marx21

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marx 21 Magazin für internationalen Sozialismus

Nr. 13, Winter 2009/10 Spende: 3,50 € // ISSN 1865-2557 www.marx21.de

SCHWERPUNKT DRESDEN 2010

NA ZIS STOPPEN

Toralf Staud

erklärt, warum die NPD so gefährlich ist

Christine Buchholz

über den Charakter des Faschismus

Stefan Bornost

zur Debatte um die Bombardierung Dresdens

20 Jahre Mauerfall Freudentag oder Niederlage der Linken? Michael Moore: »Ich bin kein Reformer« Interview Wie weiter für die bolivarianische Revolution? 50 Jahre Asterix Widerstand im Römerland

Schwache Sieger Wie wir Schwarz-Gelb stoppen können.

Interview mit Bernd Riexinger »Mit Protest warten, wäre fatal« | Koalition in Brandenburg In Platzecks Falle | Perspektive Rot-Rot-Grün? Warnung aus Italien


Jakob Huber

»Guido, you have Mail! Angela, die Post ist da!« Während der gesamten Koalitionsverhandlungen wurden Unionsparteien und FDP von einer erstarkten Anti-Atom-Bewegung belagert. Am 16. Oktober machten die Aktivisten klar, dass Massen hinter ihnen stehen: 101.237 Menschen hatten den offenen Brief »Am Atomausstieg nicht rütteln« an die Koalitionsführer Merkel, Seehofer und Westerwelle bis dahin unterschrieben. Der erste Erfolg: Schwarz-Gelb hat sich nicht getraut, konkrete Entscheidungen zur Kernenergie und den Restlaufzeiten von Atomkraftwerken in den Koalitionsvertrag zu schreiben. Weitere Proteste sollen folgen.


Editorial

Liebe Leserinnen und Leser, Die Krise hat den Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit drastisch verschärft. Im Klassenkampf »von oben« versuchen die Kapitalbesitzer mit aller Macht die Kosten der Krise auf die Bevölkerungsmehrheit abzuwälzen. Der Wirtschaftsrat der CDU jubelte nach Konstituierung der schwarz-gelben Bundesregierung: »Die Union hat in den Koalitionsverhandlungen die Fesseln der Sozialdemokratie gesprengt. Der deutliche Paradigmenwechsel in der Steuerpolitik, in der Gesundheitspolitik, in der Energie- und der Innovationspolitik bringt unser Land wieder auf einen klaren marktwirtschaftlichen Kurs.« Allerdings ist die neue Regierung nicht das Resultat eines Rechtsschwenks in der Bevölkerung. Im Gegenteil: Schwarz-Gelb regiert, obwohl die Mehrheit zentrale Projekte der Regierung ablehnt. An diesem Widerspruch kann DIE LINKE anknüpfen. Schon jetzt, knapp zwei Jahre nach ihrer Gründung, hat sie das politische Parteiensystem in der Bundesrepublik verändert. Es gibt jetzt links von der SPD eine Partei der sozialen Gerechtigkeit und des Friedens. Das Ergebnis der Bundestagswahl hat DIE LINKE für die kommenden politischen und sozialen Kämpfe gestärkt. Bei ihren fünf Millionen Wählerinnen und Wählern steht sie nun in größerer Verantwortung. Wie wird sie dieser Verantwortung gerecht? Ist sie aktiver Teil und Motor außerparlamentarischer Bewegungen, von Demonstrationen, Streiks und Protesten gegen Ausbeutung, Unterdrückung und Krieg? Unterstützt die parlamentarische Arbeit der LINKEN diese Kämpfe solidarisch? Fördert sie den Schulterschluss mit den Gewerkschaften? Dafür gibt es gute Voraussetzungen und Erfahrungen aus zwei Jahren Parteiaufbau. Aber dieser Prozess ist noch lange nicht ausgereift und innerhalb des pluralen Parteiprojektes wirken unterschiedliche politische Kräfte in verschiedene Richtungen. Die weitere Entwicklung ist offen. Es besteht auch die Möglichkeit, dass sich DIE LINKE als Juniorpartner der SPD in Regierungskoalitionen begibt und zum Verwalter leerer Kassen degradieren lässt. marx21 findet das falsch. Jede Beteiligung an Kürzungen, Entlassungen und Privatisierungen würde ihre Glaubwürdigkeit massiv beschädigen. In diesen Wochen beginnt in der LINKEN die Debatte um das Parteiprogramm. Die Unterstützer des Netzwerks marx21 wollen in diesem gemeinsamen Erfahrungs- und Diskussionsprozess solidarisch für eine Partei werben, die sich auf die außerparlamentarischen Kämpfe bezieht, weil wirkliche Veränderung nur »von unten« kommen kann. Der Aufbau des Netzwerkes marx21 ist nicht abgeschlossen. Zur Mitarbeit sind alle eingeladen, die in diesem Sinne in der LINKEN wirken möchten. Das Magazin begleitet die dafür notwendigen Diskussionen. Der Kongress »Marx is muss 2009« ist die nächste Gelegenheit für den unmittelbaren Dialog. Also: Mach mit! PS: Das ist die letzte Ausgabe in diesem Jahr. Sie umfasst ein paar Seiten mehr als gewohnt – damit in den langen Winterabenden der Lesestoff nicht ausgeht. Das nächste Heft erscheint im Februar 2010. Bis dahin wünscht die Redaktion einen kämpferischen Winter, frohe Weihnachten und einen guten Rutsch!

www.marx21.de | Winter 2009/10 | Nr. 13

Editorial

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inhalt

Dresden 2010 – Nazis stoppen!

Bookwatch: Israel-Palästina

26

40 08

Die Linke unter Schwarz-Gelb

Die Linke unter Schwarz-Gelb

Dresden 2010 – Nazis stoppen

Geschichte

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Gewerkschaften: »Zur Zeit sind wir viel zu defensiv« Interview mit Bernd Riexinger

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»Die NPD arbeitet an der Faschisierung der Provinz« Interview mit Toralf Staud

22

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Schwache Sieger Von Stefan Bornost

29

Hitlers Erben Von Christine Buchholz

16

Rot-Rot in Brandenburg: In Platzecks Falle Von Georg Frankl und Lucia Schnell

32

Klassiker des Monats: Leo Trotzki: Schriften über Deutschland Von Philipp Kufferath

18

Linke Regierungsbeteiligung: Warnung aus Italien Von Marcel Bois

34

Bombardierung Dresdens: Von Opfern und Tätern Von Stefan Bornost

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Inhalt

Nr. 13 | Winter 2009/10 | www.marx21.de

SPD: Mythos Godesberg Kolumne von Arno Klönne

Bookwatch 40

Nahost: Eine notwendige Debatte Von Reuven Neumann

Internationales 44

Venezuela: »Wir stehen erst am Anfang« Interview mit Osly Hernandez

47

Schweinegrippe: Profiteure der Angst Von Hans Krause


©2009 Les Éditions Albert René/Goscinny–Uderzo

50 Jahre Asterix

Die Mauer ist weg. Was bleibt?

