren Kapiteln beleuchtet Scharenberg, wie sich King ab 1965 mit Leib und Seele diesem Kampf für soziale Gleichheit widmete. Dabei radikalisierte King seine Ansichten, sprach von Ausbeutung und Klassenkampf, positionierte sich gegen den Vietnamkrieg. Die alte Bürgerrechtskoalition zerbrach an diesen Fragen. Der gemäßigte Flügel wollte der Forderung nach einschneidenden Umverteilungsprozessen nicht folgen. Daher machte sich King auf die Suche nach neuen Bündnispartnern für seine Poor People’s Campaign (Kampagne für die Armen) und fand sie in streikenden Arbeitern. Leider blieb Kings Projekt einer breiten Bewegung für soziale Gerechtigkeit unvollendet. Am 4. April 1968 wurde er Opfer eines Attentats. Scharenbergs King-Biografie ist uneingeschränkt zu empfehlen – nicht zuletzt, weil sie anspornt, dessen Kampf fortzuführen.

★ ★★ BUCH | Albert Scharenberg | Martin Luther King. Ein biografisches Porträt | Herder | Freiburg 2011 | 226 Seiten | 12,99 Euro REVIEW

O

93


Buch & Film

Bibliothek des Widerstands | Band 11: MIR – Die Revolutionäre Linke Chiles

Mobilisieren statt regieren In den 1960er Jahren bildete sich an den Universitäten in Chile die Bewegung der revolutionären Linken heraus. Ihr gelang, wovon linksradikale studentische Gruppen weltweit träumten: der Sprung aus der Universität und die Verankerung in den Kämpfen der Armen Von Florian Wilde

N

★ ★★ Buch & Film | Bibliothek des Widerstands, Band 11: MIR – Die Revolutionäre Linke Chiles | Buchbeitäge von Andrés Pascal Allende und Tamara Vidaurrázaga Aránguiz | Film: Calle Santa Fé von Carmen Castillo | Laika Verlag | Hamburg 2011 | 176 Seiten (Buch) | 163 Minuten (DVD) | 19,90 Euro

94

ur wenig ist von der MIR (Movimiento de Izquierda Revolucionaria) heute noch bekannt. Zu viele ihrer Mitglieder wurden während der Diktatur ermordet oder in Folterkellern zum Schweigen gebracht. Nun ist mit dem 11. Band der »Bibliothek des Widerstands« ein Buch erschienen, das die Geschichte dieser Bewegung zusammenträgt. Einer der vielen spannenden Beiträge stammt von dem langjährigen Führungsmitglied der MIR, Andrés Pascal Allende. Der Neffe des ehemaligen chilenischen Präsidenten Salvador Allende schildert die Geschichte der MIR seit ihrer Gründung Mitte der 1960er Jahre. Angefangen hatte die MIR als kleine Organisation, in der Linkssozialisten, Guevaristen, Trotzkisten und Anarchokommunisten aus unterschiedlichen Generationen zusammenkamen. An den Universitäten baute die MIR innerhalb kurzer Zeit eine starke Basis auf. Immer mehr radikalisierte Studierende schlossen sich ihr an. Die Organisation versuchte nun zunehmend, sich auch außerhalb der Universität zu verankern. Allende berichtet, wie den jungen MIRisten die Verbindung mit den Bewohnern der Elendsviertel, den Mienen- und Industriearbeitern und indigenen Gemeinschaften der Mapu-

che gelang. Die MIR wurde zur treibenden Kraft in den Kämpfen für eine Universitätsreform und schaffte es, diese Aktivitäten mit autonomer Bildungsarbeit in Armenvierteln und Gewerkschaften zu verbinden. Zugleich wandelte sich die MIR zu einer politisch-militärischen Organisation mit dem Ziel, »den bewaffneten Kampf mit der politischen Arbeit in den sozialen Massenorganisationen« zu verbinden. Spektakuläre Enteignungs- und Umverteilungsaktionen machten die Gruppe landesweit bekannt. Der bewaffnete Kampf blieb dabei aber der politischen Arbeit untergeordnet: »Wir waren immer davon überzeugt, dass das zentrale Moment, um revolutionäre Kräfte zu sammeln, die Mobilisierung der Massen für ihre eigenen Interessen ist«, schreibt Allende. Erfolgreich baute die MIR so verschiedene »Fronten« unter den Studierenden, den Armen und – wenn auch in geringerem Maße – unter den Arbeitern auf, in denen sich Zehntausende organisierten. Als der Sozialist Salvador Allende im Jahr 1970 zum Präsidenten gewählt wurde, unterstützte die MIR zwar sein Linksbündnis Unidad Popular, schloss sich der Regierung aber nicht an. Das Angebot, das Gesundheitsministerium zu leiten, schlug die Führung der MIR aus, um weiter

ihre Strategie »der direkten Mobilisierung der Massen und den autonomen Aufbau von Volksmacht« fortzusetzen. In den Jahren der Linksregierung stellte die MIR ihre bewaffneten Aktionen ein. Stattdessen orientierte die Gruppe auf Land- und Fabrikbesetzungen und Enteignungen unter Arbeiterkontrolle, um die Regierung außerparlamentarisch von links unter Druck zu setzen und der erstarkenden Rechten entgegenzutreten. Als am 11. September 1973 das Militär putschte und Präsident Allende ermordete, war niemand außer der MIR auf einen bewaffneten Widerstand vorbereitet. In der folgenden Zeit bildete die MIR aus dem Untergrund heraus die treibende Kraft im Widerstand gegen die Diktatur Pinochets. Bis zu 2000 Aktivisten der Organisation bezahlten diese Entscheidung mit dem Leben. Das neu erschienene Buch beleuchtet die Bewegung unter verschiedenen Aspekten, Gespräche mit Aktivisten und ein spannender Dokumentarfilm von einer ehemaligen Anhängerin der MIR auf der beiliegenden DVD lassen die Geschichte lebendig werden. »MIR − Die Revolutionäre Linke Chiles« ist sowohl als Einstiegslektüre als auch zur Vertiefung unbedingt zu empfehlen.


