marx21 No 14

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marx 21 Magazin für internationalen Sozialismus

Nr. 14 | Februar/März 2010 Spende 3,50 € | ISSN 1865-2557 www.marx21.de

Interview Wie weiter für die Linke unter Obama? Kultur Agitprop-Theater in der Weimarer Republik Leserdebatte Die Bomben auf Dresden 1945 Rassismus Die Kampagne gegen Muslime

Wie frei ist die Frau? Nicole Gohlke & Janine Wissler über Hintergründe des Bildungsstreiks

Christine Buchholz berichtet von ihrem Aufenthalt in Afghanistan

Winfried Wolf über Alternativen zur Autogesellschaft

Feature Frauenbefreiung im 21. Jahrhundert Eine reiche Tradition Die Frauenbewegung in den 1920ern Wie es geht Streik der Gebäudereinigerinnen


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Alexandra Guerson/Flickr.com

ausende haben am 23. Januar gegen die konservative kanadische Regierung protestiert. Die Demonstranten werfen der Regierung vor, die Demokratie auszuhebeln. Premierminister Stephen Harper hat die Aussetzung des Parlaments angeordnet. Nun ruht vom 30. Dezember bis zum Ende der Olympischen Winterspiele in Vancouver am 3. März der parlamentarische Betrieb. Die Proteste wurden Ăźber das Internet initiiert. Tausende Nutzer des Netzwerkes Facebook hatten zu den Demonstrationen aufgerufen – 10.000 nahmen alleine in Toronto und 7000 in Ottawa teil.


Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

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ie Deutsche Bank hat kürzlich die Geschäftszahlen für 2009 veröffentlicht. Verlor Deutschlands größtes Finanzinstitut 2008 noch knapp 3,9 Milliarden Euro, so konnte es nun einen riesigen Nettoprofit von fünf Milliarden Euro nach Steuern verzeichnen. Der Vorstandsvorsitzende Josef Ackermann prahlte, das Jahr 2009 habe großen Bankhäusern beispiellose Chancen zum Geldverdienen geboten. Die zurück gewonnene Profitabilität der Deutschen Bank binnen eines Jahres ist vor allem den finanziellen Rettungsmaßnahmen der deutschen und anderen Regierungen geschuldet. Die Banken, die für die Krise verantwortlich waren, wurden weltweit mit Billionen von Euro gerettet. Wenige Tage nach der Verkündung der Deutschen-Bank-Zahlen hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass die Hartz-IV-Sätze, insbesondere die Berechnungsgrundlage für Kinder, so angesetzt sind, dass sie mit der Würde des Menschen nicht vereinbar sind. Weit klafft die Schere zwischen Arm und Reich – ein Zustand, den Schwarz-Gelb noch verschärfen wird. Angesichts der bevorstehenden Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen hält sich die Bundesregierung noch mit den Details der geplanten Angriffe zurück. Aber klar ist, dass die Haushalte von Ländern und Kommunen weiter massiv unter Druck gesetzt werden. Finanzminister Wolfgang Schäuble hat angekündigt, dass er ab 2011 Jährlich 10 Milliarden Euro im Bundeshaushalt kürzen will. Im Fadenkreuz stehen: die Gesundheitsversorgung, der öffentliche Dienst und die Bildung. Auch außenpolitisch verschärft die Regierung ihren Kurs: Sie will sich an der US-geführten Ausweitung des Kriegs in Afghanistan beteiligen und die Truppenkontingente aufstocken. Islamfeindlichkeit ist dabei die ideologische Begleitmusik. Die Bundesregierung agiert von einer schwachen Grundlage aus. Sie verfügt zwar über eine klare Mehrheit im Parlament, nicht aber außerhalb: Zentrale Punkte der schwarz-gelben Agenda werden von Bevölkerungsmehrheiten abgelehnt – seien es die Steuersenkungen fürs Kapital, die Gesundheitspolitik, Sozialkürzungen, die Atompolitik oder die Bundeswehreinsätze im Ausland. Das ist der Hintergrund für den »schwarz-gelben« Fehlstart und den Umfrageabsturz der FDP. So sieht das Terrain der Auseinandersetzungen aus, vor dem DIE LINKE und die außerparlamentarischen Bewegungen 2010 stehen. marx21 will einen Beitrag leisten, diese Kämpfe erfolgreich zu bestehen. Ihr könnt uns dabei unterstützen – durch eure Meinung, durch Verbesserungsvorschläge – und natürlich durch ein Abonnement. www.marx21.de | Februar/März 2010 | Nr. 14

Editorial

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inhalt

Antimuslimischer Rassismus

Bookwatch: Bücher gegen Nazis

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Wie frei ist die Frau?

Aktuelle Analyse

Wie frei ist die Frau?

Bookwatch

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DIE LINKE nach Lafontaine: Die Segel sind gesetzt Redaktion marx21

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Familienpolitik: Verschärfter Kurs Von Pazhareh Heidari

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»Es gibt nicht viele Parteien, auf die sich die Gewerkschaften verlassen können« Interview mit Sybille Stamm

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»Die Doppelbelastung ist geblieben« Interview mit Katrin Schierbach

Kontrovers

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Bericht aus Afghanistan: »Das schnürt einem den Hals zu« Von Christine Buchholz

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Frauenbewegung: Eine reiche Tradition Von Katja Kaba, Rita Renken und Katrin Schierbach

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Gebäudereinigerstreik: »Wir ziehen das Ding jetzt durch« Von Stefan Bornost

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Inhalt

Nr. 14 | Februar/März 2010 | www.marx21.de

NPD: Blick nach rechts Von Jan Maas

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Debatte: Bombardierung Dresdens Ulf Teichmann und Stefan Bornost

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Bildungssystem: Geistige Enteignung Von Nicole Gohlke und Janine Wissler

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Antimuslimischer Rassismus: Spiel mit dem Feuer Von Marwa Al-Radwany


©2009 Les Éditions Albert René/Goscinny–Uderzo

Interview: Die Linke unter Obama

Die Krise der Autogesellschaft

Umwelt 43

Agitprop: Die Kunst dem Volk! Von Stephanie Hanisch

Editorial

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Leserbriefe

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Klassiker des Monats: Howard Zinn: Eine Geschichte des amerikanischen Volkes Von Loren Balhorn

Impressum

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»Wir setzen Obama unter Druck« Interview mit Sherry Wolf

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Neues aus der LINKEN

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Weltweiter Widerstand

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Die Distanz überwinden Von Arno Klönne

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Die Geschichte hinter dem Song: Rage Against the Machine: »Killing in the Name« Von Yaak Pabst

Serie 1989-2009 – 20 Jahre Mauerfall 54

Verblühte Landschaften Von Klaus-Dieter Heiser

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Rubriken

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Autogesellschaft: Runter vom Gas Von Winfried Wolf

Kolumne 52

Ostdeutschland: Verblühte Landschaften

Kultur

Internationales 48

43

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neu auf marx21.de

»Kein Soldat mehr!«

Über den Protest der Friedensbewegung am 20. Februar gegen die Versendung weiterer Bundeswehrsoldaten Lesen, Hören, Sehen nach Afghanistan berichtet marx21 online. Mit den Demonstrationen soll auch klar gemacht werden, dass gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung weitere Milliarden für den Krieg www.marx21.de | Februar/März 2010 | Nr. 14 werden. Ein Blick auf die ausgegeben Webseite lohnt sich also:

www.marx21.de

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Impressum

Leserbriefe

marx21 – Magazin für internationalen Sozialismus Nr. 14, Februar /März 2010

Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe gekürzt zu veröffentlichen. Zusendungen – bitte mit Absender – an die Redaktionsadresse oder per Email an redaktion@marx21.de

ISSN 1865-2557 www.marx21.de Herausgeber Stefan Bornost (V.i.S.d.P.) Redaktion Marcel Bois, Stefan Bornost, Yaak Pabst Ständige Mitarbeit Jan Maas (Neues aus der Linken), Bruce Paenson (Weltweiter Widerstand), Max Steininger (Klassiker des Monats), Volkhard Mosler Mitarbeit an dieser Ausgabe Michael Bruns, Christine Buchholz, Gabriele Engelhardt, Michael Ferschke, Nicole Gohlke, Werner Halbauer, Klaus-Dieter Heiser, David Meienreis, David Paenson, Lucia Schnell, Dirk Spöri, Janine Wissler, Luigi Wolf Infografiken Karl Baumann Layout Philipp Kufferath Covergestaltung Yaak Pabst (Fotomontage: Bookmarks) Redaktion Online Yaak Pabst (verantw.), Frank Eßers, Jan Maas Druck Druckerei Langner Am Pestalozziring 14 91058 Erlangen Abonnement marx21 erscheint fünfmal jährlich. 4 Euro pro Ausgabe (inkl. Porto) Telefon: 030 – 89 56 25 11 Fax: 030 – 56 82 28 84 Mail: abo@marx21.de Bankverbindung Postbank Hamburg BLZ 200 100 20 Konto 662 310 205 Kontoninhaber: S. Bornost Redaktionsadresse Redaktion marx21 PF 44 03 46 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de

Die nächste Ausgabe von marx21 erscheint im April 2010 (Redaktionsschluss: 17.03.) 6

Leserbriefe

talisten aller »Rassen« und Nationen kämpften, übten gerade auf unterdrückte Minderheiten wie die Juden große Anziehung aus. So war die Sozialdemokratie vor 1914 nicht nur keine antisemitische Partei, sondern sie erwies sich als Bollwerk gegen das Vordringen des Antisemitismus – trotz aller theoretischer und praktischer Schwächen. Es ist auch nicht zutreffend, dass die jüdische Religion im revolutionären Russland 1917 unterdrückt wurde, die Autoren sind da den Beweis schuldig geblieben. Volkhard Mosler, Frankfurt a.M.

Zum Artikel »Von Opfern und Tätern« von Stefan Bornost (Heft 13)

Zur letzten Ausgabe (Heft 13) Glückwünsche zu dem tollen Heft mit seiner kritischen Analyse, der Themenvielfalt und der unverbogenen, aufrechten Gesinnung! Weiter so! Rolf Bruchhaus, Hardegsen

Zum Artikel »Eine notwendige Debatte« von Reuven Neumann (Heft 13) Ich möchte noch einen Kritikpunkt zu dem Buch von Gehrcke, Grünberg und Freyberg hinzufügen. Leider werden dort die theoretischen und praktischen Schwächen der Sozialdemokratie vor 1914 betont, weniger aber ihre viel wichtigere Leistung, große Teile der Arbeiterklasse gegen das Gift des Antisemitismus zu immunisieren. Eduard Bernstein beschreibt in seiner »Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung« (1909), wie die illegale Sozialdemokratie von 1881 bis 1883 einen erfolgreichen Abwehrkampf gegen den Versuch der Gründung einer »Christlich-Sozialen-Arbeiterpartei« auf antisemitischer Grundlage führte. Umgekehrt findet der Antisemitismus in Wien etwa zur gleichen Zeit eine Massenbasis und war wesentlich erfolgreicher als in Berlin, weil die österreichische Arbeiterbewegung erst später (1889) als die deutsche zu einer wichtigen nationalen politischen Kraft wurde. Gegen Paul Singer, Abgeordneter der SPD von 1884 bis 1911, wurden wiederholt antisemitische Kampagnen geführt, seiner enormen Beliebtheit in der Berliner Arbeiterschaft tat dies keinen Abbruch. Die Arbeiterbewegung trat hier das Erbe der Aufklärung und des bürgerlichen Liberalismus an, der den Juden Emanzipation und gleiche Rechte versprochen hatte, dieses Versprechen jedoch nicht einhielt. Die Ideen einer internationalen Klassensolidarität, in der die Arbeiter aller »Rassen« und Nationen gemeinsam gegen die Kapi-

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Der Artikel von Stefan Bornost geht völlig daneben. Er abstrahiert von den historischen Bedingungen, die zum Vernichtungskrieg geführt haben. Kapitalismus und Nationalsozialismus gleichzusetzen bzw. das eine im anderen aufgehen zu lassen ist keine saubere Analyse, sondern eine alte vulgärmarxistische Behauptung. Und wenn er die Parole versehentlich umdreht – »Deutsche Opfer sind keine Täter« (S. 35) – dann ist das wohl ein freudscher Verschreiber. Der Hinweis auf das »andere« Deutschland der KPD wirkt so eher wie eine Entschuldigung für den Rest – nach dem Motto: Es gab die guten, aber die haben leider verloren. Dennoch wird alles zu einem großen Kollektiv der Deutschen zusammengefasst. Gerade in der Abwehr der Kollektivschuldthese (die durchaus problematisch ist) wird dieses Kollektiv erst hergestellt. Wäre es für linke Kosmopoliten nicht eher angebracht, sich von dem Bezug auf das nationale Kollektiv zu verabschieden und einen globalen Standpunkt einzunehmen, der die Kritik an der konkreten Form kapitalistischer Vergesellschaftung in Deutschland (weil wir hier wohnen) in den Blick nimmt? Dann lässt sich der Nationalsozialismus auch nicht mehr nur als Zuspitzung des Kapitalismus, sondern als spezifisch deutsche Reaktion gegen die Moderne verstehen. Und diese Reaktion war durchaus antikapitalistisch, einem archaisch-bäuerlichen Ursprungsmythos von Blut und Boden zugewandt. Das Kapital wurde als Finanzjudentum von der ehrlichen deutschen Wertschöpfung abgespalten und musste deshalb vernichtet werden. Dass die Flächenbombardierung keine »gerechte« Antwort sei, finde ich einigermaßen verstörend. Was ist denn »gerecht« in so einem Krieg oder was hätte denn eine »gerechte« Antwort auf den deutschen Wahn sein können? Andreas H., Bonn

Auf Seite 34 findet sich eine weitere Leserzuschrift zu diesem Artikel und eine Antwort unseres Redakteurs Stefan Bornost.


Aktuelle Analyse

Die Segel sind gesetzt Oskar Lafontaine gibt den Parteivorsitz ab. marx21 über sein politisches Erbe und die künftigen Herausforderungen für DIE LINKE wehr raus aus Afghanistan. Die Organisierung rund um diese Forderungen sorgen für Strahlkraft bis weit ins sozialdemokratische Lager. Des Weiteren hat Lafontaine betont, dass starke Opposition Veränderung bewirken kann. In seiner »Saarbrücker Rede« beim Neujahrsempfang der saarländischen Landtagsfraktion verwies er auf den Aufbau der deutschen Sozialgesetzgebung unter Bismarck und Adenauer – offenkundig nicht mildtätige Gaben linker Kanzler, sondern Errungenschaften, die eine starke Gewerkschaftsbewegung konservativen Regierungen abtrotzte. Solchen Verbesserungen sind zwar Grenzen gesetzt, die Lafontaine nicht immer klar benannt hat. Rosa Luxemburg wies zu Recht darauf hin, dass einmal errungene Fortschritte im Kapitalismus stets gefährdet sind. Die Herrschenden sind immer bereit, Krisen, hohe Arbeitslosigkeit oder Schwächephasen der Arbeiterbewegung auszunutzen, um einmal Erreichtes wieder in Frage zu stellen. Dennoch bleibt der grundsätzliche Punkt von Lafontaine richtig, die Debatte um gesellschaftliche Veränderung nicht auf Regierungshandeln zu verengen. Lafontaine hat seine Position zu Regierungsbeteiligungen klar formuliert. Er befürwortet sie zwar grundsätzlich, jedoch warnt er, DIE LINKE dürfe unverhandelbare Haltelinien nicht überschreiten. Sonst verliere sie ihre Glaubwürdigkeit. Der

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skar Lafontaine zieht sich aus gesundheitlichen Gründen vom Parteivorsitz der LINKEN zurück – Anlass für diverse Kommentatoren in deutschen Redaktionsstuben, noch einmal kräftig nachzutreten. Der Spiegel malt schon einmal das Ende der LINKEN an die Wand und behauptet, Lafontaine hätte »dann zwei Parteien in die politische Insolvenz geführt. Ein einsamer Rekord.« Das ist zum einen sachlich falsch: Die politische Insolvenz der SPD verantworten Gerhard Schröder und seine Nachfolger. Außerdem ist DIE LINKE nur in den Wunschträumen von Spiegel-Redakteuren tot. Zum anderen ist die Reduzierung der LINKEN auf die Person Lafontaines Ausdruck einer besonders beschränkten »Männer machen Geschichte«-Weltsicht. Die Partei ist nicht durch Oskar Lafontaine auf die Welt gekommen. Sie war vielmehr ein Produkt der Abwehrkämpfe gegen die Agenda 2010, ein Produkt eines langwierigen Ablösungsprozesses von der neoliberalisierten Sozialdemokratie. Diesen Wind hat Lafontaine nicht bestimmt – aber er hat die Segel richtig gesetzt, als er seine politische Autorität einsetzte, um WASG und PDS zusammenzubringen. Er hat DIE LINKE entlang der Interessen von lohnabhängig Beschäftigten und mit einem antimilitaristischen Kurs mit aufgestellt. Das kristallisiert sich in ihren Kernforderungen: Hartz IV muss weg, Nein zur Rente mit 67, her mit dem Mindestlohn, Bundes-

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Noch-Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch und auch viele andere Genossen bevorzugen hingegen die Formulierung, eine rot-rote Regierung müsse »deutlich die Handschrift der LINKEN« tragen. Hier geht es nicht um sprachliche Finessen, sondern um handfeste Unterschiede. Eine der von Lafontaine benannten Haltelinien ist die Forderung »Kein Abbau des öffentlichen Dienstes, kein Sozialabbau«. Diese Position führt konsequenterweise in die Ab-

DIE LINKE ist gut beraten, die von Lafontaine mitvorgezeichnete Linie weiterzuverfolgen lehnung des Koalitionsvertrags von Brandenburg, der Personalabbau im öffentlichen Dienst vorsieht. De facto bedeuten die von Lafontaine genannten Haltelinien eine Absage an Regierungsbeteiligungen jetzt und in absehbarer Zukunft. Die wirtschaftliche Situation und die daraus folgende Finanzsituation in Bund, Ländern und Kommunen drängt jede Regierung zum Kürzen. Eine nachhaltige Linkswende von SPD und Grünen ist nicht in Sicht. All dies lässt Rot-Rot-Grün als illusionäre Perspektive für Veränderung erscheinen. Oskar Lafontaine hat zum Ärger seiner Kritiker den Preis benannt, den DIE LINKE für eine Regierungsbeteiligung ohne Haltelinien bezahlen würde: organisatorische und politische Auflösung. In der Saarbrücker Rede benannte er als Beispiele für diesen Prozess die anhaltende Krise der SPD und auch die Krise der italienischen Linkspartei Rifondazione Comunista, der es massiv geschadet hat, sich 2006 bis 2008 an einer Mitte-Links-Regierung zu beteiligen. Die von Lafontaine betriebene kompromisslose Opposition gegen Sozialabbau und Krieg greift zurück auf Mehrheiten in Gesellschaft und Partei – dies wird sich auch nach seinem

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Aktuelle Analyse

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Rückzug nicht ändern. Von daher ist DIE LINKE gut beraten, die von Lafontaine mitvorgezeichnete Linie weiterzuverfolgen. Nun ist mit dem Vorstoß des Parteivorstandes, Klaus Ernst und Werner Dreibus zur Wahl des Vorsitzenden bzw. des Bundesgeschäftsführer vorzuschlagen, eine schon länger andauernde Debatte in der LINKEN neu entfacht. Gerade der linke Flügel der Partei, beispielsweise die Strömung Antikapitalistische Linke oder auch Teile der Sozialistischen Linken, stehen diesem Gewerkschafterflügel skeptisch gegenüber, dessen Vertreter ursprünglich aus der SPD kommen. Der Vorwurf: Sie seien keine Marxisten, sie seien immer noch sozialdemokratisch, sie verwässerten die sozialistische Orientierung der Partei. Richtig ist zwar: Klaus Ernst trat und tritt skeptisch bis ablehnend gegen »Marxisten« und andere Gesinnungssozialisten auf, das heißt gegen intellektuelle Vertreter linker Ideologien. Aber es ist gerade die Gruppe ehemaliger Sozialdemokraten um Ernst, zu denen auch Lafontaine und Ulrich Maurer zu zählen sind, die ein wirkliches Gegengewicht zu den »Regierungssozialisten« bilden – also jenen Mitgliedern und


Funktionären der LINKEN, deren wichtigstes strategisches Ziel eine rot-rot-grüne Regierung ist. Der Bruch einiger Dutzend Gewerkschaftsfunktionäre im Frühjahr 2004 mit der SPD über Schröders Agenda-Politik war getrieben vom Überdruss in die ewige Nachgiebigkeit gegenüber Kapital und Unternehmern. So gesehen war die Gründung der WASG der Beginn einer politischen Linkswende von Teilen der Gewerkschaftsbewegung – von der SPD zum Klassenkampf »von unten«. Hier liegt auch der Unterschied zu vielen ehemaligen Kommunisten in der Partei, die sich zumindest ideologisch zum Marxismus bekannten und die dann unter dem Zusammenbruch des »realen Sozialismus« sich scharenweise vom Marxismus oder dem, was sie darunter verstanden hatten, abwendeten – und sich politisch nach rechts bewegten. Das Aufeinandertreffen dieser beiden Strömungen bildet die Grundlage der Widersprüche in der LINKEN. Die Differenzen zwischen den beiden Lagern sind ideologisch schwer zu fas-

sen und die weitere Entwicklung der Partei hängt nicht zuletzt von der Entwicklung der Klassenkämpfe ab. Ernst, Maurer und Lafontaine haben alle den Brandenburger Koalitionsvertrag scharf kritisiert, aus ihrer Sicht hat die Partei hier in ihren Prinzipien »gewackelt«. In einer Neujahrsrede rief Klaus Ernst auf, das Zentrum der Partei zu stärken. Dort müssten die Arbeitnehmer, Rentner, Arbeitslose, Schüler und Studenten mit ihren sozialen Interessen stehen. Er zählte auch noch einmal die zentralen Themen des Bundestagswahlkampfs auf und rief: Hier dürfe DIE LINKE nicht wackeln, hier lägen ihre Prinzipien, und wenn sie diese aufgebe, dann werde sie »schneller als ein Augenaufschlag« ihren Einfluss wieder verlieren. Man sollte Ernst keine Vorschusslorbeeren geben, aus manchen seiner Äußerungen und Positionen spricht nicht der Volkstribun aller Unterdrückten und Ausgebeuteten, sondern der Gewerkschaftsfunktionär des deutschen Metallfacharbeiters. So gesehen hat auch seine Ideologiekritik zwei Seiten. Die unmittelbare Erfahrung des kämpferischen IG Metall-Sekretärs ist seine große und unverzichtbare Stärke. Aber ein wahrer Volkstribun aller Unterdrückten und Ausgebeuteten wie beispielsweise August Bebel nährte seinen Zorn auf den Kapitalismus aus den Erfahrungen aller Menschen, die unter dem Kapitalismus wirtschaftlich und politisch leiden mussten. Dazu bedarf es der Kombination von theoretischer Analyse und unmittelbarer Erfahrung im Klassenkampf. Vorläufig und bis auf Weiteres sind Klaus Ernst, Werner Dreibus und die ehemaligen Sozialdemokraten Vertreter einer Politik, die den Klassenwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit zum Ausgangspunkt ihrer Politik machen – mit allen Stärken und Schwächen, die der Klassenkampf in Deutschland im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts in sich trug. Aber: Sie treten für eine Klassenorientierung der LINKEN ein, die andere, vor allem die Regierungssozialisten, oft missen lassen. Dieser Radikalismus hat Zukunft, sozialistisches Bewusstsein wird als Massenphänomen durch Klassenkämpfe entstehen und nicht durch marxistische Schulung allein.

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Aktuelle Analyse

»Es gibt nicht viele Parteien, auf die sich die Gewerkschaften verlassen können« Sybille Stamm im marx21-Interview über die Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst und die Rolle der LINKEN in den anstehenden Arbeitskämpfen

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ie Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst haben begonnen. Wie ist die Stimmung an der Basis? Was erwarten die Kolleginnen und Kollegen von den Verhandlungen? In Baden-Württemberg ist die Stimmung super. Am 3. und 4. Februar haben über 10.000 Kolleginnen und Kollegen gestreikt, deutlich mehr als erwartet. In erster Linie geht es um mehr Geld. Aber auch die Verlängerung der Altersteilzeit und die Übernahme der Azubis spielen eine wichtige Rolle. Das sind zwei Seiten der gleichen Medaille: Die Alten sollen früher in Ruhestand gehen dürfen und damit können Jüngere an ihre Stelle treten. Das begreifen die Azubis und sind aktiv in der Tarifrunde dabei.

versuchen, unsere Forderung als maßlos überzogen darzustellen und kaputt zu reden. Sonntag aktuell, eine südwestdeutsche Zeitung mit einer Auflage von einer Million, bezeichnete jüngst die Metaller als die Guten, weil sie angeblich nichts fordern, und die Beschäftigten im öffentlichen Dienst mit ihrer 5-ProzentVolumensforderung als die Bösen. Aber gerade, weil alle Lasten der Jahrhundertkrise aus Steuermitteln finanziert werden sollen, kommt der Tarifrunde im öffentlichen Dienst eine zentrale politisch-strategische Bedeutung zu. Es geht um widerständiges Handeln gegen das Abwälzen der Krisenlasten auf die »kleinen Leute«. 4 Milliarden Euro für reiche Erben und Hotelbesitzer und kein Geld für die Beschäftigten – das geht einfach nicht. ie öffentlichen Kassen sind Reiche besteuern, Bankensteuer einleer, Länder und Kommunen Sybille Stamm war Landesführen, die Gewerbesteuer konjunkhoch verschuldet. Seit Langem bezirksleiterin von ver.di in turfest machen – das wäre gesetzlich klagen sie schon über chronische Baden-Württemberg. Jetzt ist sie möglich und machbar, um die LänUnterfinanzierung. Finanzminister Mitglied im geschäftsführenden der und Kommunen zu unterstützen Schäuble sagt, es sei kein finanziel­ Landesvorstand der LINKEN. und die öffentliche Daseinsvorsorge ler Spielraum für Lohnerhöhungen zu sichern. Ich bin sicher, dass die vorhanden... Beschäftigten das wissen. »Wir zahlen nicht für eure Für den öffentlichen Dienst ist nie genug Geld da. Krise« – diese Losung war deshalb der heimliche GeSeit Jahren werden die Städte und Gemeinden fineralbass der Streiks in den vergangenen Tagen. nanziell ausgeblutet. Für immer mehr Aufgaben Natürlich geht es auch um die konjunkturpolitische und Ausgaben, insbesondere im sozialen Bereich, Wirkung im Tarifkampf im öffentlichen Dienst. Vom bekommen sie immer weniger Geld. Aktuell werden Export ist nichts zu erwarten, das wissen alle. Woher die Lasten der Wirtschaftskrise auf die Kommunen soll also Wachstum kommen, wenn die Menschen abgewälzt. Die Einbrüche bei der Gewerbesteuer immer weniger Geld haben? Eine ordentliche Tarifsind verheerend, zumal, wenn sie wegen der Krise erhöhung für zwei Millionen Beschäftigte würde die in der Realwirtschaft zurückgezahlt werden müsBinnennachfrage ankurbeln und – wie nennt es Frau sen. Mit dem so genannten »WachstumsbeschleuMerkel doch so schön – das »Wachstum beschleuninigungsgesetz« werden die öffentlichen Haushalte gen«. Wer wenigen reichen Erben mehr zuschanzt, zusätzlich belastet. Das ist ein Gesetz, das zwar den sorgt nur für noch mehr Spekulation auf den FinanzReichtum Weniger, aber mit Sicherheit nicht das märkten. Insofern sind Tariferhöhungen im öffentWirtschaftswachstum erhöhen wird. lichen Dienst und in der Metallindustrie auch geVor diesem Hintergrund ist es kein Wunder, wenn samtwirtschaftlich ein Gebot der Stunde. Regierung, kommunale Arbeitgeber und die Medien

Sybille Stamm

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roland hägele

Gute Stimmung trotz Minusgraden: Auftakt der Warnstreiks im öffentlichen Dienst in Baden-Württemberg

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as bedeutet die verschärfte Haushalts­ lage für die Kampfstrategie bei den Tarif­ verhandlungen? Was kann ver.di deiner Meinung nach aus vergangenen Auseinandersetzungen ler­ nen? Wir müssen schnell mobilisieren und Druck erzeugen. »Den großen Streik vermeidet womöglich, wer ihn glaubwürdig androhen kann« – eine alte Arbeitskampferfahrung. Deshalb entscheidet sich die Frage, ob es zum großen Streik kommt, daran, wie viel Druck verhandlungsbegleitend aufgebaut werden kann. Das läuft derzeit in fast allen Landesbezirken sehr gut: In Niedersachsen haben beispielsweise dieser Tage 15.000 gestreikt. Falls es in der dritten Verhandlungsrunde zu keiner Einigung kommt, wird es mit großer Sicherheit zu einer Schlichtung kommen mit einem Einigungsvorschlag, über dessen Annahme die Mitglieder entscheiden. Wenn es nicht reicht, kommt es zum Streik. Die Beschäftigten haben ein feines Gespür für Ungerechtigkeit. Ob im Einzelhandel, in der Metallindustrie oder im öffentlichen Dienst – sie ahnen, dass sie zahlen sollen, während die Deutsche Bank wieder Milliardengewinne macht. Auch hiergegen geht es auch in dieser Tarifrunde. Und dass viel geht, haben die Warnstreiks der vergangenen Tage gezeigt.

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u bist im Mitglied im Landesvorstand der LINKEN in Baden-Württemberg. Wie bereitet ihr euch auf die Tarifverhandlungen vor? Wir haben mehrfach im Landesvorstand über die anstehenden Tarifrunden und über die notwendige Unterstützung beraten. Es gab an vielen Orten im Land Veranstaltungen zur aktuellen ökonomischen Lage in Baden-Württemberg. Die Kriseneinschät-

zung und die Frage der Unterstützung der kämpfenden Belegschaften war ein zentraler Gegenstand unseres Landesparteitages Ende Januar. Es gab und gibt Gespräche mit den Gewerkschaftsgliederungen auf Landesebene und regional. Eine wichtige Rolle bei den Vorbereitungen spielt die »AG Betrieb und Gewerkschaft« in der LINKEN. Dort sind viele ehren- und hauptamtliche Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter organisiert. Notwendig ist natürlich auch, selbst, wenn man nicht unmittelbar betroffen ist, im eigenen Umkreis die Streiks argumentativ zu unterstützen und meinungsbildend zu wirken. Dafür müssen die Parteimitglieder inhaltlich geschult und argumentativ gut drauf sein.

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eicht es nicht, wenn die Parteiführung eine Solidaritätserklärung abgibt? Natürlich nicht. DIE LINKE in Baden-Württemberg hat eine gute Basis in den Betrieben. Sie steht also nicht außerhalb der betrieblichen- und Tarifkämpfe, sondern agiert mittendrin. Sie ist Teil des handelnden Subjekts. Wir erfahren überwiegend große Zustimmung, zum Beispiel beim Verteilen von Flugblättern bei Kundgebungen. Es gibt derzeit ja nicht viele Parteien, auf die sich die Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter verlassen können. Aber auch wir müssen und können noch viel besser werden. Was vielleicht am wichtigsten ist: Wir sind überall vor Ort mit dabei – bei Daimler in Sindelfingen auf der großen Streikkundgebung mit 20.000 Beschäftigten im Kampf um den Erhalt der C-Klasse-Produktion, beim Streik der Beschäftigten der alteingesessenen Kühlerfabrik Behr in Stuttgart-Feuerbach Anfang Februar und natürlich bei den Streiks im Öffentlichen Dienst. Die Fragen stellte Yaak Pabst www.marx21.de | Februar/März 2010 | Nr. 14

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»Das schnürt einem den Hals zu« Christine Buchholz war Anfang Februar in Afghanistan und hat dort mit den Opfern des Luftangriffs von Kundus gesprochen

Christine Buchholz ist Bundestags-

abgeordnete der LINKEN und gehört dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss zur Kundus-Affäre an. Mit ihrem Fraktionskollegen Jan van Aken reiste sie vom 29. Januar bis 3. Februar nach Afghanistan. Die beiden sind die ersten Abgeordneten, die sich mit Opfern des deutschen Luftangriffs getroffen haben.

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pätestens beim Abflug aus Masar-i-Scharif ist klar: Wir sind im Kriegsgebiet. Im steilen Zick-Zack steigt die Transall auf – um Raketen kein leichtes Ziel zu bieten. Genau so steil geht es in Kundus beim Landeanflug runter. Dort am Flughafen: Schwerbewaffnete Bundeswehrsoldaten, die unseren Konvoi ins PRT-Lager begleiten. PRT, kurz für Provincial Reconstruction Team. Das soll nach Wiederaufbau klingen, ist aber ein Militärlager – mit stark befestigten hohen Mauer. Hier ist ein Teil des Bundeswehr-Kontingents in Afghanistan stationiert. Der gepanzerte Konvoi fährt mit hoher Geschwindigkeit. Auf dem Weg sehe ich kurz ein Schild: Dyncorp. Ein US-amerikanisches Sicherheitsunternehmen, das hier Polizisten ausbildet. Mein Kollege Jan van Aken und ich sind nach Afghanistan gekommen, um uns selbst ein Bild zu machen. Ein Bild von der allgemeinen Situation im Land am Hindukusch. Aber vor allem ein Bild von den Folgen der blutigsten von Deutschen befohlenen Militäraktion nach dem Zweiten Weltkrieg. Am 4. September vergangenen Jahres wurden gegen zwei Uhr Ortszeit zwei von Taliban gestohlene Tanklastwagen bombardiert. Tatort: Eine Sandbank etwa fünfzehn Kilometer südlich der Stadt Kundus im Norden Afghanistans. Erst hieß es, die Bundeswehr habe einen »erfolgreichen Einsatz« durchgeführt und zahlreiche Taliban getötet. Später wurden auch zivile Opfer eingestanden. Mittlerweile ist davon auszugehen, dass die überwiegende Mehrzahl der Opfer Zivilisten waren – eine Annahme, die sich auch mit unserer Recherche vor Ort deckt. Der Bundestag hat einen Untersuchungsausschuss zur Kundus-Bombardierung eingerichtet, dem auch Jan van Aken und ich als Abgeordnete der LINKEN angehören. Es geht dort um minutiöse Details, um

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Aktuelle Analyse

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die militärische Verantwortlichkeit und um politische Verantwortlichkeit. Wir wollten dazu eine Perspektive einholen, die in der Debatte sonst überhaupt nicht im Zentrum steht: Die Perspektive der Opfer. Wir wollen ihnen ein Gesicht und eine Stimme geben. Unsere Recherche führt uns zu zwei Frauen: Dr. Habibe Erfan und Korshid Zaka, beide Mitglied im örtlichen Provinzrat. Als ihnen bei der Trauerfeier für die Opfer der Bombardierung das Ausmaß der Katastrophe klar geworden war, begannen sie eine Untersuchung. Rund um die Sandbank, auf der die Tanklastzüge feststeckten, liegen sechs Dörfer. Die Frauen zogen von Haus zu Haus um herauszufinden, wer Angehörige verloren hat, wer verletzt wurde. Ihr Ergebnis: 143 Menschen sind bei dem Angriff umgekommen, davon 26 Kinder im Alter von 10 bis 16 Jahren. 91 Witwen hat der Angriff hinterlassen. Ihre Untersuchung ist seriös – die Bundeswehr selbst hat die Opferliste von Erfan und Zaka als Grundlage für ihre Soforthilfe genommen. Hinter jedem Toten steht ein Schicksal. Laila zum Beispiel hat zwei Söhne bei dem Angriff verloren. Sie war schon vorher Witwe. Die beiden Söhne gingen noch zur Schule. Der eine kümmerte sich zudem um das Feld, der andere um die Kuh der Familie. Nun bleibt dies alles an Laila hängen – außerdem muss sie ihre kleinen Töchter versorgen. Hilfe hat sie nur von ihren Brüdern, die ihr manchmal Öl und Reis vorbeibringen. Erschüttert haben mich auch die Gespräche mit Eltern, die ein oder mehrere Kinder bei dem Angriff verloren haben. Wir bekommen die Schulzeugnisse der gestorbenen Kinder gezeigt. Es schnürt einem die Kehle zu. Was haben diese Leute nachts um zwei auf einer Sandbank zu suchen? So und ähnlich wurde nach dem Angriff Misstrauen geschürt. Wer außer Taliban-Kämpfern sollte sich bei den Tanklastzügen aufhalten? Bei unseren Gesprächen erhalten wir plausible Antworten auf diese Fragen. Die Nacht des Angriffs war im Ramadan, die Dorfgemeinschaften kamen gerade aus der Moschee, die Frauen bereiten das gemeinsame Mahl, das vor Tagesbeginn eingenommen


die sie nur in schwer gepanzerten Konvois verlassen. Und sie bekämpfen einen Widerstand, der Unterstützung von bedeutenden Teilen der Bevölkerung erhält. Ein aussichtsloses Unterfangen. Vielleicht ist das der Grund, warum einige mir sagten, sie wären froh, wenn ihre Einsatzzeit endlich vorbei ist. Die Afghanen, mit denen ich sprechen konnte, wollen den Wiederaufbau des Landes und sind dankbar für jede Hilfe. Doch momentan wird die Situation so sehr durch die militärische Konfrontation bestimmt, dass ein wirklicher Wiederaufbau unmöglich ist. Verteidigungsminister Guttenberg behauptet: Ohne Militär kein Aufbau, die Taliban machen gleich alles wieder kaputt. Vor Ort hat sich das aber anders dargestellt. Die Bundeswehr setzt auf die »zivil-militärische Zusammenarbeit«. Das heißt, dass Einheiten der Bundeswehr mit zivilen Helfern ausrücken – eine Maßnahme, die die Armee beliebter machen soll. Doch oftmals macht gerade die Verknüpfung des Aufbaus mit dem Militär die Einheimischen misstrauisch und unkooperativ. Woher sollen sie wissen, ob nicht die Erkenntnisse der »Helfer« militärisch verwendet werden? Ob auf Brunnenbohrer Bomber folgen? Dass es auch anders geht, zeigt ein Beispiel aus der zentralafghanischen Provinz Orusgan. Dort wurde erfolgreich eine Straße gebaut – ganz ohne militärische Absicherung, aber in enger Verhandlung und Abstimmung mit den Dorfältesten. Es gibt also durchaus eine Perspektive für den Aufbau ohne Militär. Wenn das gesamte Geld, das für diesen Krieg ausgegeben wird, in die zivile Hilfe fließen würde, hätte Afghanistan tatsächlich eine Zukunft. Auf dem Rückflug haben wir Zeit, über die Eindrücke und Erkenntnisse zu reden. Ich bin überzeugter denn je: Die Forderung der LINKEN nach einem sofortigen Abzug der Bundeswehr ist richtig.