50

Interview mit Michael Moore

Serie 1989-2009 – 20 Jahre Mauerfall

Kultur

51

9. November 1989: »Revolution!« Von Olaf Klenke und Win Windisch

63

»Ich bin kein Reformer« Interview mit Michael Moore

Editorial

03

Leserbriefe

06

54

Die Mauer ist weg. Was bleibt? Debatte zwischen Gabriele Engelhardt und Stefan Bollinger

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50 Jahre Asterix: Widerstand im Römerland Von Marcel Bois

Impressum

06

Neues aus der LINKEN

24

Weltweiter Widerstand

38

68

Die Geschichte hinter dem Song: Mercedes Sosa: »Solo le pide a Dios« Von Yaak Pabst

70

Lesen, Hören, Sehen

Serie: Marx neu entdecken 58

Die Reproduktion des Arbeitsvermögens (10) Von Elmar Altvater und Dagmar Vinz

66

63

Rubriken

neu auf marx21.de

»Ein schlummernder Riese erwacht«

Einen ersten Erfolg haben Kernkraftgegner mit ihren Protesten errungen: Schwarz-Gelb zaudert beim Ausstieg aus dem Atomausstieg. Jochen Stay von .ausgestrahlt wertet den Koalitionsvertrag aus und beschreibt, www.marx21.de | Winter 2009/10 | Nr. 13wie es für die Anti-AtomBewegung weitergeht. www.tinyurl.com/antiatom

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Impressum

Leserbriefe

marx21 – Magazin für internationalen Sozialismus Nr. 13, Winter 2009/10

Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe gekürzt zu veröffentlichen. Zusendungen – bitte mit Absender – an die Redaktionsadresse oder per Email an redaktion@marx21.de

ISSN 1865-2557 www.marx21.de Herausgeber Stefan Bornost (V.i.S.d.P.)

Zum Artikel „Was uns zu Menschen macht“ von Frank Eßers (Heft 12)

Redaktion Marcel Bois, Stefan Bornost, Yaak Pabst Ständige Mitarbeit Jan Maas (Neues aus der Linken), Bruce Paenson (Weltweiter Widerstand), Max Steininger (Klassiker des Monats), Volkhard Mosler Mitarbeit an dieser Ausgabe Michael Bruns, Christine Buchholz, Gabriele Engelhardt, Michael Ferschke, Werner Halbauer, Klaus-Dieter Heiser, Olaf Klenke, David Meienreis, David Paenson, Lucia Schnell, Dirk Spöri, Janine Wissler, Luigi Wolf Infografiken Karl Baumann Layout Philipp Kufferath Covergestaltung Yaak Pabst Redaktion Online Yaak Pabst (verantw.), Frank Eßers, Jan Maas Druck Druckerei Langner Am Pestalozziring 14 91058 Erlangen Abonnement marx21 erscheint fünfmal jährlich. 4 Euro pro Ausgabe (inkl. Porto) Telefon: 030 – 89 56 25 11 Fax: 030 – 56 82 28 84 Mail: abo@marx21.de Bankverbindung Postbank Hamburg BLZ 200 100 20 Konto 662 310 205 Kontoninhaber: S. Bornost

Die nächste Ausgabe von marx21 erscheint im Februar 2010 (Redaktionsschluss: 15.01.) 6

Leserbriefe

Zur Debatte über das Erbe der DDR zwischen Hans Modrow und Olaf Klenke (Heft 12) Die Diskussion zwischen Hans Modrow und Olaf Klenke ist sehr interessant und regt zum Nachdenken an. Zufällig las ich parallel im Neuen Deutschland ein Interview mit Modrow über die Volksrepublik China, in welchem er gefragt wurde, wodurch sich die KP Chinas von ihren einstigen Bruderparteien in Europa unterscheidet. Seine Antwort: „Als erstes ist festzustellen, dass die KP China noch existiert, während die anderen untergegangen sind.“ Dies führt er auf die marktwirtschaftlichen Reformen des Sozialismus chinesischer Prägung zurück. Ähnlich antwortet er in der Debatte in marx21, wenn er beklagt, dass es die Führung der DDR versäumt hatte, im Zuge der Perestroika Reformen durchzusetzen. Aber hätte eine „sozialistische Marktwirtschaft“ die DDR wirklich gerettet? Es wäre unfair, Hans Modrow vorzuwerfen, er würde die Missstände im chinesischen Bergbau oder die Situation der Wanderarbeiter in der Volksrepublik China gut heißen. Aber genauer betrachtet gibt es in China – und gab es auch in der DDR – Menschen, die vom System profitierten. Gewinner und Verlierer eben. In der DDR konnte man diese Unterschiede noch weniger als in China vom unterschiedlichen Bildungsstand oder der Rate der Analphabeten abhängig machen. Warum also waren sie da – und sind es auch heute noch, selbst dort, wo Sozialisten die Geschicke in der Hand halten? Tobias Paul, Darmstadt

Zum Artikel „Proteste der Anti-Atom-Bewegung verunsichern Schwarz-Gelb“ von Frank Eßers (marx21.de, 13.10.2009)

Redaktionsadresse Redaktion marx21 PF 44 03 46 12003 Berlin Mail: redaktion@marx21.de

bedeutend, dass es internationale – hier: deutschfranzösische – Aktionen gab. Zudem ist die Region geschichtlich wichtig für die Anti-Atom-Bewegung – seit in den Siebzigern das Atomkraftwerk Whyl durch massive Proteste verhindert wurde. Vielleicht würde sich ein Artikel dazu in einer zukünftigen marx21-Ausgabe anbieten? Dirk Spöri, Freiburg

Die erste Demo gegen Atomkraft nach der Bundestagswahl fand schon am 3. Oktober in Colmar statt. 10.000 Menschen haben daran teilgenommen, darunter auch Genossinnen und Genossen der LINKEN aus Südbaden. Die Demo ist nicht nur wegen des Zeitpunktes, wenige Tage nach der Wahl, und der Anzahl der Teilnehmer etwas Besonderes. Darüber hinaus ist es

Nr. 13 | Winter 2009/10 | www.marx21.de

Frank Eßers' ansonsten hervorragender Artikel lässt eine zentrale Frage offen: Was ist eigentlich Bewusstsein? Er weist implizit nach, dass es nicht ein direkter Ausfluss unserer Gene sein kann und führt uns in die Welt der Epigenetik ein. Allerdings hilft uns dies nur bedingt weiter, denn die Epigenetik hat letztlich einen biologistischen, zuweilen fatalistischen Ansatz, auch wenn sie Umwelteinflüssen eine große Rolle zugesteht. Weiter könnte man meinen, Bewusstsein sei die Summe unserer Erfahrungen. Diese sind sicher eine wichtige Quelle. Aber auch diese Sichtweise behandelt das Individuum letztlich bloß als isoliertes Einzelwesen und nicht als gesellschaftliches Wesen. Marx hingegen sagte nicht, dass das „Sein“ das Bewusstsein bestimmt, sondern das gesellschaftliche Sein. Daran anknüpfend argumentierte der russische Marxist Valentin Vološinov 1929 in seinem Buch „Marxismus und Sprachphilosophie“, dass Bewusstsein ein gesellschaftliches und kein bloß individuelles Faktum sei. Individuen machen zwar ihre eigenen Erfahrungen. Wenn sie sich diese aber bewusst machen, können sie das nur in Gestalt der Sprache tun, genauer einer Ansprache, die an ein konkretes Publikum außerhalb ihrer selbst gerichtet ist. Bewusstsein gibt es daher nur in Gestalt des Dialogs. Diese Sichtweise, die der Individualpsychologie diametral entgegenläuft, liefert den Schlüssel für das Verständnis dafür, wie revolutionäre Situationen plötzlich und unerwartet entstehen können. Es sind eben nicht die „Individuen“, die sich dann verändert haben. Sie sind vielmehr die gleichen Individuen wie zuvor, die – vor dem Hintergrund besonderer, teils durch die eigene Aktivität hervorgerufener Umstände – einen neuen Dialog auf Massenebene aufnehmen. Revolutionen bedürfen nicht einer vorangehenden „Umerziehung“. Ein revolutionärer Dialog, oder auch nur der Dialog, der eine Streiksituation begleitet und zugleich formt, ist der Stoff jeder gesellschaftlichen Umwälzung. Aufgabe einer revolutionären Partei ist es, diesen Dialog konsequent zu Ende zu denken und ihm zur gesellschaftlichen Wirkung zu verhelfen. Der Dialog als Ausdruck des Bewusstseins unterliegt jeder kooperativen Arbeit, überhaupt jeder menschlichen Tätigkeit, auch im Alltag. Der revolutionäre Dialog schlummert sozusagen im Schoß des Kapitalismus, noch lange bevor er zum Durchbruch kommt. David Paenson, Frankfurt