Gilbert Achcar | Die Araber und der Holocaust

BUCH DES MONATS Wie weit sind antisemitische Haltungen unter Arabern verbreitet? Gilbert Achcar sucht in seinem neuen Buch Antworten und blickt dabei auf einen sehr sensiblen Aspekt: Das Verhältnis der arabischen Bevölkerungen zum Holocaust Von Nelly El Achkar

★ ★★ BUCH | Gilbert Achcar | Die Araber und der Holocaust. Der arabisch-israelische Krieg der Geschichtsschreibungen | Edition Nautilus | Hamburg 2012 | 368 Seiten | 29,90 Euro

te. Zugleich scheut er sich nicht, verschiedene arabische Parteien zu kritisieren, die im Kampf für die Freiheit und Unabhängigkeit Palästinas den Antisemitismus als Teil ihrer Ideologie übernahmen. Die Frage, ob alle Araber Antisemiten sind, findet Gilbert Achcar nicht zielführend. Denn die Betrachtung »der Araber« als eine politische Einheit hat er stets abgelehnt. Stattdessen unterscheidet er zwischen arabischen Marxisten, Liberalen, Nationalisten und Islamisten. Es seien stets politische Haltungen gewesen, die die Position einzelner Araber gegenüber den Juden bestimmt hätten. So schreibt Achcar von Irakern, die im Jahr 1929 in Bagdad ein Pogrom an jüdischen Einwohnern der Stadt durchführten und etliche von ihnen ermordeten. Zugleich weiß er aber auch von Irakern zu berichten, die damals Juden das Leben gerettet haben, indem sie diese in ihren Häusern versteckten, und die ein Komitee gründeten, dessen Aufgabe darin bestand, jüdisches Eigentum in Bagdad zu schützen.

Einen wichtigen Beitrag leistet Achcar mit der Feststellung, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen dem Scheitern, Palästina zu befreien, und dem Scheitern vieler Araber, den Antisemitismus zu verstehen. So schreibt er über Amin Al-Husseini, dem »Großmufti von Jerusalem«, der während des arabischen Aufstands in Palästina in den Jahren 1936 bis 1939 mit den Nazis sympathisierte. Achcar wertet dies als »ein fehlendes Verständnis für die Rolle des Antisemitismus generell als der besten ›Triebkraft‹ des Zionismus und die Unfähigkeit, zwischen Juden und Zionisten zu unterscheiden«. Dabei sei »es möglich und wichtig gewesen (...), sich mit den Juden des Jishuv, die gegen einen ›jüdischen Staat‹ waren, zu verbünden.« Achcar will mit seinem Buch weder die Leiden der Juden noch der Palästinenser plakativ darstellen. Vielmehr möchte er vernachlässigte Aspekte des Konflikts aufzeigen. Seine Kernthesen sind folgende: Erstens geht er davon aus, dass die zionistische Kolonialisierung Palästinas schon lange vor Hitlers Machtübernahme begann. Zweitens meint er, dass die arabische Feindseligkeit gegenüber den Juden am Anfang kein Antisemitismus war, sondern auf der Annahme basierte, dass der Zionismus eine Art Kolonialismus ist, gegen den gekämpft werden muss. Drittens ist er der Überzeugung, dass Nazideutschland die Einwanderung – oder besser gesagt: die Vertreibung – der deutschen Juden nach Palästina beförderte, und dass, laut Hitler, Palästina eines der wichtigsten Aufnahmeländer für deutsche Juden sein sollte. Viertens zeigt Achcar auf, dass der Zionismus die Leiden der europäischen Juden bis heute ausnutzt, um seine Ziele zu erreichen. »Die Araber und der Holocaust« macht deutlich, wie historische Fakten manipuliert werden können, um politische Ziele zu erreichen. Das Ziel dieses Buches ist hingegen nichts Geringeres, als die Wahrheit zu zeigen. REVIEW