Fraktion DIE LINKE

werden sollte. Da macht das Gerücht die Runde, dass unten in der Furt ein Tanklaster festsitzt – dass es Benzin gibt! Die ersten machen sich mit Schalen und Kanistern auf den Weg, andere folgen, auch aus Neugier. So versammelten sich schließlich rund 200 Personen auf der Sandbank. Sie fühlten sich sicher, seit Stunden schon kreiste ein Aufklärungsflugzeug über der Stelle und nichts war passiert. Niemand rechnete mit dem Angriff. Dann fielen die Bomben. Die Tanklastzüge explodierten, der Feuerball war noch Kilometer weiter zu sehen. Die Schicksale der Opfer zeigen auch, wie sehr die Armut und systematische Unterentwicklung des Landes mit dem Krieg verschränkt sind. Drei von Bulbuls Enkelkindern starben am 4. September. Sie klagt: »Wär’ ich nicht arm, hätten wir kein Benzin gebraucht«. Nicht einmal mehr das Verteidigungsministerium behauptet, alle Opfer seien Taliban gewesen. Zu Recht: Angehörige zeigen uns Dokumente, unter anderem Wahlausweise der Toten – die Taliban hatten zum Wahlboykott aufgerufen. Überhaupt ist der Sammelbegriff »Taliban« wenig hilfreich. Viele Menschen leisten den westlichen Truppen Widerstand aus unterschiedlichsten Motiven, nicht immer aus religiösen. Wahrscheinlich sind durch das Massaker von Kundus viele weitere dazugekommen, das Ansehen der Bundeswehr hat jedenfalls schwer gelitten. Natürlich sprechen wir während unser Zeit in Kundus auch mit vielen Bundeswehr-Angehörigen, mit Kommandeuren ebenso wie mit einfachen Soldaten. Es gibt durchaus einige unter ihnen, die den Anspruch haben, zu helfen und die Sympathien der Afghanen zu gewinnen. Doch die Realität ihres Einsatzes ist folgende: Sie sind in eine Festung einbunkert,

Christine Buchholz (l.) im Gespräch mit Leila (r.), die zwei Söhne bei dem Angriff verloren hat www.marx21.de | Februar/März 2010 | Nr. 14

Aktuelle Analyse

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Schwerpunkt Frauenunterdr체ckung im 21. jahrhundert

17 Frauenunterdr체ckung heute Aktuelle Analyse

20 Eine reiche Tradition

Geschichte der Frauenbewegung

25 Geb채udereinigerinnen-Streik 14

Schwerpunkt

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Philippe Leroyer/Flickr.com

Reportage


Verschärfter Kurs Die Politik der schwarz-gelben Bundesregierung wird auch unter der neuen Familienministerin das Leben von Millionen Frauen in Deutschland erschweren, zeigt Pazhareh Heidari auf

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ir helfen den Familien in Deutschland ganz gezielt da, wo sie Unterstützung brauchen«, behauptet die neue Familienministerin Kristina Köhler. Wie schon ihre Vorgängerin Ursula von der Leyen vermarktet sie ihre Kürzungspolitik als Fortschritt – als Verbesserung für alle Frauen und Familien. Tatsächlich aber profitieren nur reiche und einkommensstarke Frauen. Zielgruppe der derzeitigen Frauenpolitik sind die gut ausgebildeten, hochqualifizierten Mitarbeiterinnen, die von Unternehmen als wertvolle Ressource im internationalen Wettbewerb angesehen werden. Angelika Wetterer, Professorin für Soziologie der Geschlechterverhältnisse an der Universität Graz umschreibt das Motto: »Die Arbeitszufriedenheit wächst, das fördert im nächsten Schritt Kreativität, Flexibilität und Leistungsbereitschaft, was wiederum dem Output zugute kommt und die Kosten senkt. (...) Ausgeblendet werden diejenigen, die nicht zu den ›Wertschöpfungsstarken‹ gehören, ausgeblendet wird die wachsende soziale Ungleichheit in globalem Maßstab und ausgeblendet werden die größer werdenden Ungleichheiten unter Frauen auch hierzulande, durchweg Themen also, die für die Gleichstellungspolitik heute zentrale Bedeutung haben.« Einkommenssteuer: Die ab Januar 2010 geltenden Regelungen entlasten mittlere Einkommen nur geringfügig, hohe Einkommen stärker. Geringverdienende haben keine Vorteile. Laut einer Studie des Instituts für Arbeit und Qualifikation der Universität Essen-Duisburg aus dem Jahr 2008 sind jedoch 68 Prozent aller Geringverdienenden Frauen. Kindergeld und Unterhaltsvorschuss: Die Erhöhung fällt sehr bescheiden aus (20 Euro je Kind) und wird voll auf die Sozialleistungen angerechnet. Gerade diejenigen, die jeden Euro dringend nötig haben, gehen leer aus. Der von Ministerin Köhler so bejubelte Unterhaltsvorschuss, den alleinerziehende Mütter oder Väter erhalten, wenn der andere Elternteil nicht genug

Unterhalt zahlt, wird ebenfalls voll auf die Sozialleistungen angerechnet. Der Vorschuss ist zudem noch zeitlich begrenzt. Er wird höchstens 72 Monate lang gezahlt und auch nur bis zum zwölften Lebensjahr des Kindes. Danach steht der alleinerziehende Elternteil, zumeist die Mutter, wieder finanziell allein da. Armut ist in einem solchen Fall vorprogrammiert. Das noch von der Großen Koalition eingeführte Elterngeld stellt ebenfalls nur eine Verbesserung für einkommensstarke Frauen dar. Sie erhalten bis zu 1800 Euro monatlich (zwei Drittel des Einkommens) ausgezahlt. Empfängerinnen und Empfänger von Sozialleistungen erhalten dagegen nur 300 Euro – und das auch nur noch 12 anstatt der 36 Monate des

Pazhareh Heidari ist Mitglied des Landesvorstandes der LINKEN in Hessen.

Zielgruppe der derzeitigen Frauenpolitik sind gut ausgebildete, hochqualifizierte Mitarbeiterinnen, die von Unternehmen als wertvolle Ressource im internationalen Wettbewerb angesehen werden

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Grafik: marx21

Bedrohung Altersarmut: Frauen sind gefährdeter

vorherigen Erziehungsgelds. Das entspricht einer Kürzung von bis zu 3000 Euro. Kindergartenplätze: Ab dem Jahr 2013 besteht theoretisch ein Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz. Dies wäre eine große Erleichterung für die 50.000 bis 60.000 Alleinerziehenden, die nur deshalb arbeitslos sind, weil ihnen keine angemessene Kinderbetreuung zur Verfügung steht. Allerdings sind nach Angaben des Deutschen Städtetages 10 Milliarden Euro nötig, damit die Kommunen die fehlenden öffentlichen Kindergärten finanzieren können. Angesichts der leeren Kassen ist es schwer vorstellbar, dass die schwarz-gelbe Regierung freiwillig ausreichend Geld für die Kinderbetreuung zur Verfügung stellen wird. Ihr Ausweg: Ab 2013 will sie ein Betreuungsgeld einführen, das direkt an die Familien ausgezahlt werden soll. Jörn Wunderlich, Bundestagsabgeordneter der LINKEN, steht dem skeptisch gegenüber: »Das Betreuungsgeld (...) ist fatal und diskriminierend – konservativer geht es eigentlich nicht mehr. Das Betreuungsgeld ist frauenfeindlich, bildungsfeindlich und wird verstärkt zum Ausstieg junger Frauen aus dem Berufsleben führen«, warf er im November der Bundesregierung vor. ★ ★★ Weiterlesen Jürgen Glaubitz: Von Konzernen, Kunden und »Kostenfaktoren«. Der deutsche Einzelhandel im Umbruch. Fakten – Probleme – Perspektiven (ver.di 2008). Online: www.tinyurl.com/ einzelhandel-verdi.

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Schwangerschaftsberatung: Die Regierung verspricht eine »Verbesserung der Beratung«. Tatsächlich stellt die Gesetzesänderung eine Verschärfung des §218 dar, der den Schwangerschaftsabbruch regelt. Um das ungeborene Leben sorgen sie sich, auch die Unterstützerin des evangelikalen »Christivals« Ursula von der Leyen – nicht aber um das geborene Leben: Etwa drei Millionen Kinder leben in Deutschland in Armut. Kürzungen in der schulischen Integration, bei den Kitas und bei Leistungen für Kinder mit Behinderung laden die Verantwortung auf dem Nr. 14 | Februar/März 2010 | www.marx21.de

Einzelnen ab. Angebracht wäre, die Lebenssituation junger Frauen zu verbessern und ein neutrales und ergebnisoffenes Beratungsangebot anzubieten. Stattdessen werden schwangere Frauen unter Druck gesetzt. Die Ärztinnen und Ärzte müssen die Gespräche dokumentieren und auf Verlangen einer Landesbehörde Informationen über den Inhalt und den Umfang der Beratung weiterleiten. Die Anonymität ist angesichts der geringen Anzahl an Spätabbrüchen in Deutschland (229 im Jahr 2008) nicht gewährleistet. Kosten für Verhütungsmittel sind in den Hartz-IVLeistungen nicht vorgesehen. Seit der Einführung von Hartz IV berichten Mitarbeiterinnen aus Beratungsstellen, dass die Anzahl der Frauen steigt, die den Abbruch ihrer Schwangerschaft wünschen. Von Existenz sichernden Löhnen und Renten spricht die neue Bundesregierung gar nicht erst. Nicht sozialversicherungspflichtige, geringfügige Beschäftigungsverhältnisse im Einzelhandel – einem der größten Arbeitgeber in Deutschland – haben um 23 Prozent zugenommen. 70 Prozent der im Handel Beschäftigten sind Frauen. Etwa 47 Prozent aller im Einzelhandel beschäftigten Frauen erhalten Niedriglöhne. Die Ausweitung der Ladenöffnungszeiten an Sonn- und Feiertagen und in den Abendstunden wird die Situation noch verschärfen. Denn sie führen zur Erhöhung der Betriebskosten – was wiederum zur Folge hat, dass die Unternehmen versuchen werden, das Geld über gekürzte Löhne wieder reinzuholen. Auch Maßnahmen für Frauen, die von Gewalt betroffen sind, werden unter Schwarz-Gelb indirekt gekürzt. Denn die Regierung plant nicht, den Ländern und Kommunen angesichts deren Finanzierungsschwächen bei der Erhaltung – geschweige denn beim Ausbau – von Frauenhäusern und Beratungsstellen unter die Arme zu greifen. Ein Gleichstellungsgesetz, dass die Unternehmen in die Pflicht nähme, wurde schon unter Rot-Grün zugunsten einer sanften (und ergebnislosen) Selbstverpflichtung der Wirtschaft aufgegeben. Auch die jetzige Regierung hält an diesem Kurs fest. Sie verschärft Armut und Abhängigkeit von Frauen, indem sie entscheidende Maßnahmen nicht in Angriff nimmt und zugleich Leistungen zurückfährt. Notwendig wären aber vielmehr ein eigenständiges und ausreichendes Einkommen und die Unterstützung durch den Sozialstaat.


»Die Doppelbelastung ist geblieben« Katrin Schierbach erklärt im marx21-Interview, warum der Kampf für Frauenbefreiung weiter aktuell ist

jypsygen / flickr.com

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atrin, du bist Mitglied der LINKEN und aktiv für Gleichberechtigung. Warum eigentlich? In den letzten Jahrzehnten haben Frauen doch viel erreicht. Es gibt den Mutterschutz, Gesetze gegen sexuelle Belästigung und rechtlichen Anspruch auf gleichen Lohn. Frauen können Rechtsanwältin, Chefärztin oder Kanzlerin werden... Das ist richtig. Aber trotz all dieser Fortschritte: Noch immer arbeitet die Mehrheit der Frauen für weniger Lohn, noch immer bekommen Frauen deutlich weniger Rente, noch immer werden Frauen sexuell belästigt und als Sex-Objekt angesehen, noch immer müssen Frauen in Frauenhäuser fliehen und noch immer stellt die Vereinbarkeit von Beruf und Familie einen Drahtseilakt dar. Ja, vieles, was noch vor ein, zwei Generationen unvorstellbar war, ist heute selbstverständlicher geworden. Ich denke da an veränderte Familienformen, an die Anzahl der Studentinnen, an Verhütungsmöglichkeiten, an die technischen Hilfsmittel im Haushalt, die eine Menge der alltäglichen Plackerei abnehmen. Aber die Doppelbelastung für Frauen durch Arbeit und Familienarbeit ist geblieben. Angesichts der sozialen Kürzungen verschärft diese sich derzeit sogar wieder. Dass die alten Stereotypen sich verändert haben, ist gut. Aber die neuen Frauenbilder sind auch nicht gerade großartig. Eine Frau soll heute Super-Mutter, Super-Karrieristin und Super-sexy-Partnerin sein. Das führt zu Druck im Alltag und dem Gefühl einer permanenten Überforderung. Wenn du diese Ansprüche nicht erfüllst, bist du eben nicht gut genug. Das Selbstwertgefühl sinkt – und auch die Widerstandskraft, gegen die Missstände anzugehen. Aber ein verändertes Bild alleine ändert natürlich nicht die reale Situation von Frauen. Der Alltagsdruck kann auch durch ein noch so modernes Frauenbild nicht abgeschafft werden.

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aber mit dem Feminismus à la Alice Schwarzer nichts zu tun haben – ich denke da an Charlotte Roche oder die Autorinnen des Buches »Wir Alphamädchen«. Diese Entwicklung ist begrüßenswert. Denn Alice Schwarzers Weg wird nicht zur Frauenbefreiung führen. Zusammen mit der BildEignerin Frida Springer, der eheie Männer dulden also keine maligen TV-Talkerin Sabine Chrisgleichberechtigten Frauen ne­ Katrin Schierbach ist Mitglied tiansen und anderen Frauen der ben sich? der LINKEN und Co-Autorin von Oberschicht hat sie vor der vorEs sind mehrheitlich Männer, die »Marxismus und Frauenbefreiletzten Bundestagswahl den MerGewalt ausüben, die vergewaltigen, ung« (Edition Aurora 1999). kel-Wahlverein »Mehr für Merkel« die die höheren Löhne und Renten gegründet. Das sind keine Bündbekommen, die weniger Zeit mit nispartnerinnen für eine frauenHausarbeit verbringen. freundliche Politik. Ich denke aber nicht, dass die Mehrheit der Männer Absolut begrüßenswert finde ich Aussagen der »neuvon dieser Situation einen wirklichen Vorteil hat. en Feministinnen«, dass wir von einer Gleichheit der Auch sie werden in die Rolle, wie ein Mann im KapiGeschlechter noch weit entfernt sind. Ihre Kritik an talismus zu sein hat, hineingepresst. Die Selbstmorder Regierungspolitik der kleinen Schritte und der drate unter Männern ist höher als die bei Frauen. Sie Freiwilligkeitserklärungen der Wirtschaft aus den dürfen nicht versagen, sie dürfen nicht weinen. letzten zehn, fünfzehn Jahren ist hervorragend und Aber die Ursache für diese Gewalt sind die gesellgeht weit über Schwarzers Regierungsschmusekurs schaftlichen Umstände, der Kapitalismus. Neben hinaus. dem Kampf um Verbesserungen – wie FrauenhäuSie sehen Männer nicht als Feindbild und betonen, dass das Problem die gesellschaftlichen Hindernisse sind. Sie greifen den Biologismus, die soziale Stigmatisierung armer Frauen und den Rassismus des Welt-Mitherausgebers Frank Schirrmacher in der Demografiedebatte an. Er will weniger Kinder von Armen und Migrantinnen in der Gesellschaft. Dies alles halte ich für absolut wichtige Punkte in der Diskussion um Frauenbefreiung. Ihre Überlegungen stoßen jedoch auf Grenzen: Bei aller guten Kritik formulieren sie ihren Standpunkt immer wieder aus der Perspektive von Uniabsolventinnen und Mittelschichtsfrauen. Dabei vergessen sie häufig die Situation der Mehrheit der Frauen. Zudem fallen sie auch wieder zurück auf die Position »Frauen machen bessere Politik« sern, dem eigenständigen Recht auf Sozialleistunbzw. »Frauen sind die besseren Führungskräfte in gen, Arbeit und Bleiberechte – müssen wir an den der Wirtschaft«. Außerdem hinterfragen sie nicht Wurzeln des Systems angreifen. die individuelle Teilung der ReproduktionsarbeiAuch auf der ökonomischen Ebene profiten zwischen Frau und Mann innerhalb von Bezietieren nur einige wenige Männer von der hungen. Frauenunterdrückung. Dass die Frauenlöhne sich Dazu muss man jedoch sagen: Die aktuelle Wirtin den letzten dreißig Jahren denen der Männer schaftskrise existiert nicht, weil Männer an den Ruangeglichen haben, liegt zum Teil auch daran, dern der Politik und Wirtschaft sitzen, sondern weil dass die Männerlöhne gefallen sind. Ich finde, dass der Kapitalismus ein Krisensystem ist. Auch eine zwidie Soziologin Frigga Haug da sehr richtig betont, schen Partnern ausgehandelte geschlechtergerechte dass die schlechtere Behandlung von Frauen »kein Haushaltsführung, stößt angesichts der massiven Resultat persönlicher Mann-Frau-Beziehungen Kürzungen der Sozialpolitik an ihre Grenzen. Die Tatund nicht durch Charakterschulung behebbar« sei, sache, dass die Reproduktion privat organisiert wersondern »aus einer Struktur und gesellschaftlichen den muss, bleibt. Ich wünsche mir aber eine gesellArbeitsteilung« komme. schaftliche Übernahme dieser Tätigkeiten, so dass in ine neue Generation von jungen Frauen hat in Familien und Beziehungen menschliche Wärme im den vergangenen Jahren auf sich aufmerksam Mittelpunkt steht, aber nicht die Alltagslast. gemacht. Sie nennen sich Feministinnen, wollen Ich bin davon überzeugt, dass die Frauenfrage eine Klassenfrage ist. Arbeitsministerin Ursula von der Leyen kann ihren Familienalltag mit vielen Kindern sicherlich nur mit einer Schar von Helferinnen erledigen. So etwas kann sich die Mehrheit der Frauen finanziell gar nicht leisten.

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Katrin Schierbach

Auch eine geschlechtergerechte Haushaltsführung stößt angesichts der massiven Kürzungen der Sozialpolitik an ihre Grenzen

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ie von dir eben ohne weiteres abwandeln schon angespro­ in »Keine Frauenbefreichene Frigga Haug hat ung ohne Sozialismus, das Prinzip »Teilzeit kein Sozialismus ohne für alle« und die »VierFrauenbefreiung«. Der in-Einem-Perspektive« Kapitalismus ist eine vorgeschlagen, um eine Klassengesellschaft und gesellschaftliche Lösung kann ohne ökonomische für die gegenwärtige Ausbeutung und damit geschlechter­spezifische einhergehender UnterArbeitsteilung zu finden. drückung nicht funktiJede Frau, jeder Mann onieren. Daher muss er soll demnach jeweils abgeschafft werden. vier Stunden pro Tag Aber ohne im Hier und Zeit für Erwerbsarbeit, Jetzt das Los der MehrReproduktion bzw. heit der unterdrückten Sorgearbeit, für kultu­ und ausgebeuteten FrauVertreterin des »neuen Feminismus«: Charlotte Roches Buch »Feuchtgebiete« wurde mehr als relle Entwicklung und en zu verändern und sie 1,3 Millionen mal verkauft Selbstentfaltung und für zu ermutigen, politisch politische Aktivität ha­ und gewerkschaftlich akben. Was hältst Du da­ tiv zu werden und sich von? zu wehren, werden wir nie eine Massenbewegung Mehr Zeit für die letzten drei Aspekte, die Frigga aufbauen, die den Sozialismus erkämpfen kann. nennt, wäre toll. Auch eine Arbeitszeitverkürzung Kampf um Reformen war in der marxistischen Trabei vollem Lohnausgleich ist wünschenswert – zudition immer absolut zentral. Diese Tradition in der mal dadurch auch die Arbeitslosigkeit reduziert Frauenfrage ist heute jedoch wenig bekannt. Das gilt werden könnte. Aber leider lässt Frigga Haug offen, auch für den Beginn der so genannten zweiten Frauwas genau nötig ist, um solche Forderungen durchenbewegung in der BRD Anfang der 1970er und die zusetzen. Rolle von Sozialistinnen darin. Es waren gerade die Problematisch finde ich auch die von ihr und andesozialistischen Frauengruppen, die die Kampagne ren aufgestellte Forderung nach einer Aufwertung gegen den §218 trugen. Diese Traditionen sollten der mehrheitlich von Frauen getätigten Reprodukwir wieder entdecken. tionsarbeit. Zwar wäre das zunächst eine Erleichterung, aber zugleich würden Frauen damit weiterhin IE LINKE versucht, mit Hilfe der Quoten­ an Reproduktionsarbeiten gekettet – mit all den regelung Frauen zu fördern. Das heißt: Eine bekannten Problemen. Ich hingegen meine, dass festgelegte Anzahl von Parteiämtern ist für Frauen Hausarbeit als individuelle Tätigkeit abgeschafft reserviert. Ist das hilfreich? und vergesellschaftet werden muss. Das ist eine VoWenn wir eine gerechte Gesellschaft erreichen wolraussetzung dafür, dass Frauen gleichberechtigt am len, kann die Quote nur ein Aspekt auf dem Weg gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. Dem dahin sein. Entscheidend für das Ende der Frauensteht der Kapitalismus mit seiner Profitorientieunterdrückung ist, was für eine Praxis die Partei entrung entgegen. Die in die Familie hinein verlagerte wickelt. Ist sie auf allen Ebenen in der Lage, Kontakt Reproduktionsarbeit ist für das Kapital eine billige zu Gewerkschaften, Frauengruppen und Initiativen »Lösung« – Kosten und Aufwand müssen von den aufzubauen? Kann sie ihre Ziele und Kampagnen einzelnen und nicht von der Gesellschaft getragen vor Ort umsetzen? Macht sich die Partei Gedanken, werden. wie sie Frauen für die Arbeit an der Basis gewinnen kann? Gibt sie Frauen den Mut, sich zu engagieren? Gibt es Kinderbetreuung, damit Mütter an Veranu bist Mitautorin der Broschüre »Marxismus staltungen etc. teilnehmen können? Wird bei der und Frauenbefreiung«. Passt das zusammen? Parteiarbeit generell darauf geachtet, dass sich auch Ist für den Marxismus Frauenunterdrückung nicht Mütter beteiligen können? Hilft die Partei im aktuellediglich ein »Nebenwiderspruch«? len Kampf gegen Kürzungen bei Kitas, Schulen, LöhNaja, ein Teil der Linken hat dies zumindest in den nen und Sprachkursen? Auf diese Fragen muss DIE 1970er Jahren behauptet. Ich halte das für einen LINKE Antworten geben und eine Praxis entwickeln Fehler. Aber es gibt auch eine andere marxistische die so geartet ist, dass alle Frauen, insbesondere MiTradition, die Frauenbefreiung keineswegs als »Negrantinnen, weniger Alltagslasten haben und mitarbenwiederspruch« angesehen hat. Den Slogan von beiten können. Rosa Luxemburg »Kein Sozialismus ohne DemokraDie Fragen stellte Marcel Bois tie, keine Demokratie ohne Sozialismus« kann man

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★ ★★ Weiterlesen Christine Behrens, Mi­ chael Ferschke und Ka­ trin Schierbach: Marxismus und Frauenbefreiung (Edition Aurora 1999).

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Eine reiche Tradition Schon im Kaiserreich und der Weimarer Republik haben Linke den Kampf für die Gleichberechtigung der Frau geführt. Katja Kaba, Rita Renken und Katrin Schierbach stellen deren Positionen und Aktionsformen vor

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ein Körper gehört mir« – dieser Slogan prägte die Bewegung gegen das Abtreibungsverbot in den 1970er Jahren. Er prangte auf der Titelseite der Stern-Ausgabe, in der mehrere hundert Frauen öffentlich erklärten, illegal einen Schwangerschaftsabbruch vollzogen zu haben. Doch die Losung ist schon viel älter. Ihr Ursprung liegt in der Weimarer Republik. Unter dem Leitspruch »Dein Körper gehört Dir!« konnte die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) in den 1920er Jahren Zehntausende für die Bewegung gegen das Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen mobilisieren. Den Hintergrund für diese Bewegung bildete die soziale Situation der Frauen in der Weimarer Re-

8Hintergrund Der Abtreibungsparagraph 218

E Katja Kaba ist Mitarbeiterin der LINKEN-Bundestagsfraktion. Sie hat Gender Studies studiert. Rita Renken ist Mitglied der LINKEN in Berlin-Neukölln. Katrin Schierbach ist Mitglied der LINKEN und Co-Autorin von »Marxismus und Frauenbefreiung« (Edition Aurora 1999).

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ine Schwangere, welche ihre Frucht vorsätzlich abtreibt oder im Mutterleib tötet, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren bestraft. Sind mildernde Umstände vorhanden, so tritt Gefängnisstrafe nicht unter sechs Monaten ein. Dieselben Strafvorschriften finden auf denjenigen Anwendung, welcher mit Einwilligung der Schwangeren die Mittel zur Abtreibung oder Tötung bei ihr angewendet oder ihr beigebracht hat.« So lautet der 1871 eingeführte §218. In abgewandelter Form gilt er noch heute. Im Laufe der Zeit wurde das Gesetz immer wieder verändert – nicht immer zum Besseren. So wurde unter der nationalsozialistischen Herrschaft zeitweise die Todesstrafe für Schwangerschaftsabbruch verhängt. In der DDR wurden 1972 Abtreibungen innerhalb der ersten drei Monate legalisiert. Seit 1974 sind in Westdeutschland Schwangerschaftsabbrüche zumindest straffrei. Aber noch heute gelten sie in Deutschland als strafbare Handlung. Sie bleiben sanktionslos, wenn eine Schwangere den Abbruch innerhalb der ersten drei Monate ihrer Schwangerschaft und nach einem Beratungsgespräch vornehmen lässt. Aus medizinischen Gründen können Frauen auch nach dem dritten Schwangerschaftsmonat eine so genannte Spätabtreibung vornehmen lassen.

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publik. Die Revolution von 1918 hatte ihnen zwar das Wahlrecht gebracht und ihr Selbstvertrauen gestärkt, die Gesellschaft verändern zu können. Auch der Umgang mit Sexualität wurde freier. Doch von voller Gleichberechtigung war die Republik weit entfernt. Inflation, Armut und Arbeitslosigkeit prägten die deutsche Gesellschaft. Gerade Frauen aus der Arbeiterschaft wussten, dass sich die wirtschaftliche und soziale Situation der Familie mit jedem weiteren Kind verschlechterte, die Zukunftschancen des einzelnen Kindes sich verringerten, der Umfang ihrer eigenen Erwerbs-, Haus- und Familienarbeit zunahm und ihre Gesundheit durch Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett zusätzlich belastet werden konnte. Trotz der großen sozialen Not war der Verkauf und Vertrieb von Verhütungsmitteln verboten. Den Frauen blieb also nur die Abtreibung als Ausweg. Nach Schätzungen des Deutschen Ärztetages lag die jährliche Zahl von Schwangerschaftsabbrüchen zwischen 500.000 und 800.000. Die illegalisierten Abbrüche waren durchaus risikoreich. So wurden pro Jahr etwa 125.000 Frauen nach Abtreibungen mit hohem Fieber in Kliniken und Krankenhäuser eingeliefert, 40.000 trugen bleibende Gesundheitsschäden davon und 50.000 starben an den Folgen laienhafter Eingriffe. Zudem mussten sie mit drastischen Strafen rechnen: 1926 beispielsweise wurden 7800 Frauen wegen illegalen Schwangerschaftsabbruchs angeklagt. Die meisten von ihnen stammten aus der Arbeiterklasse, wie auch Gustav Radbruch, sozialdemokratischer Justizminister zu Beginn der Weimarer Republik, kritisierte: »Es ist noch nie eine reiche Frau wegen §218 vor dem Kadi gestanden!« Frauen der Oberschicht konnten sich ihre Schwangerschaftsabbrüche unter sicherer ärztlicher Aufsicht mit Geld erkaufen. Deshalb galt der §218 vielen Aktivistinnen und Aktivisten als Klassenparagraph. So hieß es 1922 auch in einer Stellungnahme der KPD: »Die Abtreibung an sich ist ein unökonomisches und für die Frauen grausames Mittel der Geburtenregelung. Nur durch die Heuchelei und Geheimnistuerei der heutigen Gesellschaft, die empfängnisverhütende Mittel für das Volk unbekannt oder schwer erhält-


lich macht, muss die Masse der Proletarierfrauen zu diesem letzten Mittel greifen, um die Kinder nicht in die Welt zu setzen, für die kein Brot vorhanden ist. Der KPD steht es fern, die Abtreibung als ein Ideal zu empfehlen. Aber wir müssen uns entschieden dagegen wenden, dass die proletarischen Frauen von der kapitalistischen Gesellschaftsordnung gezwungen werden, Kinder in die Welt zu setzen, für die der Staat keine Lebensmöglichkeiten schaffen kann.« Neben der KPD setzte sich in der Weimarer Republik auch die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) für die Frauenfrage ein. Die beiden Parteien unterschieden sich jedoch in ihrer Herangehensweise. Prominente Vertreter der SPD versuchten vor allem, die Situation der Frauen zu verbessern, indem sie Gesetzesinitiativen in den Reichstag einbrachten. Dieses Vorgehen unterstützte die KPD, die sich während des Ersten Weltkrieges von der SPD abgespalten hatte. So brachten KPD und SPD mehrere Anträge gegen den §218 in den Reichstag ein. Sie traten ein für einen unentgeltlichen Abbruch in öffentlichen Krankenhäusern. Sie forderten die kostenlose Ausgabe von Verhütungsmitteln. Zudem forderten sie ein weites Netz an Sexualberatungsstellen, um Frauen und Männer aufklären zu können. Viele der Anträge kamen aber gar nicht erst zur Abstimmung oder wurden von den Deutschnationalen, der konservativen Volkspartei und dem katholischen Zentrum abgelehnt. Dennoch konnten die Linken zumindest kleine juristische Verbesserungen erreichen: Ab 1926 galt eine Abtreibung nicht mehr als »Verbrechen«, sondern nur noch als »Vergehen« und wurde fortan statt mit Zuchthaus »nur« noch mit einer Gefängnisstrafe belegt. 1927 wurde zudem die medizinische Indikation legalisiert: Wenn das Leben der Mutter durch den Embryo in Gefahr war, durfte fortan die Abtreibung durchgeführt werden. Doch die Kommunisten vertrauten nicht auf das Parlament. Sie waren der Meinung, dass Veränderungen durch die Frauenbewegung selbst erkämpft werden müssten. Das Parlament sei nur ein Sprachrohr, um deren Forderungen bekannter zu machen. Daher legte die Partei ihren Schwerpunkt auf den Aufbau einer außerparlamentarischen Massenbewegung. Sie veröffentlichte Broschüren und Artikel

in ihren Zeitschriften, organisierte Kundgebungen und Veranstaltungen. Filme, Ausstellungen, Bücher und Theaterstücke, die sich gegen den §218 stellten, erzielten ein großes Publikum. 1929 erschien das Theaterstück »Cyankali« des Arztes und Schriftstellers Friedrich Wolf. Es leitete eine ausgiebige gesellschaftliche Diskussion über den Abtreibungsparagraphen ein und wurde republikweit von 800 Schauspielgruppen aufgeführt. Das Stück beschreibt die Konflikte einer jungen Arbeiterin um ihre Schwangerschaft und endet mit ihrem Tod durch eine Überdosis Zyankali. In ihrer Verzweiflung hatte die junge Frau versucht, mit Hilfe des Gifts die Schwangerschaft selbst zu beenden. Wolf, der Mitglied der KPD war, hielt in Stuttgart an der marxistischen Arbeiterschule Kurse über Sexualhygiene. Gemeinsam mit seiner Genossin und Kollegin Else Kienle wurde er 1931 der »gewerbsmäßigen Abtreibung« beschuldigt und verhaftet. Landauf, landab fanden Anfang der 1930er Jahre über 1000 von der KPD organisierte Versammlungen gegen den §218 statt. Allein in Berlin kamen bei diesen Versammlungen bis zu 15.000 Menschen zusammen. Auch in Stuttgart war das Interesse groß, wie Wolf berichtete: »Solch eine Volksbewegung hat Stuttgart noch nicht erlebt: Vier Versammlungen waren angesetzt in den größten Sälen; eine halbe Stunde vor Beginn waren alle so überfüllt, dass sie polizeilich geschlossen werden mussten, und wir noch zwei Säle nahmen.« www.marx21.de | Februar/März 2010 | Nr. 14

Die Künstlerin Käthe Kollwitz unterstützte die Kampagne der Kommunisten mit diesem Plakat

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In ihrem Kampf gegen den §218 stützte sich die KPD auf Positionen, die schon von der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts entwickelt worden waren. Vor allem Friedrich Engels, die spätere KPD-Politikerin Clara Zetkin und August Bebel, Vorsitzender der SPD von 1892 bis 1913, lieferten hier wichtige Beiträge. Bebel setzte sich schon in den 1870er Jahren für die Gleichberechtigung der Frauen ein und veröffentlichte 1879 das Buch »Die Frau und der Sozialismus«. Es erschien in über 50 Auflagen und war damit eines der einflussreichsten und meist verkauften Werke der deutschen Arbeiterbewegung. Der Kampf gegen Frauenunterdrückung war für Bebel zentral: »Es gibt keine Befreiung der Menschheit ohne die soziale Unabhängigkeit und die Gleichstellung der Geschlechter.« Er forderte die Vergesellschaftung der privaten Haushalte und der Kindererziehung, um die Doppelbelastung der Frauen aufzuheben. Zudem sprach er sich gegen die Tabuisierung von Sexualität aus. So unterstützte er auch die Kampagnen der Bewegung gegen den §175, der homosexuelle Handlungen unter Strafe stellte. Bebel hielt es für »notwendig, die Frauenfrage speziell zu behandeln« – gerade auch, um Vorurteile über die fälschlicherweise als natürlich angesehene untergeordnete Stellung der Frau zu widerlegen. An diesem Punkt knüpfte auch die Arbeit von Friedrich Engels zum »Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates« von 1884 an. Engels beschrieb dort Frauenunterdrückung als ein Produkt entstehender Klassengesellschaften in der Frühgeschichte. Diese Periode bezeichnete er als »weltgeschichtliche Niederlage des weiblichen Geschlechts«. Zu dieser Zeit seien Frauen, aber auch die Mehrheit der Männer, von den entstehenden Reichtümern der Gesellschaft abgeschnitten worden.