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Magazin plus marx21.de – ein starkes Team D

u willst nicht zwei Monate auf die neue Ausgabe warten, um neue Analysen, Debatten und Hintergründe zu lesen? Musst du nicht – denn marx21, das ist Magazin plus Website. Die Tiefgründigkeit eines Magazins kombiniert mit der Geschwindigkeit des Internets – so versuchen wir die spezifischen Stärken des jeweiligen Mediums zu nutzen. Ein Magazin ist gut geeignet, Hintergründe und Analysen zu erläutern. Du hast in der Tagespresse etwas gelesen – wir erzählen die Geschichte hinter der Geschichte. In der LINKEN läuft eine Debatte über den künftigen Kurs der Partei – wir melden uns zu Wort. Doch natürlich kann ein Magazin, das nur fünf mal im Jahr erscheint, nicht tagesaktuell sein. Die Analyse einer wichtigen Landtagswahl zwei Wochen nach Erscheinen des Heftes, der erfolgreiche Protest gegen die Atommafia eine Woche später – das könnte von uns nur in der nächsten Ausgabe thematisiert werden Das ist zu spät, meinen wir. Hier kommt marx21.de ins Spiel. Sonntag wird gewählt, Dienstag findest du die Analyse online. Eine große Demo ist ohne dich gelaufen, aber du bist so gut wie dabei gewesen – weil du auf marx21.de Bilder, Videos und einen Bericht mit O-Tönen findest. Ein Beispiel: Anfang November treffen sich bundesweit Nazigegner auf der Aktionskonferenz »Dresden Calling«. Dort soll der antifaschistische Widerstand gegen den alljährlichen Neonaziaufmarsch anlässlich des Jahrestages der Bombar-

dierung Dresdens vorbereitet werden. Mit dem Online-Artikel haben wir die Konferenz vorgestellt. Im aktuellen Heft findet sich ein passender Verschenke Schwerpunkt mit Artikeln, zum Beispiel zur Frage: ein Abo und »Wie können wir die Nazis stoppen?« oder der bekomm' ein Debatte in der Linken, wie die Bombardierung Buch. Dresdens zu bewerten ist. Da das Magazin noch vor der Konferenz in Druck gegangen ist, können wir über deren Ergebnisse hier nicht berichten. Das werden wir auf marx21.de tun. So entsteht ein Angebot, das unsere Leserinnen und Leser zeitnah informiert und beim Aufbau des Widerstandes gegen Neonazis helfen soll. Diese Verschränkung von Print »...weil das Magazin konsequent und Online hat natürlich seinen antikapitalistisch ausgerichtet ist, Preis. Zwar sind die Inhalte auf marx21.de kostenlos und werden verblasste Kardinaltugenden de r es auch bleiben. Doch wir müsLin ken rea nim ier t und konsequent sen Ressourcen für die OnlinePartei nimmt für die Entrechtete Redaktion bereitstellen. Das tun n und wir aus den Einnahmen des Ausgebeuteten. Eine herzerfrisc hende Magazins. Und daher brauchen Antithese zur schleichenden Ne wir dich. Mit einem Abo stärkst olibedu nicht nur unser Magazin, ralisierung und Verkulturindustr ialisiesondern auch die Website. run g lin ker Me dien.« Und falls du noch nicht weißt, was du deinen Lieben und Susann Wit t-Stahl, Freunden zu Weihnachten Hamburg schenkt sollt: Ein Abo bietet Lesestoff für das ganze Jahr.

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Abo-Kampagne

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Schwerpunkt Die Linke unter Schwarz-Gelb

12 Schwarz-Gelb: Schwache Sieger Wie wir Merkel stoppen kĂśnnen

16 Brandenburg: In Platzecks Falle Analyse eines Kapitulationsvertrages

18 Warnung aus Italien

Marcel Bois Ăźber Linke in der Regierung

Nr. 13 | Winter 2009/10 | www.marx21.de Jakob Huber

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»Zur Zeit sind wir viel zu defensiv« Es ist absehbar, dass die neue Regierung Arbeitnehmer und Arme für die Krise zahlen lassen wird. Bernd Riexinger sprach mit Yaak Pabst über drohende Kürzungen, die Aufgaben der Gewerkschaften und den Widerstand gegen Sozialabbau

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ährend FDP-Parteichef Guido Westerwelle die Gewerkschaften vor vier Jahren noch als »die wahre Plage in Deutschland« beschimpfte, lobt die Kanzlerin jetzt die Arbeitnehmervertreter und fordert sie zur weiteren Mithilfe bei der Bekämpfung der Wirtschaftskrise auf. DGB-Chef Sommer kritisiert zwar den Koalitionsvertrag, betont aber auch, dass »die Kanzlerin in Sachen Tarifautonomie, Mitbestimmung und Kündigungsschutz Wort gehalten hat.« Seiner Meinung nach sei »ein Dammbruch« verhindert worden. Wie bewertest du den Koalitionsvertrag, sind die Zeiten der Konfrontation vorbei? Nein. Schwarz-Gelb setzt die neoliberale Politik der Großen Koalition verschärft fort. Merkel und Westerwelle wollen einen generellen Umbau des Sozialstaates zu Lasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Erstes Ziel ist das Gesundheitswesen. Die sogenannte Kopfpauschale soll eingeführt werden. Gut für alle, die reich und gesund sind – schlecht für Normalverdiener, Arme und Kranke. Außerdem soll der Arbeitgeberbeitrag in der gesetzlichen Krankenversicherung eingefroren werden. Damit wird das solidarische Krankenversicherungssystem ausgehebelt. Unternehmer profitieren, die Beschäftigten zahlen. Gelingt der schwarz-gelben Regierung dieses Vorhaben, ist das ein Dammbruch für den weiteren Umbau und die Zerschlagung anderer Bereiche des Sozialstaates. Ein zweiter Großangriff findet auf der Ebene der Steuerpolitik statt....

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ber die neue Regierung verspricht »mehr Netto vom Brutto« und plant steuerliche Entlastung in Milliardenhöhe... ...ja aber für wen und zu welchem Preis? Von den sogenannten »steuerlichen Entlastungen« profitieren doch vor allem Unternehmer und Reiche. Diese Steuersenkungen gehen zu Lasten der Haushalte von Ländern und Kommunen. Dabei müssten die Kommunen finanziell gestärkt werden. Schon jetzt fehlen dort für die öffentliche Daseinsfürsorge

Milliarden. Die schwarz-gelben Steuerpläne werden die finanzielle Notlage der Kommunen weiter forcieren – der Kostendruck wird nach unten weitergereicht: Haushaltssperren, Sozialkürzungen, Personalabbau und höhere Gebühren werden die Folge sein. Leidtragende sind die Verbraucher – vor allem Menschen mit niedrigem Einkommen. Diese Regierung spielt nicht mit offenen Karten. Kanzlerin Merkel und Vizekanzler Westerwelle erzwingen den sozialen Abbau in Ländern und Gemeinden, während die Bundesregierung sich das Etikett »sozial gerecht« anheftet. Wir dürfen diesem Taschenspielertricks nicht auf den Leim gehen. Die Gewerkschaften sind doch kein Hasenzüchterverein, sondern wir vertreten die Interessen von Millionen Beschäftigten. Als Klassenorganisationen haben die Gewerkschaften die Aufgabe offensiv die Interessen der Arbeitnehmer zu vertreten. Zur Zeit sind wir viel zu defensiv.