Z

u Beginn eine kleine Anmerkung: Obwohl unsere Nachnamen im Arabischen gleich geschrieben werden, bin ich weder verwandt noch verschwägert mit Gilbert Achcar, dessen Buch »Die Araber und der Holocaust« gerade auf Deutsch erschienen ist. Achcar ist ein linker Politologe und Journalist. Er wurde im Senegal geboren und wuchs im Libanon auf. Mittlerweile ist er Professor für Entwicklungsstudien und internationale Beziehungen in London. Aufgrund seiner Herkunft ist Achcar nicht nur ein guter Kenner des Nahen Ostens, sondern als Marxist liefert er stets lesenswerte Analysen über die Region. Zu nennen ist beispielsweise sein Buch »Der 33-TageKrieg. Israels Krieg gegen die Hisbollah im Libanon und seine Folgen« aus dem Jahr 2007. Zwei Jahre später ist »Die Araber und der Holocaust« erschienen, dessen deutsche Übersetzung nun endlich vorliegt. Dieses Buch positioniert sich in einer häufig sehr emotional geführten Debatte. Es geht im Kern um die Frage, ob »die Araber« von Natur aus Antisemiten und judenfeindlich sind. Gerade die israelische Regierung stellt diese Behauptung häufig auf, um die Unterdrückung der Palästinenser zu rechtfertigen. So wird dann ganz schnell aus der Kolonialisierung eines anderen Landes ein Kampf gegen Antisemitismus. Als Argument für ihre vermeintliche Judenfeindschaft wird oft die Haltung der Araber zum Holocaust genannt. Achcar analysiert in seinem Buch die verschiedenen arabischen Reaktionen auf den Nationalsozialismus, von den ersten drohenden Vorzeichen des Völkermords an den Juden über die Gründung Israels bis zur Gegenwart, und stellt sie in ihren jeweiligen historischen und politischen Kontext. Dabei zeigt er auf, dass die in der Tat vorhandene Judenfeindlichkeit unter der arabischen Bevölkerung aus einer Ablehnung der Kolonialisierung Palästinas durch den Staat Israel resultier-

95


D

Mein Lieblingsbuch

ie Geschichte, die uns Clemens Meyer erzählt, ist kein Traum. Zumindest kein schöner. Es ist ein Roman von ganz unten. Er stinkt nach altem Aschenbecher und billigem Fusel. Fünf Jungs erleben in einem heruntergekommenen Leipziger Viertel die Jahre der Wende. Walter, Daniel, Mark, Paul und Rico nehmen alles mit, was nicht konform ist und nach Ärger riecht. Die »große Wende«, wie Meyer sie nennt, taucht in dem Buch auf, bleibt aber Nebensache. Sie rauscht über die fünf Freunde hinweg, die bleiben, wo sie sind. Die beschriebenen Jahre sind bei Clemens Meyer lediglich die Jahre der »Kontaktaufnahme«, »Kontakt zu bunten Autos und zu Holsten Pilsner und Jägermeister«. Eine Kontaktaufnahme, die der Autor wahrscheinlich aus eigenem Erleben kennt. Eine Kontaktaufnahme, die den Weg von vielen Jugendlichen – keineswegs nur im Osten – beschreibt, die in eine Gesellschaft der Verwahrlosung und Gewalt geworfen werden, die von vornherein wissen, dass sie nie eine Chance bekommen werden und die sich darauf einstellen. Meyer hebt sich ab von den bekannten schwülstigen Vereinnahmungen nach Art einer Jana Hensel, die ihr Leben zu einem Prototyp der ostdeutschen Wendejugend erhebt. Für Nostalgie ist kein Platz, es wird weder ver- noch erklärt, sondern einfach eine Geschichte erzählt. Das aber auf eine Weise, die einen nicht wieder loslässt, fünfhundert Seiten lang. »Die Original Leipziger Brauereiabfüllung war eine Art blonder Flaschengeist für uns, der uns sanft an den Haaren packte und über Mauern hob, Autos in Flugmaschinen verwandelte, uns seinen Teppich lieh, auf dem wir davonflogen und den Bullen auf die Köpfe spuckten. Doch meistens endeten diese seltsam traumartigen Flugnächte mit einer Landung in der Ausnüchterungszelle oder auf dem Flur des Polizeireviers Südost, mit Handschellen an die Heizung gekettet.« Sie leben auf der Straße, sie trinken

96

Von MARX21-Leser PAUL GRASSE

Es gibt einen Roman oder ein Sachbuch, von dem ihr denkt, dass es jeder einmal gelesen haben sollte? Dann schreibt uns – und präsentiert an dieser Stelle euer Lieblingsbuch. Diesmal: »Als wir träumten« von Clemens Meyer

★ ★★ Clemens Meyer | Als wir träumten | S. Fischer Verlag | Frankfurt 2007 | 528 Seiten | 9,95 Euro

Dosenbier und Goldbrand, ab 1990 auch mal Jägermeister. Sie werden verprügelt, sie prügeln, sie zerbrechen einer nach dem anderen. Die meisten Nächte enden nach dem Klauen und Demolieren von Autos in Polizeigewahrsam. Alle Versuche, selbst zu lieben oder geliebt zu werden, laufen ins Leere. Sie rennen weg vor den Glatzen, die nach `89 immer mehr die Straßen der Städte bevölkern, sie betreiben einen illegalen Technoclub, gucken in den Himmel, sind auf der Suche nach Sex und ergebene ChemieLeipzig-Fans. Die Orientierungslosigkeit der Eltern verhindert jedes Gefühl von Zu-Hause-Sein und Geborgenheit. Vielleicht ist es das, was das Buch so traurig macht: Das präzise Bild von Heimatlosigkeit, das Clemens Meyer mit treffenden Sätzen heraufbeschwört. Oder schlimmer: Das Bild einer Heimat aus Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit, die sich zusammensetzt aus Leipziger Premium Pils, Unmengen von Zigaretten und Abstürzen, aus völlig kaputten Typen, die die fünf Freunde erst noch werden müssen: »Sicher, wir hatten eine Menge Spaß damals und doch war bei dem, was wir taten, eine Art Verlorenheit in uns, die ich schwer erklären kann.« Die Kämpfe, die die Freunde führen, seit sie zum ersten Mal ein Pionierhalstuch verbrennen, richten sich gegen alles, worin sie leben müssen. Vielleicht träumen sie vom Glück, aber jeder Traum zerplatzt wie eine Seifenblase und übrig bleiben Gewalt und Alkohol. Jede Szene stimmt, Clemens Meyer schreibt so geradeheraus und ehrlich, dass man eine genaue Vorstellung von der Finsternis bekommt, die die Jugend der Protagonisten prägt und die das elende Viertel Leipzigs gefangen hält, wenn ein Stein die Straßenlaterne trifft und wenn einer der fünf an der Nadel stirbt. »Als wir träumten« ist das ehrlichste Buch, das ich in den letzten Jahren gelesen habe. Glücklich macht es nicht, aber es fesselt mit seiner rauen und schmutzigen Schönheit.