Die Unterdrückung der Frauen setze sich in allen Klassengesellschaften fort. Im Kapitalismus nehme sie aber eine besondere Form an: Zum einen könne die Frau als Arbeiterin durch ihre untergeordnete gesellschaftliche Stellung und ihrem daraus resultierenden geringeren Selbstbewusstsein mit niedrigeren Löhnen abgespeist werden. Das wiederum wirke sich auch negativ auf das Lohnniveau der männlichen Arbeiter aus. Zum anderen profitiere die kapitalistische Gesellschaft von den vermeintlich »natürlichen« Aufgaben der Frau in der Familie: Hausarbeit und Kinderbetreuung. Durch diese privatisierte Reproduktion (Wiederherstellung) gegenwärtiger und zukünftiger Arbeitskräfte spare die Kapitalistenklasse viel Geld ein. Eine grundlegende Befreiung der Frauen sei daher, so Engels, nur durch ein Ende der Klassengesellschaften möglich. Für Zetkin, Bebel, Engels und viele ihrer Mitstreiterinnen und Mitstreiter war die Erwerbstätigkeit von Frauen Voraussetzung für deren Emanzipation. Der wichtigste Vorteil läge in der entstehenden Unabhängigkeit und der Möglichkeit, als Klasse gemeinsam gegen Ausbeutung und Unterdrückung vorzugehen. Die Frauenfrage sei auch eine Klassenfrage. Denn nicht alle Frauen in der Gesellschaft teilten das gleiche Los. Vielmehr sei die Welt der Frauen, genauso wie die der Männer, in zwei Klassen geteilt. Die russische Kommunistin Alexandra Kollontai beschrieb das wie folgt: »Die Interessen und Ziele der einen Gruppe lassen sie der bürgerlichen Klasse angehören, während die andere dem Proletariat angehört, und ihre Forderung nach Befreiung ermöglichen eine vollständige Lösung der Frauenunterdrückung.« »Obwohl«, so Kollontai weiter, »beide Lager dem Slogan nach ›Frauenbefreiung‹ folgen, sind Ziele

»Verhütung ist besser als Abtreibung«: Saalkundgebung der KPD gegen den §218 in Stuttgart

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und Interessen beider unterschiedlich.« So kritisierte sie die bürgerliche Frauenbewegung: »Wie radikal die Forderungen der Feministinnen auch immer sein werden, man darf nicht vergessen, dass die Feministinnen, wegen ihrer Klassenposition, für die grundlegende Transformation der Gesellschaft, ohne die die Befreiung der Frau nicht möglich ist, nicht kämpfen werden.« Deutlich wurden diese unterschiedlichen Klasseninteressen beispielsweise bei der Forderung der bürgerlichen Frauen nach einem »Damenwahlrecht«. Dieses hätte nur für Frauen mit Besitz gegolten. Für die Arbeitsbedingungen ihrer weiblichen Hausangestellten, die im 19. Jahrhundert einen großen Teil der Arbeiterklasse ausmachten, interessierten sich bürgerliche Feministinnen nicht. Die beschriebenen Ansichten zur Befreiung der Frauen waren innerhalb der Arbeiterbewegung nicht immer unumstritten. Clara Zetkin musste beispielsweise immer wieder mit ihren Verbündeten dafür streiten. So argumentierte sie in den 1920er Jahren in dem Artikel »Warum brauchen wir Kommunisten eine Frauenbewegung?«, weshalb besondere Bemühungen um die politische und gewerkschaftliche Organisierung von Frauen notwendig seien: »Ihrem Erwachen zu Klassenbewusstsein und menschlichem Selbstbewusstsein stellen sich besondere und sehr große Hemmungen entgegen. Diese Umstände lassen es als notwendig erscheinen, besondere Wege zu gehen, um die Frauen zu erfassen, besondere Mittel anzuwenden, um sie aufzuklären, zu sammeln und zu schulen, kurz, sie aufzusuchen, um sie hineinzureißen in die allgemeine proletarische Emanzipationsbewegung.« Um dies zu erreichen, organisierte Zetkin – schon in ihrer Zeit als SPD-Mitglied vor dem Krieg – vor Parteitagen und internationalen Delegiertenzusammenkünften gesonderte Treffen der sozialistischen Frauen. Bei einer dieser Konferenzen entstand die Initiative für den Internationalen Frauentag am 8. März. Trotz aller Bemühungen und Erfolge: Die Bewegung gegen den §218 in der Weimarer Republik konnte leider nicht erfolgreich zu Ende geführt werden. Durch die Machtübernahme Hitlers wurde sie jäh beendet. Die Aktivistinnen und Aktivisten der Bewegung wurden von den Nazis verhaftet, in Konzentrationslager gebracht und zu Tausenden ermordet. Andere, wie Else Kienle und Friedrich Wolf, konnten zumindest fliehen. Die Tradition aber, die sie begründet haben, ließ sich nicht zerschlagen. Teile der neuen Frauenbewegung in den 1970er Jahren griffen sie wieder auf. Und auch heute kann sie noch hilfreich dabei sein, den Kampf für volle Gleichberechtigung von Frauen zu führen.

8Russland 1917

Ein leuchtendes Beispiel

E

inen Meilenstein auf dem Weg zur Frauenbefreiung stellte die Oktoberrevolution 1917 in Russland dar. Erstmalig in der Geschichte machte es sich eine Regierung zur Aufgabe, die Gleichstellung der Frau ökonomisch, politisch und sexuell zu verwirklichen. Direkt nach der Revolution erließ die neue Sowjetregierung Verordnungen, mit denen die gleiche Bezahlung für Frauen geregelt wurde. Der Achtstundentag wurde gesetzlich festgeschrieben. Frauen wurden ermuntert, arbeiten zu gehen und am gesellschaftlichen Leben gleichberechtigt teilzunehmen. Nur so konnten sie in wirtschaftlicher Unabhängigkeit von Mann und Familie leben. Arbeitsschutzgesetze für schwangere Frauen und ein Mutterschutzgesetz wurden eingeführt, die juristische Benachteiligung von Frauen beendet, Scheidungen ermöglicht. Geschiedene Frauen erhielten Unterstützungszahlungen vom Staat, bis sie Arbeit und Betreuung für ihre Kinder gefunden hatten. Homosexualität wurde legalisiert. Verhütungsmittel waren frei und kostenlos erhältlich, Schwangerschaftsabbrüche wurden erlaubt und konnten ebenfalls kostenlos durchgeführt werden. Aber auch wenn die Frau juristisch und ökonomisch gleichberechtigt war, hatte sie immer noch die Belastung der Hausarbeit in der Familie zu tragen. Daher mussten die materiellen Voraussetzungen geschaffen werden, um die Reproduktion gesellschaftlich zu regeln. Lenin beschrieb in den Tagen der Revolution diese Notwendigkeit: »Aber je mehr wir den Boden vom Schutt der alten bürgerlichen Gesellschaft gesäubert haben, um so klarer ist es für uns geworden, dass dies nur die Ebnung des Bodens für den Bau, aber noch nicht der Bau selber ist. Die Frau bleibt nach wie vor Haussklavin, trotz aller Befreiungsgesetze, denn sie wird unterdrückt, erstickt, abgestumpft, erniedrigt von der Kleinarbeit der Hauswirtschaft.« Die wirkliche Befreiung der Frau, so Lenin weiter, »wird erst dort beginnen, wo und wann der Massenkampf gegen diese Kleinarbeit der Hauswirtschaft oder, richtiger, ihre massenhafte Umgestaltung zur sozialistischen Großwirtschaft beginnt.« Die neue Sowjetregierung entwickelte Institutionen, die Frauen von der Last der Hausarbeit befreien sollten: Kommunale Restaurants, Wäschereien, Kinderkrippen und Kindergärten. 1919 und 1920 wurden fast 90 Prozent der Bevölkerung von Petersburg und 60 Prozent der Einwohner Moskaus durch öffentliche Volkskantinen versorgt. Für Kinder und Jugendliche war das Mittagessen kostenlos. Auch das Wohnen veränderte sich, wie die Volkskommissarin für soziale Fürsorge, Alexandra Kollontai, 1923 berichtete: »Kollektive Wohnkommunen, Familienheime und besonders auch die Wohnungen für allein stehende Frauen sind bei uns weit verbreitet. (...) Die notwendigen Reinigungsarbeiten werden von bezahlten Putzkräften erledigt und in einigen Wohnkommunen gibt es eine zentrale Wäscherei, eine Kinderkrippe und einen Kindergarten.« Mit dem Aufstieg des Stalinismus ab Mitte der 1920er Jahren wurden viele Errungenschaften der Revolution wieder rückgängig gemacht – teilweise sogar in ihr Gegenteil verkehrt. Die Hausarbeit wurde wieder in die Verantwortung der einzelnen Familien übergeben. Später führte Stalin sogar einen Orden zum Lobe der Mutterschaft ein. Dennoch bleibt Russland in den ersten Jahren nach 1917 ein leuchtendes Beispiel dafür, wie Frauenbefreiung aussehen könnte. www.marx21.de | Februar/März 2010 | Nr. 14

★ ★★ Weiterlesen Alexandra Kollontai: Die Situation der Frau in der gesellschaftlichen Entwicklung. 14 Vorlesungen vor Arbeiterinnen und Bäuerinnen an der Sverdlov-Universität 1921 (Verlag Neue Kritik 1975). Else Kienle: Frauen. Aus dem Tagebuch einer Ärztin (Kiepenheuer 1932).

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»Wir ziehen das Ding jetzt durch« Es war einer der erfolgreichsten Streiks des letzten Jahres: Gebäudereiniger, mehrheitlich Frauen, wehrten sich erfolgreich gegen Lohndumping. Stefan Bornost hat sich mit einer Beteiligten getroffen

* Natascha Storeks richtiger Name ist der Redaktion bekannt. Da sie Repressionen durch den Arbeitgeber befürchtet, möchte sie ihn nicht veröffentlicht sehen.

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Stefan Bornost ist leitender Redakteur von marx21.

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den bundesweiten Tarifgespräche hatten in sechs Verhandlungsrunden kein Ergebnis gebracht. Und mit dem im September ausgelaufenen Tarifvertrag endete auch die gesetzliche Regelung zum Mindestlohn. Unternehmen im ganzen Land waren beim Abschluss neuer Arbeitsverträge nun nicht mehr daran gebunden – und verschickten, ähnlich wie die GRG, reihenweise Briefe, in denen sie die Lohnkürzungen ankündigten. Mit gewerkschaftlichem Wi-

verdi.jugend/Picasa

E

s hat mit einem schmucklosen Rundschreiben der GRG begonnen, der Großberliner Reinigungsgesellschaft. Eine der Empfängerinnen war Natascha Storek*, 49 Jahre, Gebäudereinigerin in Berlin: »Die Gewerkschaft hatte uns schon gesagt, dass die Verhandlungen nicht vorangehen. Und dann kam das Rundschreiben, dass die Löhne gesenkt werden sollen auf 5,71 Euro im Westen und 4,61 Euro im Osten.« Über die Reaktion der meisten GRG-Beschäftigten berichtet Natascha: »Das lassen wir uns auf keinen Fall gefallen.« Fortan beteiligte sie sich an den Vorbereitungen eines bundesweiten Streiks von Gebäudereinigern, der im Oktober beginnen sollte. Einer ihrer Slogans war »Wir wollen besser behandelt werden als der Dreck, den wir wegmachen« – das traf die Stimmung voll, erzählt Natascha: »Wir können ja so kaum von den Löhnen leben. Jeder, der dieses Schriftstück in der Hand und gelesen hatte, war sich sicher, dass er für 5,71 Euro nicht arbeiten geht. Wir müssen jetzt schon soviel Schweiß lassen, wir schaffen kaum das Pensum, das uns vorgegeben wird. Das ist schon Akkord, wie wir arbeiten müssen. Dabei muss der Standard stimmen – du hast ein Leistungsverzeichnis, nach dem du arbeiten und das du in einer gewissen Zeit bringen musst.« Fast eine Million Gebäudereiniger arbeiten in Deutschland – die überwiegende Mehrzahl davon Frauen. Laut Schätzungen sind bis zu 80 Prozent geringfügig beschäftigt und verfügen über keinen Kündigungsschutz. Insgesamt müssen 7,8 Millionen Menschen in Deutschland im Niedriglohnsektor arbeiten. Natascha kennt die damit verbundenen Folgen aus ihrem persönlichen Umfeld: »Viele der Kollegen haben Hartz IV oder ergänzende Sozialhilfe beantragt, damit sie überleben können – und das bei 8,15 Euro Lohn. Da kann man sich doch vorstellen, was los ist, wenn die Löhne auf 5,71 Euro fallen. Und das wäre ohne Streik auch passiert – wenn eine Firma runtergeht, dann ziehen die anderen doch mit.« Die IG BAU hatte sich auf die Auseinandersetzung monatelang vorbereitet – die seit Januar 2009 laufen-

Demonstration der Gebäudereinigerinnen in Duisburg im Oktober 2009. Für viele war es der erste Streik


»Die Solidarität half, dem großen Druck der Arbeitgeber zu widerstehen« einbussen des Mannes auf ihr Einkommen angewiesen ist: »Du musstest die Frauen schon motivieren und sagen: ›Komm, wir ziehen das Ding jetzt durch.‹ Viele haben sich auch erst mit ihren Männern abgesprochen. Die haben dann ihre Frauen motiviert, mitzumachen«. Während des Streiks hat es eine breite Solidarisierung mit den Gebäudereinigern gegeben. Es sind zahlreiche Soli-Erklärungen abgegeben worden wie diese: »Die Studierenden der Universität Konstanz erklären sich mit den Aktivitäten und Streiks der IG BAU solidarisch. Der Streik gegen Ausbeutung und prekäre Beschäftigung ist schon lange nötig. Die GebäudereinigerInnen können auf unsere Unterstützung zählen. Wir fordern die Leitung der Universität auf, nur noch Unternehmen zu beschäftigen die tarifgebunden sind und somit das bewährte Tarifsystem respektieren und sichern.« In Berlin sammelten allein die Kolleginnen und Kollegen der Berliner Stadtreinigung über 2000

verdi.jugend/Picasa

derstand hatten die Arbeitgeber wohl nicht gerechnet. Denn der gewerkschaftliche Organisationsgrad in der Branche war bis dahin mit knapp 10 Prozent sehr gering. Doch die wenigen IG-BAU-Mitglieder haben gezeigt, was mit Entschlossenheit und Kampfgeist zu erreichen ist: »Die Vorbereitung hat überwiegend die Gewerkschaft gemacht. Die haben sich die Punkte gesetzt, wo sie anfangen und wo sie mehr Leute aktivieren wollen. Damit das überhaupt Wirkung zeigt. Dann haben wir die Kolleginnen und Kollegen morgens angerufen und gesagt ›Passt auf, wir holen euch in 10 bis 15 Minuten ab – wir streiken jetzt, wir ziehen euch aus den Objekten raus‹. Und sie haben auch mitgemacht«, berichtet Natascha. Die Initiative einzelner kann einen großen Unterschied machen. Natascha sagt, dass sie der »Leithammel« gewesen ist – und meint das nur halb scherzhaft. »Ich habe die Kollegen reingezogen, aufgeklärt und gesagt ›Hört mal zu, ihr wollt für dieses Geld nicht arbeiten – dann müsst ihr auch was tun. Dann müsst ihr auch mit mir zusammen auf die Straße‹.« Für die meisten Beteiligten war dies der erste Streik – entsprechend groß auch die Verunsicherung. Viele Kolleginnen, gerade langjährige, hatten Angst, den Job zu verlieren, weil sie Alleinverdiener sind oder die Familie aufgrund von Arbeitslosigkeit und Lohn-

Migranten stellen in vielen Firmen die Mehrheit der Arbeitskräfte. Sie wurden von der IG BAU durch mehrsprachige Infoblätter einbezogen Unterstützerunterschriften – die Stimmung der Sympathisierenden traf sich mit der Stimmung der Streikenden: »Alle waren sich einig, alle haben an einem Strang gezogen. Die Unterhaltungen, das ganze Klima war sehr gut. Wir wurden mit Essen versorgt, Frühstück und allem, und es kamen reichlich Spenden rein.« Die Solidarität half, dem großen Druck der Arbeitgeber zu widerstehen. Schon im Vorfeld verbreitete der Bundesinnungsverbands des Gebäudereinigerhandwerks ein internes Papier, das der Redaktion der Zeitschrift Critica vorliegt. In diesem wurden detaillierte Strategien zur Streikzerschlagung vorgeschlagen. Zu den »taktischen Maßnahmen« gehöre unter anderem die »Androhung fristloser Entlassung gegenüber Rädelsführern«. Zudem sei in dem Papier empfohlen worden, »Streikende möglichst aus dem Betrieb bzw. Objekt (zu) entfernen, um die Bildung von Solidarität zu verhindern und Arbeitswilligen das Arbeiten zu ermöglichen.« Doch der Widerstand der Gebäudereiniger war stärker. Ihr Streik endete nach acht Tagen mit einem Erfolg: Insgesamt 6,3 Prozent mehr Lohn im Osten und 4,9 Prozent mehr im Westen bei einer Laufzeit des Tarifvertrages von zwei Jahren. Damit sind die Bruttolöhne im Osten um 42 Cent und im Westen um 40 Cent pro Stunde gestiegen. Außerdem erkämpften Natascha und ihre Kolleginnen und Kollegen den Einstieg in die betriebliche Altersvorsorge. Zu guter Letzt sind im Zuge des Streiks 3000 Reinigungskräfte in die Gewerkschaft eingetreten, so dass die nächsten Aktionen von einem höheren Organisationsgrad aus in Angriff genommen werden können. Die Arbeitgeber hatten sich offensichtlich verrechnet, wie Natascha mit Genugtuung feststellt: »Die haben die Leute richtiggehend in den Kampf getrieben, weil sie den Bogen überspannt haben. Herr Schwarz von der GRG, bei der ich arbeite, meinte, seine Leute würden nie streiken. Da kann man mal sehen, wie wenig der Mann darüber weiß, was in seiner Firma abgeht.« www.marx21.de | Februar/März 2010 | Nr. 14

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Rosa Luxemburg Workshop in Düsseldorf: Würde sich igen? mit: an einer rot-roten Regierung beteil

2010 bringt neue Herausforderungen für die Linke. Milliarden wurden für die »Rettung« der Banken ausgegeben – jetzt präsentiert uns die Regierung die Rechnung. Im Fadenkreuz: Bildung, Gesundheit und der Öffentliche Dienst. Die Mehrheit lehnt den Krieg in Afghanistan ab – trotzdem schickt die Regierung mehr Solda-

WOLFGANG ZIMMERMANN estfalen] [Landessprecher DIE LINKE Nordrhein-W in Uhr) 19 (17 ium Das Abendpod

DORF DÜSSELNK NECHT SAHRA WAGE MICHAEL BRUNS JURI HÄLKER [Mitglied des Bundesausschusses DIE

LINKE]

Das Abendpodium in

PROGRAMM 11.30 Uhr bis 13.00 Uhr

Lässt sich der Kapitalismus durch eine vernünftige Wirtschaftspolitik bändigen? Die Krisentheorie von Karl Marx. 14.00 Uhr bis 15.30 Uhr

Würde sich Rosa Luxemburg an einer rot-roten Regierung beteiligen? 16.00 Uhr bis 17.30 Uhr

Minarett-Verbot, Kopftuchdebatte: Wie soll die Linke reagieren? 18.00 Uhr bis 18.45 Uhr

Was will das marx21Netzwerk?

19.00 Uhr bis 20.30 Uhr Abendpodium

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LINKE]

[Dozent Universität Duisburg-Essen] Uhr) SONNTAG, 14. März 2010 (ab 10.00 | U 74 / U 77 Oberbilker Markt ZAKK | Fichtenstraße 40 | Düsseldorf

ten. Zugleich stricken rechte Politiker und Presse am »Feindbild Islam« zur Rechtfertigung des global geführten »Krieges gegen den Terror«. Wie kann sie ihr ReformproIn der LINKEN wird heiß debattiert: tner der SPD oder als Mogramm umsetzen? Als Regierungspar osition? Geht beides zutor der außerparlamentarischen Opp hjahrkonferenzen 2010 wolgleich? Auf den »marx is muss«-Frü n. Komm vorbei, diskutielen wir über diese Fragen diskutierere re mit, stelle Fragen und finde mit anderen gemeinsam Antworten.

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Alternativen zum Kapitalismus: Welches gramm braucht Nr. 14 | Februar/März 2010Pro | www.marx21.de DIE LINKE?

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ICH LESE MARX21 ...

Vor einem Jahr haben wir uns das Ziel gesetzt, neue Abonnenten für marx21 zu gewinnen und ihre Gesamtzahl auf 1000 zu erhöhen. Das haben wir noch nicht geschafft. Dennoch sind zahlreiche regelmäßige Leserinnen und Leser in den vergangenen zwölf Monaten neu hinzu gekommen. Wir bedanken uns an dieser Stelle herzlich bei allen, die das Magazin unterstützen. Können wir die 1000 Abos mithilfe der Leserinnen und Leser bis Ende 2010 erreichen? Wir meinen, ja. Abonnentinnen und Abonnenten von marx21 erwartet ein spannendes Jahr. Mit Analysen, Interviews, Berichten, Hintergrund und Meinung wollen wir die komWerde menden politischen Auseinmarx21andersetzungen begleiten. Verkäufer Dafür brauchen wir Dich. vor Ort. Große Zeitschriftenverlage sind durch das Anzeigengeschäft abhängig von Konzernen. marx21 ist anders: Wir bekommen kein Geld von der Wirtschaft. Aber auch dieses Magazin kostet Geld: Druck, Vertrieb und Telefon sind beispielsweise nicht kostenlos. Deshalb hilft jedes Abo, die Zukunft von marx21 zu sichern und die notwendigen Ressourcen für die weitere Verbesserung des Magazins zu schaffen.

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PREVIEW: DAS KOMMT 2010

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Liebe Leserinnen und Leser,

Die Bundesregierung hat das Gesundheitssystem im Fadenkreuz – Grund für uns, einen Schwerpunkt zu diesem Thema zu machen. Gibt es wirklich eine Kostenexplosion im Gesundheitswesen? Was sind Alternativen zur schwarz-gelben Politik? Ist die Bürgerversicherung eine zeitgemäße Antwort? Wie kann sie durchgesetzt werden? All diesen Fragen möchten wir in denn kommenden zwölf Monaten nachgehen. DIE LINKE wird in diesem Jahr ihr Programm diskutieren, marx21 will sich daran beteiligen. Strittige Themen sollen als »Pro und Contra«-Debatte aufgearbeitet werden – vom bedingungslosen Grundeinkommen über die Frage, ob sich linke Politik auf Klasseninteressen und –kämpfe beziehen soll, bis hin zum Verhältnis zwischen außerparlamentarischer und parlamentarischer Arbeit der LINKEN. Weil wir verstehen wollen, wie der Kapitalismus funktioniert, wie seine ökonomischen Gesetze wirken und wo die Grenzen des kapitalistischen Systems liegen, wird ab der kommenden Ausgabe die Serie »Marx neu entdecken« von Elmar Altvater weiterlaufen. Außerdem planen wir Themenschwerpunkte zu »Wie rot ist grün? Klima, Umweltschutz und Marxismus« und »Gewerkschaftliche Strategien unter den Bedingungen der Krise – Was tun gegen Leiharbeit?« Der Kulturteil des Magazins soll weiter ausgebaut werden. In dieser Ausgabe bringen wir bereits vier Seiten über Agitprop-Theater in der Weimarer Republik. Die »Geschichte hinter dem Song«, die von unseren Lesern sehr positiv aufgenommen wurde, werden wir fortsetzen. www.marx21.de | Februar/März 2010 | Nr. 14

»...weil das Magazin konsequent antikapitalistisch ausgerichtet ist, verblasste Kardinaltugenden der Linken reanimiert und konsequent Partei nimmt für die Entrechteten und Ausgebeuteten. Eine herzerfrischende Antithese zur schleichenden Neoliberalisierung und Verkulturindustrialisierung linker Medien.«

Susann Wit t-Stahl, Hamburg

»...weil das Magazin politische Radikalität nicht als Konsumartikel anbietet. Weil es keine letzten Wahrheiten verkünden will, sondern analysiert, zur Diskussion anregt. Und weil es auf gesellschaftliches Handeln gerichtet ist, auf Theorie der Praxis, Praxis der Theorie.«

Arno Klönne, Paderborn

»...Marx nie so aktuell war wie heute. Ich freue mich, dass sich die Artikel auf die gegenwärtigen Kämpfe beziehen. Ich lese marx21, weil die Texte auf einer kritischen marxistischen Analyse beruhen, die ich benötige, um am Infostand die Weltwirtschaftskrise zu erklären und mit Parteimitgliedern Bildungseinheiten vorzubereiten. Ich wünsche mir von marx21 eine spezielle Frauenseite«

Heidrun Dit trich, Hannover

Abo-Kampagne

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Neues aus der

Nazigegner wehren sich gegen Verfolgung Plakate wurden beschlagnahmt, Antifaschisten festgenommen. Mitglieder der LINKEN ließen sich nicht einschüchtern und riefen weiter zur Blockade des Naziaufmarsches am 13. Februar in Dresden auf

A

us Protest gegen die Kriminalisierung antifaschistischen Widerstandes rief der Studierendenverband Die Linke.SDS öffentlich dazu auf, am Abend des 20. Januar demonstrativ die verbotenen Plakate des Bündnisses »Dresden Nazifrei« in Berlin zu verkleben. An der Aktion beteiligten sich neben rund 25 Aktivistinnen und Aktivisten von Die Linke.SDS und linksjugend. ['solid] auch verschiedene Bundestagsabgeordnete der LINKEN, darunter Karin Binder, Heidrun Dietrich, Nicole Gohlke und Dorotheé Menzner. Der von Dorotheé Menzner begleitete Plakatiertrupp wurde von der Polizei gestoppt und vier Jugendliche, alle unter 18 Jahren, zur Personalienfeststellung auf die Polizeiwache gebracht. Ihnen wie auch Menzner, gegen die ebenfalls Anzeige erstattet wurde, wird ein Aufruf zu Straftaten vorgeworfen.

Naziaufmarsch am 13. Februar mit allen Dazu erklärt Florian Wilde, GeschäftsfühMitteln des zivilen Ungehorsams zu verrer von Die Linke.SDS: »Weder der Aufruf hindern.« Am 19. Januar waren in Dresden für gewaltfreie Sitzblockaden noch die und Berlin verschiedene Objekte von der Durchführung von gewaltfreien SitzblocPolizei durchsucht und dabei Plakate des kaden sind strafbar. Der Aufruf ist vielmehr Bündnisses »Dresden Nazifrei« beschlagvom Grundrecht auf Meinungsfreiheit umnahmt worden. fasst und die Durchführung von Sitzblockaden genießt den Schutz der Versammlungsfreiheit. Offensichtlich handelt es sich hier um eine politisch motivierte Repression gegen linke, demokratische und antifaschistische Aktivitäten. Wir werden uns aber weder von der Polizei, noch von der Staatsanwaltschaft davon abhalten lassen, weiter die verbotenen Die Rubrik »Neues aus der LINKEN« lebt von der Mitarbeit der Plakate zu verkleben, zu marx21-Leser. Die Redaktion kann nicht überall sein – aber Blockaden aufzurufen und das Magazin und seine Leser schon. Auf dieser Dopalles daran zu setzen, den pelseite wollen wir über interessante Aktionen und Kampagnen der LINKEN berichten sowie spannende Termine ankündigen. Wenn ihr etwas beizutragen habt, schickt eine E-Mail an redaktion@marx21.de. Die Redaktion behält sich das Recht auf Auswahl und Kürzung vor.

Schick uns Neues aus der LINKEN

Boris Niehaus/Kreuzberg-Foto

Gedenken an Kriegsgegner

Mehrere zehntausend Menschen gedachten am 10. Januar in Berlin der 1918 ermordeten Kriegsgegner und Sozialisten Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Tausende beteiligten sich zuvor an einer Demonstration

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Neues Aus der Linken

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News Hamburg – eine Stadt für alle

Gerald Reichert

Gemeinsam mit Betriebsratsmitgliedern, DGB und KDA protestierte DIE LINKE in Hamburg-Harburg gegen die Ausweitung der Ladenöffnungszeiten

LINKE rechnet mit Verkaufsmarathon ab

SDS für weitere Bildungsproteste

Sie sagt »Nein« zu verlängerten Ladenöffnungszeiten und verkaufsoffenen Sonntagen. Aus Hamburg berichtet Gerald Reichert

D

In Hamburg ist in den vergangenen Monaten eine Diskussion über steigende Mieten und die Verdrängung der Bewohner der innerstädtischen Viertel in Gang gekommen. In der Auseinandersetzung um den Bau eines IKEA-Möbelhauses in Altona-Altstadt beispielsweise haben Partei und Bezirksfraktion im Bündnis mit anderen 70.000 Flyer an die Haushalte im Bezirk verteilt und 700 Plakate geklebt. Auch wenn das Bürgerbegehren eine Mehrheit für den Bau ergab, ist es der LINKEN gelungen, die Themen soziale Spaltung sowie demokratische Beteiligung und damit die Vision eines »Hamburg für alle« in die öffentliche Debatte zu bringen.

IE LINKE im Hamburger Bezirk Harburg zeigte Flagge gegen die Angriffe der Arbeitgeber auf die Beschäftigten im Einzelhandel. Im November und Dezember hatte das Harburger »Phönix-Center«, ein großes Einkaufszentrum, jeden Freitag und jeden Samstag bis 22 Uhr geöffnet. Viele Beschäftigte mussten dann noch nach Feierabend Arbeiten erledigen und kamen zum Teil erst nach Mitternacht nach Hause. Als am 28. November ein »Late Night Shopping« zu einer Verlängerung der Öffnungszeit sogar bis 24 Uhr sorgte, stellten sich Betriebsratsmitglieder, der DGB und der KDA (Kirchlicher Dienst in der Arbeitswelt) aus Protest mit InfoTischen, Flugblättern, Kerzen und einem Transparent vor die Eingänge des Phönix-Centers. DIE LINKE.Harburg unterstützte die Aktion tatkräftig und war mit mehr als zehn Genossinnen und Genossen zur Stelle. Es gab interessante Diskussionen mit den Kolleginnen und Kollegen vom Verkaufspersonal und mit denen, die kamen, um einzukaufen. Die Tage zuvor nutzte der auch an der Aktion beteiligte Klaus Lübberstedt, Abgeordneter für DIE LINKE in der Harburger Bezirksversammlung, sein Mandat, um diesen Konflikt in der Arbeits- und Lebenswelt in das Kommunalparlament und in die Presse zu tragen. DIE LINKE.Harburg ist der Meinung, dass die verlängerten Öffnungszeiten vollständig zu Lasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gehen: Ihre Familien haben das Nachsehen, ihre sozialen Beziehungen leiden und ihre Gesundheit nimmt Schaden. Auf dem Rücken der Kolleginnen und Kollegen wollen die Bosse der großen Einkaufszentren den kleineren Läden in der Nachbarschaft etwas von deren Umsatz wegnehmen. Insgesamt kann der Umsatz aller Geschäfte aber nur dann wachsen, wenn die Arbeitnehmer, von denen im wesentlichen der Konsum auf dem Binnenmarkt kommt, wieder steigende Löhne haben. Am 30. April soll es das nächste »Late Night Shopping« bis 24 Uhr geben. DIE LINKE in Harburg beginnt schon, sich auf diesen Termin vorzubereiten.

Die von Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) für dieses Jahr verkündete Erhöhung des BAföG und der Freibeträge wird vom Studierendenverband Die Linke.SDS als völlig unzureichend kritisiert. Geschäftsführer Florian Wilde erklärte: »Die Erhöhung um zwei Prozent ist als ein Zugeständnis an die massiven Bildungsproteste des vergangenen Jahres zu bewerten und belegt, dass die Politik in Bildungsfragen unter starkem Druck steht.« Der SDS werde sich weiter für »substanzielle Verbesserungen wie eine Erhöhung des BAföG um 10 Prozent, die Abschaffung aller Studiengebühren und die Abschaffung von Bachelor und Master in der bestehenden Form« einsetzen.

Gegen Flughafenausbau in Frankfurt DIE LINKE.Hessen demonstrierte Ende Dezember zusammen mit Bürgerinitiativen und Umweltverbänden vor dem Landtag in Wiesbaden für ein uneingeschränktes Nachtflugverbot am Frankfurter Flughafen. Die Demonstranten verlangten zudem einen Baustopp für die neue Landebahn Nordwest. »Die hessische Landesregierung will mit ihrem Ruf nach Rechtssicherheit nur ihren kaltschnäuzigen Wortbruch verschleiern,« sagte die Fraktionsvorsitzende Janine Wissler. »Im Rahmen der Mediation zum Bau der Landebahn Nordwest versicherten sowohl Ministerpräsident Roland Koch (CDU) als auch Justizminister Hahn und Verkehrsminister Posch, beide FDP, immer wieder, es werde keinen Ausbau ohne Nachtflugverbot geben. Dies war gelogen.«

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Neues Aus der Linken

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litteronly/Flickr.com

Blick nach Rechts Die NPD versucht, sich ein sauberes Image zu geben. Dieses zu zerstören und Hilfe im Kampf gegen die Nazipartei zu leisten, haben sich die Autoren von drei neuen Bücher vorgenommen. Jan Maas hat sie gelesen

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Jan Maas wurde 1992 durch die rassistischen Brandanschläge in seiner Heimatstadt Mölln politisiert und ist heute aktiv in der LINKEN.BerlinNeukölln. Er ist OnlineRedakteur von marx21.de.

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Bookwatch

m vergangenen Jahr wollte die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) den großen Durchbruch schaffen. Die derzeit führende deutsche Nazipartei plante, ihre bestehenden Landtagsfraktionen in Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern um eine dritte in Thüringen zu ergänzen und mit einer vierten im Saarland erstmals seit Langem wieder in ein westdeutsches Landesparlament einzuziehen. Dieses Szenario war der Anlass für das Erscheinen einer Reihe neuer Bücher, die den aktuellen Stand der Nazibewegung beschreiben und Gegenstrategien entwerfen.

aufklären: »Sie treten nach außen bieder auf, doch Menschen, die nicht in ihr eng abgestecktes Weltbild passen, überziehen sie mit Drohungen.« Auch im dritten 2009 erschienenen Anti-Nazi-Buch stehen die Nationaldemokraten im Zentrum: »In der NPD« verfolgt allerdings weniger den Anspruch der beiden erstgenannten Bücher, wirksame Gegenstrategien zu entwerfen. Den Autoren Christoph Ruf und Olaf Sundermeyer geht es vor allem darum, die NPD als knallharte Nazipartei zu zeigen, denn die Partei versucht, sich in der Öffentlichkeit als gemäßigt darzustellen..