Bernd Riexinger ist ver.di-Geschäftsführer des Bezirks Stuttgart und Mitglied des geschäftsführenden Landesvorstands der LINKEN in Baden-Württemberg.

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ie öffentlichen Kassen sind hoch verschuldet. Länder und Kommen klagen schon seit Langem über chronische Unterfinanzierung. Was bedeutet das für die Auseinandersetzungen im öffentlichen Dienst? Ver.di muss sich auf harte Auseinandersetzungen vorbereiten. Ein wesentliches Element der neoliberalen Politik war und ist die Privatisierung von öffentlichen Einrichtungen und Dienstleistungen. Um der finanziellen Katastrophe zu entgehen, verkauften viele Städte und Gemeinden ihre Krankenhäuser und Stadtwerke, privatisierten die Müllabfuhr oder die Wasserversorgung. Durch die schwarz-gelben Pläne bei der Steuerreform wird der Druck, dort weiterzumachen, verstärkt. Deswegen brauchen wir schon jetzt eine Kampagne für eine bessere finanzielle Ausstattung der Kommunen. Ver.di muss an der Frage richtig Druck machen. Nach dem Motto: Mehr Geld für Schulen, Schwimmbäder und Krankenhäuser – die Reichen sollen zahlen. Die Forderung nach Ausbau des öffentlichen Sektors paart sich auch mit der Misere im Bildungssystem, www.marx21.de | Winter 2009/10 | Nr. 13

Schwerpunkt

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den Defiziten in der Gesundheitsversorgung und der Notwendigkeit einer verstärkt ökologischen Orientierung. Die beeindruckenden Bildungsstreiks, die zum Beispiel in Stuttgart gemeinsam mit Erzieherinnen und Erziehern organisiert wurden, geben eine Vorahnung, welche gesellschaftlichen Bündnisse die Gewerkschaften auf diesem Feld schließen können.

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om 13. bis 15. November 2009 organisiert das Bündnis »Wir zahlen nicht für eure Krise« eine bundesweite Aktionskonferenz in Stuttgart. Du bist Mitinitiator der Konferenz. Warum? Wir organisieren diese Konferenz, um den gemeinsamen Protest zu planen. Schon vor der Bundestagswahl haben sich die Auseinandersetzungen um die konkrete Abwälzung der Krisenkosten intensiviert: Belegschaften wehren sich gegen Personalabbau und Outsourcing, hunderttausende Studierende und Schüler demonstrierten gegen die Krise im Bildungsbereich, Zehntausende gegen Überwachungswahn und die Verlängerung der AKW-Laufzeiten. Jetzt haben wir eine neue Regierung und die Protestbewegung muss darüber beraten, wie es weiter geht. Gemeinsam wollen wir den schwarz-gelben Koalitionsvertrag diskutieren, bewerten und entscheiden, an welchen Punkten wir den Widerstand organisieren können.

W

as schlägst du vor? Die schwarz-gelbe Regierung startet zwei Großangriffe. Auf die sozialen Sicherungssysteme und in der Steuerpolitik. Hier müssen wir handeln, Gegenforderungen diskutieren und den Protest bündeln. Ich halte es für völlig falsch, abzuwarten. Gerade die Gewerkschaften wären schlecht beraten, jetzt nicht alles dafür zu tun, den Widerstand aufzubauen. Ich werde dafür argumentieren, dass es im März einen ersten Aktionstag gibt. Beispielsweise mit landesweiten Demonstrationen und Kundgebungen. Wir brauchen einen aufsteigenden Aktionsplan. In zahlreichen Städten haben sich schon lokale Bündnisse unter dem Motto »Wir zahlen nicht für Eure Krise« gebildet. Solche Strukturen brauchen wir überall.

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as ist auf der Konferenz genau geplant? Es wird Workshops zu verschiedenen Themenbereichen geben. Beispielsweise über die »Auswirkungen der Krise in den Betrieben – Kampf um Arbeitsplätze, Lohn und Arbeitsbedingungen« oder der Workshop »Auswirkungen der Krise auf die öffentlichen Haushalte – Gegenwehr der Beschäftigten und Bürger/innen für eine soziale Infrastruktur«. Dabei geht es uns darum, Perspektiven gegen die unsoziale Sparpolitik und für die Verbesserung der öffentlichen Daseinsvorsorge zu entwickeln. Uns interessiert natürlich auch die

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Schwerpunkt

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globale Dimension der Krise. Deswegen wird es den Workshop »Internationale Antworten und Perspektiven« geben. Natürlich warten viele Menschen noch ab, wie sich die Regierung positionieren wird. Aber die Proteste müssen vorbereitet werden. Die Konferenz lädt alle Interessierten ein, gemeinsam die gegenwärtige Situation einzuschätzen, bisherige Aktivitäten zu reflektieren und über die nächsten Schritte, Strategien und Perspektiven zu beraten.

W

as können Gewerkschafter tun, um die Protestbewegung aufzubauen? Und was können Studierende und Schüler machen? Ende November werden Studierende und Schüler eine Neuauflage des Bildungsstreiks organisieren. Hier kann jeder und jede aktiv werden. Für Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter ist es wichtig, das sie diese Proteste unterstützen. Ich halte es für wichtig, dass klar wird: Die Bildungsstreiks sind Teil der Krisenproteste. So sehen es auch viele der Bildungstreik-Aktiven. Für mich wäre ein erfolgreicher Bildungsstreik ein gelungener Auftakt für die kommenden »Krisenproteste«. In den Betrieben, im öffentlichen Dienst und auf lokaler Ebene muss die Gegenwehr aufgebaut werden. Das ist die Hauptaufgabe der Gewerkschaften. Wichtig wäre, die Aktionen inhaltlich zu begleiten. Das heißt auch, auf betrieblicher Ebene Aufklärung zu betreiben und Diskussionsangebote zu schaffen. Wir müssen uns schließlich auch argumentativ gegen Schwarz-Gelb in Stellung bringen. Wir brauchen eine Aktivierung der Gewerkschaftsmitglieder. Jeder kann sich einbringen.