BUCH

Norman G. Finkelstein | Israels Invasion in Gaza

Gefährliche Machtdemonstration Vor drei Jahren überzog Israel den Gazastreifen mit einem mehrtägigen Bombardement. Doch mittlerweile ist die Öffentlichkeit immer weniger bereit, die Kriegspolitik Israels zu akzeptieren Von PHIL BUTLAND

m Jahr 2009 veröffentlichte die UN-Kommission unter Leitung des Völkerrechtlers Richard Goldstone einen Bericht über Israels Krieg gegen Gaza. In der als »Goldstone-Bericht« bekannt gewordenen Untersuchung wird schwere Kritik am Vorgehen des israelischen Militärs geübt. Unter anderem wird Israel vorgeworfen, die Zivilbevölkerung im Gazastreifen »zu bestrafen, zu demütigen und zu terrorisieren«. Bewusst sollte eine Situation geschaffen werden, in der die Bewohner ihr Leben als »so unerträglich« empfinden, dass sie nach Möglichkeit die Region verlassen. Dass Goldstone – anders als die anderen drei Mitglieder der Kommission – unter großem Druck einige Aspekte seiner Kritik inzwischen revidiert hat, ist wenig überraschend. Neu ist, dass solche Kritik an Israel überhaupt veröffentlicht und international aufgenommen wird. Grund dafür sei nicht ein härteres Vorgehen Israels, argumentiert Norman G. Finkelstein in seinem aufwendig recherchierten Buch, sondern eine zunehmend besser informierte Öffentlichkeit. Eine neue Bewegung, »vielerorts aus säkularen, radikalen Juden und praktizierenden Musliminnen« ist nicht mehr bereit, jede Erklärung der israelischen Regierung automatisch als Wahrheit zu akzeptieren. Finkelstein sieht diese Bewegung im Lauf der letzten zehn

Jahre erstarken. Obwohl Finkelstein sie nicht direkt benennt, kann man vermuten, dass drei Ereignisse in den letzten fünf Jahren ausschlaggebend waren: zuerst Israels erfolgloser Krieg im Libanon 2006, dann der Krieg gegen Gaza und schließlich der Angriff auf die Gaza-Flotte im Jahr 2011, bei dem neun Aktivisten getötet wurden. Angesichts des Ausmaßes an Tod und Zerstörung während der Bombardierung Gazas fordert Finkelstein, »nicht von einem Krieg, sondern von einem Massaker« zu sprechen. Allein 58.000 Wohnhäuser wurden zerstört, 1400 Palästinenser starben, davon waren 80 Prozent Zivilisten. Zur Beschreibung der Geschehnisse in Gaza greift Finkelstein auf verschiedene Quellen zurück. Neben dem Sonderberichterstatter des UN-Menschenrechtsrates, John Dugard (»Die Moscheen und insbesondere die Minarette wurden gezielt unter Beschuss genommen, weil sie den Islam symbolisieren.«), und Amnesty International (»Die Zerstörung ziviler Gebäude und ziviler Infrastruktur war zum großen Teil mutwillig.«) kommen auch israelische Soldaten zu Wort (»Es gab Leute, die haben in Gaza zwei Tage lang ohne Unterbrechung ein Haus nach dem anderen zerstört, und wir reden hier von einem ganzen Bataillon.«). Ziel dieses Einmarsches war laut Finkelstein nicht

die Bekämpfung von Terrorismus, sondern »Palästinensern und Nachbarstaaten vor Augen zu führen, dass Israel bereit, willens und in der Lage ist, mit unverhältnismäßiger Gewalt (…) gegen eine Zivilbevölkerung vorzugehen.« Finkelstein glaubt, der Krieg gegen Gaza könnte in der öffentlichen Meinung eine ähnliche Zäsur bedeuten wie das vom südafrikanischen Apartheidregime verübte Sharpeville-Massaker. Im Jahr 1960 erschoss die Polizei im Township Sharpeville 69 Demonstranten, die friedlich gegen diskriminierende Passgesetze protestierten. Nach Sharpeville war die Frage nicht mehr, ob das Apartheidsregime fallen würde, sondern wann. Der Rückhalt für die israelische Politik schwindet selbst unter den traditionellen Verbündeten und mit der »ungeteilten jüdischen Unterstützung für israelische Kriege ist es seit dem Gaza-Massaker ein für alle Mal vorbei«, stellt Finkelstein fest. Die Bewegung gegen die Verbrechen der israelischen Regierung wächst weiter. Für viele war der Krieg gegen Gaza der Moment, an dem eine weitere Unterstützung der Politik Israels unmöglich wurde. Der Tod von über tausend Zivilisten ist schrecklich. Aber wenn er zu einer Abkehr von Israels kolonialer Politik führt, sind die Menschen nicht ganz umsonst gestorben.