Das »Buch gegen Nazis«, herausgegeben von Holger Kulick und Toralf Staud, ist ein gemeinsames Projekt der Wochenzeitung Die Zeit und der Bundeszentrale für politische Bildung (BPB). Es schließt an das Internetportal Netz-Gegen-Nazis.de an, das Die Zeit 2008 gemeinsam mit der Amadeu-AntonioStiftung ins Leben rief. Das Portal soll »möglichst viele Menschen zu Aktivitäten gegen Rechtsextremismus ermutigen«. Texte dieses Projektes werden nun zusammen mit Beiträgen der BPB in dem Buch veröffentlicht. Es trägt den Untertitel »Rechtsextremismus – was man wissen muss und wie man sich wehren kann«. Ähnlich gelagert ist das Werk »Angriff von Rechts. Die Strategien der Neonazis – und was man dagegen tun kann« von Patrick Gensing. Der Autor betreibt seit 2005 die Internetseite www.npd-blog.info, welche die Nazibewegung in Deutschland und Europa beobachtet. Gensing will über Nazistrategien

Den anvisierten großen Durchbruch hat die NPD 2009 zwar nicht geschafft, aber die Gefahr, die von ihr ausgeht, besteht weiterhin. In Sachsen ist der Partei erstmals der Wiedereinzug in einen Landtag gelungen. Auch wenn sie Verluste hinnehmen musste, zeigt sich, dass sie in diesem Bundesland eine feste Wählerschaft aufgebaut hat. Bei den verschiedenen Kommunalwahlen 2009 gewann die NPD über 100 Sitze hinzu. Sie verfügt nun über mehr als 300 Mandate, verteilt auf 14 von 16 Bundesländern. Ein Schwerpunkt liegt in Sachsen, wo die Partei 118 Abgeordnete stellt. Auch der Terror auf der Straße nimmt zu. Nach dem erfolgreichen Aufmarsch in der sächsischen Landeshauptstadt Dresden im Februar 2009 überfielen Teilnehmer der Nazidemonstration einen Bus mit Gewerkschaftern, die von der Gegendemonstration kamen. Auch wenn Sachsen offensichtlich eine herausragende Rolle für den Aufbau der Nazis spielt,

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Angesichts dieser Tatsachen ist eine Diskussion über die Gründe, warum die Nazis aufbauen und an Selbstbewusstsein gewinnen, absolut angesagt – ebenso über wirksame Gegenstrategien. Das »Buch gegen Nazis« kommt in seiner Form diesem Anspruch am nächsten. Es ist im Frage-und-AntwortStil wie ein praktisches Handbuch aufgebaut. Grundsätzliche Fragen wie »Was will die NPD eigentlich?« und »War unter Adolf alles schlecht?« werden von einem breiten Spektrum an Autoren kurz und prägnant beantwortet. Auf die Frage »Soll man mit der Antifa zusammenarbeiten?« antwortet überraschenderweise ausgerechnet der Generalstaatsanwalt von Brandenburg mit »Ja.« Kontroverse Themen wie die Frage nach einem Verbot der NPD werden mit einem Pro-und einem Contra-Beitrag beantwortet. Viel Platz nimmt der Abschnitt »Handeln« ein. Dort geben Aktivisten hilfreiche Antworten auf die Fragen »Wie organisiere ich ein Konzert gegen Rechtsextremismus?« und »Woher bekommt man Geld?«. Im Beitrag »Sind Sitzblockaden eigentlich strafbar?« argumentiert der Jenaer Oberbürgermeister Albrecht Schröter (SPD), dass es einen Ermessensspielraum für die Polizei gibt: »Wenn zum Ausdruck kommt, dass die Blockade eine friedliche Willensbekundung sogar von vielen Bürgern ist, dann wird ein kluger Einsatzleiter anerkennen, dass hier Bürgerwille zum Ausdruck kommt.« Im Anschluss erklärt Schröter, wie in Jena die Blockade eines Nazifestes mit so breiter Beteiligung organisiert wurde, dass die Polizei sich entschloss, die Blockade zu dulden. In seiner Antwort auf die Frage »Wieso bringen die vielen Projekte so wenig?« bringt der Fachbereichsleiter »Extremismus« der BPB Ulrich Dovermann das Wachstum der Nazis mit der weit verbreiteten Perspektivlosigkeit unter Jugendlichen und Arbeitslosen zusammen: »Wo Menschen permanent zwischen Krisen und Katastrophen hin- und hergeschleudert werden – real oder medial –, da liegt irgendwann die Entscheidung zwischen Resignation und Notwehr nahe. Rechtsextremisten sind nicht nur aus sich selbst heraus zu verstehen. Sie wachsen in sozialen Räumen und Bezügen auf und meist unter Bedingungen manifester Gewalt, die sie prägen und denen sie gegenüber (Über-)Lebensstrategien entwickeln.« Das ist zwar verquastes Soziologendeutsch, meint aber im Grunde nichts anderes, als dass der Kapitalismus Bedingungen schafft, unter denen Nazis gut aufbauen können. Leider bleiben die Schlussfolgerungen ähnlich abstrakt: »Solange sich alles Han-

deln auf eine Änderung der Menschen richtet, die Räume aber so bleiben, wie sie sind, wird sich im Ergebnis wenig ändern.« Sprich: Solange Kapitalismus Not schafft und Konkurrenz schürt, werden Nazis weiter Zulauf erhalten. Die Konsequenz daraus kann eigentlich nur sein, neben den Nazis auch den Kapitalismus zu bekämpfen. Aber das zu schreiben, wäre für ein Buch der staatlichen BPB dann wohl doch zu viel verlangt. Die staatstragende Haltung der BPB zeigt sich auch im ständigen Gebrauch des Wortes »Rechtsextremismus«, wenn es eigentlich um Nazis geht. Hintergrund ist der Versuch, linke und rechte Bewegungen gleichermaßen zur Gefahr für »die Demokratie« zu

»Den anvisierten großen Durchbruch hat die NPD 2009 zwar nicht geschafft, aber die Gefahr, die von ihr ausgeht, besteht weiterhin« erklären. Der parlamentarischen Demokratie stehen angeblich »Extremisten« gegenüber, die einen auf der linken und die anderen auf der rechten Seite. Dabei wird unterschlagen, dass es linken Bewegungen um die Ausweitung der Demokratie, beispielsweise in den Betrieben, geht, während die Nazis für die Abschaffung jeglicher Demokratie kämpfen. Der Extremismus-Begriff liefert keinerlei analytische Klarheit, sondern dient als Kampfbegriff, um linke Bewegungen zu diskreditieren. Dennoch ist das »Buch gegen Nazis« für eine Veröffentlichung, die unter Mitwirkung der BPB entstanden ist, erstaunlich brauchbar. Den Nährboden, auf dem die NPD gedeihen kann, zeigt Patrick Gensing in »Angriff von Rechts« deutlicher auf: »Die Kritik am Kapitalismus verbietet sich offenbar nach dem Zusammenbruch der DDR von selbst. Dies öffnet der NPD eine Flanke, da sie zunehmend auf ihren völkischen Antikapitalismus setzt. Dabei wäre es im Zuge der Finanzkrise und der ungerechten Verteilung der Reichtümer weltweit durchaus geboten, über Alternativen oder zumindest eine Weiterentwicklung der bestehenden Wirtschafts- und Finanzordnung nachzudenken.« Gensing verdeutlicht außerwww.marx21.de | Februar/März 2010 | Nr. 14

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ist ihr Terror nicht auf den Osten beschränkt. 2008 überfielen Nazischläger ein Sommercamp der linksjugend ['solid] im hessischen Schwalm-Eder-Kreis und verletzten ein Mädchen schwer. Am 1. Mai 2009 griffen hunderte Nazis die Gewerkschaftsdemonstration in Dortmund an.

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»Entscheidend ist nicht der Heldenmut Einzelner, sondern die Entschlossenheit Vieler«: marx21-Interview über die erfolgreichen Blockaden gegen die Nazis in Jena: www.tinyurl.com/ Interview-Jena

gehört das Kapitel über den »Rechtsextremismus als soziale Bewegung«. Hier wird deutlich, wie es den Nazis gelingt, mit einem breit angelegten Netzwerk ein Umfeld zu sammeln und an sich zu binden. Um die Nazistrukturen heute zu verstehen, so argumentiert Gensing, sei es wichtig, sich von dem Bild einer isolierten rechten »Szene« zu lösen. »Rechtsextremisten bemühen sich um Anschluss an die Mitte der Gesellschaft, agieren bundesweit – sogar international –, und es gibt diverse Organisationsformen: Parteien, Freie Kameradschaften, kriminelle Banden, Musikgruppen, mittelständische Unternehmen, einzelne Aktivisten.« Damit sind Gensing zufolge die Nazistrukturen heute besser als soziale Bewegung zu begreifen, die einen »kollektiver Akteur« darstellt und die ein gemeinsames Ziel verbindet. Bei aller Vielfalt der Organisationformen stellt die NPD dennoch die zentrale Kraft im Nazilager dar. Das arbeitet Gensing sehr gut heraus. Er beleuchtet auch die vielen Streitigkeiten innerhalb der Partei sowie zwischen der Partei und den so genannten »Freien Kräften«. Meistens gehen sie auf den Grundwiderspruch zurück, den die NPD aushalten muss: Einerseits anschlussfähig für die Mitte der Gesellschaft zu sein und anderseits den offen nationalsozialistisch gesonnenen Kadern Radikalität zu signalisieren. Gensing macht deutlich, dass es sich bei all diesen Streitigkeiten um taktische Differenzen handelt, nicht um grundsätzliche. Oder, um den NPD-Vorsitzenden Udo Voigt zu zitieren: »Das Reich ist unser Ziel und die NPD ist unser Weg.« Einzig bei den konkreten Strategien gegen die Nazis bliebt Gensings Buch schwach, vor allem im Vergleich zum »Buch gegen Nazis«. Seinem Anspruch, Hinweise zu liefern, »was man dagegen tun kann«, wird es nicht gerecht. Der Autor illustriert zwar sehr schön die Widersprüche der Nazibewegung, an denen Antifaschisten ansetzen könnten, aber er liefert kaum praktische Hilfestellungen dafür. Es wäre ein Leichtes gewesen, der sehr gut dargestellten Geschichte der NPD eine Geschichte der Gegenmobilisierungen gegenüberzustellen. Allein das wäre ein reicher Fundus an Erfahrungen gewesen: Mit den Protesten Ende der 1960er Jahre, »Rock gegen Rechts« Ende der 1970er und den erfolgreichen Blockaden wie in München 1997 oder Berlin 2005. Leider hat Gensing diese Chance nicht genutzt.

dem, wie die Mainstream-Medien und rechte Politiker indirekt das Wachstum der Nazis unterstützen: »Kampagnen gegen ›kriminelle Ausländer‹ – wie die von ›Bild-Zeitung‹ und Roland Koch im hessischen Wahlkampf 2007/2008 – spalten die Gesellschaft und ermutigen Rechtsextremisten, ihre völkische Ideologie offensiver zu verbreiten.« Darüber hinaus zeigt Gensing dankenswerter Weise, wen die rassistischen Kampagnen von CDU bis NPD im Moment vor allem treffen: »Das fehlende Selbstverständnis der Bundesrepublik als Einwanderungsland greifen die Neonazis durch Kampagnen gegen Moscheen auf.« Die Tatsache, dass Rassismus sich heute vor allem gegen Muslime richtet, ist ansonsten in den hier vorgestellten Büchern reichlich unterbelichtet. Viel Platz verwendet der Autor für die Auseinandersetzung mit Theorie und Praxis der Naziorganisationen heute. Zu den interessantesten Teilen

Protest gegen Naziaufmarsch in München 2008: Die Polizei ließ die Rechten marschieren – und nahm 80 Gegendemonstranten fest

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Weitere sehr interessante Einblicke in die NPD liefert das Buch »In der NPD. Reisen in die National Befreite Zone« von Ruf und Sundermeyer. Im Gegensatz zu den beiden erstgenannten Büchern ist es nicht im Zusammenhang mit einem antifaschistischen Projekt entstanden, sondern als rein journalistisches Werk. Die Autoren haben lange offen im Umfeld der NPD recherchiert und die so entstandenen Reportagen und Interviews zusammengestellt.


Ihre Ergebnisse fassen sie so zusammen: »Wir haben eine Partei kennen gelernt, die nicht weniger plant als die radikale Umwälzung der bestehenden Gesellschaftsordnung und der Werteordnung, auf der die parlamentarische Demokratie fußt – eine Partei, deren Aktivisten bereit sind, alles diesen politischen Zielen unterzuordnen. Sie haben sich Geduld verordnet und einen strategischen Plan ausgearbeitet, an dessen Ende in vielen Jahren die Machtübernahme in Deutschland stehen soll. Auf die Verwirklichung dieses Ziels arbeiten die Strategen jeden Tag hin.« Den »strategischen Plan« nennt die NPD »DreiSäulen-Strategie«. Sie besteht aus dem »Kampf um die Köpfe«, dem »Kampf um die Straße« und dem »Kampf um die Parlamente«. In jüngster Zeit fügt die Führung der Partei den drei Säulen häufig noch eine vierte hinzu: die »Wortergreifungsstrategie«. Eine der großen Stärken des Buches von Ruf und Sundermeyer liegt darin, dass es veranschaulicht, wie der »strategische Plan« der Nazis im Alltag umgesetzt wird. In den Worten von NPD-Pressesprecher Klaus Beier sieht er so aus: »Als geselliger Mensch lerne ich jemanden beim Bier oder auf einem Feuerwehrfest kennen – und am nächsten Tag fahre ich dann bei ihm vorbei, um zu hören, ob seine nationale Gesinnung die Bierlaune überdauert hat.« In einem sehr lesenswerten Abschnitt berichten die Autoren, wie der Nazi-Kader Tommy Frenck im thüringischen Schleusingen diese Strategie in die Tat umsetzen wollte und sich bei der Freiwilligen Feuerwehr meldete, um schließlich am Widerstand des ganzen Dorfes zu scheitern. Er zog aus dem Dorf weg. Leider verhalten sich nicht alle Feuerwehren entsprechend. Die Ernsthaftigkeit des langfristigen »strategischen Plans« belegen Artikel über die tragende Rolle der Landtagsfraktionen für den Aufbau der Nazibewegung. Sie dienen als Geldquelle und Schulungszentren der Partei. Beispielhaft deutlich wird das an der

Biografie des sächsischen NPD-Fraktionsvorsitzenden Holger Apfel, der 1990 als 18-jähriger Kader der Jugendorganisation »Junge Nationaldemokraten« (JN) nach Sachsen übersiedelte und seitdem planmäßig die NPD aufbaut. Die JN zeigen die Autoren als auch in der Außendarstellung bestens geschulte Nachwuchsorganisation: »Es geht um ein moderates Auftreten. Nicht um ein moderates Programm.« Geradezu prophetisch liest sich heute der Abschnitt über die NPD im Saarland. 2004 erzielte die Partei bei den dortigen Landtagswahlen 4,0 Prozent und hoffte, auf diesem Erfolg aufbauen zu können und 2009 ins Landesparlament einziehen zu können. Doch mit Gründung der LINKEN entstand plötzlich bundesweit eine wählbare linke Alternative zu CDU, FDP, SPD und Grünen. Das Saarland entwickelte sich zu einer der Hochburgen der LINKEN. Plötzlich fiel es der NPD dort wesentlich schwerer, sich als soziale Partei zu präsentieren. Das Landtagswahlergebnis hat inzwischen unter Beweis gestellt, dass eine starke Linke die Nazis in die Schranken weisen kann. DIE LINKE wurde mit über 20 Prozent der Stimmen drittstärkste Kraft im Saarland, die NPD fiel auf 1,5 Prozent zurück. Die sorgfältige Recherche in der Nähe der Nazis gehört zu den großen Pluspunkten des Buches. Doch das Interview mit NPD-Kader Jürgen Gansel zeigt, dass der Plan, Nazis sich selbst demaskieren zu lassen, nicht funktioniert. Der intelligente Gansel vermeidet offenen Rassismus und stellt die Politik seiner Partei als vernünftige Antwort auf die Sorgen der breiten Bevölkerung dar. Die Interviewer fragen zwar brav kritisch nach, fungieren letztlich aber doch nur als Stichwortgeber für Gansels Lügen. Das missratene Interview bestätigt die antifaschistische Losung »Keine Plattform für Nazis«. Es wäre schön, wenn sie sich auch unter Journalisten durchsetzen würde. Wer wissen will, was die NPD sagt, findet die Antworten auch auf deren Homepage.

★ ★★ Weiterlesen Mit Rat und Tat gegen Rechtsextremismus: Das Internetprojekt der Amadeu Antonio Stiftung und der Zeit: www.netz-gegen-nazis.de Das NPD-Blog: Eine Dokumentation über die NPD und ihre menschenfeindlichen Einstellungen: www.npd-blog.info »Wie wird der Nationalsozialismus geschlagen?«: Leo Trotzkis klassische Analyse der Nazibewegung mit strategischen Ratschlägen, die leider nicht in die Tat umgesetzt wurden: www.tinyurl. com/trotzki-gegen-nazis

8Die Bücher

Patrick Gensing Angriff von Rechts. Die Strategien der Neonazis – und was man dagegen tun kann dtv, München 2009 288 Seiten, 12,90 Euro

Christoph Ruf, Olaf Sundermeyer In der NPD. Reisen in die National Befreite Zone C.H. Beck, München 2009 228 Seiten, 12,95 Euro

Holger Kulick, Toralf Staud (Hrsg.) Das Buch gegen Nazis. Rechtsextremismus – was man wissen muss und wie man sich wehren kann Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009 304 Seiten, 12,95 Euro

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Debatte Keine Gleichsetzung Leserzuschrift von Ulf Teichmann

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In der letzten Ausgabe erschien Stefan Bornosts Artikel »Von Opfern und Tätern«. Der marx21-Redakteur machte dort Vorschläge für einen angemessenen Umgang der Linken mit dem Gedenken an die Bombardierung Dresdens. Wir veröffentlichen hier eine Replik unseres Lesers Ulf Teichmann

n seinem Artikel geht Stefan Bornost der Frage auf den Grund, wie sich die Linke bezüglich des Anlasses des Dresdner »Gedenkens« zur Erinnerung an die Bombardierung der Elbstadt positionieren sollte. Den Aufhänger für seine Argumentation bildet eine ausführlich dargelegte Ablehnung der Kollektivschuldthese, welcher zufolge alle Deutschen für die Verbrechen Deutschlands zwischen 1933 und 1945 verantwortlich seien. Doch die Konsequenzen, die er daraus für die Gestaltung linker Erinnerung zieht, implizieren eine erschreckende Gleichsetzung. Linke Kritik am Gedenken an deutsche Opfer ist notwendig, unabhängig von einer Positionierung zur Kollektivschuldthese. Denn gefährlich ist dieses Gedenken schon, weil es die Kompatibilität rechtsradikaler und bürgerlicher Geschichtspolitik offenlegt. Im herrschaftlichen Erinnerungsdiskurs hat sich – nicht zuletzt in Folge der spätestens 2006 einsetzenden offensiven Renationalisierung Deutschlands – durchgesetzt, dass man nun auch der deutschen Leidtragenden erinnern »darf«. Dies dient nicht nur der Konstruktion einer von der Kollektivschuld befreiten Kollektiverinnerung, sondern auch der Darstellung der BRD als Hort der Freiheit, der es sich aufgrund der Lehren, die er aus der Vergangenheit gezogen hat, leisten kann, allen »Opfern« vermeintlich »totalitärer« Systeme, sowie allen Opfern von Krieg und Verfolgung gleichermaßen zu gedenken. Die Dresdener Opfer stehen hierbei am Beginn einer Linie, die sich über die weiblichen Opfer sexueller Gewalt seitens der Roten Armee und die Vertriebenen bis zur Frau vom Checkpoint

»Denn gefährlich ist dieses Gedenken schon, weil es die Kompatibilität rechtsradikaler und bürgerlicher Geschichtspolitik offenlegt« Charlie, die als Opfer der Kriegsgewinner auch als spätes Opfer der Heimkehr des Krieges gesehen wird, ziehen lässt. Dass auch diesen Opfern gedacht wird ist richtig (auch, wenn sich über die Art und Weise sicherlich streiten lässt.) Problematisch wird dieses Gedenken allerdings durch die oben beschriebene politische Instrumentalisierung, zu deren Zweck diese Ge-

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schehnisse immer weiter historisch entkontextualisiert werden. Die Opfergeschichten stehen für sich und erhalten damit eine qualitative Gleichsetzung zu den Geschichten jeglicher anderer Opfer. Ein Unterschied zwischen z.B. den Taten der Wehrmacht und der teilweisen Wiederholung dieser durch die Rote Armee nach Erreichen des »Altreichs« wird, sofern es der Common Sense zulässt, negiert. Und hiermit sind wir wieder bei Stefan Bornost. Denn die gleiche qualitative Gleichsetzung betreibt auch er, wenn auch unter anderen theoretischen Vorzeichen. Bezüglich eines möglichen linken Beitrages zum Gedenken an Dresden fordert er »Anklage (…) gegen ein mörderisches System, in dem Menschen nichts zählen« zu erheben. Wer glaubt, Bornost beziehe sich hier auf den Nationalsozialismus, der irrt. Es geht stattdessen um den Kapitalismus, zu dessen immanenter Kriegsführungsmethode die »Bombardierung dicht besiedelter Städte« gehöre. Der Krieg wird nicht als Krieg zwischen den faschistischen »Achsenmächten« und einer Koalition aus Sowjetunion (die ja bekanntlich nicht unbedingt kapitalistisch war) und Demokratien, sondern allein als »moderner Krieg zwischen Industriestaaten« analysiert. Damit gehören natürlich auch die Opfer beider Seiten – egal, ob ihr Tod im deutschen Vernichtungskrieg oder einer bombardierten Ruhrgebietsstadt erfolgte – zu ein und derselben Kategorie: Sie sind Opfer des Kapitalismus. Nach der Ideologie der Täter oder einer Abfolge von Aktion (Angriff ) und Reaktion (Verteidigung) muss damit gar nicht erst gefragt werden. Gerade dies »öffnet (…) dem Geschichtsrevisionismus Tür und Tor«, was Bornost durch seinen Beitrag eigentlich verhindern wollte. Erschreckend ist hierbei nicht nur die (wie gesagt unter anderen Vorzeichen stehende) Nähe zur Geschichtspolitik der Berliner Republik, die zwecks Anerkennung deutscher Opfer Kontexte immer weiter ausklammert, sondern vor allem die Nähe zur Argumentation der Autonomen Nationalisten, denen es sich am 13. Februar in den Weg zu stellen gilt. Diese sehen Kriege nämlich auch als barbarische Konsequenz des Kapitalismus an. Mit dem entscheidenden Unterschied, dass aus deren Sicht der Nationalsozialismus kein kapitalistisches System war, sondern eben ein nationaler Sozialismus.


Vorsicht vor falscher Idealisierung Stefan Bornost antwortet

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lf Teichmann warnt zu Recht vor Geschichtsrevisionismus. Nach 1945 versuchten rechtskonservative und neofaschistische Vordenker, die Verbrechen des Naziregimes klein zu reden oder zu leugnen. Eine Methode dabei: Die »Anderen« haben das auch gemacht. Deshalb spricht die NPD vom »Bombenholocaust von Dresden«. Gegen diese Gleichsetzung wehrt sich die Linke zu Recht: Erstens hat Nazideutschland, und nicht die Allierten, den Zweiten Weltkrieg begonnen und zweitens sprengt der industrielle Massenmord an Millionen Menschen alle bis dahin und seitdem bekannten übrigen Kriegsverbrechen der Menschheit. Dennoch sollte sich die Linke davor hüten, die AntiHitler-Koalition zu idealisieren. Denn es stimmt nicht, dass der »herrschende Erinnerungsdiskurs« versucht, an der Tradition des Hitler-Regimes anzuknüpfen. Die von Ulf beklagte »Renationalisierung«, die neue militarisierte deutsche Außenpolitik, beruft sich auf die Alliierten, nicht auf die Wehrmacht. Deutsche Tornados wurden 1999 nach Jugoslawien berufen, nachdem Milosevic zum »neuen Hitler« ernannt wurde. Der damalige Außenminister Joschka Fischer begründete den Kampfeinsatz mit den Worten: »Ich habe nicht nur gelernt: Nie wieder Krieg. Ich habe auch gelernt: Nie wieder Auschwitz.« Für den derzeitigen Verteidigungsminister KarlTheodor zu Guttenberg kämpft die Bundeswehr in Afghanistan in einem gerechten Krieg, die NatoTruppen nennen sich nicht ohne Grund »Die Alliierten«. Das Schema: Wer ins Fadenkreuz des westlichen Imperialismus gerät, ist der neue Hitler. So sieht die Hauptspielart des Geschichtsrevisionismus in der »Berliner Republik« aus. Hier sollte die Linke gegenhalten, und das fängt mit einer Diskussion über die Beweggründe der Alliierten im Zweiten Weltkrieg an. Die Mehrheit der Soldaten der Anti-Hitler-Koalition sahen sich tatsächlich in einem Kampf für Demokratie, gegen die Nazibarbarei und, im Falle der Sowjetsoldaten und exilfranzösischen Verbände, gegen die Besetzung, Verwüstung und Ausplünderung ihres Landes. Ihre Regierungen und militärischen Befehlshaber mobilisierten zwar ebenfalls mit Slogans von Freiheit und Demokratie, verfolgten dabei aber in erster Linie ihre Machtinteressen. Vor dem Beginn der deutschen Expansion war Hitler im Ausland wohlgelitten. Die Zerschlagung der Arbeiterbewegung, insbesondere

der sozialdemokratischen und kommunistischen Organisationen, wurde den Nazis hoch angerechnet. Nicht der Faschismus, sondern der deutsche Imperialismus, war für die Herrschenden in West und Ost das Problem. Als ab Ende 1943 die deutsche Niederlage absehbar war, wurde der Krieg zunehmend zu einem Wettlauf der Alliierten untereinander um die Neuaufteilung der Einflusssphären – Selbstaktivität oder gar Befreiung »von unten« war in diesem Machtkampf nicht vorgesehen. Beispiel Griechenland: Die Partisanen von der Befreiungsfront ELAS haben ohne fremde Hilfe die Wehrmacht vertrieben. Drei Wochen später landete die britische Armee und befand sich wenig später im

»Wir feiern die Niederlage Nazideutschlands, aber wir müssen den Sieg der Alliierten nicht als demokratische Befreiung schönreden« Konflikt mit der kommunistisch dominierten ELAS. Es folgte ein Bürgerkrieg, bei dem die »Befreier« auf der Seite der rechten Milizen standen, die zuvor mit den Nazis paktiert hatten. Der alliierte Sieg beendete keineswegs den Faschismus in Europa – in Spanien blieb er noch bis 1975 bestehen. Und Portugal, ein Regime mit starken faschistischen Zügen, war kurz nach dem Krieg Gründungsmitglied der NATO. Festzustellen, dass die Alliierten imperialistische Interessen verfolgten, negiert nicht die Verbrechen des deutschen Imperialismus. Festzustellen, dass die Flächenbombardements von Arbeitervierteln ein Kriegsverbrechen sind, negiert nicht die Verbrechen der Nazis. Es ordnet sie aber in einen Kontext ein, nämlich kapitalistische Barbarei. Deshalb ist »Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus« ein angemessenes Motto, um das Dresden-Gedenken nicht den Nazis zu überlassen. Wir feiern die Niederlage Nazideutschlands, aber wir müssen den Sieg der Alliierten nicht als demokratische Befreiung schönreden. Auf dem neuen Campusgelände der Uni Frankfurt am Main prangt ein Spruch des Auschwitz-Überlebenden Norbert Wollheim: »Wir sind gerettet, aber wir sind nicht befreit.« Das galt für die überlebenden Juden wie ihn, das galt auch für Menschheit, die den Zweiten Weltkrieg überstanden hatte. www.marx21.de | Februar/März 2010 | Nr. 14

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Geistige Enteignung r.com

troff/Flick

Fabian Pit

Im Winter protestierten zehntausende Studierende und Lehrende gegen gravierende Mängel an den Universitäten. Nicole Gohlke und Janine Wissler über die Hintergründe und den neoliberalen Umbau der Hochschulen

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m Blitzlichtgewitter der Journalisten versprachen 1999 die Bildungsminister von 29 europäischen Staaten eine Hochschulreform, die vieles besser machen sollte. Mit der so genannten Bologna-Erklärung sollte bis 2010 ein einheitlicher europäischer Hochschulraum entstehen. Das Ziel: verständlichere und vergleichbare Hochschulabschlüsse, Verkürzung der Studienzeit, mehr Praxisorientierung, erhöhte Mobilität von Studierenden und die Durchsetzung eines zweistufigen Systems von Studienabschlüssen – dem Bachelor und dem Master.

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Heute herrscht an den Hochschulen vor allem Frust über die Reform, denn die schöne neue Campuswelt entpuppt sich zunehmend als Lernfabrik. Zehn Jahre Bologna-Prozess sind deswegen kein Grund zum Feiern, sondern Anlass für Proteste. Die Mehrheit der Studierenden lehnt die Reform mittlerweile ab, weil sich durch sie die Lern- und Arbeitsbedingungen an den Hochschulen erheblich verschlechtert haben: Überfüllte Hörsäle, zu wenig Professoren, enormer Leistungsdruck durch ein Übermaß an Klausuren, Anwesenheitspflicht und Frontaltunterricht sind Alltag.


Begleitend zur Bologna-Reform wurden die Regelungen zur Hochschulzulassung verändert und neue Selektionsmechanismen geschaffen. An immer mehr Hochschulen werden Auswahlgespräche und Aufnahmetests eingeführt. So an der Universität Heidelberg. Dort will die juristische Fakultät »nicht unbedingt die überdurchschnittlich Intelligenten, sondern die mit den für das Fach besten psychischen Eigenschaften« Ausgestatteten auswählen. Dazu wurde das Profil eines »idealen Jura-Studenten« entwickelt und ein psychologisches Institut, das sich seit vielen Jahren mit Personalauswahlverfahren in der Wirtschaft beschäftigt, mit der Entwicklung und Durchführung entsprechender Eignungstests beauftragt. Im Studiengang Biologie werden Hobbys, außerschulische Aktivitäten und soziales Engagement als Auswahlkriterien abgefragt. Die neuen Zulassungsverfahren, insbesondere die Auswahlgespräche, sind intransparent, nicht nachvollziehbar und bergen die Gefahr der

Willkür. Und sie sind mit erheblichen Kosten verbunden, für die Hochschulen und für die Bewerber, die künftig durch die ganze Republik reisen müssen, um sich Auswahlverfahren zu unterziehen. Wer ist Schuld an der Misere? Regierungen in Bund und Ländern versuchen die Verantwortung auf die Hochschulen abzuschieben, die seien für die Umsetzung der Reform zuständig. Aber der Fisch stinkt vom Kopf, wie auch die FAZ am 24. November schrieb: »Zehn Jahre nach der Einführung der Bologna-Reform an den Universitäten kann die tiefgreifendste Reform der deutschen Universität nach dem 19. Jahrhundert als gescheitert gelten. Das gestehen inzwischen sogar die Verantwortlichen ein. Dafür haben einzig und allein die Proteste der Studenten gesorgt. Allerdings wären es nicht dieselben Politiker und Wissenschaftsmanager mit Vierjahresgedächtnis, die auch die Reform zu verantworten haben, wenn sie nicht eine neue Ausflucht parat hätten: Das sei alles ein ›Umsetzungsproblem‹. Nein, das ist es nicht. Die Bologna-Reform ist ein wissenschaftsfernes Zwangskorsett, das der Verkürzung der Studienzeiten und der Verringerung der Abbrecherquote dienen sollte. Es war nicht umsonst von Anfang an von einem europäischen Hochschul- und Wirtschaftsraum die Rede. Und es ist kein Zufall, dass die Bologna-Blase so kurz nach der Finanzblase platzt. In beiden Systemen haben die Verantwortlichen jeden Bezug zur Wirklichkeit verloren.« Doch ist die Reform wirklich gescheitert? Ziel der neoliberalen Hochschulreform war die »Ökonomisierung« der Hochschulen, das heißt, ihre unmittelbare Unterwerfung unter Kapitalinteressen. Der Bologna-Prozess wurde nicht falsch umgesetzt, wie SPD und Grüne behaupten, er steht auf einer falschen Grundlage. Er orientiert sich an der so genannten »Lissabon-Strategie«. Diese sieht vor, dass die EU bis 2010 »zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt« werden sollte. Bei der Umgestaltung der Hochschulen standen nicht etwa soziale Durchlässigkeit und Demokratisierung im Vordergrund, sondern Wettbewerbsfähigkeit und Standortlogik durch Entqualifizierung einerseits und Elitebildung andererseits. Karl Marx weist im ersten Band des »Kapitals« auf diesen grundlegenden Widerspruch hin. Er spricht von der »Scheidung der geistigen Potenzen des Produktionsprozesses von der Handarbeit und die Verwandlung derselben in Mächte des Kapitals über die Arbeit«. Bei der BolognaReform hieß das vor allem die Verkürzung der Studiwww.marx21.de | Februar/März 2010 | Nr. 14

Nicole Gohlke ist Hochschulpolitische Sprecherin der Links­ fraktion im Bundestag.

Janine Wissler ist Fraktionsvorsitzende der LINKEN im hessischen Landtag.

Wenig Begeisterung bei den Studierenden: Die Einführung des Bachelor/Master-Systems hat die Quote der Studienabbrecher deutlich erhöht

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Weil der Stoff aus acht Semestern auf sechs Semester komprimiert wurde, sind die neuen Studiengänge überfrachtet. »Bulimie-Lernen« ist die Folge: Vor Klausuren wird schnell auswendig gelernt und anschließend alles wieder ausgespuckt. Viele Studierende haben eine 40- bis 50-StundenWoche, Jobben nicht eingerechnet – ganz zu schweigen von politischem, familiärem und kulturellem Engagement. Den Studierenden wurde versprochen, dass sie problemlos zwischen Unis innerhalb Europas wechseln können. Nun stellen sie fest, dass nicht mal ein Wechsel von Berlin nach Frankfurt funktioniert, denn die neuen Bachelor-Studiengänge sind oft viel zu spezialisiert. Und Auslandssemester passen nicht mehr in die engen Studienpläne. Zwei Drittel aller Studierenden müssen arbeiten, um sich das Studium finanzieren zu können, das kollidiert mit Anwesenheitspflichten bei Seminaren und engen Prüfungsrhythmen. Immer mehr leiden unter dem dauernden Stress, Überforderung und Leistungsdruck. In einigen Fächern steigt die Zahl der Studienabbrecher, an manchen Fachbereichen bleibt ein Drittel bis die Hälfte der Studierenden auf der Strecke. Auch für das Personal an den Hochschulen hat die Reform zu einer höheren Arbeitsbelastung geführt, weil deren Umsetzung bei gleich bleibender oder sinkender personeller und finanzieller Ausstattung erfolgt ist. In den letzten Jahren haben sich prekäre Beschäftigungsverhältnisse ausgebreitet, Verträge werden befristet, Lehrbeauftragte skandalös niedrig entlohnt. Wissenschaftliche Aufgaben werden immer häufiger studentischen Hilfskräften übertragen. In den letzten 15 Jahren sind in Deutschland 1500 Professorenstellen abgebaut worden. Deshalb heißt es an den Universitäten: »Ob Bachelor oder Master, es ist alles ein Desaster«.

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Absolventen maß­geschneidert für die Wirtschaft: jung, flexibel, formbar

die Hochschulabsolventen in Deutschland seien zu alt, beschweren sie sich jetzt, die Bachelor-Absolventen seien zu jung und unreif. In den Trainingsprogrammen der Unternehmen ginge es zu wie in der Jugendherberge. Nach der Logik der Unternehmen sind junge Menschen immer selber schuld, wenn sie keinen Arbeits- oder Ausbildungsplatz finden. Das Zusammentreffen des Bologna-Prozesses mit der Weltwirtschaftskrise 2009 hat gezeigt, dass die Arbeitgeber in Krisenzeiten auch die höher Qualifizierten, die Master-Abgänger, zu billigeren Gehältern einkaufen können. Vielen Bachelor-Absolventen droht die Arbeitslosigkeit. Die Bologna-Reform ist so gesehen nicht gescheitert, sie hat vielmehr ihren Zweck erfüllt – zum Nachteil der Studierenden. Deshalb muss sie grundsätzlich in Frage gestellt werden.

zur Verfügung stehen, die Schulzeit wurde verkürzt und das Studium auf drei Jahre geschrumpft. Die Regierungen haben die Interessen der Unternehmer zum Maßstab für die Umgestaltung der Hochschulen gemacht. Absolventen maßgeschneidert für die Wirtschaft: jung, flexibel, formbar, so wie Personalchefs es sich wünschen. Bei der Entrümpelung der Lehrinhalte landete die kritische Wissenschaft als erstes auf dem Müll, weil sie den Kapitalinteressen widerspricht. Nach dem Bachelor wurde eine weitere Bildungshürde eingezogen: Der Master soll einer kleinen Elite vorbehalten sein, während die breite Masse eine Schmalspurausbildung durchläuft, denn ein Schmalspurakademiker ist billiger für das Kapital. Aus Sicht der Unternehmen macht das Sinn. 1970 stellten die Akademiker 7 Prozent aller abhängig Beschäftigten. 2005 waren es 21 Prozent. Der BachelorAbschluss ist eine geistige Enteignung und bedeutet eine Abwertung eines Großteils aller AkademikerAbschlüsse, sowohl bei den Gehaltsaussichten als auch in den Tarifverträgen. Eliteförderung für eine privilegierte Minderheit bei gleichzeitiger Entqualifizierung der großen Mehrheit – das ist die Richtung des Bologna-Prozesses. Die Unternehmen empfangen die Absolventen aber auch jetzt nicht mit offenen Armen. Das liegt an der allgemeinen Lage auf dem Arbeitsmarkt. Aber die Kritik der Arbeitgeber läuft immer nach dem gleichen Muster. Wenn sie keine Arbeit anbieten – wegen Krise und Einstellungsstopp – dann schieben sie den Betroffenen die Schuld zu: Haben sie sich zuvor beschwert,

Erste Schritte zur Entschärfung von Bologna wären, dass der Lerndruck reduziert und die Regelstudienzeit in den Bachelor-Studiengängen erhöht wird. Lernen braucht Raum und Zeit, beides versuchten sich die Studierenden gerade durch die Besetzungen zurückzuerobern. Die Studiengänge müssen auf ihre Studierfähigkeit überprüft und allen Studierenden das Recht auf Teilzeitstudium eingeräumt werden. Weder Quote noch Note dürfen die Zulassung zum Masterstudium beschränken, der Master muss zum Regelabschluss werden. Gleichzeitig muss die soziale Durchlässigkeit zum wichtigsten Ziel der Hochschulpolitik werden und Studiengebühren müssen flächendeckend abgeschafft werden. Durch den Druck des Bildungsstreiks ist die Regierung zu Zugeständnissen bereit, allerdings nur, wenn diese nichts kosten. Die jetzt angekündigten Reformen betreffen die Organisation des Studiums, nicht die finanzielle Situation der Hochschulen. Mehr Lehrende, bessere Ausstattung, neue Studienplätze und die Abschaffung von Studiengebühren und Zugangsbeschränkungen sind aber nur mit mehr Geld realisierbar. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) beziffert den dringendsten Bedarf auf mindestens 40 Milliarden Euro. Der Hochschulpakt der Regierung ist demgegenüber unzureichend. Der Anteil der Bildungsinvestitionen am Bruttoinlandsprodukt ist in den letzten Jahren immer weiter gesunken, obwohl der gesellschaftliche Reichtum kontinuierlich zugenommen hat. Um bessere Bedingungen an den Hochschulen durchzusetzen, ist eine starke Studierendenbewegung nötig, denn ohne massiven Druck sind mehr als warme Worte von den Regierungen in Bund und Ländern kaum zu erwarten.

enzeit und die Reduzierung der Studieninhalte auf eine kurzfristige Arbeitsmarktbefähigung. Die Studiengänge wurden stärker auf die wirtschaftlichen Bedürfnisse der Konzerne ausgerichtet. Junge Menschen sollten möglichst schnell dem Arbeitsmarkt

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Kontrovers

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Spiel mit dem Feuer Die Herrschenden lenken von ihrer Verantwortung für Krisen, Kriege und Sozialabbau ab. Eines ihrer Mittel dazu ist antimuslimischer Rassismus. Wie dieser funktioniert, beschreibt Marwa Al-Radwany

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lötzlich geht es rasend schnell. Der Angeklagte Alex Wiens, der am 1. Juli 2009 vor dem Dresdner Landgericht steht, weil er die junge Muslima Marwa El-Sherbiny mit rassistischen Äußerungen beleidigt hatte, zieht ein Messer. Er geht auf die Klägerin los und ermordet sie, vor den Augen ihres dreiährigen Sohnes und ihres Ehemannes. 18-mal sticht er auf die schwangere Frau ein – nur weil sie ein Kopftuch trägt und weil sie es »gewagt« hat, gegen seine antimuslimischen Ausfälle vor Gericht zu ziehen. Zum Glück handelt es sich bei diesem Mord aus antimuslimischer Motivation bisher um einen Einzelfall. Die Überzeugung jedoch, mit der Wiens glaubte, die »Kultur seines Landes« verteidigen zu müssen, die er durch die bloße Anwesenheit Marwa El-Sherbinys bedroht sah, ist keine Einzelmeinung. Vor dem Mord äußerte der Täter sich in einem Schreiben, mit dem er Einspruch gegen den Strafbefehl einlegte: »Diese ›Frau‹, die ich angeblich beleidigt habe, trug ein Anzeichen von totaler religiöser und kultureller Unterwerfung von den Männern und dem Satangott, nämlich ein Kopftuch. Damit hatte sie Deutschland, seine Geschichte, seine Kultur und deshalb mich beleidigt.« Ähnlich klingende Vorurteile begegnen uns alltäglich: In Spiegel, Focus, bei Maischberger, Frontal 21 oder aus dem Mund von Politikern. Ob die Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) in einem Interview äußert, das Kopftuch werde als eine »politische Symbolik« »in Deutschland wie interna-

tional«, als ein »Zeichen für eine kulturelle Abgrenzung und politischen Islamismus« gesehen und sei ein »Symbol für die Unterdrückung der Frau« oder ob der Spiegel zum wiederholten Male Titel bringt wie »Mekka Deutschand – die stille Islamisierung Europas«, »Allahs rechtlose Töchter« oder »Haben wir schon die Scharia?« – alle stimmen ein in das Credo von der Unvereinbarkeit »des« Islams mit »dem« Westen oder mit der »christlich-abendländischen Werteordnung«. Jüngstes Beispiel war Thilo Sarrazin, Ex-Finanzsenator Berlins und SPD-Mitglied, der befand, »etwa zwanzig Prozent der Bevölkerung« in Berlin werden »ökonomisch« nicht »gebraucht«. Denn, so ätzte Sarrazin, eine »große Zahl an Arabern und Türken in dieser Stadt, deren Anzahl durch falsche Politik zugenommen hat, hat keine produktive Funktion, außer für den Obst- und Gemüsehandel«. Und weiter: »Ich muss niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert.« Nach dem erfolgreichen Referendum gegen Minarette in der Schweiz meldeten sich gleich mehrere deutsche Politiker wie z.B. der CDU-Innenexperte Wolfgang Bosbach, die forderten, man müsse die Ängste der Europäer vor einer schleichenden Islamisierung ernst nehmen. Doch in welchem Bezug zur Realität stehen diese Ängste?