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u bist auch Mitglied der LINKEN und ihres Landesvorstandes Baden-Württemberg. Warum soll eine linke Partei soziale Bewegungen mit aufbauen? Reicht es nicht aus, in den Parlamenten aktiv zu sein? Für mich muss eine linke Partei den politischen Anspruch haben, die gesamte Gesellschaft grundlegend zu verändern. Die Gesellschaft ist aber mehr als das Parlament. Die Gesellschaft verändern wir nicht nur im Überbau. Wenn wir eine andere Welt wollen, müssen wir die Ökonomie und das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit verändern. Das findet in der außerparlamentarischen Auseinandersetzung statt. Wenn die Partei einen Beitrag leisten will, dass die Gesellschaft verändert wird, dann muss sie dort tätig sein. Sie kann nicht so tun, als wenn das alleine übers Parlament passiert. Zum anderen finden außerhalb des Parlaments reale Auseinandersetzungen statt. Das muss DIE LINKE im Fokus haben. Menschen passen sich an, oder sie wehren sich. Nach meinen Verständnis muss die Partei das »sich wehren« unterstützen, stärken und dem eine Sprache geben. Das heißt auch,


Bernd Riexinger

Krankenhauspersonal bei einer ver.di-Aktion in Baden-Württemberg: Schwarz-Gelb hat das Gesundheitswesen im Visier Forderungen und Alternativen gemeinsam zu entwickeln und vorzustellen. So können wir einen Beitrag zu den gesellschaftlichen Debatten leisten. Auch für die Partei selber ist das wichtig. Die Partei muss den Anspruch haben, in den gesellschaftlichen Raum hineinzuwirken. Nicht nur über die Parlamente und die Medien, sondern vor allem durch die Verankerung in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen – den kleinen und den großen Kämpfen vor Ort, in den Betrieben, Universitäten, Schulen und Stadtteilen. Die Arbeit an der Basis ist zentral. Hier kann DIE LINKE auf die Gewerkschaften zugehen, Bündnisarbeit machen und dort sein, wo sich vor Ort etwas bewegt. Die Partei soll Menschen zusammenbringen und im Kampf praktisch unterstützen. Die Menschen müssen erfahren, dass DIE LINKE auf ihrer Seite steht.

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as macht DIE LINKE in Baden-Württemberg, um die Protestbewegung zu unterstützen? DIE LINKE ist anerkannter Teil des Protest­ bündnisses »Wir zahlen nicht für eure Krise«. Wir haben die Kreisverbände dazu aufgerufen, lokal in den Bündnissen mitzuarbeiten oder Bündnisse dort zu gründen, wo es keine gibt. Die Krise trifft BadenWürttemberg hart. Es droht die Vernichtung von bis zu 30 Prozent der industriellen Arbeitsplätze. Besonders betroffen sind dabei die Automobilindustrie,

Automobilzulieferer, der Maschinenbau und der Werkzeugmaschinenbau. Deswegen schlagen wir Alarm. DIE LINKE in Baden-Württemberg hat jetzt ein Sofortprogramm verabschiedet. Darin fordern wir einen Finanzschutzschirm in Höhe von fünf Milliarden Euro für Bürgschaften und Kredite. Uns geht es darum, die industriellen Kerne zu retten und damit viele Arbeitsplätze. Vor allem geht es auch um den Erhalt und Ausbau der Ausbildungsplätze junger Menschen und die Übernahme der Auszubildenden. Zum anderen fordert DIE LINKE ein Zukunftsprogramm in Höhe von fünf Milliarden Euro. In vielen Schulen und Turnhallen rieselt der Putz von Wänden und Decken, marode Sporthallen müssen geschlossen werden, Toiletten sind kaum noch begehbar und beim Personal fehlt es hinten und vorne. Wir wollen endlich einen Schutzschirm für die Menschen. Mit dem Sofortprogramm haben wir einiges Aufsehen erregt. Die SPD und die IG Metall haben eigene Forderungen aufgestellt, die in eine ähnliche Richtung gehen. Wir haben eine Debatte angestoßen und viele Menschen stimmen uns zu. Wir planen Diskussionsveranstaltungen und Seminare, um uns inhaltlich auf die kommenden Auseinandersetzungen vorzubereiten. Wir haben Flugblätter gemacht und gehen damit vor die Betriebe. Wir wollen dort sein, wo sich Protest regt. www.marx21.de | Winter 2009/10 | Nr. 13

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Schwache Sieger Die schlechte Nachricht: Die CDU bleibt an der Macht und bekommt als Partner eine deutlich gestärkte FDP. Die gute Nachricht: Es gibt keine gesellschaftlichen Mehrheiten für ihre Politik. Daher steht die neue Regierung von Beginn an vor Problemen, meint Stefan Bornost

D Stefan Bornost ist leitender Redakteur von marx21.

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Schwerpunkt

ie neue Regierung verfügt über eine klare Mehrheit im Parlament, nicht aber in der Bevölkerung. Eine aktuelle Umfrage im Auftrag des Bundesverbands deutscher Banken zeigt: Für nur zwei von zehn Deutschen ist die Stärkung der Marktkräfte ein wünschenswertes Ziel. 61 Prozent der Befragten fordern stattdessen mehr soziale Absicherung durch den Staat. Rund vier von zehn Befragten finden hohe Unternehmensgewinne »moralisch bedenklich« – und eine Mehrheit von 81 Prozent glaubt nicht, dass Unternehmensgewinne für die Gesellschaft von Nutzen sind. Das alles widerspricht dem Ziel der Regierung, die die »Wachstumskräfte stärken«, also Unternehmer entlasten will. In anderen Politikfelder sieht es nicht anders aus: 77 Prozent sind für einen gesetzlichen Mindestlohn – Schwarz-Gelb ist dagegen. 61 Prozent befürworten für den Ausstieg aus der Atomenergie – SchwarzGelb verlängert die Laufzeiten. 55 Prozent sind für einen sofortigen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan – Schwarz-Gelb diskutiert eine Truppenaufstockung. Merkel & Co. kennen diese Zahlen. Gerade die CDU muss ein Stück weit Rücksicht auf die Stimmung nehmen, um ihren kontinuierlichen Abwärtstrend bei Wahlen nicht zu beschleunigen. Deshalb vermeidet Schwarz-Gelb eine allzu rabiate Rhetorik. Dessen ungeachtet rollen die ersten Angriffe bereits an (siehe Interview mit Bernd Riexinger). Unternehmer, rechte Ökonomen und Teile der Presse fordern tiefgreifende Einschnitte in das Sozialsystem. Hier wurde der Koalitionsvertrag mit Enttäuschung zur Kenntnis genommen. Stellvertretend hierfür die Aussage von Roland Tichy, Chefredakteur der Wirtschaftswoche: »Zaghaft geht die Koalition an die unumgängliche Korrektur der Ausgabenseite. Dazu braucht es Mut! Aber leider mehr, als die Koalition derzeit aufzubringen bereit ist. Noch immer nähren die neuen Koalitionäre die bequeme Sozialstaats-Illusion, in der sich viele sicher aufgehoben fühlen.« Demut angesichts der Krise hält man in deutschen Chefetagen und Redaktionsstübchen offensichtlich

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für unangebracht. Im Gegenteil: Hier geht die Sorge um, dass Deutschland nicht stärker, also konkurrenzfähiger auf dem Weltmarkt, aus der Krise geht – sondern schwächer. In den USA wurde in der Krise intensiv umstrukturiert, Millionen wurden entlassen. Dort steigt die Produktivität, die Lohnstückkosten sinken. In Deutschland hingegen steht aus Sicht der Unternehmer diese Umstrukturierung noch aus. Deshalb wird Druck gemacht werden – auf die Belegschaften, denen für Arbeitsplatzgarantien Lohnverzicht abgenötigt wird, und auf die Regierung, damit sie die Unternehmer von den Krisenkosten abschirmt. Der Koalitionsvertrag kann sie hoffen lassen. Szenenwechsel zum Anfang vom Ende der letzten schwarz-gelben Regierung: Bonn, Samstag, 15. Juni 1996. 350.000 Gewerkschafter demonstrieren gegen die als »Sparpaket« getarnten Kürzungen der KohlRegierung. Es ist die größte Gewerkschaftsdemonstration seit 1945. Die Unternehmer hatten vom Kanzler schon länger gefordert, Arbeiterrechte deutlich einzuschränken. Die Verhandlungen der Gewerkschaften mit den Arbeitgebern im vermeintlichen »Bündnis für Arbeit« hatten einige Zugeständnisse in diese Richtung gebracht, nach dem Geschmack der Unternehmer aber nicht genug. Daher forderte der damalige Chef des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) Hans-Olaf Henkel: »Schluss mit der Salamitaktik«. Deutliche Einschnitte bei den Sozialleistungen müssten erfolgen. Die CDU-FDP-Regierung gehorchte. Als erstes kürzte sie die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Ein neues Gesetz erlaubte den Unternehmen, kranken Arbeitnehmern nur noch 80 Prozent ihres Lohnes auszuzahlen. Kaum verabschiedet, wurde das Gesetz von den großen Unternehmen – allen voran Daimler-Benz – umgesetzt. Dementsprechend waren es die Daimler-Arbeiter in Stuttgart, die mit »Wut-Streiks« (Bild) für die volle Lohnfortzahlung antworteten. Die Gewerkschaftsführung war völlig überrascht, denn der Streik wurde ohne Absprache mit ihnen begonnen.