★ ★★ BUCH | Norman G. Finkelstein | Israels Invasion in Gaza | Edition Nautilus | Hamburg 2011 | 224 Seiten | 18 Euro

REVIEW

I

97


BUCH

Diarmuid Jeffreys | Weltkonzern und Kriegskartell

Der Weg zum Kriegskonzern Die Verflechtungen der IG Farben mit dem Naziregime sind bekannt. Weniger bekannt sind jedoch die wirtschaftlichen Beweggründe, die das Chemieunternehmen zu einer zentralen Stütze des NS-Staates werden ließen Von CHRISTIAN SCHRÖPPEL

D

★ ★★ BUCH | Diarmuid Jeffreys | Weltkonzern und Kriegskartell | Karl-Blessing-Verlag | München 2011 | 688 Seiten | 34,95 Euro

98

ie IG Farben war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der weltweit größte Chemiekonzern. Sie war Ausdruck der Konzentrationsprozesse des Kapitals, der Kartellierungstendenz und des weltweiten Imperialismus. Diarmuid Jeffreys hat mit »Weltkonzern und Kriegskartell« ein Buch vorgelegt, das die Geschichte der IG Farben und ihrer Vorläuferunternehmen im historischen Kontext präsentiert. Der britische Journalist beschreibt, wie deutsche Chemieunternehmen eine führende Position auf dem Weltmarkt erreicht haben. Dies gelang ihnen teils mit wissenschaftlicher Forschung und technischer Raffinesse, oft auch mit patentrechtlichen Winkelzügen und durch das Ausspielen wirtschaftlicher Macht gegenüber Konkurrenten. Vielfach erinnert das von Jeffreys beschriebene Handeln dieser Unternehmen an die Strategien heutiger Hochtechnologiefirmen. Jeffreys zeigt auf, wie die Zuspitzung der Konkurrenz mit ausländischen Unternehmen sowie Konflikte um Rohstoffe die innovative und – im Unterschied etwa zur Montanindustrie – stark auf den Weltmarkt orientierte Branche dazu trieben, eine auf wirtschaftliche Autarkie Deutschlands gerichtete Politik zu befürworten. Wichtige Teile der deutschen Wirtschaft unterstützen den

Aufstieg der Nationalsozialisten. Wenn sie Vorbehalte gegenüber den Nazis hatten, dann nicht aufgrund deren Ideologie, sondern eher weil sie an deren Zuverlässigkeit als politische Kraft zweifelten. Die Bosse der großen Konzerne waren zumeist ausgesprochen nationalistisch eingestellt und der Reichsverband der Deutschen Industrie rief bereits 1925 nach einem »starken Mann« in Deutschland. Auch führende Köpfe der IG Farben wie Carl Duisberg und Carl Bosch waren keine ideologischen Anhänger der Nationalsozialisten. So beschreibt Jeffreys eine Unterredung zwischen Hitler und dem IG-Farben-Vorsitzenden Bosch aus dem Jahr 1933. Bosch äußerte sich besorgt über die Folgen einer erzwungenen Auswanderung jüdischer Wissenschaftler für die naturwissenschaftliche Forschung in Deutschland. Daraufhin beendete Hitler das Gespräch abrupt und es kam zu keiner weiteren Zusammenkunft zwischen den beiden. Entscheidend für das Handeln der IG Farben war die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung, die unter dem Zeichen des Imperialismus stand. Staatliche Subventionen wurden zur wesentlichen Voraussetzung für zentrale Investitionsprojekte des Unternehmens, darunter das von Bosch vorangetriebene Projekt zur Kohleverflüssigung. Dieses wurde – aus der Perspek-

tive eines freien Weltmarkts betrachtet – mit der Entdeckung neuer Ölvorkommen Anfang der 1930er Jahre unrentabel. Imperialismus und Krieg verschafften dem Projekt jedoch eine neue wirtschaftliche Perspektive. Jeffreys Buch ist gerade wegen seines besonderen Blicks auf die IG Farben als wirtschaftlich tätigen Konzern eine Fundgrube für die entsprechenden historischen Zusammenhänge. Mit der zunehmenden Kooperation zwischen der IG Farben und dem NS-Regime traten auch die ideologischen Anhänger der Nazis innerhalb des Konzerns in den Vordergrund. Jeffreys schildert ausführlich und detailreich den Weg des Unternehmens während der Nazizeit. Dieser erreichte einen zweifelhaften Höhepunkt in der Zyankali-Produktion für Auschwitz durch die IG-Farben-Tochter Degesch, den Einsatz von Zwangsarbeitern und die »Vernichtung durch Arbeit« beim Bau eines IG-Farben-Werks in unmittelbarer Nähe des KZs Auschwitz. Jeffreys selbst will keine in sich geschlossene Interpretation der historischen Tatsachen anbieten. Dies kann ein Vorteil sein, denn er lässt die Geschichte in gewisser Hinsicht »für sich selbst« sprechen. Dennoch bleibt an einigen Stellen der Wunsch nach einer übergreifenden Interpretation bestehen, der man sich anschließen oder die man auch verwerfen könnte.