Marwa Al-Radwany ist Mitglied im SprecherInnenrat der Landesarbeitsgemeinschaft »Migrations- und Flüchtlingspolitik, Emanzipation und Antirassismus« der Berliner LINKEN und Vorsitzende der Initiative »Grenzen-Los!« e.V., wo sie zum Thema antimuslimischer Rassismus arbeitet. Sie studiert in Potsdam.

Es gibt eine Reihe von Studien auch jüngeren Datums, die mit den tief verankerten Ansichten über www.marx21.de | Februar/März 2010 | Nr. 14

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angebliche »Wesensarten« von Muslimen aufräumen könnten – wenn sie denn jemand lesen und vor allem massenwirksam verbreiten würde. Eine ist die des sozialwissenschaftlichen Institutes »Sinus Sociovision« aus Heidelberg über Migranten-Milieus in Deutschland. 84 Prozent der befragten Migrantinnen und Migranten mit muslimischem Hintergrund bekennen sich demnach zur Trennung von Staat und Religion. Nur rund 7 Prozent sind einem ländlich-traditionellen religiösen Milieu zuzuschreiben. 98 Prozent der Befragten wählen ihren Ehepartner selber und 83 Prozent leben gerne in Deutschland. Eine repräsentative und umfassende Untersuchung des US-Meinungsforschungsinstituts Gallup hat Muslime aus über 35 Ländern zu ihren Einstellungen befragt. Für Deutschland artikulierten 40 Prozent der Befragten eine »enge Bindung zur Bundesrepublik«. Aus der gesamten Bevölkerung sagen das lediglich 32 Prozent der Bundesbürger von sich.

Lysippos/Flickr.com

Von der Hetze zum Mord: Der Spiegel macht Stimmung gegen Muslime (o.), Nazi-Parteien greifen das dankbar auf (M.). Trauriger Höhepunkt: Ein NPDAnhänger ermordet im Juli 2009 in einem Dresdner Gerichtssaal Marwa El-Sherbiny – weil sie Muslimin ist

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Die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2009 erstellte Studie über »Muslimisches Leben in Deutschland« bescheinigt, dass 80 Prozent der Migranteninnen und Migranten mit muslimischem Hintergrund eigene Einkommensquellen wie Lohn, Gehalt oder Einnahmen aus Selbständigkeit vorweisen können. Weiterhin wird festgestellt, dass lediglich 30 Prozent der Muslima in Deutschland ein Kopftuch tragen und dass diese Zahl mit der zweiten und dritten Generation weiterhin abnimmt – entgegen der Aussage Sarrazins also. Die CDU-nahe KonradAdenauer-Stiftung hat über eben diese Frage im Jahr 2006 eine Studie in Auftrag gegeben. Das Ergebnis: »Junge Musliminnen mit Kopftuch [sind] aufstiegsorientierter als deutsche Frauen insgesamt«. Die Zustimmung zu bestimmten Aussagen fällt bei ihnen teilweise höher aus als bei der Vergleichsgruppe deutscher Frauen. So nimmt für 94 Prozent der Befragten eine gleichberechtigte Partnerschaft einen hohen Wert ein – die deutschen Interviewpartnerinnen lagen weit darunter (81 Prozent). Auch Demokratie als Wert genießt ein hohes Ansehen (89 Prozent) – entgegen aller Aussagen der Ablehnung der demokratischen Grundordnung durch die angeblichen Fundamentalist(inn)en. Eine schleichende Islamisierung Europas? Zunächst ist festzuhalten, dass ein Zuzugsstopp für sämtliche Nicht-EU-Staatler besteht. Die meisten Einwanderer, mehr als 60 Prozent, stammen aus Ländern der Europäischen Union. Nach Berlin kamen in den vergangenen zehn Jahren überwiegend Menschen aus dem christlich-katholischen Polen (4000–8000), weiterhin Einwanderer aus Frankreich, den USA und England. Türken und Araber kommen als Flüchtlinge, Studierende, Geschäftsleute oder per Familiennachzug – sie machen jedoch nicht einmal fünf Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Obwohl gängige Vorwürfe gegen Muslime wissenschaftlich nicht haltbar sind, werden sie von den Schäubles und Sarrazins dieser Republik immer wieder kolportiert. So schafft man Feindbilder und auch Hass. Sarrazin weiß: Mit rassistischen Äußerungen, die an ein Grundbedürfnis nach Sicherheit und Wohlstand der Bürger andocken und suggerieren, dieses werde durch eine Gruppe von »Fremden«, die nicht zum »Wir« gehören (dürfen), bedroht, ist der Stimmenfang leicht gemacht. Schließlich lenkt man so erfolgreich von grundlegenden (hausgemachten) Problemen sozialer und ökonomischer Art ab, und muss sich nicht mit realer Krisenbewältigungspolitik, sondern nur mit Scheindebatten befassen. Dieses Konzept ist in der Vergangenheit allzu leicht aufgegangen: Die Regierung Kohl lenkte Anfang der 1990er, als der Einheitstaumel realen sozialen Sorgen wich, die Aufmerksamkeit auf die angebliche »Asylantenflut«. Was folgte, waren die grausamen


Übergriffe von Mölln, Solingen und Rostock – Kohl aber blieb weitere vier Jahre im Amt. Auch sein Parteifreund Roland Koch wurde 1999 zum hessischen Ministerpräsident gewählt, nachdem er mit einer Unterschriftenkampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft zu Felde gezogen war. Das Schüren irrationaler Ängste durch rassistische Vorurteile funktioniert auch als vorgeschobene Begründung für Kriege und die Ausbeutung von Rohstoffen. Da die hauptsächlichen Vorkommen der bisher wichtigsten Ressource des modernen Kapitalismus, des Erdöls, in Ländern mit muslimischen Bevölkerungen liegen, bietet sich Islamfeindlichkeit als Legitimation für die Eroberung dieser Länder an. Kapitalismus beruht auf Konkurrenz und Ausbeutung. Solidarität und Sympathie zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft, Sprache oder Religion können, da sie Sozialabbau und Krieg im Wege stehen, durch die Vorwürfe von Terrorismus, Fanatismus und kultureller Fremdartigkeit geschwächt werden. Leider funktioniert diese Feindbild-Ideologie nur zu gut. Als müsse das »christliche Abendland« vor seinem Untergang bewahrt werden, wird symbolträchtig gegen Moscheebauten gehetzt. Unbekannte schicken an die Zentrale des Islamrats für die Bundesrepublik in Köln ein Paket mit abgeschnittenen Schweineohren; beschmieren den Eingang einer Moschee im fränkischen Elsenfeld mit Schweineblut. Mitte November wurde in Göttingen eine muslimische Studentin mit Kopftuch auf dem Weg von der Universitätsbibliothek zu ihrem Auto von vier unbekannten Männern rassistisch beschimpft, verprügelt und mit Fußtritten traktiert. Sie solle »endlich deutsch werden« riefen sie ihr zu. Moscheeschändungen, Drohmails und tätliche Übergriffe sind die Manifestationen eines antimuslimischen Rassismus, der in einem über Jahre hinweg medial konstruierten Feindbild Islam seinen Ursprung findet. Gerade in Zeiten der Wirtschaftskrise benötigen die Herrschenden Ablenkungsmanöver, um von den wahren Ursachen für Sozialabbau, Krise und Krieg abzulenken. Probleme werden ethnisiert. Aus Klassenfragen werden »Rassenfragen«. Davon profitieren vor allem Rechtsextreme und Nationalisten, die ihre rassistischen Ideologien durch die gesellschaftliche Mitte legitimiert sehen. Das vorherrschende Klima ermöglicht den Schulterschluss bürgerlicher Politiker mit Neonazis; so z.B. geschehen bei der Demonstration gegen den Bau einer Moschee im Berliner Stadtteil Pankow-Heinersdorf. Dort marschierten NPD und CDU-Kreisvorsitzender Seite an Seite. Was das für fatale Folgen haben kann, zeigt das Beispiel Niederlande. Dort melden Verfassungsschützer, dass sich die Zahl der aktiven Neonazis seit 2004 verzehnfacht habe. Besonders unter Jugendlichen

würden sie Zulauf gewinnen. Einen Grund sehen Experten in der Ausrichtung der Koalitionsregierung aus Christ- und Sozialdemokraten: »Der Staat hat sich vor allem auf die Muslime konzentriert und nicht so sehr auf den Rechtsextremismus, der dadurch aufblühen konnte«, vermeldet etwa der Leiter der Studiengruppe Jaap van Donselaar. Das Feindbild Islam ist eine bürgerliche Ideologie. Sie dient zur Absicherung der Identität nach innen, für eine verunsicherte Mittelschicht, die die Folgen der Globalisierung am stärksten zu spüren

Obwohl gängige Vorwürfe gegen Muslime wissenschaftlich nicht haltbar sind, werden sie von den Schäubles und Sarrazins dieser Republik immer wieder kolportiert

bekommt. Sie dient aber auch der Sicherung eigener Privilegien bei gleichzeitigem Ausschluss von gesellschaftlichem Reichtum, beruflichem Prestige und kultureller Hegemonie: Die türkische Putzfrau mit Kopftuch stört das deutsche Befinden nicht sonderlich. Worüber heftig debattiert wird, sind ja die jungen, aufstrebenden Akademikerinnen mit Kopftuch – Lehrerinnen, Juristinnen, Angestellte im öffentlichen Dienst. Ihnen wird qua Kopftuchverbot die Berufsausübung untersagt. »…über unsere Ostgrenzen aber dringt Jahr für Jahr aus der unerschöpflichen polnischen Wiege eine Schaar strebsamer, Hosen verkaufender Jünglinge herein, deren Kinder und Kindeskinder dereinst Deutschlands Börsen und Zeitungen beherrschen sollen.« Dieses Zitat stammt aus dem Jahr 1879. Der Urheber: Professor Heinrich von Treitschke, seinerzeit populärer Historiker und Reichstagsabgeordneter. Gemeint waren Juden, die häufig im Handel tätig waren. Treitschke wandte sich gegen den Willen der Juden, ihre eigene Identität und ihren kulturellen Zusammenhang zu behaupten. Seine polemische Zuspitwww.marx21.de | Februar/März 2010 | Nr. 14

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★ ★★ Weiterlesen Wolfgang Benz (Hrsg.): Islamfeindschaft und ihr Kontext: Dokumentation der Konferenz Feindbild Muslim – Feindbild Jude (Metropol-Verlag 2009). Navid Kermani: Wer ist wir? Deutschland und seine Muslime (Beck 2009). Sabine Schiffer und Constantin Wagner: Antisemitismus und Islamophobie: Ein Vergleich (HwK-Verlag 2009). Thorsten Gerald Schneiders (Hrsg.): Islamfeindlichkeit. Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen (VS-Verlag 2009). Kay Sokolowsky: Feindbild Moslem (Rotbuch Verlag 2009).

Dies zu verhindern ist unser aller Aufgabe. Jede und zung »Die Juden sind unser Unglück« hat gut 50 Jahre jeder kann im Alltag etwas dazu beitragen. Täglich später unter den Nazis traurige Berühmtheit erlangt. hören wir Vorurteile und rassistische Sprüche. Diese Die historisch einzigartige Vernichtung der Juden im nicht unbeantwortet zu lassen, könnte eine Alltags20. Jahrhundert hat ihre ideologischen Wurzeln in eiübung werden. Und: Es hat sich gezeigt, dass antinem über Jahrhunderte gepflegten Feindbild. muslimischer Rassismus besonders an den Orten Betrachtet man die Jahrzehnte vor der nationalsostark ist, wo es kaum Muslime gibt. Die Anzahl der zialistischen Diktatur, trifft man auf erschreckende Nein-Stimmen zu den Schweizer Minaretten war in Parallelen zwischen bürgerlichen Debatten damals den Kantonen am höchsten, wo es gar keine Mound heute. Die Themen waren häufig dieselben: die scheen oder muslimische Gemeinden gibt. Deshalb: Frage nach Assimilation und Integration, der VorLadet die, über die so viel gesprochen wird, ein und wurf – damals an die Juden, heute in Richtung Musredet mit ihnen – anstatt nur über sie. lime –, sich zu segregieren, also ParallelgesellschafEs liegt an uns, ob wir in einer Welt leben wollen, die ten zu bilden. von Ausgrenzung, Krieg und Spaltung geprägt ist – Untersucht man Äußerungen, die im Berliner Antioder von Solidarität, Sympathie und Sozialismus. semitismusstreit um 1880 fielen, kommen weitere Parallelen zum Vorschein: Das Judentum wurde als AnzeigeN »unvereinbar mit der Moderne« gesehen, religiöse Praktiken wie das Schächten dienten als Beispiel für diese Behauptung. Überhaupt stieß die Religiosität praktizierender Juden auf Missfallen in der nichtjüdischen deutschen Bevölkerung, die sich doch als aufgeklärt sehen wollte. Man forderte Durchsuchungen von Thora-Schulen und das Halten hebräischer Predigten auf Deutsch. Obwohl um die Jahrhundertwende nur etwa ein Prozent der Bevölkerung in Deutschland Juden waren, fuhr man weiter fort, die abstrusesten Weltverschwörungstheorien aufrecht zu erhalten. Die heute oft zitierte Gefahr der »Islamisierung Europas« ist durchaus vergleichbar mit Verschwörungstheorien über das »Weltjudentum«. Die angebliche »Andersartigkeit« der Juden und die »Gefahr«, die von ihnen ausginge, versuchten die Antisemiten mit der Thora zu belegen, so wie man heute stets mit Koranzitaten zur Stelle ist, um die »rückständige« Tradition und das »kriegerische« Wesen des Islam zu belegen – als gäbe es nicht ebenso viele Beispiele in der Bibel. Qualitative Forschungsarbeiten (siehe Weiterlesen: zu Benz und Schiffer/Wagner) haben bereits herausge-Beiträge Beiträge zu sozialistischer Politik sozialistischer Politik arbeitet, was ich hier nur kurz umreißen kann. Fest steht, dass auch der antisemitische Diskurs ein zutiefst bildungsbürgerlicher war und gerade deshalb Staat undKrise Krise Staat und eine solche Strahlkraft erreichen konnte. So kulmiFinanzmarktkrise, Staatsinterventionismus, niert Treitschkes Aufsatz in dem Ausruf: »Bis in die Finanzmarktkrise, Staatsinterventionismus, Green New Deal; Staaten in Afrika; Green Geschlechtergerechtigkeit; New Deal; Staaten in Afrika; Staatsleitbilder und Kreise der höchsten Bildung hinauf (…) ertönt es Geschlechtergerechtigkeit; Staatsleitbilder und marktliberaler Diskurs; Finanzund Steuerpolitik; Kritische Diskurs; Arbeitssoziologie; marktliberaler Finanz- Post-Neoliberalismus; und Steuerpolitik; heute wie aus einem Munde: Die Juden sind unser Deglobalisierung – Strategie von unten; Kritische Arbeitssoziologie; Post-Neoliberalismus; Arbeitnehmer/innenrechte in Europa Deglobalisierung – Strategie von unten; Unglück!« Arbeitnehmer/innenrechte in Europa

WW IDERSPRUCH IDERSPRUCH 57 57

E. Altvater, H. Melber, B. Sauer, H.-J. Bieling, D. Lampart, W. Vontobel, J. Wissel, K. Dörre,

Warum habe ich diesen Ausflug in die vergleichende Geschichtswissenschaft gemacht? Der tragische Fall Marwa El-Sherbiny muss ein Einzelfall bleiben. Rechte Täter, die vor Morden an unbeteiligten und friedlichen Muslimen nicht zurückschrecken, dürfen sich nicht in ihren Überzeugungen und Motivationen sicher fühlen, legitimiert und akzeptiert durch eine Mehrheitsmeinung, die sogar salonfähig ist.

E. Altvater, H. Melber, B. Sauer, H.-J. Bieling, U. Brand, H. Schäppi, P. Rechsteiner D. Lampart, W. Vontobel, J. Wissel, K. Dörre, U. Brand, H. Schäppi, P. Rechsteiner

Diskussion

M. Vester: Wirtschaftlicher Pfadwechsel

Diskussion P. Oehlke: Soziale Demokratie und Verfassungspolitik C. v. Werlhof: Post-patriarchale Zivilisation W. Völker: André Gorz’ Pfadwechsel radikales Vermächtnis M. Vester: Wirtschaftlicher P. Oehlke: Soziale Demokratie und Verfassungspolitik C. v. Werlhof: Post-patriarchale Zivilisation Marginalien / Rezensionen / Zeitschriftenschau W. Völker: André Gorz’ radikales Vermächtnis

Marginalien Rezensionen / Zeitschriftenschau 29. Jg./2. Halbjahr 2009 Fr. 25.– / C 16.– 208/ Seiten, & 16.– (Abonnement & 27.–)

zu beziehen im Buchhandel oder bei WIDERSPRUCH, Postfach, CH - 8031 Zürich Tel./Fax 0041 44 273 03 02 www.widerspruch.ch 29. Jg./2. Halbjahr 2009vertrieb@widerspruch.ch Fr. 25.– / C 16.–

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Runter vom Gas

Ein radikaler Bruch mit der Autogesellschaft ist nötig, meint der Verkehrsexperte Winfried Wolf. Er erklärt, wie umweltfreundliche Mobilität funktionieren und zugleich neue Arbeitsplätze schaffen kann

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or zwanzig Jahren drehte der damals noch unbekannte Michael Moore den Film »Roger & Me«. Er dokumentierte dort das zerstörerische Agieren des Autokonzerns General Motors (GM), während er dessen Boss Roger Smith mit wackeliger Handkamera verfolgte. Damals hätte es niemand auf der Welt für möglich gehalten, dass GM zwei Jahrzehnte später in Konkurs gehen würde. Im Juni 2009 kommentierte der inzwischen Oscar prämierte Moore die Pleite des Automobilherstellers mit den Worten: »Die einzige Möglichkeit, GM zu retten, besteht darin, GM zu zerstören.« Er führte weiter aus: »Wir befinden uns in einer Art Kriegszustand: dem Krieg gegen das Ökosystem, der von unseren Industriekonzernen geführt wird. Dieser Krieg findet an zwei Fronten statt. Die eine hat ihr Hauptquartier in Detroit. Die Produkte, die dort von GM, Ford und Chrysler hergestellt werden, gehören zu dem höchst wirksamen Kriegsgerät, dem wir die Erderwärmung und das Abschmelzen der Pole zu verdanken haben. (...) Autos weiterhin zu produzieren, muss irgendwann zum Untergang unserer Art und zur Zerstörung der Erde führen. An der anderen Front kämpfen die Ölkonzerne gegen Sie und mich. Sie schröpfen uns, wo sie nur können, und sie gehen

unverantwortlich mit den begrenzten Ressourcen um. Rücksichtslos beuten sie die Vorkommen aus und lassen die Öffentlichkeit darüber im Unklaren, dass die Vorräte an nutzbarem Erdöl in einigen Jahrzehnten erschöpft sein werden. Dann kann man sich darauf gefasst machen, dass die Leute sich gegenseitig für ein paar Liter Benzin umbringen. Zusammengefasst: Nach der Übernahme von GM sollte Präsident Obama die Fertigungsanlagen sofort umstellen auf die Herstellung von umweltfreundlichen Produkten.« Leider ist das Gegenteil passiert. Nicht nur die Obama-Administration, sondern alle nationalen Regierungen bedienen – u.a. durch Abwrackprämien und die direkte Finanzierung der Autokonzerne aus Steuermitteln – die Interessen der Autoindustrie. Während relevante Umweltauflagen abgebaut werden (so das Ziel von maximal 120 Gramm CO2Ausstoß je Kilometer) findet ein »green washing« der Branche statt, indem Agrosprit und Elektro-Pkw als innere Reformen gepriesen werden. Jedoch erhöhen Kraftstoffe aus agrarischen Produkten die Preise für Lebensmittel und verschärfen damit die Hungerkrise. Zudem tragen sie, beispielsweise durch Regenwww.marx21.de | Februar/März 2010 | Nr. 14

Winfried Wolf ist Chefredakteur von Lunapark21 – Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie und Sprecher der Bahnfachleutegruppe »Bürgerbahn statt Börsenbahn«. Er ist zudem Mitglied im wissenschaftlichen Beirat von Attac und Autor zahlreicher Bücher zum Thema.

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★ ★★ Weiterlesen

Unter dem Titel »Weltwirtschaftskrise & Krise der weltweiten Autoindustrie« umreißt das zweite Sonderheft von Lunapark21 Entwicklung und Stand eines der wichtigsten kapitalistischen Industriezweige - von der historischen Betrachtung der "Autokrisen" bis zum aktuellen Machtkampf um Opel. Bestellungen zum Preis von 4,50 € pro Heft plus Porto bitte per Mail an extra@lp21.de Winfried Wolf: Verkehr. Umwelt.Klima – Die Globalisierung des Tempowahns (2. Auflage, Promedia-Verlag 2009).

waldzerstörung, zur stark erhöhten CO2-Bilanz bei. Auch Elektro-Pkw haben grundsätzlich keine bessere CO2-Bilanz als konventionelle Kraftfahrzeuge. Mit dieser Politik wird die Klimakrise verstärkt und der Zeitpunkt einer gefährlichen Ölknappheit, mit explosionsartig ansteigenden Ölpreisen, vorgezogen. Eine alternative Mobilitäts- und Transportpolitik muss – zusammen mit einer alternativen Energiepolitik – im Zentrum eines Konjunkturprogramms stehen, das auch den Anforderungen einer verantwortlichen Umwelt- und Klimapolitik gerecht wird. Ein solches Programm könnte die folgenden »sieben Tugenden« beinhalten: 1. Strukturpolitik der Dezentralität. Notwendig sind Investitionen und Maßnahmen, die Dezentralität und Nähe fördern. Auf diese Weise können in großem Maßstab Verkehre vermieden (unnötig gemacht) und Verkehrswege verkürzt werden. 50 Prozent der im Jahr motorisiert zurückgelegten Kilometer sind Freizeitverkehr (Fahrten ins Grüne, in die »Schwimmoper«, in die Disco auf dem Land usw.). Sie entstehen vor allem, weil die Städte nicht bzw. zum Teil nicht mehr für die Menschen da sind. Oder mit Bert Brecht: »Die Schwärmerei für die Natur / Kommt von der Unbewohnbarkeit der Städte«. 2. Klassische Verkehrsträger neu entdecken. Die dann vielfach kürzeren Wege des Alltagsverkehrs können zu einem erheblichen Teil au die klassischen Verkehrsträger, auf Füße und Pedale, verlagert werden. 3. Öffis ausbauen. Der größte Teil des verbleibenden Verkehrs kann in Städten und größeren Siedlungen mit öffentlichen Verkehrsträgern – Straßenbahnen, S-Bahnen und Bussen (optimal wären Trolley- oder Oberleitungs-Busse) – realisiert werden. 4. Flächenbahn statt Höchstgeschwindigkeits­ wahn. Erforderlich ist eine Bahn in öffentlichem – demokratisch kontrolliertem – Eigentum, mit einem integralen Taktverkehr: Alle halbe Stunde fahren Bahnen in allen Städten (ab beispielsweise 25.000 Einwohner) in alle Richtungen. Eine solche Bahn benötigt bereits aus strukturellen – und erst recht aus energiepolitischen – Gründen ein Tempolimit von rund 220 km/h. Tempo 350 auf der Strecke Frankfurt am Main-Köln hatte die logische Folge, dass Bonn und Koblenz vom Fernverkehr weitgehend abgekoppelt wurden. Doch selbst bei einem Tempolimit wäre München-Berlin in einer Fahrtzeit von knapp viereinhalb Stunden (anstelle der aktuellen gut sechs Stunden) zu bewältigen. 5. Flugverkehr drastisch reduzieren. Mit einer Flächenbahn auf europäischer Ebene können 100 Prozent der Binnenflugverkehre und 50 Prozent des in-

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nereuropäischen Verkehrs auf die Schiene verlagert werden. Wenn ergänzend die externen Kosten des Flugverkehrs (z.B. Kosten resultierend aus Lärmschäden, Umweltzerschneidung, Verletzten und Toten, Klimaschäden), die in den Transportpreisen nicht enthalten sind, in die Ticketpreise eingerechnet werden, reduziert sich der Flugverkehr auf 15 bis 20 Prozent des aktuellen Niveaus.

»Mehr als 80 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung wollen eine Bahn in öffentlichem Eigentum« 6. Güterverkehre radikal reduzieren – regionale Ökonomien stärken. 50 Prozent des globalen Verkehrs sind »Intra-Firm-Trade« (Transporte innerhalb ein- und desselben Konzerns). GM z.B. kann natürlich ein Auto an einem Standort (Detroit oder Rüsselsheim oder Seoul etc.) komplett herstellen. Da die Transportkosten jedoch gegen Null tendieren, lohnt sich im Extremfall eine Arbeitsteilung, wo Motorblöcke, Reifen, Chassis und Armaturenbretter in jeweils einem anderen Kontinent hergestellt und dann zusammengeführt werden. Insgesamt hat sich die »Transportintensität« (die in einer Ware von ein- und derselben Qualität steckenden Tonnenkilometer) seit 1970 verdoppelt. »Südtiroler Schinken« besteht zu 90 Prozent aus niederländischen Schweinehälften, die per Lkw nach Südtirol gekarrt wurden. Alle Walnüsse im Walnuss-Eis von Mövenpick stammen aus China. Wenn die externen Kosten der Transporte in die Transportpreise eingerechnet werden, verdreifachen sich die Transportpreise. Zusammen mit ordnungspolitischen Maßnahmen (Nachtfahrverbote und Tonnage-Begrenzungen für Lkw, generelles Verbot von Luftfracht mit Ausnahme bei spezifischen Produkten wie Medikamenten und Post) lassen sich die weltweiten Transporte auf weniger als 20 Prozent reduzieren. Eine solche Politik ist gleichbedeutend mit der Stärkung von regionalen wirtschaftlichen Strukturen, indirekt auch mit dem Erhalt von Jobs und der Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze. 7. Viele Exempel statuieren und Mosaike bilden. Die bisher ausgeführten sechs Elemente einer Politik der Verkehrswende gibt es bereits – wenn auch oft isoliert. In Münster (Westfalen) und Groningen (Niederlande) werden mehr als 50 Prozent der Wege zu Fuß und per Rad zurückgelegt. Dort wo die Na-


tur dem Autoverkehr im Wege stand, gibt es noch die »Struktur der kurzen Wege« – so in Cinque Terre an der Italienischen Riviera und in Venedig. In der Lagunenstadt kann es zwar keine Pkw geben, doch es gibt auch keine größere Zahl von Motorbooten in individuellem Eigentum. Die Stadt »funktioniert« zu Fuß und mit den »vaporetti« – den Wasser-Bussen. Die Struktur des »Bruttoinlandsprodukts« von Venedig unterscheidet sich dabei kaum von derjenigen Heidelbergs – beides sind Universitätsstädte mit viel Tourismus. Doch während Venedig vom Fußgängerund öffentlichen Verkehr mit Wasserbussen geprägt ist, wird Heidelberg vom Autoverkehr dominiert. Ein weiteres Beispiel: Die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) haben einen Halbstunden-IntegralenTaktverkehr – wobei dieser Luxus die Steuerzahlenden weniger kostet als das miserable Angebot der Deutschen Bahn AG. Bereits zwei Dutzend Orte in den Alpen werben – erfolgreich! - damit, dass sie »autofrei« sind oder dass in diesen privater Autoverkehr kaum stattfindet und nicht erwünscht ist. Es gibt bereits ein Dutzend autofreie Quartiere in europäischen Großstädten. Es existieren zwei Standardargumente gegen eine solche Verkehrs-Vision: Jobs und Mehrheiten. Diese Repliken sind jedoch nicht überzeugend. Zum Arbeitsplatz-Argument: Weltweit gibt es in der Autobranche acht Millionen Arbeitsplätze. Doch weltweit sind weit mehr Menschen bei der Eisenbahn und in der Bahntechnik als in der Autoindustrie beschäftigt. Die Ausweitung der Automotorisierung muss diese umweltpolitisch akzeptablen Arbeitsplätze zerstören. Im übrigen werden die Jobs in der Autoindustrie durch die Autoindustrie selbst zerstört. In Deutschland sind seit einem Vierteljahrhundert immer rund 800.000 in der Autoindustrie beschäftigt (derzeit 750.000). Im gleichen Zeitraum hat sich der Output (die Zahl der erstellen Pkw) verdreifacht. Eine Autoindustrie fast ohne Arbeitsplätze – eine roboterisierte

Autofertigung – ist durchaus vorstellbar. Das oben skizzierte 7-Punkte-Programm einer Verkehrswende würde hingegen allein in Deutschland zwei bis drei Millionen neue und gesellschaftlich sinnvolle Arbeitsplätze schaffen. Eine alternative Verkehrspolitik ist mehrheitsfähig: Das zeigen bereits heute Teilaspekte dieser Alternative. Mehr als 80 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung wollen eine Bahn in öffentlichem Eigentum. Die Forderung nach einem allgemeinen Tempolimit wird auch im Land der nach oben offenen Raserskala von einer klaren Mehrheit unterstützt. In den Stadtquartieren gibt es jeweils Mehrheiten für Tempo 30. Bei mehreren repräsentativen Umfragen mit dem Tenor »Wie entscheiden Sie im Fall eines Zielkonflikts: Ausbau des öffentlichen Verkehrs oder Ausbau von Straßen?« wählt die Mehrheit die erste Option. Eine überzeugend ausgearbeitete Politik der Verkehrswende, die auch die sozialen und die Klimaaspekte benennt, ist also durchaus mehrheitsfähig. Dafür gibt es auch praktische Argumente: In Berlin hat die Mehrheit der Haushalte keinen Pkw (in Hamburg liegt dieser Anteil bei 42 Prozent, in New York immer noch bei rund 25 Prozent). In den Industriestaaten gilt die Formel: je ärmer die Region, desto höher die Pkw-Dichte. Oder auch: Je mieser der öffentliche Verkehr, desto mehr Autoverkehr gibt es. Den realen – zukünftigen – Sozialismus hat man als Linker meist »nur« im Herzen oder man träumt von demselben. Die Verkehrswende lässt sich jedoch zusammenfügen – aus real existierenden MosaikBausteinen.

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WELTWEITer WIDERSTAND

GroSSbritannien Mehr als 2000 Profi- und Amateur-Fotografen protestierten am 23. Januar in der britischen Hauptstadt London gegen die Anwendung der Anti-Terrorgesetze. Der Protest stand unter dem Motto »Ich bin Fotograf, kein Terrorist«. Er richtete sich gegen die Polizeipraxis, harmlose Fotografen als potentielle Terroristen zu verhaften, wenn diese lediglich Bilder von öffentlichen Gebäuden oder

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Touristenattraktionen schießen. Dadurch würde die Pressefreiheit massiv behindert, kritisierten die Organisatoren der Demonstration. Allein in London existieren einhundert so genannter »Stop and Search«-Zonen, in denen die Polizei ohne Angabe von Gründen Personen und Fahrzeuge stoppen und durchsuchen darf – angeblich zum Schutz vor Terroranschlägen.


Haiti

8NEWS

Hölle auf Erden

8 Iran

Dass die Auswirkungen des Erdbebens gerade auf der Karibikinsel so verheerend waren, ist kein Zufall, meint David Paenson

A

ndrew Taylor hat drei Jahre auf Haiti gelebt. Nach dem verheerenden Erdbeben Mitte Januar machte der Drucker und Gewerkschafter sich umgehend auf die Suche nach seinen Freunden. »Die Kommunikation ist sehr schwierig, es gibt kaum Strom, um die Handys aufzuladen. Außerdem haben die Menschen auch kein Geld für ihre Prepaid-Handys.« Taylor ist jedoch beeindruckt von der Solidarität vieler Haitianer untereinander: »Die Menschen bleiben, wenn sie nur können, in ihren Stadtvierteln und helfen sich gegenseitig. Sie passen auf die Nachbarkinder auf, kochen gemeinsam, schicken ihre Jungs in die Stadt, um sich über die aktuelle Lage zu informieren.« Kleinere Geschäfte öffneten unmittelbar nach dem Beben wieder, um die Versorgung aufrecht zu erhalten. Aber die Vorräte reichten vorn und hinten nicht aus. Um nicht zu verhungern, brachen die Menschen in Lagerhäuser ein. Aus Angst, dabei von der Polizei und den UNSoldaten erschossen zu werden, machten sie das vor laufender Kamera, unter dem Schutz von Journalisten. Das erklärt, weshalb man im Fernsehen so viele Bilder von »Plünderern« zu sehen bekommt. Dass das Erdbeben Haiti so massiv getroffen hat, ist auf die große Armut der Inselbevölkerung zurückzuführen. »Ein Erdbeben des Ausmaßes, wie es die haitianische Hauptstadt heimgesucht hat, hätte in jeder Großstadt der Welt zu erheblichen Zerstörungen geführt. Dennoch ist es kein Zufall, dass Port-au-Prince heute wie eine Kriegszone aussieht«, erklärt der kanadische Politikwissenschaftler Peter Hallward. 60 Prozent der Häuser in Port-auPrince entsprachen nicht den Baustandards. Der Grund für die Armut ist westliche Einmischung. Haiti ist in den letzten Jahren in ein Billiglohnland für die amerikanische Textilindustrie verwandelt worden. Vor 40 Jahren konnte der Inselstaat seinen Lebensmittelbedarf noch zu 80 Prozent selbst decken. Mittlerweile ist

Haiti weitgehend von Importen abhängig. Und diese sind für die 75 Prozent der Bevölkerung, die mit weniger als zwei Dollar am Tag auskommen müssen, unerschwinglich. Und auch jetzt ist die westliche Intervention nicht nur hilfreich: Vor der Küste patrouillieren Kriegsschiffe, um Flüchtlinge aufzufangen, bevor sie das amerikanische Festland erreichen. Hilfsflüge aus Kuba und Venezuela erhielten keine Landeerlaubnis, obwohl Kuba seinerseits den USA sofort Überflugrechte über den eigenen Luftraum gewährt hatte. Haiti war aber nicht nur oft Fremdherrschern ausgeliefert, sondern verfügt auch über eine lange Tradition des Widerstands – angefangen mit einem Sklavenaufstand gegen die französischen Kolonialherren im späten 18. Jahrhundert. Napoleon schickte damals 10.000 Soldaten auf die Insel, auf der von knapp einer Million Sklaven Dreiviertel des französischen Bruttoinlandproduktes erwirtschaftet wurde. Trotz dieser militärischen Übermacht konnten die Haitianer 1804 ihre Unabhängigkeit erkämpfen. 1915 wurde die Insel erneut besetzt, diesmal von den USA. Rassentrennung und Zwangsarbeit wurden wieder eingeführt. Es folgten erneut Jahrzehnte des Widerstandes, bis die Amerikaner 1934 wieder abzogen. Sich abwechselnde Familien- und Militärdiktaturen beherrschten in den kommenden Jahrzehnten das Land, bis der populäre Pfarrer Jean-Bertrand Aristide 1990 an die Macht kam. Doch er wurde acht Monate später vom Militär weggeputscht. Als er 1994 unter der Schirmherrschaft der USA und der UN wieder ins Amt kam, war die Bewegung, die ihn bis dahin unterstützt hatte, längst zerschlagen. Im April 2008 kam es erneut zu größeren Protesten, dieses Mal gegen drastische Preiserhöhungen für Grundnahrungsmittel. Die Geschichte zeigt: Die Haitianer könnten die Hilfen selbst organisieren, wenn man sie nur ließe. Der Imperialismus steht ihnen jedoch im Weg, damals wie heute.