thorbengeyer/Flickr.com

Montgomery Burns und sein Gehilfe Waylon Smithers vertreten in der Zeichentrickserie »Die Simpsons« die Atommafia. Sie würden sich mit Merkel und Westerwelle gut verstehen Nach wenigen Tagen gab Daimler-Chef Jürgen Schrempp – aus Angst vor einer Ausweitung des Streiks – nach und stimmte der Beibehaltung der vollen Lohnfortzahlung zu. Kurz darauf streikten auch in Bayern 150.000 Metallarbeiter für den Erhalt der vollen Lohnfortzahlung. Kohls Gesetz wurde bedeutungslos. In ganz Deutschland musste kein einziger Arbeitnehmer auf die 100-prozentige Lohnfortzahlung verzichten. »Das ganze ist ein Desaster«, bewertete der ehemalige BDI-Präsident Tyll Necker das Ergebnis für die Bosse. Die Woche fasste zusammen: »Stell dir vor, eine Regierung macht ein Gesetz – und keiner wendet es an. Mit dem Lohnfortzahlungsdrama haben sich die Politiker so gut blamiert, wie es eben geht.« Helmut Kohl war mit einem wichtigen Teil seines Kürzungspakets am Widerstand der Arbeiter gescheitert. Der Streik für den Erhalt der Lohnfortzahlung war der Anfang vom Ende der Regierung, die nach der nächsten Wahl 1998 durch Rot-Grün abgelöst wurde – ein Schicksal, welches vorher schon konservative Regierungen in Frankreich, Großbritannien und Italien ereilt hatte. Überall dasselbe Muster: Die Regierungen versuchten, auf Geheiß der Unternehmer die Gangart zu verschärfen und trafen auf massenhaften Widerstand von unten. Profiteuer dieses gesellschaftlichen Stimmungsumschwungs war jeweils die Sozialdemokratie – Tony Blair in Großbritannien, Lionel Jospin in Frankreich, Romano Prodi in Italien und natürlich Gerhard Schröder in Deutschland. Der Rest der Geschichte ist bekannt: Die Sozialdemokratie brach nicht mit der Politik der Konservativen, sondern setzte diese mit Vehemenz fort. Die Folge war ein großer Vertrauensverlust in der Bevölkerung gegenüber den sozialdemokratischen Parteien, der den Konservativen in einem Land nach dem anderen den Weg zurück an die Macht ebnete. Soll-

te nächstes Jahr die Labour-Regierung von Gordon Brown durch David Camerons Tories abgelöst werden, dann ist das Pendel in Europa komplett zurückgeschwungen – nicht weil sich Einstellungen nach rechts entwickelt haben, sondern weil die Sozialdemokratie an der Macht versagt und Millionen enttäuscht hat. Dieser Erfahrung zum Trotz bündeln sich die Hoffnungen für einen Politikwechsel auf – die SPD. RotRot-Grün heißt das Zauberwort, auch innerhalb der LINKEN gilt manchem diese mögliche Regierungskonstellation als Zukunftsmodell – natürlich nicht mit der SPD im Ist-Zustand, sondern mit einer nach links gewendeten Sozialdemokratie. Vor der Wahl gab sich Gregor Gysi überzeugt, dass nach einer Wahlschlappe das große Umdenken einsetzt: »Dann wird es eine kleine Rebellion in der SPD geben, und dann wird die Resozialdemokratisierung der SPD einsetzen.«. Nach der Neuaufstellung der SPD-Spitze gibt sich Gysi skeptischer und das zu Recht. Das Warten auf eine nachhaltige Linkswende der SPD kann unendlich lange dauern. Natürlich kann und wird die SPD in der Opposition links reden. Das bedeutet aber nicht, dass sich die Politik der Partei substanziell verändern wird. Zum einen ist völlig unklar, welches Personal Träger einer Linkswende der SPD sein soll. Frank-Walter Steinmeier, Agenda 2010-Architekt ohne jede Reue, führt die Bundestagsfraktion und will sie zum »Kraftzentrum der Partei« machen. Gleich in der ersten Fraktionssitzung drohte er mit Rücktritt, sollte die SPD von der Agenda 2010, Hartz IV und der Rente ab 67 abrücken. Dass er trotzdem zum Fraktionsvorsitzenden gewählt wurde, zeigt, wie marginal die Linke im »Kraftzentrum« ist. Der neue Parteivorsitzende ist mit Sigmar Gabriel ein Opportunist, der sich in seiner gesamten Karwww.marx21.de | Winter 2009/10 | Nr. 13

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riere noch nicht einer politischen Überzeugung verdächtig gemacht hat. Gabriel und Steinmeier zeichnen führend verantwortlich für den Leitantrag zum kommenden Parteitag. Dort heißt es zu Beginn: »Wir blicken auf elf Jahre zurück, in denen wir in Deutschland erfolgreich Regierungsverantwortung wahrgenommen haben.« Anschließend werden zwar Fehler eingeräumt – allerdings nicht etwa in der Sache, sondern bei der »Vermittlung« und »Kommunikation«. »Weiter so« ist das Motto, der Leitantrag ein Dokument des politischen Selbstmords aus Leidenschaft. Selbst wenn sich Steinmeier und Gabriel nicht an der SPDSpitze halten können, sind die Alternativen keine Garanten für eine Linkswende. Als künftige Gallionsfigur der Parteilinken und möglicher rot-rot-grüner Kanzler wird Berlins regierender Bürgermeister Klaus Wowereit gehandelt. Das ist grotesk: Wowereit ist verantwortlich für einen bis heute andauernden Angriff auf die Beschäftigen des öffentlichen Dienstes in Berlin, der substanzielle Lohneinbußen

und verlängerte Arbeitszeiten mit sich brachte und bringt. Der wichtigste Mann an seiner Seite war über Jahre Thilo Sarrazin. Das heutige Vorstandsmitglied der Bundesbank hasst sozial Schwache mit einer Inbrunst, die sogar seinem jetzigen Arbeitgeber peinlich ist. Das Problem der SPD geht aber über ihr Personal hinaus. Denn die Partei steht seit Jahrzehnten auf der programmatischen Grundlage, dass sprudelnde Profite die Vorraussetzung für soziale Politik sind. Unter den Bedingungen verschärfter Konkurrenz auf dem Weltmarkt sind erhöhte Unternehmensprofite nur durch verschärfte Ausbeutung von lohnabhängig Beschäftigten zu haben. Genau diesen Prozess hat die SPD mit der Agenda 2010 flankiert, die Arbeitgeber gegenüber Arbeitnehmern stärkte. Die Angst vor Hartz IV machte Belegschaften hochgradig erpressbar. Ein Kommentator in der Zeitschrift Sozialismus stellt treffend fest: »Der Vorwurf der sozialen Asymmetrie focht die Vertreter der modernisierten Sozialdemokratie gleichwohl nicht an. Ihrem Verständ-