D

er Wissenschaftliche Beirat von Attac hat im vergangenen Dezember ein Expertisenpapier zum Thema »Vermögenskonzentration und Finanzkrise« vorgelegt. Die Autoren des Papiers gehen kurz auf die Ursachen der Finanzkrise ein, legen ihren Schwerpunkt aber auf die Ungleichverteilung von Vermögen und Einkommen. Sie liefern interessante empirische Daten hierzu und erläutern, welche Maßnahmen die verschiedenen Bundesregierungen ergriffen haben, um die Umverteilung von unten nach oben voran zu treiben. Das Papier liefert viele Argumente dafür, warum eine stärkere Besteuerung der Reichen und der Konzerne notwendig ist (Download des Papiers auf der Attac-Website unter: Das Netzwerk / Wissenschaftlicher Beirat / Aktuelles).

Sie war weit mehr als nur die Frau eines der einflussreichsten Linken der westdeutschen Nachkriegszeit. Sie war promovierte Historikerin und politische Aktivistin. Sie kämpfte gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik in den 1950er Jahren, gegen die Berufsverbote der 1970er und im letzten Jahrzehnt ihres Lebens gegen die Agenda 2010. Derentwegen verließ sie schließlich nach über 50 Jahren Mitgliedschaft

Und noch ein Hinweis auf die Zeitschrift Sozialismus Der Februarausgabe lag ein lesenswertes Supplement bei, verfasst vom amerikanisch-britischen Marxisten David Harvey. In »Die urbanen Wurzeln der Finanzkrise. Die Stadt für den antikapitalistischen Kampf zurückgewinnen« schildert Harvey die Bedeutung von städtischem Grund und Boden für den Kapitalismus. Unter anderem beleuchtet er die Entwicklungen in der Bauindustrie, etwa im gegenwärtigen China. Zudem zeigt er auf, wie seit der Pariser Kommune Klassenkämpfe immer auch Kämpfe um die Stadt gewesen sind.

von Win Windisch und Marcel Bois

QUERGELESEN Was schreiben die anderen? Regelmäßig gibt die marx21Redaktion an dieser Stelle Hinweise auf lesenswerte Artikel aus anderen linken Zeitschriften und Magazinen

Weblinks:

★ ★★ WEBLINKS Attac: www.attac-netzwerk.de Prokla: www.prokla.de Sozialismus: www.sozialismus.de PolyluxMarx: www.polyluxmarx.de

Es lohnt sich, »Das Kapital« von Karl Marx zu lesen. Der erste Band erklärt, warum die Ausbeutung von Lohnabhängigen die Grundlage der Profiterwirtschaftung ist. Am besten liest man das Buch nicht alleine, sondern diskutiert es in einer Gruppe. Für alle Lernfreudigen und alle »Teamer« und »Teamerinnen«, die einen solchen Lesekreis leiten wollen, hat nun die Rosa-LuxemburgStiftung eine hervorragende Hilfestellung herausgebracht. Den Band »PolyluxMarx. Bildungsmaterial zur KapitalLektüre« kann man sich kostenlos downloaden oder gedruckt kaufen. Er bietet gerade für die komplexen Abschnitte zu Anfang PowerPoint-Folien, die Schritt für Schritt mit vielen Bildern, anschaulichen Beispielen und wichtigen Zitaten bei der Einführung helfen. So kann man »Das Kapital« als wichtiges politisches Werkzeug kennenlernen und muss es nicht enttäuscht aus der Hand legen. Unbedingt besorgen! REVIEW

Ebenfalls mit der Krise beschäftigen sich die Kolleginnen und Kollegen der Prokla (Nr. 166, Januar 2012). Ausgangspunkt ihrer aktuellen Ausgabe ist die Aussage von Bundeskanzlerin Angela Merkel aus dem Jahr 2009: »Wir wollen gestärkt aus dieser Krise hervorgehen.« Gegenwärtig sieht es tatsächlich so aus, als wäre Deutschland der große Krisengewinner. In dem Themenschwerpunkt untersuchen daher verschiedene Autoren »das Nebeneinander von Krise, kurzfristigem Zwischenhoch, wachsender sozialer Spaltung und partieller politischer Befriedung in Deutschland.«

die SPD. Am 4. Februar ist die Linkssozialistin Lisa Abendroth kurz vor ihrem 95. Geburtstag gestorben. Frank Deppe und Heiner Halberstadt liefern in der Zeitschrift Sozialismus (3/2012) zwei bewegende Nachrufe auf die Witwe Wolfgang Abendroths.