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Auch sechs Monate nach Ausbruch der Proteste gegen die Wahlfälschungen im Juli 2009 ist die Demokratiebewegung im Iran trotz aller Repressionen noch immer sehr lebendig – so sehr, dass das Regime zu einer ungewöhnlichen Maßnahme gegriffen hat. Im Vorfeld der Feierlichkeiten zum 30. Jahrestag der Revolution hat sie die Veröffentlichung von historischen Fotos aus dieser Zeit untersagt. Die Proteste, die damals zum Sturz des Schahs führten, könnten heute wohl zu sehr inspirieren.

8 Türkei Anfang Februar beteiligten sich etwa zwei Millionen Menschen in der Türkei an einem eintägigen Generalstreik. Sie solidarisierten sich mit den 12.000 Beschäftigten des Staatsbetriebs Tekel, die sich bereits seit Dezember im Ausstand befinden. Ihr Protest richtet sich gegen den Verkauf von Tekel an British American Tobacco. El Salvador

Gewalteskalation In El Salvador eskaliert die Auseinandersetzung um die Wiedereröffnung einer Goldmiene. Ende Dezember wurde im Verwaltungsbezirk Cabañas die schwangere Umweltaktivistin Dora Alicia Recinos Sorto erschossen. Auch ihr zweijähriger Sohn wurde bei dem Angriff verletzt. Sorto ist schon das dritte Todesopfer in dem Streit um die Miene des kanadisches Konzerns Pacific Rim Mining binnen sechs Monaten. Im Juni war bereits ein Aktivist gefoltert und getötet worden. Nur sechs Tage vor Sortos Ermordung erschossen Unbekannte den Vizepräsidenten des Umweltkomitees von Cabañas. Auch andere Aktivisten berichten, sie seien seit Beginn ihres Einsatzes gegen den Bergbau im Mai 2008 Drohungen, Anschlägen und Einschüchterungsversuchen ausgesetzt.

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Interview

»Wir setzen Obama unter Druck« Sherry Wolf erklärt im marx21-Interview, wie die Bewegung für die Gleichberechtigung von Schwulen und Lesben der gesamten amerikanischen Linken Auftrieb gibt

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herry, du arbeitest seit einigen Jahren in der Der Marsch fand am 10. und 11. Oktober 2009 Schwulen- und Lesbenbewegung in den USA. statt und wir forderten die vollständige rechtliche Die hat im vergangenen Jahr ein Revival erlebt. Gleichstellung von Homo-Ehen im ganzen Land. Was ist der Grund? Wir schätzen, dass etwa eine viertel Million MenBis zum Tag der Präsidentschaftswahl schen daran teilgenommen haben. 2008 – jenem Tag, an dem Barack ObBezeichnend finde ich, dass die ama gewann und an dem gleichzeitig Mainstream-Organisationen der im US-Bundesstaat Kalifornien der Schwulen- und Lesbenbewegung Bürgerentscheid »Proposition 8« gezunächst versuchten, die Verangen die Homo-Ehe durchkam – bestaltung zu ignorieren. Als das nicht fand sich die Schwulen- und Lesbenfunktionierte, attackierten sie sie, bewegung in einer Art Todesstarre. indem sie erklärten, die Bewegung Die sie dominierenden Gruppen sind sollte Obama mehr Zeit geben, um Millionen Dollar schwer, stehen unReformen in unsrem Sinne zu erter dem Einfluss von Konzernen und lassen. orientieren auf die Demokratische Dieser Marsch kam politisch genau Partei. Sie hatte seit 1993 keinen Maszur richtigen Zeit: Die Regierung senprotest mehr in der Haupstadt Obama sah sich enormen ErwarWashington D.C. organisiert. tungen ausgesetzt, den Schaden An dem Morgen, nachdem »Propozu beheben, der in acht Jahren von sition 8« angenommen worden war, George W. Bush angerichtet worSherry Wolf ist als Sozialistin in strömten jedoch tausende, hauptden war. Aber sie hatte bereits zu den USA aktiv, war Mitorganisächlich junge, nicht-organisierte verstehen gegeben, dass sie nicht satorin des »National Equality Menschen, die bis dahin nicht povorhatte, für Schwule und Lesben March« für sexuelle Gleichbelitisch aktiv gewesen waren, auf die auch nur einen Finger zu rühren. rechtigung im Oktober 2009 und Straßen, um ihrer Empörung AusDer Protest fand großen Zuspruch ist Autorin des Buches »Sexuality and Socialism« (Haymarket druck zu verleihen. gerade bei jungen Leuten, bei LinBooks 2009). Wie ich auf der Rundreise zur Vorken und im Grunde genommen stellung meines Buches »Sexualität bei einer großen Zahl homo- wie und Sozialismus« feststellte, hatten junge Leute in heterosexueller Amerikaner. Der Marsch übertraf den amerikanischen Städten – in denen im Allgealle Erwartungen. Wir haben fast keine zentralen fimeinen ein tolerantes Klima gegenüber Schwulen nanziellen Mittel dafür bereitgestellt. Er wurde »von und Lesben herrscht – keine Ahnung, dass ihre Bürunten« organisiert und finanziert, ohne dass irgengerrechte einfach abgewählt werden können. Das deine Firma oder prominente Figur aus Hollywood war ein entscheidender Augenblick für die Schwuihn unterstützt hätte. len- und Lesbenbewegung. Die gesellschaftliche Akzeptanz Homosexueller im öffentlichen Leben steht as habt ihr erreicht? in krassem Kontrast zu den offiziellen Gesetzen der Vor dem Marsch hatten sich die meisten AkUSA, und diese schizophrene Lage findet eine neue tivisten darauf konzentriert, einzelne Forderungen Generation nicht mehr hinnehmbar. durchzubringen: die Homo-Ehe in einem bestimmten Einzelstaat, das Recht Homosexueller, in der Armee zu dienen, ein Ende diskriminierender Aru hast dabei geholfen, den landesweiten beitsgesetze etc. Man muss wissen, dass es in den »Marsch für Gleichheit« (National Equality meisten US-Staaten für Arbeitgeber völlig legal ist, March) zu organisieren. Worum ging es dabei?

Sherry Wolf

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Eric Ruder/Flickr.com

Eine neue Generation wird aktiv: Junge Aktivisten der Schwulen- und Lesbenbewegung beim »Marsch für Gleichheit« in Washington Angestellte zu feuern, weil sie homosexuell sind. Aufgrund dieser Rechtslage musste die Bewegung an so vielen Fronten gleichzeitig kämpfen, dass sie sich nicht auf eine breite, landesweite Strategie zur Erkämpfung vollständiger Gleichheit konzentrieren konnte. Weil der Marsch nur eine klare Forderung hatte, nämlich die nach sofortiger, vollständiger und landesweiter Gleichheit, sind wir jetzt über den schrittweisen Ansatz, Staat für Staat zu gewinnen, hinaus. Wir wollen sofort unsere Bürgerrechte. Das hat die Diskussion im ganzen Land verändert, auch in den Medien. CNN, die New York Times und andere diskutieren jetzt die Gleichstellung der Homo-Ehe als eine politische Forderung. Der Marsch hat die politische Debatte also sowohl innerhalb der Bewegung wie in der Gesellschaft allgemein stark zu unseren Gunsten beeinflusst.

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ie steht es derzeit um die Bewegung? Als Folge des Marsches existieren nun hunderte kleiner Organisationen im ganzen Land, die sich auf das Engagement der Aktivisten stützen. Diese Gruppen hat es vor einem Jahr noch nicht gegeben. Damals bestand die Bewegung vor allem aus Netzwerken oder Gruppen, die sich auf Lobbying und die Beeinflussung politischer Mandatsträger spezialisiert hatten. Aber jetzt haben wir ein loses Netzwerk von Basisaktivisten, die in ihren Gemein-

den Proteste organisieren. Wir versuchen, diese Gruppen im Rahmen der Organisation »Equality Across America« (»Gleichheit in ganz Amerika«) zu bündeln. Das ist die Schwulen- und Lesbenorganisation, die den Marsch organisiert hat. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten haben wir fast in jeder Stadt des Landes aktive Leute, die sich für die Rechte von Homosexuellen einsetzen.

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u hast gesagt, die Führung der Bewegung habe Obamas Wahlkampf unterstützt und sei zö­ gerlich gewesen, ihn politisch unter Druck zu set­ zen. Das trifft ja auch auf die gesamte Linke in den USA zu. Aber die Schwulen- und Lesbenbewegung ist als einzige in der Lage gewesen, massenhafte Opposition gegen Obamas Politik zu organisieren. Warum ist sie in dieser Hinsicht erfolgreicher als der Rest der Linken? Zunächst einmal gibt es einen Generationenwechsel. Ich bin Anfang 40, aber die Erfahrungen Homosexueller, die halb so alt sind wie ich, sind völlig anders als meine. Ich bin als lesbische Amerikanerin mit der Erwartung aufgewachsen, keine Rechte zu haben. Die jungen Schwulen und Lesben heute gehen davon aus, zumindest rechtlich völlig gleichgestellt zu sein. Daher waren sie so schockiert, als ausgerechnet in Kalifornien, das als fortschrittlichster Staat der USA gilt, die Homo-Ehe per Referendum abgeschafft wurde. Spontane Proteste brachen www.marx21.de | Februar/März 2010 | Nr. 14

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er sich für Ziele einsetzte, für die wir noch immer in Groß-, aber auch in Kleinstädten im ganzen Land eintreten. Die Tatsache, dass Cleve Jones, ein alter aus, weil jungen Schwulen und Lesben zum ersten Mitstreiter von Harvey, den »Marsch für Gleichheit« Mal klar wurde, dass ihre Rechte einfach abgewählt organisierte, hat uns viel Aufmerksamkeit gebracht. werden können. Das war einschneidend. Der Generationenwechsel ist ein Aspekt, aber wir müssen die Entwicklung auch in den größeren Konngesichts der Tatsache, dass Obama seine Ver­ text einordnen. Auf dem ersten schwarzen Präsidensprechen bricht, wird deutlich, dass es eine ten lasten enorme Erwartungen. Obama bediente von den Demokraten unabhängige linke politische sich während seines Wahlkampfes der Sprache der Formation geben muss. Eine solche Organisation Bürgerrechtsbewegung, jetzt im Amt setzt er aber entsteht nicht über Nacht. Welche Chancen siehst keines seiner Versprechen um. du für die Linke? Zudem bedeutet die wirtschaftliche Situation für Langsam, langsam! Was wir zurzeit sehen, sind die Millionen Amerikaner, besonders für die jüngeren, ersten Embryonalformen einer Abspaltung von der einen totalen Zusammenbruch. Jugendliche wuchDemokratischen Partei. Obwohl Obama als Person sen in der Erwartung auf, einmal ein bequemes sehr beliebt bleibt, werden seine politischen EntMittelschichtsleben zu führen. Nun sehen sie sich scheidungen doch genauer unter die Lupe gegezwungen, bei Freunnommen. Und zwar nicht nur den oder der Familie einvon Leuten auf der radikalen zuziehen, weil sie kaum Linken, die nie Illusionen in genug zum Überleben die Demokraten hatten, sonverdienen. Die Wirtdern auch von reformorienschaftskrise bildet den tierten Linken, die in den USA entscheidenden Hinterals Liberale bezeichnet wergrund für die Debatte um den. Obama wird jetzt kriSchwulen- und Lesbentisch von Leuten beobachtet, rechte. Denn es herrscht die sich mit Enthusiasmus in zurzeit eine gewisse Unseinen Wahlkampf gestürzt entschlossenheit oder Zöhaben und die nun feststelgerlichkeit, den Staat oder len, dass er nichts liefern die Konzerne direkt dafür wird, wenn er nicht dazu geanzugreifen, dass sie das zwungen wird. Das ist eine Leben der Menschen zerneue Entwicklung, aber sie stören. Wirtschaftskrise hat sich noch nicht zu einer bedeutet, dass die Menunabhängigen Massenbeschen Angst um ihre Zuwegung ausgewachsen. kunft haben und ihre ZuDie Kampagne der Schwuversicht schwer erschüttert len- und Lesbenbewegung ist. Direkt in der Produktion ist eine landesweite. Sie den Kampf aufzunehmen, mag keine MassenbewePlakat des Künstlers Shepard Fairey: scheint im Moment zu gegung sein, aber in fast jeder Protest gegen das Volksbegehren gegen die wagt. Jedoch ist es derzeit amerikanischen Stadt gibt Homoehe in Kalifornien besser möglich, Kämpfe um es aktive Gruppen. Diese soziale Gerechtigkeit anzufangen, weil sie machbar bestehen zwar nicht aus hunderten von Aktivisten, und gewinnbar scheinen. Man erfährt sogar die Solidie sich wöchentlich treffen, aber es sind in der Regel darität und Sympathie von Kollegen, Nachbarn und 20 bis 30 Leute, die regelmäßig zusammenkommen. Freunden – unabhängig von deren sexueller OrienDas ist ein gewaltiger Fortschritt für die Bewegung. tierung. Das hat eine Rolle dabei gespielt, diese AusWir hatten Gewerkschaftsaktivisten auf dem Marsch, einandersetzung vor anderen zu führen. Aktivisten für die Rechte von Einwanderern und soUnd nicht zuletzt gibt es historische Zufälle. Der gar eine ganze Reihe schwarzer Bürgerrechtler. Das Film »Milk« war kommerziell wie ideologisch phäist neu. Nichtsdestotrotz müssen wir uns darüber nomenal erfolgreich. Er basiert auf der Biographie klar bleiben, dass dies bislang nur der Anfang ist. von Harvey Milk, einem Bürgerrechtler der SchwuIn den USA ergeben sich gerade eine Reihe von Möglen- und Lesbenbewegung, der erste offen Schwule, lichkeiten, die noch nicht voll entwickelt sind. Aber der in ein öffentliches Amt in Kalifornien gewählt man sieht, wohin die Reise gehen kann. Und die gewurde. Der Film hat zu einem geschärften Bewusstsellschaftliche Offenheit für linke Politik ist enorm. sein über die rechtliche Benachteiligung von HomoIch kann sagen, dass in den 26 Jahren, die ich jetzt sexuellen geführt. Die Leute erkennen, dass Harvey aktiv bin, die Dinge nie so gut aussahen wie derzeit. Milk schon vor 30 Jahren ermordet worden war, weil Die Fragen stellte Loren Balhorn feastoffun/Flickr.com

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Elmar Altvater

Marx

Dave Killingback

neu Entdecken

Aneignen, begreifen, eingreifen Weiterführung der Serie von Elmar Altvater

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arum sich mit Marx beschäftigen? Wir folgen keiner Mode, die von jenseits des Atlantik kommt, weil an US-Universitäten, anders als hierzulande, immer noch Marx gelehrt wird und nicht die letzten Traditionen der Marxforschung und kritischen Theorie ausgemerzt werden. Nein, es geht um die Befähigung zur Kritik der Gesellschaft, zur theoretisch reflektierten politischen Praxis. Der französische Sozialwissenschaftler Pierre Bourdieu hat einmal die globalisierungskritische Bewegung als eine große Kampagne der »ökonomischen Alphabetisierung« bezeichnet. Tatsächlich ist es schwer, die Krisen des Kapitalismus, die Entwicklung auf den globalen Arbeitsmärkten, die Auseinandersetzungen um die Energieversorgung, die Handelskonflikte oder den militärischen Zugriff auf ganze Weltregionen ohne die »Kritik der politischen Ökonomie« – das ist der Untertitel des Marxschen »Kapitals« – zu verstehen und politisch relevante Schlussfolgerungen daraus zu ziehen.

Es gab und es gibt gute Gründe, sich in kritischer Auseinandersetzung geeignete Begriffe zu erarbeiten, um sinnvoll politisch eingreifen zu können. In diesem Sinne hat marx21 zusammen mit Elmar Altvater ein Angebot zur Weiterführung der Serie »Marx neu entdecken«, beginnend in der nächsten Ausgabe des Magazins, erarbeitet.

Die vorgesehenen Themen des Jahres 2010 sind:

Der Staat in der Marxschen Theorie und der marxistischen Debatte

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Weltsystem und Imperialismus Klassen und Klassenkampf heute Wie ist der Übergang zum Sozialismus zu verstehen? Die marx21-Redaktion und Elmar Altvater www.marx21.de | Februar/März 2010 | Nr. 14

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Kolumne

Die Distanz überwinden

V Arno Klönne ist emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Paderborn und Autor zahlreicher Bücher zur Geschichte der Arbeiterbewegung. Er schreibt regelmäßig für marx21.

on den Unionsparteien über Gelbe und Grüne bis zur SPD ist parteienübergreifende Freude ausgebrochen: DIE LINKE »zerlege«, wie es allenthalben heißt, »sich selbst«, und zwar durch interne personelle Rivalitäten und Intrigen. Und bei manchen Akteuren in der Linkspartei geht die Sorge um, am Ende werde man auf diese Weise die Fähigkeit einbüßen, »politische Verantwortung« zu übernehmen, also als Mitregierende im Spiel zu sein. Ganz offensichtlich sind die gegenwärtigen Probleme der aus PDS und WASG zusammengeführten Partei durch Differenzen über die eigene gesellschaftspolitische Perspektive bedingt, aber die Verfahrensweisen, in denen diese ausgetragen werden, verweisen auf ein organisationspolitisches Dilemma, das so alt ist wie die Arbeiterbewegung. Linke Parteien, wenn sie den Status einer Randgruppe hinter sich haben, brauchen »hauptamtliches« Personal, bezahlte Funktionäre, besoldete Mandatsträger – Menschen also, die »für die Politik leben« und zugleich »von der Politik leben«. Und selbstverständlich steckt in dem zweiten Teil dieses Tätigkeitsprofils eine Eigendynamik, salopp formuliert: Wer einen Job hat, neigt in der Regel dazu, ihn zu festigen und womöglich auszubauen und die Inhalte seiner Tätigkeit diesem Berufsziel anzupassen. Dieses Bestreben kann sich verselbständigen gegenüber den Erwartungen derjenigen, die – im Fall politischer Organisation – den Funktionär oder Mandatar in sein Amt hineinbefördert oder gewählt haben. »Vertreter« können sich dem politischen Willen der »Vertretenen« entfremden. Zumeist ist es für die Mitglieder einer Organisation gar nicht so leicht, ihre Repräsentanten wieder los zu werden. Personeller Wechsel in Großorganisationen geschieht überwiegend im Wege der Konkurrenz unter denen, die »von der Politik leben« oder sich auf einen solchen Job schon vorbereitet haben. Das Thema hat eine lange Geschichte. In der deutschen Sozialdemokratie vor dem Ersten Weltkrieg, als die Partei zur Massenorganisation aufgestiegen war, gab es für kurze Zeit eine Debatte darüber,

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aber ohne parteimethodische Konsequenzen. Wie schwerwiegend die damals gestellte und dann wieder beiseitegelegte Frage war, zeigte sich im weiteren historischen Verlauf: Das Einschwenken der Sozialdemokratie 1914 auf die Kriegspolitik des wilhelminischen Staates war (nicht nur, aber auch) bedingt durch »Jobinteressen« ihrer professionellen Politiker. Nicht anders war es 1933, als SPD-Parteivorständler den illusionären Versuch machten, sich mit dem von Hitler geführten Staat zu arrangieren. Es bringt nicht viel, solche historischen Erfahrungen mit dem Begriff »Opportunismus« zu belegen und zu beklagen. Auch das Handeln von Berufspolitikern hat seine strukturellen Hintergründe – in der Soziologie einer Partei und des parlamentarischen Betriebs, auch (wenn Regierungsämter übernommen werden) des ministeriellen Geschäfts. Um einige höchst folgenreiche Vorgänge aus der jüngsten Geschichte der Bundesrepublik in Erinnerung zu bringen und das Problem zu verdeutlichen: Wie war es möglich, dass unter Gerhard Schröder die SPD gesellschaftspolitisch und militärpolitisch auf einen Kurs ging, der mit den Wünschen der Mehrheit der Parteimitglieder nichts zu tun hatte, von den meisten Profis in Mandaten und Parteiapparat aber willig mitgefahren wurde? Auf welche Weise wurde die grüne Partei »von oben her« zu einer spezifischen Abteilung des »bürgerlichen Lagers«? Von einer nach den Regeln innerparteilicher Demokratie erfolgten programmatischen Wende kann in beiden Fällen keine Rede sein. Es handelte sich um einen Wandel, den die jeweiligen Berufspolitiker vollführten. Was trieb sie dazu an? Linke Parteien haben ihre Ausgangspunkte im Aufbegehren gegen bestehende Machtverhältnisse. Aber Mandatsträger und hauptamtliche Funktionäre in den oberen Etagen der Politik bewegen sich in einem Handlungsfeld, das durch eben diese herrschenden Strukturen bestellt ist. Auch für Linke, die Politik zum Beruf gemacht haben, verändern sich damit die alltäglichen kommunikativen Umstände, sie werden, wenn sie sich nicht wehren, neu »sozialisiert«. In dieselbe Richtung wirkt der Druck der


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maßgeblichen Massenmedien, die Bilder vom »erfolgsträchtigen« Politiker vorgeben. Hinzu kommt inzwischen, dass politische Profis ab einem höheren Rang damit rechnen können, dass sie bei Verlust ihrer Politikämter oder beim Ausscheiden aus denselben in lukrative Jobs der privaten Großunternehmen übernommen werden. Auch diese Aussicht erzeugt Anpassungsbereitschaft, zunehmend auch vorsorgende Dienstbarkeit schon in politischen Amtszeiten. Auf der linken Seite des politischen Spektrums besteht seit jeher eine riskante Neigung, sich vor der analytischen Auseinandersetzung mit Problemen der »Politik als Beruf« zu drücken und stattdessen im Schadensfall zu moralisieren. Es wird hier auch vielfach die Kraft des Programmatischen überschätzt; die schönsten Programmformulierungen verlieren für Berufspolitiker häufig schon am Tag nach der Beschlussfassung ihre Relevanz. Noch einmal zur LINKEN: Sie hat im Prozess ihrer Herausbildung, so mein Eindruck, das Thema »Demokratie« in seiner Realität vernachlässigt, sowohl die Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik betreffend als auch die innerparteilichen Verhältnisse. Auf beiden Ebenen herrschen Zustände vor, die von einigen Politologen zynisch als »postdemokratisch« bezeichnet werden. Das Wort »Volkssouveränität« wird so zum Hohn, im Blick auf den Staat wie auf die Parteien. Jeder Versuch, der Entmündigung von

Bürgerinnen und Bürgern wie auch von Mitgliedern der Parteien entgegenzuwirken, wird sich auch auf die Frage einlassen müssen, wie Politik als Beruf aus einer antidemokratischen Eigendynamik herausgeholt werden kann. DIE LINKE könnte hier mit sich selbst beginnen. Die Partei der Grünen hat in ihrer frühen Phase versucht, der Entfremdung ihrer Profis von der politischen Basis durch statuarische Regeln vorzubeugen, die Verpflichtung zur Rotation u.ä. Die gute Absicht hat nicht lange vorgehalten, sie galt bald als unpraktisch. Offenbar ist das Problem nicht im »Rechtswege« zu lösen, sondern anzugehen nur, indem die politische Lebenswelt von Amtsträgern einer Partei und von Parlamentariern in den Blick genommen wird: Sind und bleiben sie eingebunden in Initiativen und Aktionen außerhalb des Geschäftsbetriebs von Parlament und Partei, in die Kommunikation abseits der Pressekonferenzen und Akademietagungen. – setzen sie sich den alltäglichen Erfahrungen, dem Zorn, den Zweifeln und den Hoffnungen derjenigen aus, in deren Namen sie Politik machen. Ein simples Detail: Aufschlussreich ist der Tages- und Stundenplan eines Berufspolitikers oder einer Berufspolitikerin. Man bekommt einen Eindruck davon, wie nah oder wie fern Politik als Beruf und gesellschaftspolitischer Alltagskonflikt zueinander stehen. Eine Partei, die links sein will, muss die vorherrschende Distanz nicht hinnehmen. www.marx21.de | Februar/März 2010 | Nr. 14

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Morgennebel/Flickr.com

Serie 1989-2009 – 20 Jahre Mauerfall

Verblühte Landschaften Der Niedergang der ostdeutschen Wirtschaft in den vergangenen 20 Jahren ist ein Produkt von Deregulierung, Privatisierung und Umverteilung im Interesse der westdeutschen Industrie, meint Klaus-Dieter Heiser

Z Klaus-Dieter Heiser ist Mitglied im Bezirksvorstand von DIE LINKE.Berlin-Neukölln.

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wanzig Jahre nach der politischen Wende in der DDR sind die ostdeutschen Bundesländer durch einen radikalen Anpassungs- und Umstrukturierungsprozess zu einem integralen Bestandteil der Bundesrepublik geworden. Trotzdem sind die Unterschiede zwischen »alten« und »neuen« Bundesländern nach wie vor gravierend. Sie sind vor allem in wirtschaftlichen Defiziten sichtbar. Anfang 1990 stand die Übergangsregierung Modrow (PDS) vor der Frage, was nach dem absehbaren Ende der DDR aus dem »Volkseigentum« werden solle. Von Bürgerrechtlern wurde vorgeschlagen, dass für jeden Bürger Anteilsscheine gedruckt werden. Eine Anstalt sollte diese dann »treuhänderisch« verwalten. Dieser Vorschlag wurde jedoch eben so wenig realisiert wie die ursprünglich vorgesehene Mitbestimmung in einer Treuhandverwaltung. Stattdessen wurden die Weichen in Richtung Privatisierung gestellt. Das »Volkseigentum« wurde einer Zentrale, der Treuhandanstalt (THA), unterstellt. Diese bekam alle wichtigen Besitzrechte: die Kontrolle von Kapital und Stimmrechten, die Ausgabe von Aktien, den Verkauf von Beteiligungen, die Vergabe von Nutzungsrechten an Grund und Boden. Sie wurde damit nicht nur Besitzerin sondern

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auch Eigentümerin von rund 8500 »volkseigenen« Betrieben mit etwa vier Millionen Beschäftigten in rund 45.000 Betriebsstätten. Hinzu kamen 17,2 Milliarden Quadratmeter landwirtschaftliche Flächen, 19,6 Milliarden Quadratmeter bewirtschaftete Wälder, 25 Milliarden Quadratmeter Immobilien, etwa 40.000 Einzelhandelsgeschäfte und Gaststätten, 14 Centrum-Warenhäuser sowie einige tausend Buchhandlungen, hunderte von Kinos und Hotels und einige tausend Apotheken. Während die THA Eigentümerin der Betriebe wurde, blieben jedoch die finanziellen Belastungen, d.h. die Schulden, bei den einzelnen Betrieben. Sie waren deshalb stark mit so genannten Altschulden belastet und damit für die Großbanken nicht kreditwürdig. Für »Käufer« wurden sie zum billigen Schnäppchen. Ein Instrument der THA-Privatisierungen war der Erlass oder Teilerlass der »Altschulden«. Es wird bis heute von der Bundesregierung genutzt, um z.B. den großflächigen Wohnungsabriss in ostdeutschen Städten mit dem Programm »Stadtumbau Ost« zu »fördern«. Die Aufgabe, kapitalistische Eigentumsverhältnisse wieder herzustellen, wurde 1990 zur


Im Zuge der Vereinigung wurde die THA zu einem Supersonderministerium und später zu einer Nebenstelle des Bonner Finanzministeriums. Unter den »Treuhand«-Verantwortlichen gab es anfangs erhebliche Differenzen darüber, wie der Umbau der DDR-Wirtschaft erfolgen sollte. Wollten aus der DDR kommende Vertreter ebenso wie der aus dem Westen stammende Treuhandpräsident Reiner Maria Gohlke (SPD) die Betriebe sanieren, um sie konkurrenzfähig auch gegenüber »Westfirmen« zu machen, vertraten Westdeutsche in der THA, die gerade diesen Firmen verpflichtet waren, gegensätzliche Interessen. Noch im Sommer 1990 wurde Gohlke zum Rücktritt gedrängt, mit ihm wurden auch die Vertreter der CDU-geführten DDR-Koalitionsregierung aus den Entscheidungsgremien entfernt. Der Industrieboss Detlev Rohwedder übernahm die Führung, später folgte ihm die niedersächsische CDU-Wirtschaftsministerin Birgit Breuel. Die DDR-Betriebe waren damit zum Ausschlachten freigegeben. Betriebe und Kombinate wurden »entflochten«. Führende bundesdeutsche Konzerne pickten sich die Rosinen aus dem Kuchen. Die Deutsche Bank und die Dresdner Bank »kauften« das Filialnetz der Staatsbank, die Allianz erstand für einen lächerlich geringen Preis sämtliche gewinnbringenden Versicherungen, die westdeutschen Stromriesen RWE, Preussag und Bayernwerke übernahmen die Energieversorgung der DDR, Opel, VW und Mercedes sicherten sich Autoproduktionsbeteiligungen,

die Kaufhauskonzerne die DDR-Handelsketten. Siemens schnitt sich zahlreiche Filetstücke wie den Starkstrom- und den Nachrichten-Anlagenbau heraus. Auch einige internationale Konzerne kamen zum Zuge. So übernahm der französische Ölkonzern Elf Aquitaine (heute: Total) die Minol-Tankstellenkette samt den dazu gehörenden Produktionsanlagen. Wie gut z.B. bei diesem Öl-Deal geschmiert wurde, kam durch die »Leuna-Affäre« ans Licht. Rund 15.000 staatliche Betriebe wurden durch die Treuhand privatisiert: 85 Prozent der ostdeutschen Industrie ging an westdeutsche Konzerne, 10 Prozent an ausländische Käufer, von denen über Produkte, Produktionsprofile und Kapazitäten bestimmt wird. Aktuelle Beispiele dieser Konzeption sind z.B. bei Opel in Eisenach oder bei den Chip-Fabriken in Dresden für die Beschäftigten spürbar. Für alles, was sich nicht verkaufen lies, hieß es: »Abwickeln statt sanieren«. Die Folge war eine großflächige Deindustrialisierung, die sich noch heute auswirkt.

Hochburg der Arbeits­ losigkeit: Folge der größten Deindustrialisierungswelle seit 1945

marx21-Infografik

doppelten Chance für die bundesdeutsche Industrie. Einerseits konnte sie sich durch Zugriff auf die Betriebe in der DDR Konkurrenten vom Hals schaffen. Andererseits eröffnete sich für sie eine Möglichkeit, der Rezession der Weltwirtschaft ab 1989 zu entkommen, wenn auch nur für kurze Zeit. Gegen verlangsamtes Wachstum und sinkende Exporte, beides Ausdruck einer Überproduktionskrise, wirkte, dass die bundesdeutsche Industrie durch die Währungsunion mit der DDR 16 Millionen neue Kunden bekam, die mit D-Mark bezahlen konnten. Zugleich brachen viele bestehende Wirtschaftsbeziehungen von DDR-Betrieben, z.B. nach Osteuropa, Afrika und Asien, zusammen. Stornierungen von Aufträgen und ausbleibende Anschlussbestellungen erschütterten die Wirtschaftskraft der Betriebe bis zum Zusammenbruch. Im Sommer 1990 waren bereits eine Million Ostdeutsche arbeitslos. In vielen Fällen lag es nicht, wie häufig behauptet, am technologischen Rückstand gegenüber der bundesdeutschen Industrie. So nannte das Münchner ifo-Institut, eines der größten Wirtschaftsforschungsinstitute Deutschlands, 1990 verschiedene Wirtschaftsbereiche, die nicht oder nur geringfügig unter dem BRDNiveau lagen. Darunter befanden sich der Bergbau, die Metallerzeugung, der Stahl- und Maschinenbau und ein Teil der Elekronikindustrie.

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Von den Ostdeutschen wurde diese Politik nicht widerstandslos hingenommen. Abwehrkämpfe entwickelten sich punktuell aus den Betrieben heraus und schlossen teilweise betroffene Städte oder Regionen ein. Deutschlandweit beachtet wurde z.B. der Kampf der Kali-Kumpel von Bischofferode zwischen 1992 und 1993, die sich erfolglos dagegen wehrten, dass der Kali-Bergbau zunächst an die bundesdeutsche BASF-Konkurrenz übertragen und dann eingestellt wurde. Dieses Bischofferoder Kali-Unternehmen war bis dahin sehr erfolgreich und belegte mit 13 Prozent Weltmarktanteil unter den Produzenten

»Als Folge der Deindustrialisierung sind in weiten Teilen Ostdeutschlands ›verlorene Räume‹ entstanden«

Ulrich Busch, Klaus Stei­ nitz: Ostdeutschland im 20. Jahr der Einheit. Probleme und Entwicklungstendenzen, rls Standpunkte 12/2009 (Online: www.tinyurl. com/rls-12-2009).

der Branche Platz 3. Mehr als ein Jahr dauerte diese Auseinandersetzung mit Demonstrationen, Werkbesetzungen und Hungerstreikaktionen. In Eisenhüttenstadt wurde der Kampf um das Überleben des dortigen Stahlwerkes von den gewerkschaftlichen Vertrauensleuten geführt und auch hier die Bevölkerung einbezogen: »Wenn das Werk stirbt, stirbt auch die Stadt« war das Motto der Proteste. 1995 ging das Eisenhüttenkombinat Ost (EKO) an den belgischen Konzern Cockerill Sambre. Das Stahlwerk konnte erhalten werden, allerdings verbunden mit drastischem Arbeitsplatzabbau. Die Einwohnerzahl in Eisenhüttenstadt ging von 53.048 im Jahr 1988 auf 33.091 im Jahr 2007 zurück. Dieses Beispiel steht exemplarisch für die Entwicklung in den neuen Bundesländern. Die Situation ist verheerend: Nach Abwicklungen, Modernisierungen, Umstrukturierungen und Neugründungen fehlen in der ostdeutschen Wirtschaft weitgehend industrielle Großbetriebe. Klein- und Kleinstbetriebe bestimmen das Bild in Industrie und Dienstleistungen, die Arbeitslosigkeit ist doppelt so hoch wie im Westen, die Zahl der prekär Beschäftigten nimmt zu. Zwar entwickelten sich im Zuge der Umstrukturierung der ostdeutschen Wirtschaft auch einige Branchen, wie beispielsweise der Tourismus. Jedoch herrschen dort zum Teil prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Weil die wirtschaftliche Dynamik insgesamt aber nicht in Gang kommt, gehört die Bundeswehr inzwischen zu den großen Arbeitgebern. Seit 1997 wirbt sie an Schulen mit dem Hinweis, dass sie Ausbildungsplätze in Betrieben mit derzeit 250 Euro monatlich sponsert. Nach Abschluss der Berufsausbildung erhalten die Jugendlichen eine Einstellungszusage als Soldatin oder Soldat auf Zeit, Auslandseinsatz zum Beispiel in Afghanistan inklusive.