Jakob Huber / www.campact.de

»Natürlich kann und wird die SPD in der Opposition links reden. Das bedeutet aber nicht, dass sich die Politik der Partei substanziell verändert.«

Widerstand von Anfang an: Schon vor der Wahl demonstrierten 60.000 gegen die schwarz-gelben Atompläne – weitere Aktionen sind geplant

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Der Herr links hat ausgeklatscht – der Herr rechts glaubt immer noch, dass die SPD in elf Regierungsjahren »gute Arbeit geleistet« hat nis nach war die Revitalisierung ›der Wirtschaft‹ die Voraussetzung dafür, nachfolgend das soziale Inventar der Gesellschaft wieder auf stabile Grundlagen zu stellen. (...) Weshalb diese vermeintliche Win-WinSituation nicht aufging, ist für die RepräsentantInnen der neuen Sozialdemokratie ein Rätsel geblieben.« Die LINKE lähmt sich, wenn ihre Perspektive auf gesellschaftliche Veränderung die vage Hoffnung auf eine andere SPD ist Und schon gar nicht sollte sie ihre politische Strategie darauf ausrichten. Leider hat Oskar Lafontaine genau dies in der ersten Sitzung des Parteivorstandes nach der Bundestagswahl angekündigt. Er formulierte dort eine Doppelstrategie für den Kampf gegen Schwarz-Gelb: Zum einen müsse die Partei die Bewegung auf der Straße gemeinsam mit Gewerkschaften und sozialen Bewegungen aufbauen. Zum anderen müsse die schwarzgelbe Mehrheit im Bundesrat durch rot-rot-grüne Länderregierungen gebrochen werden. Das ist eine Neuauflage von Lafontaines Strategie gegen die Regierung Kohl in den Jahren 1996 bis 1998. Damals blockierte die SPD-Bundesratsmehrheit diverse Gesetzesinitiativen von Schwarz-Gelb. Zentral für ein solches Vorgehen ist laut Lafontaine die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im nächsten Jahr. Doch die beiden Elemente dieser Strategie ergänzen einander nicht. Vielmehr untergräbt das eine das andere. Widerstand auf der Straße gegen die geplanten Kürzungen ist absolut notwendig. Hier kann DIE LINKE eine wichtige Rolle spielen, weil sie glaubwürdig ist und sich Vertrauen erworben hat. Diese Glaubwürdigkeit würde durch Regierungsbeteiligungen unter den derzeitigen fiskalischen Bedingungen massiv leiden. Die Krise hat die Einnahmen der öffentlichen Haushalte drastisch verringert – DIE LINKE würde sich in Kür-

zungskoalitionen wiederfinden und an Unterstützung verlieren. Zudem ist sie mit einer solchen Strategie leicht erpressbar. Auf Länderebene könnte die SPD DIE LINKE immer wieder zu Konzessionen drängen – mit dem Argument, die Koalition sonst platzen zu lassen und mit ihr die Blockademehrheit im Bundesrat. Eine große Mehrheit der Wählerinnen und Wähler der LINKEN ist für eine Regierungsbeteiligung der Partei. Aber eine große Mehrheit ist auch dafür, dass DIE LINKE ihre Positionen nicht aufgibt. Der einzige Weg aus diesem Dilemma führt über die Formulierung klarer Bedingungen an eine Regierungsbeteiligung: Kein Sozialabbau, kein Personalabbau im öffentlichen Dienst, keine Privatisierungen, Rücknahme von Hartz IV und der Rente mit 67 und ein klares Nein zu Kriegseinsätzen. Diese Punkte dürfen nicht verhandelbar sein und müssen sowohl für die Landes- und Bundesebene als auch für Bundesratsinitiativen Gültigkeit besitzen. In Thüringen hatte DIE LINKE in den Koalitionsverhandlungen mit der SPD richtigerweise Bundesratsinitiativen gegen die Rente mit 67, Hartz IV und die Schuldenbremse gefordert. Damit hat sich die Frage nach dem Verhältnis zur SPD unter den Bedingungen einer schwarz-gelben Regierung und kommender Angriffe aber nicht erledigt. Eine dauernde Abgrenzung von der SPD wird keinen davon überzeugen, dass DIE LINKE die konsequentere Verteidigerin von sozialen Rechten und die Partei der Friedenspolitik ist. Der Beweis muss praktisch erbracht werden. Zum Beispiel sollten wir die SPD-Führung auffordern, mit uns gemeinsam gegen Angriffe von Schwarz-Gelb und für die Durchsetzung gemeinsamer Forderungen, wie den Mindestlohn, zu kämpfen. www.marx21.de | Winter 2009/10 | Nr. 13

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In Platzecks Falle Die rot-rote Landesregierung steht. Georg Frankl und Lucia Schnell analysieren den brandenburgischen Koalitionsvertrag und warnen vor einem Ausverkauf der LINKEN

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Georg Frankl war im Wahlkampf der linksjugend['Solid] in Brandenburg aktiv.

Lucia Schnell ist Mitarbeiterin der LINKEN-Bundestagsfraktion und Mitglied des SprecherInnen-Kreises der Sozialistischen Linken.

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inkspartei und SPD haben ihre Koalitionsverhandlungen in Brandenburg abgeschlossen und bereits nach fünf Verhandlungsrunden einen Koalitionsvertrag vorgelegt. Dieser bricht mit Grundsatzpositionen der LINKEN, untergräbt ihre Glaubwürdigkeit und schadet der Partei bundesweit. DIE LINKE hat bei der Landtagswahl im September 29,5 Prozent der Erststimmen erhalten –weil sie versprach, sich für bessere Bildung und mehr öffentliche Beschäftigung einzusetzen, gegen Hartz IV und Kinderarmut zu kämpfen sowie für das Ende der Braunkohle und gegen die gefährliche CCS-Technologie zu agieren. Sie hat das Volksbegehren und die Bewegung gegen die CO2-Verpressung und -Vergrabung massiv unterstützt und vorangetrieben. Massenweise wurde plakatiert: »Die Linke kämpft!« Das Ende des Braunkohle-Tagebaus verschieben SPD und LINKE nun in die ferne Zukunft und an der CCS-Technologie lassen sie weiterhin forschen. Das Klima, die Umwelt und auch ganze Dörfer werden den Profitinteressen des Energiekonzerns Vattenfall geopfert. Das von den Anwohnern geforderte Nachtflugverbot für den Großflughafen Schönefeld wird es nicht geben. Auch die Innenpolitik des konservativen CDU-Hardliners Schönbohms setzen SPD und LINKE fort. Ausdrücklich lobt der Koalitionsvertrag die Arbeit der Vorgängerregierung. Im Bildungsbereich wird sich ebenfalls nicht viel ändern: Die Koalitionspartner erhalten das unsoziale gegliederte Schulsystem und erteilen der Gemeinschaftsschule eine Absage. Stattdessen fördern sie weiterhin Elite-Programme im Schul- und Hochschulbereich. Die Studiengebühren von 51 Euro pro Semester, von der SPD als Verwaltungsgebühren getarnt, wollen Sozialdemokraten und Linke nicht abschaffen – anders als die neue CDU/SPDRegierung in Thüringen. SPD und LINKE streichen bis 2019 jede fünfte Stelle im öffentlichen Dienst – also insgesamt 10.000 reguläre Arbeitsplätze. Die Befürworter des Stellenabbaus argumentieren, dass niemand entlassen, sondern nur ausscheidende Beschäftigte nicht mehr Nr. 13 | Winter 2009/10 | www.marx21.de