99


Preview

© www.marx-altar.de / Künstler: Helmut Schwickerath


Ausstellung und Programm | »Heilig’s Röckle!«

»Die große Bescheißerey« Über eine halbe Million Menschen werden in den kommenden Wochen nach Trier pilgern, um den »Heiligen Rock« zu bestaunen. Doch sehenswerter ist eine ganz andere Reliquie der Stadt Von MARCEL BOIS

neben frommem Erschaudern auch heftigstes Kopfschütteln ausgelöst. Der Reformator Martin Luther nannte sie schon im 16. Jahrhundert die »große Bescheißerey«, ein »verführlich, lügenhaft und schändlich Narrenspiel«. Den Schriftsteller Otto von Corvins animierte das Trierer Spektakel im 19. Jahrhundert zur Abfassung seines berühmten »Pfaffenspiegels«, einer scharfen Kritik an der katholischen Kirche. Im Rahmen des »Heilig’s Röckle!«-Programms werden in der Tuchfabrik Trier bekannte Kirchenkritiker auftreten. So wird der Theologe Heinz-Werner Kubitza über den »Jesus-Wahn« sprechen und die ehemalige SPD-Politikerin Ingrid Matthäus-Maier unter dem Titel »Und trenne, was nicht zusammengehört« (in Umdrehung des Wallfahrtsmottos »Und führe zusammen, was getrennt ist«) über die notwendige Trennung von Staat und Kirche referieren. Zudem liest der Comic-Zeichner Ralf König aus seiner lästerlichen Bibeltrilogie (»Prototyp«, »Archetyp« und »Antityp«). Darüber hinaus findet in der Trierer Tuchfabrik ab dem 14. April eine kritische Kunstausstellung mit dem Titel »Reliquie – Fetisch in Kirche, Kunst und Konsum« statt. Das Highlight des Alternativprogramms wird aber die exklusive Sonderausstellung einer weiteren »Herrenreliquie« sein: Sie zeigt die »Heilige Unterhose« des Trierer Philosophen Karl Marx. Die wurde im Jahr 1990 im Nachlass von Marxens Haushälterin Helene Demuth entdeckt – im Gegensatz zum »Heiligen Rock« hat ihre Echtheit bislang kein einziger renommierter Kunsthistoriker in Frage gestellt.

★★★ HINTERGRUND | Weitere Infos über das »Heilig’s Röckle!«-Programm gibt es unter: http://heiligs-roeckle. blogspot.de. Alles Wichtige über Karl Marx’ Unterhose lässt sich unter www.marxaltar.de nachlesen.

PREVIEW

E

s ist nur ein Stück Stoff. Und doch kamen das letzte Mal 700.000 Menschen nach Trier, um es zu sehen. Die Rede ist vom »Heiligen Rock«, einem Gewand, das Fragmente einer Tunika Jesu Christi enthalten soll. Helena, die Mutter des römischen Kaisers Konstantin, hat es angeblich von einer Pilgerreise aus Jerusalem mitgebracht. Die Realität ist freilich weniger spektakulär: Mit großer Wahrscheinlichkeit handelt es sich bei dem Gewand um eine Fälschung aus dem 12. Jahrhundert. Das sagen zumindest Wissenschaftler. Die katholische Kirche interessieren derlei irdische Wirrungen nur wenig. Solange der vergilbte Fetzen die Gläubigen anzieht, sei ja die »spirituelle Echtheit« bewiesen. Um das Interesse auch weiterhin aufrecht zu erhalten, setzt das Bistum Trier seit jeher auf Exklusivität. So selten wie möglich zeigt es den Gläubigen die »Herrenreliquie«. Im 20. Jahrhundert war dies nur dreimal der Fall: In den Jahren 1933, 1959 und zuletzt 1996. Nun ist es also wieder so weit: Vom 13. April bis 13. Mai findet die insgesamt 18. Heilige-Rock-Wallfahrt seit dem Jahr 1513 statt. Mehr als eine halbe Million Menschen werden in dem rheinland-pfälzischen Städtchen erwartet. Doch selbst wem die Vorstellung, sich mit hunderten schwitzenden Pilgern durch den Dom zu drängen, wenig reizvoll erscheint, sei ein Besuch in Trier empfohlen. Begleitend zur Rock-Wallfahrt wird ein alternatives Pilgerprogramm unter dem Titel »Heilig’s Röckle!« stattfinden. Angelehnt an die schwäbische Redewendung »Heilig’s Blechle!« soll der Titel Verwunderung und Erschütterung zum Ausdruck bringen. Denn seit jeher haben die Trierer Wallfahrten

101


KONGRESS | »Marxism 2012: Ideas to change the World«

»Unser Kongress ist eine Olympiade der Antikapitalisten« Im Sommer finden die Olympischen Spiele in London statt. Dan Mayer erklärt, dass es auch noch einen anderen Anlass gibt, um in die britische Hauptstadt zu reisen

D

an, du bist Organisator von »Marxism«. Was ist das für ein Kongress? Meine Partei, die Socialist Workers Party (SWP), hat »Marxism« in den 1970er Jahren zum ersten Mal organisiert. Seitdem ist es zum größten, regelmäßig stattfindenden linken Kongress in Großbritannien, wenn nicht sogar in ganz Europa, geworden. Jedes Jahr kommen bis zu 5000 Personen aus der ganzen Welt nach London. Es gibt dort Veranstaltungen zu marxistischer Theorie und über verschiedene linke und soziale Bewegungen. Wir diskutieren wichtige Fragen und mögliche nächste Schritte dieser Bewegungen. Zudem gibt es Filmvorführungen, Theateraufführungen, eine Kunstausstellung und natürlich auch die Möglichkeit, bis tief in die Nacht zu trinken und zu diskutieren. »Marxism« ist zu einem wichtigen Kongress von Aktivistinnen und Aktivisten, von linken Parlamentsabgeordneten und Akademikern geworden. In der Vergangenheit hat er immer die Lebendigkeit der neuen Bewegungen gegen Krieg und Kapitalismus reflektiert. Zudem ist er in den letzten Jahren zu einem Ort geworden, an dem über die Krise und möglichen Widerstand diskutiert werden kann.