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Die Bundesregierung weist in ihren Jahresberichten zum Stand der deutschen Einheit ausführlich auf die verschiedenen Förderprogramme hin. Die Zahlen sind beeindruckend. So wurden in Ostdeutschland von 1990 bis 2008 durch öffentliche Mittel (Regionalförderung und ERP-Kredite) Investitionen der gewerblichen Wirtschaft in Höhe von 298,7 Milliarden Euro gefördert, das sind 20.700 Euro je Einwohner. Hinzu kommen Investitionen in die Verkehrsprojekte Deutsche Einheit (VDE). Mit einem Volumen von knapp 39 Milliarden Euro umfasst es neun Schienen- und sieben Autobahn- sowie ein Wasserstraßenprojekt. In die VDE wurden im Zeitraum von 1991 bis Ende 2008 rund 28,6 Milliarden Euro investiert. Trotzdem werden die Zukunftsaussichten Ostdeutschlands vor allem von zwei negativen Tendenzen bestimmt: vom Zurückbleiben der wirtschaftlichen Dynamik gegenüber den »alten« Bundesländern und von der demografischen Entwicklung. Die geringere wirtschaftliche Dynamik hängt mit der Etablierung von »verlängerten Werkbänken« in Ostdeutschland zusammen. Das sind Betriebe, die flexibel die Produktionskapazitäten der MutterUnternehmen im Westen ausgleichen können, was sie für Krisen anfällig macht. Eine weitere Besonderheit »verlängerter Werkbänke« ist die geringere industrielle Forschung. Nur 4,3 Prozent der von der Wirtschaft in Deutschland für Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen ausgegebenen Mittel entfällt auf die »neuen« Bundesländer. Das ergab 2008 die Rostocker HIERO-Studie zu wirtschaftlichen Zukunftsfeldern in Ostdeutschland. Fehlendes Engagement der privaten industriellen Forschung wird zunehmend von Universitäten und Hochschulen in Ostdeutschland übernommen und damit auch mit Hilfe öffentlicher Mitteln finanziert. Die demografische Entwicklung in den neuen Bundesländern haben vergangenes Jahr Reiner Klingholz und Andreas Weber vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung im Auftrag der Bundesregierung untersucht. Sie kommen zum Ergebnis, dass als Folge der Deindustrialisierung in weiten Teilen Ostdeutschlands »verlorene Räume« entstanden sind. Sie prognostizieren, dass bis 2025 manche Landstriche mehr als 15 Prozent ihrer Einwohner wegen fehlender Zukunftschancen verlieren werden. Schon jetzt wandern Menschen massenhaft ab. Gut ausgebildete und junge Leute, darunter überproportional viele Frauen, verlassen ihre Heimatregionen. Hinzu kommt ein starker Rückgang der Geburten. Das führt dazu, dass in manchen Kreisen wie Hoyerswerda oder der Prignitz weniger als ein Drittel der Bevölkerung unter 35 Jahre alt ist. Aus Brandenburg sind komplette Abiturjahrgänge mangels beruflicher Perspektive zur Ausbildung oder zum Studium »in den Westen« gegangen. Viele von ihnen sind dann dort geblieben. Das Problem Abwanderung ist nicht erst


seit kurzem bekannt. So stellte die Bundesregierung 2002 massiven Wohnungsleerstand in Ostdeutschland mit rund 1 Million Wohnungen fest. Ihre Antwort: Wohnungsabriss im Programm »Stadtumbau Ost«. Seit dem Jahr 2001 sind über 820 Millionen Euro (Stand 31.03.2009) »Altschuldenhilfe« an die Wohnungsunternehmen für ca. 200.000 abgerissene Wohnungen ausgezahlt worden. Die Entwicklung im Osten Deutschlands nach dem Scheitern des Staatssozialismus fand im Zeichen des

Neoliberalismus statt. Von den »blühenden Landschaften«, die der ehemalige Bundeskanzler Helmut Kohl nach der Wiedervereinigung versprochen hatte, ist nichts zu sehen. Wird die Logik von Deregulierung, Privatisierung, Standortkonkurrenz und Umverteilung von unten nach oben nicht durchbrochen, werden die Probleme im Osten Deutschlands nicht gelöst werden können. Produktion auf der Grundlage »verlängerter Werkbänke« wird keine Dynamik auslösen, die Horrorszenarien der Demografen werden nicht gestoppt werden können.

Im Besitz der Treuhand 1990

8.500 19,6 17,2 25 Milliarden Quadratmeter Forstfläche

Milliarden Quadratmeter landwirtschaftliche Flächen

Milliarden Quadratmeter Immobilien

Installationsansicht (Detail), Andreas Siekmann. Verhandlungen unter Zeitdruck, Galerie Barbara Weiss, Berlin, 2008 Courtesy the artist and Galerie Barbara Weiss, Berlin / Foto: Jens Ziehe

volkseigene Betriebe mit etwa vier Millionen Beschäftigten in rund 45.000 Betriebsstätten

Die wirtschaftlichen Umstrukturierung Ostdeutschlands nach der Wiedervereinigung durch die Treuhand ist das Thema der Austellung »Verhandlungen unter Zeitdruck« von Andreas Siekmann. Sie ist ab 6. März in der Kunstsammlung im Stadtmuseum Jena zu sehen

Bilanz der Treuhand 1994

15.000 2,5 Betriebe wurden privatisiert

Millionen Arbeitsplätze vernichtet

400

Milliarden DM Schulden angehäuft

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»Die Kunst dem Volk!« Stephanie Hanisch erinnert an das revolutionäre AgitpropTheater in der Weimarer Republik

A

ls 1928 die Agitprop-Theatergruppe »Rote Blusen« in Berlin auftreten sollte, erkrankte der Darsteller, der in einem Sketch Karl Marx spielen sollte. Kurzerhand musste ein zufällig anwesender Genosse einspringen: »Im Nu bekam ich eine große Perücke aufgestülpt, einen gewaltigen Bart umgehängt, schnell wurde ich geschminkt und schon ›schwamm‹ ich auf der Bühne. Ich schwamm in jeder Beziehung, textlich, szenisch und wörtlich im Schweiße meines ›Karl-Marx-Angesichts‹.« So beschrieb Helmut Damerius seine erste Begegnung mit dem Agitprop-Theater. Später entwickelte er sich

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zu einem der wichtigsten Akteure dieser Bewegung und wurde zum Leiter einer der bekanntesten deutschen Gruppen, der »Kolonne Links«. Agitprop-Theater war kein Randphänomen in der Weimarer Republik, sondern Teil der politischen Arbeiterkultur. Schätzungsweise 300 solcher Gruppen gab es Ende der 1920er Jahre in Deutschland, vor allem in Großstädten, aber auch in Halle, Erfurt, Gotha oder Hagen. Die meisten Ensembles waren in Berlin aktiv, deutschlandweit bekannt wurden außer der »Kolonne Links« die »Truppe 31« und »Das Rote Sprachrohr«.


Agitprop war eine spezifische Form des politischen Kampfes und eine Möglichkeit, Menschen zu politisieren. Als Kunstwort aus den Wörtern Agitation und Propaganda gebildet, bezeichnet es einen zentralen Begriff der kommunistischen politischen Werbung. In seiner Schrift »Was tun?« hatte Lenin 1902 eine revolutionäre Strategie der massenpolitischen Arbeit entworfen. Seine Idee war eine Zeitung für ganz Russland, mit deren Hilfe die Arbeit der Partei unterstützt werden sollte. Lenin definierte in seiner Schrift den Unterschied zwischen Agitation und Propaganda wie folgt: »Unter Propaganda würden wir die revolutionäre Beleuchtung der gesamten gegenwärtigen Gesellschaftsordnung oder ihrer Teilerscheinungen verstehen, unabhängig davon, ob das in einer Form geschieht, die dem einzelnen oder der breiten Masse zugänglich ist. Unter Agitation im strengen Sinne des Wortes würden wir verstehen: den Appell an die Massen zu bestimmten konkreten Aktionen, die Förderung der unmittelbaren revolutionären Einmischung des Proletariats in das öffentliche Leben.« Agitprop war eine Theaterform, die eine marxistische Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse bot und diese Analyse anhand einzelner tagespolitischer Ereignisse aufzeigte. Adressat dieser Kunstform war in erster Linie die Arbeiterschaft. Erste Agitpropgruppen gab es in Deutschland bereits Mitte der 1920er Jahre, der Höhepunkt der Bewegung lag in den Jahren 1929/30. Diese Gruppen waren von verschiedenen Vorläufern beeinflusst. 1890 wurde die »Freie Volksbühne« gegründet mit dem Ziel, Theater zum ersten Mal Arbeiterinnen und Arbeitern zugänglich zu machen. Das Schlagwort der sich daraus entwickelnden Bewegung war »Die Kunst dem Volk!«. Volksbühnen waren Vereine mit regem Zulauf. 1890 hatte die »Freie Volksbühne« 2000 Mitglieder, 1924 bereits 140.000. Allerdings gab es auch Kritik an diesen sozialdemokratisch beeinflussten Bühnen. Erwin Piscator, einer der Begründer des revolutionären proletarischen Theaters, sprach von einem »ungestörten Dauerschlaf, in den alle, Vorstand, Autoren, Regie und nicht zuletzt das Publikum verfallen waren.« Radikale linkspolitische Themen an die Theaterhäuser zu bringen, war in der Weimarer Republik nicht einfach. Zwar wurden nach 1918 die ehemaligen Hoftheater verstaatlicht und es gab nun 150 durch die öffentliche Hand subventionierte Bühnen, jedoch mischte sich die lokale Parteipolitik in deren Führung ein. Die offizielle Zensur war in der Weimarer Republik aufgehoben, dies hieß aber lediglich, dass es keine Vorzensur mehr gab. Jederzeit konnte sich die Polizei auf »die Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit« berufen und Aufführungen verbieten. Durch den anhaltenden politischen Trend nach rechts in den letzten Jahren der Weimarer Republik fanden es Theaterdirektoren meist zu gefährlich, linke Stücke aufzuführen. Aus diesen

Gründen wurden linkspolitische Stücke zunehmend außerhalb des offiziellen Theaterbetriebs aufgeführt und es entwickelte sich eine Agitprop-Bewegung, die nicht an die Theaterhäuser gebunden war. Diese war nicht nur von der Idee der Volksbühnen beeinflusst, sondern neben anderen Einflüssen, wie den Arbeiter-Sprechchören und Massenspielen, waren auch das revolutionäre proletarische Theater Erwin Piscators und die Theaterauffassungen Bertolt Brechts für ihre Entstehung wichtig. Während Brechts Einfluss vor allem darin lag, dass er eine einfache Form der Bühnen- und Requisitengestaltung forderte, beeinflusste Piscator das Agitprop-Theater durch seine politischen Revuen wie z.B. das 1924

»Radikale linkspolitische Themen an die Theaterhäuser zu bringen, war in der Weimarer Republik nicht einfach« aufgeführte Stück »Roter Rummel«. Er übernahm die Form der bürgerlichen Ausstattungsrevuen, die nach dem Prinzip der losen Nummernfolge funktionierten und Sketche, Gesang sowie Artistik beinhalteten. Wie das spätere Agitprop-Theater verwendete Piscator Elemente der trivialen Unterhaltungskunst und verband sie mit politischen Themen. Ein weiteres Vorbild für die Agitprop-Bewegung war das Theater TRAM (Sowjetisches Theater der Arbeiterjugend) und die aus ihm entstandene sowjetische Agitprop-Bewegung der »Blauen Blusen«. Diese wurden bekannt, nachdem die Moskauer Gruppe 1927 in Deutschland aufgetreten war. Danach bildeten sich in Deutschland zahlreiche ähnliche Projekte. Eine Ursache für das Entstehen so vieler Gruppen war die Wirtschaftskrise in Deutschland. Die Darstellerinnen und Darsteller waren zum großen Teil Erwerbslose. Gearbeitet wurde als Kollektiv, wobei oft ein Leiter oder eine Leiterin die Richtung des Spielplans vorgab. Ein Darsteller fasste das Selbstverständnis der Truppen – so die Selbstbezeichnung – folgendermaßen zusammen: »Wir gingen von der exakten Bestimmung unserer Funktion aus, die die Agitation – entsprechend den taktischen Aufgaben der Kommunisten – und die Propaganda für die Ziele des revolutionären Proletariats miteinander verband. Bewusst wählten wir auch die Bezeichnung ›Truppe‹. Sie wurde zu einem militanten, sehr wendigen, disziplinierten Künstlerkollektiv von Klassenkämpfern.« Die meisten Darsteller waren Mitglieder der KPD. Nachdem sich die Partei erst 1922 Kultur- und Bildungsfragen zugewandt hatte, intensivierte sie von www.marx21.de | Februar/März 2010 | Nr. 14

Stephanie Hanisch ist Germanistin und aktiv in der LINKEN BerlinNeukölln.

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1925 bis 1933 ihre diesbezügliche Arbeit. Sie förderte die Agitpropgruppen z.B. durch die Herausgabe der Zeitung Das Rote Sprachrohr, in der theoretische Beiträge, Szenen und Stücke der Gruppen veröffentlicht wurden. 1928 veranstaltete die KPD eine Konferenz der Ensembleleitungen, danach gab es Agitpropschulungen, Wettbewerbe und es wurden Gasttourneen geplant. Einige Gruppen tourten schließlich durch ganz Deutschland und verschiedene andere Länder, vor allem durch die Sowjetunion. Nach der ursprünglichen Idee des proletarischen Theaters von Erwin Piscator wurde auf Straßen, in Hinterhöfen, Bierhallen, Festsälen, vor Fabriktoren, in Stempelstellen, Wahllokalen, zu politischen Feiern, bei Demonstrationen oder Streiks gespielt. So unterstützten die »Roten Agitatoren« und die »Kolonne Links« 1930 wochenlang den Mansfelder Bergarbeiterstreik. Die Gruppen sammelten darüber hinaus auch Gelder und bei der Lebensmittelversorgung der Lohnabhängigen war der alte Lastwagen der »Kolonne Links« ständig im Einsatz. Da es für das Agitprop-Theater wichtig war, Arbeiterinnen und Arbeiter in ihrer gewohnten Umgebung zu erreichen, mussten Dekoration und Kostüme mobil sein. Daraus folgte eine kreative Mehrfachverwendung der gleichen Utensilien, die sich schnell zu anderen Requisiten umbauen ließen. Das Erkennungszeichen wurde der Trainingsanzug, ein Kleidungsstück, das in Deutschland erst seit der Jahrhundertwende bekannt war. Der Anzug wurde durch einfache Symbole, wie z.B. Koppel, Orden oder ähnliches in unterschiedliche Kostüme verwandelt, zusätzlich wurden verschiedene Masken und Kopfbedeckungen verwendet. So konnte sich ein Darsteller schnell von einem Offizier in einen Bäckermeister oder eine andere Figur verwandeln. Inhaltlich arbeiteten die Künstler nach dem Prinzip der »lebendigen Zeitung«. Sie hatten den Anspruch,

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tagespolitisch aktuelle Stücke zu spielen. Daher gab es – angefangen von der Nazigefahr, über die Lage der Sozialdemokraten bis hin zum Abtreibungsparagraphen – kaum ein politisches Thema der Weimarer Republik, welches nicht auf den Agitpropbühnen zur Diskussion gestellt wurde. Die Stücke waren Montagen aus verschiedenen Szenen, häufig wurden kleinere Szenen um ein großes Thema gruppiert, wie einzelne Artikel in einer Zeitung um einen Leitartikel. Zu den Themen verwendete man Textgerüste, die immer wieder umgeschrieben und aktualisiert wurden. Neben szenischen Elementen war das Einbeziehen von Musik für die Aufführungen sehr wichtig. Deshalb musste jedes Mitglied ein Instrument spielen oder zumindest singen können. Viele Gruppen hatten ein eigenes Auftrittslied, mit dem sie ihre Aufführungen einleiteten. Bekannt ist heute noch der Song »Roter Wedding« der gleichnamigen Agitpropgruppe, dessen Text von Erich Weinert zu einer Melodie von Hanns Eisler geschrieben wurde. Meist konnten die Ensembles jedoch nicht auf prominente Komponisten zurückgreifen und schrieben ihre politischen Lieder selbst zu den Melodien populärer Schlager. Von besonderer Bedeutung waren auch pantomimisch-akrobatische Nummern. Schon Piscator hatte in seinen Revuen Arbeiterturner auftreten lassen, die singend Keulenschwingerübungen aufführten, um den Kampfwillen des Proletariats zu symbolisieren. Auch Boxkämpfe wurden auf der Bühne aufgeführt, bei denen Schauspieler gegeneinander antraten, die die Kandidaten der verschiedenen politischen Parteien darstellten. Die sportlichen Einlagen im Programm der »Kolonne Links« fanden sich z.B. in einer Szene, mit der auf die zunehmende Faschisierung und Militarisierung der deutschen Turnerbewegung aufmerksam gemacht wurde.


Die Agitprop-Theatertruppe »Kolonne links« war deutschlandweit bekannt. 1930 unterstütze sie den Mansfelder Bergarbeiterstreik – und karrte mit dem Ensemble-Lastwagen Lebensmittel heran

Agitprop-Vorstellungen waren also keineswegs langweilige politische Erziehungsmaßnahmen, sondern enthielten viel bissigen Humor und politische Satire. Allerdings wurden die unterhaltsamen Elemente der Vorstellungen stets durch kurze politische so genannte Kollektivreferate ergänzt, bei denen die Darsteller abwechselnd zu jeweils einem Thema sprachen. Gleichzeitig war die dokumentierende und informierende Begleitung der Bühnenhandlung zentral. Zur Darstellung der politischen Themen wurden Fotos, Schilder, Landkarten sowie Zitate aus

»Die Künstler arbeiteten nach dem Prinzip der ›lebendigen Zeitung‹. Sie hatten den Anspruch, tagespolitisch aktuelle Stücke zu spielen« Zeitungen, Dokumenten, Statistiken usw. verwendet. In einer Szene zum Thema Abrüstung traten bei der »Kolonne Links« die Figuren »England«, »Amerika«, »Italien«, »Frankreich« und »Deutschland« auf, die dem Publikum Statistiken zur Rüstung in den jeweiligen Ländern präsentierten. Viele der bekannteren Gruppen verbanden ihre Aufführungen mit einem spezifischen Ziel, z.B. warben sie für Abos kommunistischer Zeitungen, verkauften Literatur, warben für den Eintritt in die Partei oder machten Wahlkampf. Die Gruppe »Kurve Links« agitierte z.B. für die Zeitung Rote Fahne,

die »Kolonne Links« warb für die »Internationale Arbeiterhilfe«. Ziel der Aufführungen waren nicht nur ausgefüllte Aufnahmeanträge und eine volle Spendenbüchse. Im Mittelpunkt der kulturpolitischen Arbeit stand der Versuch, mit den Zuschauern ins Gespräch zu kommen. Man versuchte, die Kluft zwischen Bühne und Publikum aufzuheben und politische Diskussionen anzuregen. Dazu gab es manchmal so genannte »vorbildliche Publikumsfiguren« im Zuschauerraum, politisch geschulte Darstellerinnen und Darsteller, die während der Aufführungen Fragen stellten oder Bemerkungen einwarfen, um eine Diskussion anzuregen. Dementsprechend verlief keine Aufführung »nach Plan«, sondern es wurde improvisiert und heftig diskutiert. Aufführungen verliefen oft auch nicht nach Plan, weil der »Besuch« der Polizei alltäglich war. Viele Aufführungen wurden durch die »Ordnungshüter« vorzeitig beendet, manchmal wurden Darsteller von der Bühne herab verhaftet. Der Rechtsruck der Gesellschaft führte schließlich dazu, dass zunehmend Aufführungen verboten wurden. Gleichzeitig wurden Auseinandersetzungen mit Nazis zu einem immer größeren Problem. So schreibt Damerius: »Auf der Straße wurden die Nazis von Tag zu Tag frecher, oft hatten wir SA in Zivil im Saal und Bierseidel (Bierkrüge, Anmerkung der Redaktion) flogen auf die Bühne. Da gab es manchmal richtige Saalschlachten.« 1931 erließ Reichspräsident Hindenburg eine »Verordnung zur Bekämpfung politischer Ausschreitungen«. Diese Notverordnung bedeutete praktisch die Aufhebung der Versammlungsfreiheit und schränkte die Arbeit der Agitpropgruppen enorm ein. Mit Hitlers Machtergreifung waren öffentlich Auftritte der Gruppen dann gar nicht mehr möglich. Zahlreiche Darsteller mussten Deutschland verlassen oder fielen den Nazis zum Opfer. www.marx21.de | Februar/März 2010 | Nr. 14

★ ★★ Weiterlesen Helmut Damerius: Über zehn Meere zum Mittelpunkt der Welt. Erinnerungen an die »Kolonne Links« (Henschelverlag 1977).

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Klassiker des Monats

Das andere Amerika Ende Januar ist der Historiker und Politikwissenschaftler Howard Zinn gestorben. In seinem Bestseller »A People’s History of the United States« liefert er eine völlig neue Sicht auf die Geschichte der USA. Loren Balhorn stellt das Werk vor

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Loren Balhorn ist in den USA aufgewachsen, lebt derzeit in Berlin und ist aktiv bei Die Linke. SDS an der HumboldtUniversität.

ür sein Meisterwerk »Eine Geschichte des amerikanischen Volkes« wählte Howard Zinn eine ganz andere Perspektive, als sie gewöhnlich in Geschichtsbüchern eingenommen wird. Zinn beschreibt die Historie der Vereinigten Staaten nicht aus der Sicht männlicher, weißer Vertreter der oberen Gesellschaftsschichten, sondern »von unten«. Beim ihm stehen die alltäglichen Kämpfe der unterdrückten Sklaven, Frauen und Arbeiter im Zentrum. Zinns Werk ist geprägt von einer tiefen Wertschätzung für die amerikanische Bevölkerung. Er zeigt sie als eine Gemeinschaft, die nicht ohne Makel und zerrissen von Widersprüchen ist – und gerade deshalb höchst menschlich erscheint. Zinn stellt die gesellschaftlichen Konflikte in der amerikanischen Geschichte dar und zeigt auf, wie die Kämpfe der Vergangenheit die Gegenwart maßgeblich geprägt

»Zinn war der erste Historiker, der versuchte, die versteckte Tradition von Klassenkämpfen in der US-amerikanischen Geschichte wiederzuentdecken«

haben. Er war der erste Historiker, der versuchte, eine versteckte Tradition von Klassenkämpfen in der US-amerikanischen Geschichte wiederzuentdecken. Dabei verlässt sich Zinn nicht auf die Quellen der herrschenden Geschichtsschreibung, sondern zitiert lieber aus Reden von bekannten Persönlichkeiten der amerikanischen Linken und aus den Dokumenten diverser Befreiungsbewegungen. Wenn er sich doch gelegentlich auf die Aussagen von Wirtschaftsbossen oder des Präsidenten beruft, dann nur, um zu zeigen, welche Interessen tatsächlich hinter ihnen standen.

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Klassiker des Monats

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Zinn scheut sich nicht, die dunkleren Seiten der amerikanischen Geschichte darzustellen. Gleich im ersten Kapitel nimmt er sich einen der größten Mythen vor: die Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus. Als Schüler auf dem Land im mittleren Westen der USA habe ich gelernt, wie Kolumbus tapfer und mutig bis zum Ende des Ozeans gesegelt ist, und dort einen neuen Kontinent voller exotischer, aber furchtbar einfacher Menschen entdeckt hat. Von Zinn werden diese Einheimischen, die Arawak, hingegen mit tiefer Menschlichkeit beschreiben. Ihre Ausplünderung und der brutale Mord an ihnen durch die Europäer wird nicht ausgespart – im Gegensatz zu vielen anderen Geschichtsbüchern. Zinn beschreibt »wie die Spanier von Tag zu Tag eingebildeter wurden und nach einer Weile überhaupt nicht mehr zu Fuß gingen. Sie ritten auf den Rücken von Indianern, wenn sie in Eile waren, oder ließen sich von Indianern, die einander beim Laufen abwechselten, in Hängematten herumtragen.« Zinn zerstört diesen Gründungsmythos der USA und zeigt sehr deutlich die Brutalität auf, mit der damals der Kontinent erobert wurde. Als Zinns Buch 1980 erschien, behaupteten viele rechte Kritiker, das Buch sei nichts weiter als eine undifferenzierte Verleumdung des amerikanischen Volkes. Dass Zinns Werk weit davon entfernt ist, Verleumdungen zu verbreiten, zeigen unter anderem die den außerparlamentarischen Bewegungen gewidmeten Kapitel. Zinn betont stets die Notwendigkeit von Abwehrkämpfen und beschreibt im Detail die Erstehung der ersten sozialistischen Massenbewegung in den USA. Seine Beschreibungen von Millionen organisierten »Schwarzen, Feministinnen, Arbeiteraktivisten und Sozialisten« und die Berichte über die 55 sozialistischen Wochenzeitungen, die um die Wende vom 19. zum 20 Jahrhundert alleine in Texas und Oklahoma herausgegeben wurden, machen allen Lesern und Leserinnen deutlich, dass auch in der »Höhle des Löwen« die Möglichkeit zum organisierten Widerstand besteht. Zinn räumt mit dem Klischee


Eric Ruder/Flickr.com

Howard Zinn (3 v. l., sitzend) bei einer Konferenz der »Kampagne für die Abschaffung der Todesstrafe« im November 2009 in Chicago. Er inspirierte zahllose junge Menschen auf, die US-amerikanische Arbeiterklasse sei faul, dumm und gekauft. Stattdessen zeigt er, wie Klassenbewusstsein und die Bereitschaft zu kämpfen mit den objektiven Verhältnissen verknüpft sind. Die Lektüre von Zinns Text kann einen durchaus dazu verleiten, frustriert die katastrophale Lage der amerikanischen Linken im 21. Jahrhundert wahrzunehmen. Doch sein Buch erweckt auch Hoffnung, wenn man in lebhafter Schilderung erfährt, wie eine revolutionäre Arbeiterbewegung innerhalb von zwei Jahrzehnten mehr oder weniger aus dem Nichts entstanden ist und eine Zeit lang sogar drohte, das System auf den Kopf zu stellen.

»Eine Geschichte des amerikanischen Volkes« hat die Geschichts­lehre an amerikanischen Universitäten und zum Teil sogar an Schulen maßgeblich und dauerhaft verändert. Endlich existiert ein Gegenpart zu der offiziellen Version der Geschichte, der die Perspektive »von unten« ernsthaft behandelt. Für zahllose US-Amerikaner war Zinns Buch ein wichtiger erster Schritt zu einem kritischen Umgang mit der amerikanischen Gesellschaft und oft auch der erste Schritt zur konkreten politische Aktivität. Auch mich als jungen, verzweifelten Linken im mittleren Westen der USA hat das Buch damals stark beeindruckt.

Einen großen Schwachpunkt hat Zinns Buch jedoch. Nach seiner Analyse waren die meisten politischen Reformen des 20. Jahrhunderts scheinheilige Verbesserungen »von oben«, die nur dazu dienten, aktivistische Arbeiter an das System zu binden und ihren Widerstand zu brechen. Obwohl Reformen tatsächlich gelegentlich dazu führen können, dass die Kampfbereitschaft der Klasse abnimmt, darf man trotzdem den dialektischen Prozess nicht übersehen, durch den es zu Reformen kommt: Sie resultieren immer aus Druck von unten und tragen daher dazu bei, das Bewusstsein einer Bewegung zu stärken – indem deren Aktivisten konkrete Erfolgen erzielen und dadurch lernen, dass es sich lohnt, für bessere Bedingungen zu kämpfen. Alle diese Erfolge der Arbeiterbewegung als Betrug der herrschenden Klasse zu erklären, ist politisch falsch.

Zinn war einer der hervorragendsten Vertreter der Geschichtsschreibung von unten, aber er war nicht nur das. Er war auch ein Sozialist und ein Aktivist. Es ist tragisch, dass die nächste Generation von Sozialistinnen und Sozialisten, die in den USA gegenwärtig aufwächst, nicht mehr von seiner Weisheit begleitet wird. Aber man kann sicher sein, dass die Tradition des Widerstands, für die auch Zinn stand, nicht aussterben wird. Ganz im Gegenteil: Wie er im letzten Kapitel seines Buches (»Die kommende Revolte«) schrieb: »Wir haben gelernt, zu Stars, Anführern, Experten jeder Fachrichtung aufzuschauen, und haben damit unsere Stärke preisgegeben, unsere eigenen Fähigkeiten herabgesetzt und unser Selbst ausradiert. Doch von Zeit zu Zeit weisen die Amerikaner diese Idee von sich und rebellieren.« Das ist doch mal eine Ansage. www.marx21.de | Februar/März 2010 | Nr. 14

»A People’s History of the United States« (Harper & Row 1980) wurde in den USA seit der Erstveröffentlichung über eine Million mal verkauft. Auf Deutsch ist das Buch 2007 unter dem Titel »Eine Geschichte des amerikanischen Volkes« (Schwarzerfreitag) erschienen. Siehe auch: www.howardzinn.org.

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Die Geschichte hinter dem Song

Rage Against the Machine: »Killing in the Name« Von Yaak Pabst

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Yaak Pabst ist Politologe und Redakteur von marx21.

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Geschichte des Songs

anchmal reichen sechs Zeilen, um alles zu sagen. Der Song »Killing in the Name« von Rage Against the Machine attackiert Rassismus und Polizeibrutalität und ist dabei gleichzeitig eine unmissverständliche Aufforderung zur Gegenwehr. Mit ihrem musikalischem Mix aus Hip Hop, Funk und Metal kreierte die Band einen Sound, der so vorher noch nie zu hören war. In der Nacht des 3. März 1991 wird George Holliday aus dem Schlaf gerissen. Vor seiner Haustür lärmen Polizeisirenen, Hubschrauber kreisen über das Wohnviertel. Er hört Schreie. Als er sieht, was sich vor seinem Fenster abspielt, greift er zum Camcorder. Dass seine Videoaufnahme Geschichte schreiben wird, ahnt er zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Doch schon 24 Stunden später läuft sein Video rund um den Globus in den Nachrichtensendungen. Millionen Menschen werden Zeuge, wie mehrere weiße Polizeibeamte des Los Angeles Police Department (LAPD) einen Afroamerikaner während einer Verkehrskontrolle fast zu Tode prügeln. Obwohl Rodney King am Boden liegt, schlagen die Beamten mit Schlagstöcken auf ihn ein, malträtieren ihn mit Tritten gegen den Kopf und halten ihn dabei mit einem Elektroschocker in Schach. 56 Schläge des stahlverstärkten Polizeiknüppels treffen Rodney King binnen 81 Sekunden. Ein Jahr nach der Tat, am 29. April 1992, spricht eine weiße Jury die beteiligten Beamten trotz des Videobeweises frei. Rodney King sei »Herr der Situation gewesen«, der »jederzeit die gegen ihn gerichtete Gewalt hätte beenden können.« Eine Stunde nach dem Freispruch beginnt, was später als »LA Riots« in die Geschichtsbücher eingehen wird. Nach sechs Tagen sind 55 Menschen tot, 2300 verletzt und 1100 Gebäude zerstört. US-Präsident George Bush Senior kommandiert 13.000 zusätzliche Soldaten und Polizisten in die »Stadt der Engel«, um den Aufstand niederzuschlagen. Die meisten der 10.000 Personen, die verhaftet werden, sind schwarze junge Männer. Der Fall »Rodney King« offenbart für Millionen Menschen in den USA die Methoden von Polizei und Justiz: Lügen, Korruption, Diskriminierung, Gewalt und Nr. 14 | Februar/März 2010 | www.marx21.de

Rassismus. Daran hat sich bis heute wenig geändert. Nach einer Studie aus dem Jahre 2008 werden in Los Angeles Afroamerikaner dreimal so häufig von der Polizei angehalten wie Weiße und sogar fünfmal häufiger verhaftet. Zwar ist das LAPD besonders berüchtigt, aber das ganze hat System. Nach Angaben des Meinungsforschungsinstituts Pew Research Center befinden sich in den USA 2,32 Millionen Menschen in Haft. Das sind ein Viertel aller Gefangenen in der Welt. Jeder neunte schwarze Amerikaner im Alter zwischen 20 und 34 Jahren ist nach Angaben des US-Justizministeriums im Gefängnis. In den letzten zehn Jahren häuften sich die Fälle, in denen Polizeibeamte ähnlich brutal vorgingen wie gegen Rodney King. Das Lied »Killing in the Name« ist eine Kampfansage dagegen. Der Song startet einfach, aber wütend. Ein Akkord, viermal angeschlagen, der Bass legt funky vor und die verzerrte Gitarre groovt sich hinein – Pause. In die Stille schreit Sänger Zack de la Rocha: »Killing in the Name of« (»Töten im Namen von«). Die Band antwortet mit einem Soundwall. Schlagzeug, Gitarre, Bass setzten gleichzeitig ein und hämmern das Songthema durch die Boxen. Spätestens jetzt kann niemand mehr ruhig herumstehen. Der Song besteht aus sechs Textzeilen, eindringliche Reime, die anklagen: Killing in the name of / Some of those that work forces, are the same that burn crosses / And now you do what they told ya / Those who died are justified, for wearing the badge, they‘re the chosen whites / You justify those that died by wearing the badge, they‘re the chosen whites Töten im Namen von / Einige, die in der Truppe arbeiten, sind dieselben, die Kreuze verbrennen / Und jetzt tust du, was sie Dir sagen / Jene, die getötet wurden, werden (von aller Schuld) freigesprochen, weil sie eine Dienstmarke trugen, sie sind die auserwählten Weißen / Du rechtfertigst die Toten, indem du eine Dienstmarke trägst, sie sind die auserwählten Weißen.


De la Rocha verarbeitet lyrisch, was Millionen Menschen nach den Übergriffen auf Rodney King dachten. Er verweist auf die Kreuzverbrennungen des rassistischen Ku-Klux-Klan, dessen Ziel die Unterdrückung und Wieder-Versklavung der Schwarzen ist. Es ist mehr ein Gedicht als ein normaler Liedtext. Zack de la Rocha predigt, rappt, schreit und klärt auf. Am Ende des Songs wendet sich das Blatt – aus Anklagen wird Aufbegehren. Zehn Wörter, die dafür stehen, dass jede Rebellion mit Widerspruch beginnt. Zack de la Rocha schreit 16-mal nur diesen einen Satz und hat damit alles gesagt: »Fuck you, I won't do what you tell me« (»Fick dich, ich werde nicht tun, was du mir sagst«).

Bobak Ha'Eri/Wikipedia

Obwohl das Video verboten wird, klettert die Single von »Killing in the Name« auf Platz 25 der britischen Charts. Das dazugehörige Album, zugleich das Debüt der Band, erreicht sogar Platz 1 der US-Charts und kann sich 84 Wochen in den Top 200 halten. Mit ihrem neuen Sound erobern Rage Against the Machine die Herzen einer ganzen Generation. Sie sind nicht die ersten, die Rap und Rock vermischen, aber bei keiner anderen Band klingt es so glaubwürdig, innovativ, energiegeladen und überraschend. Bis dahin versuchen die meisten Rapper, besonders smooth zu klingen und nicht zu schreien. Laute, raue und wütende Vocals waren dem Rock vorbehalten. Aber jetzt gibt es raue, wütende RapVocals, die sich mit verzerrten Gitarren und einem funky Bass über einen groovenden dynamischen Beat bewegen – ein explosives Gemisch. Den Gitarristen der Band, Tom Morello, inspirieren die Scratch-Techniken der Hip-Hop-DJs. Unter Scratchen versteht man die Erzeugung von Tönen durch rhythmisches Hin- und Herbewegen einer laufenden Schallplatte auf einem Plattenspieler bei aufgelegter Nadel. Morello übersetzt das Scratchen auf

seine E-Gitarre und kreiert damit einen revolutionären Sound. Das Magazin Rolling Stone kürt ihn für seine außergewöhnliche und innovative Spielweise zu einem der »100 besten Gitarristen der Welt«. Ihren Berühmtheitsstatus nutzt die Band, um soziale Bewegungen zu unterstützen. Tom Morello meint: »Wir leben im Kapitalismus. Das bedeutet, dass die Verbreitung von Informationen vor allem über kapitalistische Kanäle funktioniert. Wir sind nicht daran interessiert, nur zu den Überzeugten zu sprechen. Es ist toll, in einem Hinterhof eines von Anarchisten besetzen Hauses zu spielen, aber es ist auch großartig, in der Lage zu sein, Menschen mit einer revolutionären Botschaft zu erreichen, die davon noch nicht gehört haben.« Rage Against the Machine steht wie keine andere Band für Protestkultur und Opposition. Es kein Zufall, dass der Song »Killing in the Name« auch heute noch zur Waffe gegen die Eintönigkeit der Popindustrie wird. Hunderttausende Nutzer der Internetplattform Facebook organisierten im vergangenen Winter eine regelrechte Rebellion bei der Wahl zum britischen Weihnachtshit. Die Jahre zuvor hatte immer der Gewinnersong der Pop-Castingshow X-Faktor am Ende des Jahres auch auf Platz 1 der Charts gestanden. Nun aber riefen die Internet-User dazu auf, »Killing in the Name« massenhaft zu kaufen oder sich runterzuladen. Mit Erfolg: 17 Jahre nach seinem Erscheinen landete der Song auf Platz 1 der britischen Charts. Die Band gab daraufhin bekannt, 2010 ein kostenloses Konzert in Großbritannien zu spielen, um diesen Sieg zu feiern. Tom Morello resümiert im Interview mit der BBC: »Die Kampagne war ein Lehrstück: Das gilt für kleine Dinge – zum Beispiel wer an der Spitze der Charts steht. Es gilt aber auch für die großen Dinge wie Krieg und Frieden oder soziale Ungleichheit. Wenn Leute zusammenkommen und ihre Stimme erheben, können sie das System schlagen.«

Konzert von Rage Against the Machine in Minneapolis 2008 – als Teil einer Protestveranstaltung gegen die National Convention der Republikaner, bei der John McCain zu deren Präsidenschaftskandidaten nominiert wurde www.marx21.de | Februar/März 2010 | Nr. 14

Geschichte Des Songs

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Lesen, Hören, Sehen

Im Ghetto District 9 Regie: Neill Blomkamp Südafrika/Neuseeland 2009 108 Minuten DVD-Start: 8. April 2010

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in wirklich außergewöhnlicher Science-Fiction-Film: »District 9« liefert nicht nur Action und tricktechnisch ziemlich gut animierte, aber unheimlich hässliche Außerirdische, sondern er hat auch eine politische Botschaft: Es gibt keinen Grund für Rassismus. Seit 20 Jahren schwebt über der südafrikanischen Metropole Johannesburg ein havariertes Raumschiff. Niemand weiß, wer oder was sich darin befindet. Eines Tages beschließt die MNU – eine Mischung aus UN, Sicherheitsfirma und Rüstungskonzern –, das Raumschiff zu entern und entdeckt dort hunderttausende, vor sich hin vegetierende

außerirdische Arbeiter, deren technische Elite sich aus dem Staub gemacht hat. Die echsenartigen, von den Menschen abfällig »Schrimps« genannten Wesen werden in ein riesiges Ghetto im Herzen Johannesburgs, den »District 9«, gebracht. Dort hausen sie unter katastrophalen Bedingungen, ernähren sich von Müll und Katzenfutter, das für sie zu einer Armutsdroge wird. Sich selbst überlassen, wächst die Gesellschaft auf 1,5 Millionen Wesen an – bis die MNU den Plan fasst, die Außerirdischen in ein Zeltlager mitten in der Wüste abzuschieben. Im Film werden zwar nur Aliens ausgegrenzt. Und doch sind die Analogien zum Rassismus in der menschlichen Gesellschaft nicht zu übersehen – vor allem zum südafrikanischen Apartheidsregime. So sind der Titel und die Handlung an Ereignisse angelehnt, die im so genannten »District Six« im Kapstadt der 1960er Jahre stattfanden. Damals ließ die südafrikanische Regierung die zumeist schwar-

zen Bewohner des Viertels zwangsweise umsiedeln. Aber auch auf andere Orte und Formen der Unterdrückung spielt »District 9« an. So wird der Eingang zum Ghetto von einer Figur geschmückt, die einen Schrimp Hand in Hand mit einem Menschen zeigt. Das ist ähnlich zynisch, wie die Tatsache, dass über den Grenzübergängen zwischen Israel und Gaza groß das Wort »Schalom« (»Frieden«) geschrieben steht. Auf das Bevölkerungswachstum der Schrimps reagiert die MNU mit bürokratischer Kälte. Sie beauftragt ihre Söldner, die Eier der Außerirdischen mittels Flammenwerfer zu zerstören. Die Soldaten haben noch Spaß dabei und freuen sich über die Platzgeräusche, die sie »an Popcorn erinnern«. Fast alles in dem Film lässt sich ohne Mühe auf unsere Gesellschaft übertragen. Nur die Entmenschlichung, ein wesentliches Kennzeichen von Rassismus, scheint von vorn herein durch die biologische Andersar-

tigkeit der Außerirdischen vollzogen zu sein. Diese Trennung wird jedoch durchbrochen, als der Leiter der Abschiebeaktion durch einen Unfall langsam zu einem Außerirdischen mutiert. Das macht ihn zum Versuchskaninchen für die MNU, die nun die bei den Außerirdischen gefundenen, äußerst effektiven Waffen austesten kann. Denn diese lassen sich durch Menschenhand nicht auslösen. Trotz großer logischer Lücken – Warum sind die außerirdischen Arbeiter ohne ihre »Führer« ohnmächtig? Warum benutzen sie ihre Waffen nicht selbst, um sich zu befreien? – ist dieser Film der politischste Science-Fiction-Film seit Jahren. Spannend bis zum Schluss, und vor allem: Die Außerirdischen sind nicht wie gewöhnlich die »Bösen«, sondern eindeutig Opfer skrupelloser Diskriminierung. »District 9« ist ein hervorragender Film für Klassenkämpfer, Action-Fans und ScienceFiction-Freaks gleichermaßen. Paul Grasse

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60 60 Neue arabische Literatur Winter 2009

Winter 2009 Neue arabische Literatur

Irak: Nada Yousif, Jordanien: Hisham al-Bustani; Syrien: Rosa Yassin Hassan, Dima Wannous, Esper; Palästina: Adania Irak: NadaAbeer Yousif, Jordanien: Hisham Shibli; Ägypten: Mansoura Ezz Hassan, Eldin, Nermin al-Bustani; Syrien: Rosa Yassin Dima Nezar, Khaled al-Khamissi; Saudi-Arabien: Wannous, Abeer Esper; Palästina: Adania Siba al-Hares; Bahrain: Ali Ezz al-Jallawi; Shibli; Ägypten: Mansoura Eldin, Nermin Marokko: Latifa Basir. Porträts: Christian Nezar, Khaled al-Khamissi; Saudi-Arabien: Junge, Frauke Manninga, Douraid Rahhal, Siba al-Hares; Bahrain: Ali al-Jallawi; Barbara Winkler. Marokko: Latifa Basir. Porträts: Christian Junge, Frauke Manninga, Douraid Rahhal, Frankreichs strahlendes Erbe in der Sahara Barbara Winkler. (W. Ruf) • Obamas Nahostpolitik (I. Lübben) • Israel: Ultranationalistische Frankreichs strahlendes ErbeKriegsdienstverweiin der Sahara gererRuf) (S. Elam) • Afghanistan: Frieden schaffen (W. • Obamas Nahostpolitik (I. Lübben) • mit immer mehr Waffen (M.KriegsdienstverweiBaraki) • Libanon: Israel: Ultranationalistische Nahr al-Bared: als Militärzone gerer (S. Elam) Flüchtlingslager • Afghanistan: Frieden schaffen (R. Smith) • Es geht um antiislamischen Rasmit immer mehr Waffen (M. Baraki) • Libanon: sismus, nicht um Minarette (S. Schiffer). U. a. Nahr al-Bared: Flüchtlingslager als Militärzone (R. Smith) • Es geht um antiislamischen Ras310727, 10637 Berlin, � inamo sismus, nichte.V., um Postfach Minarette (S. Schiffer). U. a. � 030/86 42 18 45, @ redaktion@inamo.de, 5,50 � � inamo e.V., Postfach 310727, 10637 Berlin, � 030/86 42 18 45, @ redaktion@inamo.de, 5,50 �

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Klima Kapitalismus Kopenhagen

Ausser Spesen nichts gewesen... Heft 8 mit einem Klima-Spezial von Bernd Brouns, Mike Davis, Alexis Passadakis, Uwe Witt und Winfried Wolf. Im Bahnhofsbuchhandel oder: Jetzt abonnieren: Jahresabo 22 Euro Mail: abo@lunapark21.net Post: Lunapark21 · An den Bergen 112 D-14552 Michendorf · Tel: 0049-33205-44694

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ie Gitarre groovt, der Beat treibt, der Bass brummt. Mit im Takt klatschenden Händen legt der peruanischstämmige Sänger Paco Mendoza auf Spanisch los. Die SpokenWord-Künstlerin Akua Naru aus New Jersey folgt auf Englisch. Die dritte Strophe ist der rauen Stimme des portugiesischen Rappers Bezegol vorbehalten. Der Eröffnungssong »Vengo« vermischt Reggae mit Latinklängen und Cumbiastyle zu einem musikalischem Ganzen. Es wird gerappt, gesungen, getoastet – die Koalas Desperados sind da. Schon beim ersten Song der Platte will man aufspringen und laut »Yeah!« rufen. Danach knallt mit »All Night Long« ein von Gitarren getriebener, leichter Ska-Takt mit dicken Bässen durch die Boxen. Hinter blubbernden Effekten verstecken sich im Balkanstyle erklingende Blechblasinstrumente, während die schwedische Jazzund Soul Sängerin Jaqee den Song endgültig in die Clubatmosphäre katapultiert. Mit »Ele Fanan« brechen die Koalas Richtung Afrika auf. Percussion begleitet Sänger Korbo. »Korbo«, das steht in seiner Heimat Burkina Faso als Attribut für all diejenigen, die sich der französischen kolonialen Besatzung widersetzt haben. Er singt, als wolle er alte Kämpfe aufleben lassen. Bei seiner kräftigen und dunklen Stimme wird einem warm ums Herz.

Bei dem Song »Fado Chupao« experimentieren die Koalas mit Fado – einem portugiesischen Musikstil, der seinen Ursprung in den Armenvierteln von Lissabon hat. Er vereint arabische Musikelemente, verschiedene Tonhöhen und viele Molltöne. Die Sängerin Laura Lopez Castro wird von der Band A Naifa aus Portugal begleitet: temperamentvoll und traurig, zwingt ihr Gesang zum Zuhören. Die Koalas überwinden Grenzen. Nicht nur sprachlich. Der sozialkritische Rap »Negro« von Foreign Beggars wendet sich gegen Rassismus und Armut, während Nosliw in »Security« den Sicherheitswahn eines Spießbürgers aufs Korn nimmt. Im Song »Emigrante« thematisiert der Frankfurter Ragga-MC D-Flame mit seiner unverkennbaren Bassstimme die Lage von illegalen Flüchtlingen. In der zweiten Strophe rappt er: »Er merkt, dass ihn sein Heimweh langsam auffrisst // und dass vieles, was er gehört hat, nur ein Traum ist // Ohne Aufenthaltsgenehmigung geht überhaupt nix // Dazu braucht man eine gültige Arbeitserlaubnis // Wenn er zurück geht, kann es sein, dass man ihn aufschlitzt // Doch der Beamte beim Asylantenamt, der glaubt nix // Seine Mutter schreibt, die Familie braucht dich // Du weißt, du wirst noch mehr leiden, wenn du jetzt aufgibst // Ein Freund sagt, du wirst reich, wenn du schlau bist // Kollegen machen gerade dickes Geld mit Rauschgift // Er nimmt das Angebot an und verkauft auch Shit // Niemand hat ihm gesagt, wie schnell man dafür im Bau sitzt.« 30 Musiker, 15 Länder, sechs Sprachen – ein Album. Auf ihrer Debüt-CD feiern die Koalas mit unglaublicher Energie, wie es ist, gemeinsam Musik zu machen. So schaffen sie einen internationalen rebellischen Sound, der neugierig auf mehr macht. Die beiden Produzenten Teka (Thilo Jacks) aus Köln und Manar El-Abed aus Montpellier

haben zweieinhalb Jahre an dem Album gebastelt. Die Mühe hat sich ausgezahlt. Die Koalas Desperados vereinen in ihrer Musik vieles: Die Attitüde des Punk, die Kompromisslosigkeit des Rap, den Zauber des Reggae und Ska, die Leichtigkeit des französischen Chanson und die Waffe der Kritik. Sie sind leidenschaftliche Musiker, die von einer Platte mehr erwarteten als eine handvoll Songs: Mut, Neugier, Veränderung – eine Kampfansage an das eintönige Programm der multinationalen Musikkonzerne. Mehr davon. Yaak Pabst

Parallelwelten

Julia Friedrichs Gestatten Elite – Auf den Spuren der Mächtigen von morgen Heyne, München 2009 256 Seiten, 7,95 Euro

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twas verwundert war ich, als die private »Elite-Uni« European Business School (EBS) anfragte, ob ich als Vertreterin der LINKEN an einer Podiumsdiskussion zum Buch »Gestatten Elite« von Julia Friedrichs teilnehmen würde. Bei einer Testwahl unter Studierenden des dritten Semesters der EBS kam die FDP auf 80 Prozent. Da kann ich nur gewinnen, dachte ich mir, sagte zu und besorgte mir das Buch. Die EBS befindet sich in einem Schloss mit eigenem Weingut direkt am Rhein. Die Veranstaltung fand im »Walter-LeislerKiep-Saal« statt und schon beim

Gang über den Parkplatz hatte ich beim Anblick der Autos nicht das Gefühl, an einer Uni zu sein. Julia Friedrichs war bei ihrem ersten Besuch an der EBS wohl ähnlich befremdet: »Warum Menschen von ›Parallelwelt‹ sprechen, sobald sich zwei Dönerbuden und ein türkischer Kulturverein in einer Straße ballen, habe ich nie verstanden. Jetzt gerade halte ich den Begriff für angebracht.« Über 10.000 Euro betragen die jährlichen Studiengebühren an der EBS. Dafür bleiben die Studierenden von den Zuständen an einer überfüllten Massen-Uni verschont – vor kritischer Wissenschaft allerdings auch. Hier kommt eine Lehrkraft auf 21 Studenten, an öffentlichen Hochschulen betreuen Lehrkräfte bis zu zehnmal so viele Studierende. Die EBS wirbt mit einem Abschlussalter von 24 Jahren und einem durchschnittlichen Einstiegsgehalt von 50.752 Euro. Die EBS war aber nur einer der vielen Orte, die Julia Friedrichs während der Recherche für ihr Buch besuchte. Sie reiste quer durch Deutschland, besuchte Elite-Unis, Elite-Internate, Elite-Schulen und sogar EliteKindergärten. Sie sprach mit Studierenden und Rektoren, aber auch mit dem linken Soziologen Michael Hartmann und mit attac-Aktivisten. Friedrichs fand die »Elite« und gibt nun Einblicke in eine andere Welt. Was PISA und Co. mit Zahlen und Fakten belegen, schildert sie anhand konkreter Beispiele: Bildung ist in Deutschland abhängig vom Geldbeutel der Eltern und diese Tendenz verstärkt sich. Denn die Privatisierung im Bildungsbereich schreitet voran, pro Woche werden ein bis zwei Privatschulen in Deutschland gegründet. Die, die es sich leisten können, kaufen sich gute Bildung, während öffentliche Schulen und Hochschulen unterfinanziert bleiben und zu »Resteschulen« zu verkommen drohen. Die Differenzierung beginnt früh. Friedrichs erlebt auf ihrer Reise ein »Wettrüsten um den

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Lesen, Hören, Sehen beeindruckendsten Kleinkindlebenslauf«. Sie bekam Einblick in eine Welt, in der schon die Wahl des Kindergartens als »berufliche Weichenstellung« gilt und Englischkurse für Säuglinge und Excel-Kurse für Vierjährige normal sind. In Potsdam haben Privatpersonen 700.000 Euro investiert, um eine klassizistische Villa in eine Fünf-Sterne-Kita mit 3000 Quadratmetern Grundstück umzubauen: »Bis zu fünfzig Kindern sollen hier bald jeden vorstellbaren Luxus genießen. 980 Euro wird die Betreuung pro Monat kosten. Allerdings ist das der Basissatz. Die Eltern können einen Chauffeur oder einen Bodyguard buchen, einen Geigen- oder Chinesischlehrer (…) Eine Erzieherin muss sich hier um nur sechs Kinder kümmern. In der normalen Welt sind es je nach Bundesland bis zu zwanzig. Die Kinder lernen Englisch. Ihnen wird mittags ein dreigängiges Vollwertmenü gekocht, morgens und abends können sie sich am Büffet bedienen.« Auch einen Wellnessbereich bekommt die Kita: »Noch ist dort, wo ein großes Aquarium entstehen soll, ein Loch in der Wand. Die Sauna ist aber schon gut zu erkennen. Im Nebenraum werden die Masseure und Physiotherapeuten arbeiten. Auch deren Leistungen können die Eltern dazubuchen. Genau wie Yoga, Ballett oder Meditation.« Julia Friedrichs Buch ist eine großartige Sozialreportage und eine schockierende, in Teilen skurril anmutende Bestandsaufnahme. Sie stellt ihren Gesprächspartnern die richtigen Fragen und legt den Finger in die Wunde. Klug geschrieben, in verständlicher Sprache, ein Reisebericht durch die Kaderschmieden der zukünftigen Elite. Ihr Fazit: »Es gab mal die Idee der Solidarität. Dass die, die viel haben, auch viel dazu beitragen, dass es allen besser geht. Wenn die einen erst in die Luxus-Kita und dann in die Privatschule gehen, während die

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anderen erst vor dem Fernseher sitzen und dann die Förderschule besuchen, ist von dieser Idee nichts mehr übrig.« Ein Buch, das alle lesen sollten, die sich kritisch mit dem deutschen Bildungssystem befassen. Janine Wissler

Kostenfaktor Mensch?

Nils Böhlke u.a. (Hrsg.): Privatisierung von Krankenhäusern. Erfahrungen und Perspektiven aus Sicht der Beschäftigten VSA-Verlag, Hamburg 2009 253 Seiten, 18,80 Euro

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ie schwarz-gelbe Bundesregierung hat die solidarische Finanzierung des Gesundheitssystems endgültig ausgehebelt. Der Patient ist nicht mehr kranker Mensch, der so schnell und so vernünftig wie möglich gesund werden soll, sondern Kunde. An ihm werden Dienstleistungen erbracht, die sich finanziell lohnen müssen. Das Abrechnungssystem nach Fallpauschalen wurde genau zu diesem Zweck eingeführt. Zudem existiert so gut wie kein deutsches Krankenhaus mehr, an dem nicht Teile wie beispielsweise der »Servicebereich« ausgelagert worden sind. Verschiedene Wissenschaftler des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung haben nun einen Sammelband herausgegeben, in dem sie Betriebsräte, Gewerkschafter und

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Wissenschaftler zu diesen Entwicklungen zu Wort kommen lassen. Das Buch bewegt sich durch seine Herangehensweise nah an der Realität. Die Autorinnen und Autoren beleuchten die ökonomischen und sozialen Hintergründe wie auch die Entwicklung im europäischen Raum, wo Deutschland in Bezug auf Privatisierungen und Abrechnungssystem als Vorreiter gilt. Zudem beschäftigen sie sich mit dem eher abschreckenden Gesundheitssystem der USA. Thorsten Schulten, wissenschaftlicher Referent, und Nils Böhlke, Doktorand am WSI, untersuchen in ihrem Beitrag die Privatisierung von Krankenhäusern in Deutschland und ihre Auswirkung auf Beschäftigte und Patienten. Sie zeigen dabei auf, dass massive Absenkungen des Lohnniveaus, häufig tariflose Zustände, weniger Personal und dadurch immens verdichtete Arbeitsbelastung die Folgen sind. Ablesen lässt sich das am rechnerischen Verhältnis von Beschäftigten zu belegten Betten: Während ein Arzt in einem größeren öffentlichen Haus im Jahr 2008 rechnerisch im Durchschnitt an 780 Tagen belegte Betten zu versorgen hatte, kamen auf seine Kollegen in einer größeren privaten Klinik 936 Belegtage – und damit rund 20 Prozent mehr. Leidtragende sind die Patienten. In weiteren Beiträgen werden anhand des Verkaufs des Landesbetriebs Krankenhäuser Hamburg an Asklepios, der Privatisierung des Universitätsklinikums Marburg und Gießen sowie des Krankenhauses Berlin-Buch dargestellt, was Privatisierung in der Praxis bedeutet. Thomas Böhm, Personalratsvorsitzender des Klinikums Stuttgart und Bezirksvorsitzender von ver.di Stuttgart, erklärt in seinem Beitrag detailliert, warum das Klinikum Stuttgart im Eigenbetrieb verbleiben muss. Der Europaabgeordnete der LINKEN Jürgen Klute erläutert

hingegen die fatale Entwicklung der Privatisierung kirchlicher Krankenhäuser. Und der ver.di-Vertreter Michael Wendl zeigt auf, wie öffentliche Krankenhäuser zu kapitalistischen Unternehmen werden. Für sehr wichtig halte ich persönlich den letzten Beitrag, in dem Wolfgang Anschütz, Gewerkschaftssekretär von ver.di in Sachsen, berichtet, wie der Verkauf der Elblandkliniken durch ein erfolgreiches Bürger­ begehren verhindert wurde. Hier und auch in anderen Artikeln wird deutlich, wie wichtig gewerkschaftliche Betriebsarbeit und der Kampf um breite tarifliche Absicherung sind. Positiv ist zudem hervorzuheben, dass die fundierten und gut recherchierten Beiträge zahlreiche Quellen und Literaturangaben zum Weiterlesen liefern. Ein insgesamt wichtiges Buch zur richtigen Zeit. Uta Spöri

Kollektiver Hass

Jean Ziegler Der Hass auf den Westen C. Bertelsmann Verlag, München 2009 288 Seiten, 19,95 Euro

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er Hass auf den Westen, diese unausrottbare Leidenschaft, beherrscht heute eine große Mehrheit der Völker in der südlichen Hemisphäre. Er ist ein wirksamer Mobilisierungsfaktor.« Woher diese Abneigung kommt und wozu sie führen kann, analysiert der Schweizer Soziologe und ehemalige UN-


Sonderbeauftragte für das Recht auf Nahrung Jean Ziegler sehr gründlich in seinem neuen Buch. »Dieser Hass ist keineswegs pathologisch, sondern manifestiert sich in einem strukturierten und rationalen Diskurs«, erklärt Ziegler. Getragen werde er durch ein kollektives Bewusstsein, welches durch ein gemeinsames Gedächtnis der Gesellschaften des »globalen Süden« geprägt sei. Dieses kollektive Gedächtnis sei dem von Individuen insofern ähnlich, als dass es auch traumatisiert sein und schlimme Erlebnisse verdrängen könne, die dann erst nach Jahren aufgearbeitet werden könnten. Diesen Mechanismus führt Ziegler an, um zu erklären, warum der aus Zeiten des Kolonialismus resultierende Hass auf die westliche Hegemonie noch heute große Widerstandsbewegungen hervorbringen kann. Es sei jedoch nicht die Geschichte des Kolonialismus alleine, die jene Feindschaft gegenüber dem Westen begründe. Sie werde vielmehr durch die gegenwärtige Politik des Anzeige

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http://www.linksnet.de Eine menschliche, nachhaltige und soziale Politik verwirklichen.

Eine andere Politik ist machbar!

Westens weiter manifestiert. So verstärke zum einen die mangelnde Distanzierung von den eurozentrischen Denkweisen, die schon im 19. Jahrhundert den Kolonialismus rechtfertigen sollten und noch heute von Vertretern westlicher Staaten artikuliert werden, die Verachtung in den südlichen Ländern. Zum anderen befördere die gegenwärtige Politik kapitalistischer Ausbeutung und Aggression und die unverblümte Doppelmoral des Westens diesen Prozess. Hierfür führt Ziegler zahlreiche Beispiele an, wobei er auf die Situation Nigerias als größtem Erdöl-Förderer Afrikas ausführlicher eingeht. In dem westafrikanischen Staat zerstören transkontinentale Ölfirmen seit Jahren die Umwelt und unterstützen gegen den Widerstand der Bevölkerung eine diktatorische Militärjunta. Im letzten Teil des Buches führt Ziegler Bolivien als Beispiel für ein Land an, das die Vorherrschaft des Westens brechen und seine indigene Identität neu aufwerten konnte. Diese »Rückgewinnung der Identität« sieht er als einen wichtigen Teil des Widerstandskampfes gegen westliche Ausbeutung und Bevormundung. »Heute empfindet der Süden Hass. Doch die Gelegenheit ist günstig für ihn, aufzubrechen und seiner selbst und der Fülle seiner Möglichkeiten habhaft zu werden.« Daher plädiert Ziegler abschließend für einen »planetarischen Gesellschaftsvertrag«, nicht zuletzt als einzige Möglichkeit, das Überleben der Menschheit insgesamt zu sichern. Allerdings geht Ziegler auf die Frage, wie der Weg zu einem solchen Vertrag aussehen soll, nicht genau ein. Zwar zieht er das Beispiel Bolivien heran, um zu zeigen, dass eine breite Bewegung eine Regierung an die Macht bringen kann, die die Hegemonie des Westens anficht. An anderer Stelle sieht er jedoch auch ein Einlenken des Westens

als Vorraussetzung dafür, dass der Hass nicht zu Fanatismus wird. Hier bleibt Ziegler zu allgemein. Dennoch ist das Buch eine sehr interessante Lektüre für alle, die die komplexen NordSüd-Beziehungen unserer Zeit verstehen wollen. Außerdem kann die Fülle von Beispielen der Linken gute Argumente liefern, mit denen die Rechtfertigungen deutscher Außenpolitik demontiert werden können. Roxana Ehlke

Ein bisschen Kapitalismuskritik

Hans-Werner Sinn Kasinokapitalismus. Wie es zur Finanzkrise kam und was jetzt zu tun ist Econ-Verlag, Berlin 2009 272 Seiten, 22,90 Euro

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ie gegenwärtige Weltwirtschaftskrise fordert die Ökonomen des Mainstreams heraus und zwingt sie zu taktischen ideologischen Zugeständnissen, die für Linke hilfreich sein können. Ein Beispiel dafür ist das Buch »Kasino-Kapitalismus«, das der Chef des Münchener ifoInstitutes Professor Hans-Werner Sinn veröffentlicht hat. Wie konnte es zu dieser Krise kommen? Eigentlich gar nicht, denn ökonomische Modelle unterstellen in der Regel die Allwissenheit der Marktteilnehmer. Lässt man aber diese weltfremde Annahme fallen, dann zeigt sich, wie Sinn ausführt, dass

Märkte keineswegs »effizient« sind. Es setzen sich vielmehr Anbieter durch, die nur deshalb billiger produzieren, weil sie minderwertige Produkte verkaufen, ohne dass die Käufer dies gleich erkennen können. Deshalb waren auch auf den Finanzmärkten Banken Gewinner, die Ramschpapiere zu hohen Preisen verkauften. Zwar merkten die Käufer schließlich, wie riskant diese sogenannten Wertpapiere waren. Doch bis dahin waren die vorsichtigen Banken, die nur geringere Profite erzielen konnten, pleite oder aufgekauft. Als weitere Krisenursache stellt Sinn heraus, dass die Banken nur mit ihrem Eigenkapital für Verluste aufkommen mussten. Den Rest übernahm der Staat. Das bedeutet: Gewinne wurden voll privat angeeignet, Verluste dagegen nur zum Teil selber getragen. Der Rest wurde »sozialisiert«, also den Sparern oder dem Staat aufgebürdet. Für Sinn ist es nicht verwunderlich, dass dieses einseitige Geschäftsmodell bei Banken gut ankam. Sinn scheint sich der Tragweite seiner Argumente jedoch nicht bewusst zu sein. Er erkennt nicht, dass damit die ganze Ideologie der Marktwirtschaft – Märkte sind effizient – in Frage gestellt ist. Vielmehr ruft er nach dem Staat, der die Finanzmärkte regulieren soll. Aber wie seine weiteren Ausführungen zeigen, ist auch das problematisch: Denn auf dem Weltmarkt konkurrieren die Staaten untereinander. Der Staat mit der, wie es Sinn nennt, »laschesten« Regulierung kann die meisten Geschäfte auf sich ziehen und hat so gegenüber seiner Konkurrenz einen Vorteil. Die Einzelstaaten werden deshalb die internationale Regulierung brechen. Aus marxistischer Sicht kann keine Planung der Weltwirtschaft durchgesetzt werden, solange Unternehmen und Staaten gegeneinander konkurrieren. Sinn fordert unrealistischerweise die Staaten auf, gemeinsam die

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Lesen, Hören, Sehen Finanzmärkte zu regulieren, obwohl der Weltmarkt eben diese Staaten in einen gegenseitigen Konkurrenzkampf treibt. Deutschland soll nach Sinns Ansicht außerdem den Arbeitsmarkt deregulieren. So entstünden Arbeitsplätze im Niedriglohnbereich. Ausgerechnet diese schlecht bezahlten und prekär Beschäftigten sollen zukünftig die Waren kaufen, welche Deutschland wegen der Krise nicht mehr exportieren kann. Auch das kann keine Lösung sein. Insgesamt liefert Sinn aber eine lesenswerte Schilderung der Krise und bringt eine Reihe von Argumenten gegen den Markt, freilich ohne diese zu Ende zu denken. Der Leser muss selbst seine Schlüsse ziehen. Thomas Walter

Imperialismustheorie reloaded

Tobias ten Brink Geopolitik: Geschichte und Gegenwart kapitalistischer Staatenkonkurrenz Westfälisches Dampfboot, Münster 2008 307 Seiten, 27,90 Euro

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it Tobias ten Brinks Buch »Geopolitik« erreicht die wissenschaftliche Debatte, die im englischsprachigen Raum in den letzten Jahren zur Herausbildung der so genannten »Neuen Imperialismustheorie« geführt hat, endlich auch Deutschland. Der Frankfurter Politologe gliedert seine Arbeit in drei große Abschnitte. Im ersten

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Teil stellt er die verschiedenen Theorien über internationale Beziehungen kritisch vor. Die klassischen Imperialismustheorien basieren seiner Ansicht nach auf einigen Annahmen, die für die heutige Situation nicht mehr verallgemeinert werden können: (1) Die Überbetonung des Kapitalexports als Triebfeder kolonialer Eroberung, (2) die Überbetonung des »Monopols« in der kapitalistischen Wirtschaft, (3) eine oftmals einseitige Krisentheorie, die entweder nur als Folge der Marktanarchie, von inneren Widersprüchen der Produktionssphäre oder der ungleichen Verteilung zwischen den Klassen erklärt wird, (4) die Überbetonung der expansiven Rolle des »Finanzkapitals« sowie die Trennung zwischen »Finanzkapital« und »Industriekapital« und zuletzt (5) eine instrumentelle Staatstheorie, die den Staat zum Werkzeug des inneren »Monopolkapitals« verklärt. Ten Brink schlägt daher im zweiten Teil des Buches vor, den Kapitalismus als ein System zu beschreiben, das auf vier Strukturmerkmalen basiert. Diese bilden allesamt eine eigenständige konflikthafte Dynamik aus, sind aber miteinander verbunden: Erstens »die vertikale Achse« zwischen Kapital und Arbeit, die sich vor allem in der Ausbeutung durch Lohnarbeit manifestiert und Klassenkonflikte zwischen Oben und Unten hervorbringt. Zweitens die »horizontale Achse« der Konkurrenz zwischen den verschiedenen Kapitalien auf dem freien Markt. Diese ist Triebfeder für die Entwicklung von Produktivkräften und für die Kapitalakkumulation, aber sie bringt ebenso Konflikte zwischen den einzelnen Kapitalfraktionen hervor. Drittens ist für die Herstellung des kapitalistischen Marktes notwendig, dass Geld als Wertstandard durch eine allen Kapitalisten äußere, also eine

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politische Instanz, definiert werden muss. Geldpolitik stellt sich dabei als konflikthafter Prozess einerseits zwischen Kapital und Staat, andererseits zwischen den Staaten heraus, die um Kapital konkurrieren. Das vierte Strukturmerkmal des Kapitalismus ist, dass das Bestehen des Staates notwendige Voraussetzung für den freien Markt ist. Neben dem Geld verspricht er unter anderem Vertragssicherheit, Infrastruktur und Krisenabmilderung. Allerdings tritt der Staat im Kapitalismus niemals alleine auf. Der kapitalistische Einzelstaat kann ten Brink zufolge »nur als Teil eines internationalen Staatensystems angemessen verstanden werden.« Kapitalistische Staaten müssten sich »daher gewissermaßen als ›Wettbewerbsstaaten‹ konstituieren«. Da der Kapitalismus aber kein Rechenspiel, sondern eine von Menschen gemachte und sich historisch verändernde Realität ist, plädiert ten Brink dafür, die internationale politökonomische Dynamik mithilfe eines von Leo Trotzki entwickelten Ansatzes zu beschreiben: der Theorie der ungleichen und kombinierten Entwicklung. Demnach sind die verschiedenen Regionen zwar insofern über den Weltmarkt »kombiniert«, dass sich neue Erfindungen über den Erdball verbreiten, dies passiert allerdings nicht harmonisch, sondern anarchichisch und »ungleich«. Es bilden sich in der Globalisierung konkurrierende Produktionszentren und Produktionsräume heraus und nicht, wie von vielen Globalisierungsoptimisten angenommen, ein harmonischer und glatter Raum. Der Autor definiert drei historische Phasen, die der Imperialismus der letzten 140 Jahre durchlaufen hat: zuerst der »klassische Imperialismus« zwischen 1870 und 1945, dann der »kalte Krieg« zwischen 1945 und 1989 und drittens den gegenwärtigen »marktliberalen

Etatismus« nach 1989. Mit dem letztgenannten Begriff verbindet der Autor im dritten Teil des Buches eine inspirierende Antwort auf die Frage, inwiefern der Neoliberalismus mit dem Wiederaufkommen der zwischenstaatlichen Konkurrenz zu Beginn des neuen Jahrtausends zusammenhängt. Der »marktliberale Etatismus« ist für ten Brink ein politisches Projekt, das die Durchsetzung eines Staatensystems mit liberaler Grundordnung zum Ziel hat. Die Staaten konkurrieren um die besten Akkumulationsbedingungen und setzen dementsprechend den neoliberalen »freien Markt« aus ihrem Eigeninteresse heraus durch. Außenpolitisch kann eine liberale Ordnung sowohl mithilfe von »weicher« (IWF, Weltbank, WTO) als auch von »harter Geopolitik« (NATO, US-Armee, Bundeswehr) etabliert werden. Obwohl »weiche« Maßnahmen von den Regierungen bevorzugt werden, nehmen die konkurrierenden Staatsapparate die globale Konkurrenz letztlich als »äußeren Zwang« wahr. Aus ihrer Sicht wird die Anwendung von Gewalt zum notwendigen Übel. Ten Brinks Doktorarbeit ist eine umfangreiche Theorie kapitalistischer Geopolitik. Der Autor versucht dabei, eine wissenschaftliche Tradition, die von Autoren wie David Harvey, Justin Rosenberg und Alex Callinicos in den letzten Jahren weiterentwickelt wurde, in den deutschsprachigen Raum einzuführen. Daher muss er oftmals auf wenigen Seiten hochkomplexe Zusammenhänge erklären. Als Leser sollte man sich deshalb die Zeit nehmen, zwischen den Kapiteln über das Gelesene nachzudenken oder – noch besser – zu diskutieren. Das 300-seitige Wissenschaftswerk liest sich sicher nicht einfach. Es gehört aber zum Anregendsten und Kreativsten, was die marxistische Imperialismustheorie hierzulande zu bieten hat. Max Steininger


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Noam Chomsky über Obamas Pläne für Afghanistan, Irak und Nahost.

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Ja, ich möchte das Magazin marx21 zum Jahrsabo bestellen (5 Ausgaben für jeweils 4 Euro frei Haus/ Ausland 7 Euro). Danach kann ich mein Abonnement jederzeit kündigen. Als Dankeschön bekomme ich eines der folgenden Bücher – bitte bei Bestellung Titel angeben! CHRIS HARMAN

Nr. 10, April 2009

Die Linke, Macht & Gegenmacht 18 Seiten Schwerpunkt Kampf um jeden Arbeitsplatz | 60 Jahre Grundgesetz | Gregor Gysi und andere über 20 Jahre 1989 | Elmar Altvater: Marx neu entdecken | Obamas Offensive | u.v.m. Nr. 11, Juni 2009

Stellt Rot sich tot? 18 Seiten Schwerpunkt Krise und Chancen der Linken | Anti-Nazi-Kampf | Hochschulpolitik | Pakistan | 20 Jahre Mauerfall | Ursachen der Piraterie | u.v.m. Nr. 12, September 2009

Antikapitalismus Debatte zum Sozialismus im 21. Jahrhundert | Anti-Nazi-Kampf | Ausbildung | Bookwatch: Erziehung | Ende der DDR | Deutsche Soldaten in Afghanistan | 2. Weltkrieg | u.v.m. Nr. 13, Winter 2009/10

Schwarz-Gelb: Schwache Sieger Schwerpunkt Dresden 2010: Nazis stoppen! | Interviews: Toralf Staud, Michael Moore, Bernd Riexinger | Wie weiter in Venezuela | Bookwatch: Israel/Palästina | Schweinegrippe | u.v.m.

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1968 Eine Welt in Aufruhr

Die Revolte in den USA, in Frankreich, Portugal, England, Deutschland, Spanien, Italien, Griechenland

1968 - Eine Welt im Aufruhr von Chris Harman / mit einem Beitrag von Yaak Pabst. Frankfurt/M. 2008, 490 Seiten

Die verlorene Revolution Deutschland von 1918 - 1923 von Chris Harman Frankfurt/M. 1998, 401 Seiten

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INFO marx21.de 14. MÄRZ 27. MÄRZ

DÜSSELDORF FREIBURG 10. APRIL 17. APRIL 17. APRIL HANNOVER BERLIN FRANKFURT


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