DAN MAYER

Dan Mayer ist Mitglied der Socialist Workers Party und Organisator des Kongresses »Marxism 2012: Ideas to change the World«, der vom 5. bis 9. Juli in London stattfindet. Weitere Infos unter: www.marxismfestival.org.uk.

W

er wird in diesem Jahr dabei sein? Wir haben einige ganz hervorragende Redner in diesem Jahr. Ein Highlight wird sicher die Veranstaltung mit Hossam el-Hamalawy and Gigi Ibrahim sein, zwei wichtigen Aktivisten der ägyptischen Revolution. Sie werden darüber sprechen, wie Mubarak gestürzt wurde und Perspektiven für weiterreichende Veränderungen in ihrem Land darstellen. Der Ökonom Costas Lapavitsas wird gemeinsam mit anderen über die Krise in Griechenland debattieren. Außer-

102

★ ★★ ERMÄSSIGTE TICKETS Kongress-Hopping leicht gemacht: Bei »Marx is’ muss« in Berlin wird es ermäßigte Tickets für »Marxism« geben. Sie sind dort am Anmeldungstisch für den Preis von 20 Euro erhältlich (regulär 30 bis 60 Euro). Infos unter: mim@marx21.de.

dem hat in Großbritannien kürzlich die größte Streikbewegung seit 1926 stattgefunden. Gewerkschaftsaktivisten werden bei »Marxism« über ihre Proteste berichten. Der Guardian-Kolumnist Gary Younge wird über die Präsidentschaftswahl in den USA und die Vorstadt-Riots in Großbritannien im vergangenen Jahr sprechen. Gleichzeitig mit dem Kongress findet der World Pride in London statt – dementsprechend ist der Kampf von Schwulen und Lesben auch ein großes Thema bei »Marxism«, es werden Aktivistinnen und Aktivsten aus dem Nahen Osten dabei sein. Weitere Highlights des Kongresses sind die Beiträge von Tariq Ali oder auch die des früheren IRAAktivisten Tommy McKearney sowie von Ronnie Kasrils, ehemals beim ANC in Südafrika aktiv.

E

s gibt im Sommer ja noch ein zweites Ereignis, weswegen es sich lohnt, nach London zu kommen: die Olympischen Spiele. Warum sollten Aktivisten aus Deutschland lieber zu »Marxism« kommen? Weil unser Kongress die Olympiade der Antikapitalisten ist. Dort kommen Aktivistinnen, Aktivisten und Intellektuelle der internationalen Linken zu einem fünftägigen Festival zusammen. »Marxism« wird deinen Geist mehr inspirieren als dies die Olympischen Spiele jemals vermögen. Sie sind ein von Großkonzernen gesponsertes Spektakel, »Marxism« hingegen ist wirklich spektakulär: Wir wollen, dass Leute sich beteiligen und einbringen, so dass wir gemeinsam so viel wie möglich darüber lernen, wie wir dieses System überwinden können. Die Olympischen Spiele kann man sich ja auch im Fernsehen anschauen. Die Fragen stellte Phil Butland


Für eine

starke

Linke.

Spendenkampagne

Noch 4350 Euro Dir gefällt marx21 und du bist der Meinung, dass mehr Menschen das Magazin lesen sollten? Dann kannst du uns jetzt helfen – mit einer Spende. Wir brauchen 10.000 Euro. Von einer neuen Datenverwaltung bis hin zu der Verbesserung der Vertriebsstrukturen ist so ziemlich alles unterfinanziert. 5650 Euro sind bis jetzt von Leserinnen und Lesern gespendet worden. Vielen Dank dafür - wir hoffen auf mehr. Spendenkonto: GLS Bank | Konto: 1119136700 | BLZ: 430 609 67 Stichwort: Spende | Kontoinhaber: m21- Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V.


marx 21

Nr. 25 | April – Juni 2012 3,50 € | ISSN 1865-2557 www.marx21.de

MAGAZIN FÜR INTERNATIONALEN SOZIALISMUS

Συνδικάτα Τι γίνεται

Ντίτμαρ Ντατ και Μπάρμπαρα Κίρχνερ

με την κρίση;

Κόμμα Πειρατών Η

για τον καλύτερο από τους εφικτούς κόσμο

ώρα του άουτσάιντερ

Σεξουαλική Άνοιξη Ερωτική ελευθερία στη ∆ημοκρατία της Βαϊμάρης

Ταρίκ Αλί

Εκτιμά τη συγκυρία στη Μέση Ανατολή

Κλάους Κόρντον εξηγεί τι έιναι ένα καλό βιβλίο για νέους

Ε Τ Σ Α Μ Ι Ε ! Κ ΑΤΑΛΗΨΗ . Σ Ε Ν Η Λ Λ Ε ΟΛΟΙ  Α Τ Η Τ Ο Τ Ι Λ Η Τ Σ Ι ΟΧ Α Ι Σ Ρ Α Τ Ν Α Ν Η Τ Σ Ι Α Ν


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.