ersetzt würden. Fakt ist aber: In dem Flächenland Brandenburg werden mehr öffentliche Dienstleistungen für die Bevölkerung wegfallen. Da Lehrpersonal und Polizisten vom Stellenabbau ausgenommen sind, muss beispielsweise im Gesundheits- und Sozialbereich oder an den Hochschulen gespart werden. DIE LINKE spielt die einen Beschäftigten gegen die anderen aus – anstatt mit ihnen um jeden Arbeitsplatz kämpfen. Damit DIE LINKE die bittere Pille des Stellenabbaus schluckt, sieht der Koalitionsvertrag einen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor (ÖBS) vor. Hier sollen 8000 Jobs geschaffen werden – allerdings nur unter der Bedingung, dass die schwarz-gelbe Bundesregierung die Mehrheit der Kosten übernimmt. Das ist allerdings unsicher. Selbst wenn der ÖBS zu Stande kommen sollte, werden netto mehr Jobs vernichtet als neue geschaffen. Die Gefahr droht, dass reguläre Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst verdrängt und durch neue Beschäftigungsverhältnisse mit schlechteren Konditionen ersetzt werden. Denn die Höhe der Bezahlung im ÖBS ist unklar und im Koalitionsvertrag nicht festgelegt. Den gebrochenen Versprechen stehen ein paar gute Projekte gegenüber. Die meisten davon müssen allerdings auf Bundesebene beschlossen werden. Im Bundesrat soll eine Initiative gegen Kinderarmut in Hartz-IV-Haushalten gestartet werden. Gegen die Rente mit 67 oder für eine Vermögenssteuer wird es allerdings keine Bundesratsinitiative geben. Außerdem bekennt sich Rot-Rot in Brandenburg zum neoliberalen Lissabon-Vertrag. Von der Bundes-LINKEN wird er abgelehnt. Das Kernproblem des Koalitionsvertrags ist jedoch, dass er die Politik der Haushaltskonsolidierung fortsetzt. Brandenburg wird im nächsten Jahr aufgrund der Steuerpolitik und der Krise ein Defizit von etwa einer Milliarde Euro haben. DIE LINKE verpflichtet sich zu einem faktischen Schuldenstopp. Alle zusätzlichen Ausgaben wie zum Beispiel für Erzieherinnen und Erzieher »sind grundsätzlich durch Einsparungen an anderer Stelle auszugleichen«. Der Finanzminister der LINKEN, Helmuth Markov,


schlägt vor, sich »vielleicht von Liebgewonnenem« zu verabschieden. So formulierte es auch Ex-Wirtschaftsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU).

Die brandenburgische LINKE wird nun als Oppositionskraft und als Bündnispartner für Protestbewegungen und Gewerkschaften wegfallen. Außerparlamentarische Bewegungen werden dadurch geschwächt. Die Regierungsbeteiligung auf Grundlage dieses Koalitionsvertrages wird der LINKEN und ihrer neuen sozialen Idee mehr schaden als nutzen. Die Abwesenheit einer linken Opposition wird die politische Achse eher nach rechts verschieben. Frustration und Resignation können zudem ein Nährboden für die Nazis werden, die die Kehrtwende der LINKEN in der Braunkohlefrage bereits begierig aufgreifen. Deshalb ist es für DIE LINKE bei den Diskussionen über Landes- und Bundesregierungsbeteiligungen entscheidend, unverhandelbare Mindestbedingungen zu formulieren. Orientierungspunkte für diese Haltelinien wurden in der Vergangenheit wiederholt genannt: Keine Kürzungen und Privatisierungen, kein Stellenabbau im öffentlichen Dienst und keine Zustimmung zu Kriegseinsätzen. Diese Losungen markieren das Kernprofil der LINKEN. Dafür wurde und wird sie gewählt und das erwarten die Wählerinnen und Wähler von der Partei. Man braucht kein Wahrsager zu sein, um zu behaupten, dass sich die SPD auf Landes- wie auf Bundesebene darauf nicht einlassen wird. Wenn deswegen eine rechnerisch mögliche rot-rote (oder rot-rot-grüne) Koalition nicht zustande kommt, hat die SPD, wie in Thüringen, ein Glaubwürdigkeitsproblem – und nicht, wie in Berlin und Brandenburg, die LINKE.

Jakob Huber / www.campact.de

In letzter Konsequenz bedeutet der Koalitionsvertrag, dass DIE LINKE ihre eigene soziale Basis angreift. Das schwächt die Bundespartei, die sich das Ziel gesetzt hat, neoliberale Politik zu bekämpfen und die kapitalistische Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung zu überwinden. Für dieses Ziel gilt es, gesellschaftliche Mehrheiten zu organisieren. Linke Regierungsbeteiligungen haben bislang immer das Gegenteil bewirkt: In Berlin verlor die PDS nach fünf Jahren Regierungsbeteiligung die Hälfte ihrer Wählerinnen und Wähler. In MecklenburgVorpommern stürzte sie von 24 Prozent (1998) auf 16 Prozent (2002) ab. Während Befürworter von RotRot in Brandenburg die Erwartung der Wähler betonen, dass die LINKE in die Regierung geht, zeigen die Beispiele Berlin und Mecklenburg-Vorpommern, dass dieselben Wählerinnen und Wähler nicht von gebrochenen Versprechen enttäuscht werden wollen. Die Regierungsbeteiligung ist jedoch nicht zu haben, ohne die Wahlversprechen zu brechen. Das Kalkül von SPD-Ministerpräsident Matthias Platzeck ist es nicht, DIE LINKE bundesweit hoffähig zu machen. Vielmehr hofft er darauf, seinen Sparkurs mit der LINKEN leichter durchsetzen zu können und zugleich die Partei zu schwächen. »Offenbar war Platzeck die Linke zu stark geworden und er will sie nun einbinden. (..) Den

künftigen Sparkurs gegen eine starke Linke-Opposition durchzusetzen, so die Sorge der SPD, hätte diese weiter gestärkt,« erklärte die Brandenburg-Expertin Gudrun Mallwitz in der Berliner Morgenpost.

»Kein rot-roter Tagebau«: Protest von Umweltschützern gegen die im Koalitionsvertrag vereinbarte Energiepolitik. Speziell der brandenburgischen LINKEN werfen sie vor, ihr Wahlversprechen gebrochen zu haben www.marx21.de | Winter 2009/10 | Nr. 13

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islang waren sie »Populisten« und »realitätsferne Spinner«. Doch seit dem 27. September ist alles anders. Die Sozialdemokratie hat ihr Herz für die LINKEN entdeckt. Seit der historischen Wahlniederlage plädieren führende Vertreter der SPD für einen anderen Umgang mit den bisherigen Schmuddelkindern. Bereits am Tag eins nach der Bundestagswahl forderte Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit, die »Tabuisierung« zu beenden. Weitere Funktionäre wie der ehemalige Arbeitsminister Olaf Scholz stimmten in den Chor ein. Der Bundestagsabgeordnete Andreas Steppuhn erklärte, wohin die Reise gehen soll: »2013 muss RotRot eine Option sein.« Innerhalb der LINKEN treffen die ungewohnten Sympathiebekundungen auf Gegenliebe. So sagt der Berliner Abgeordnete Stefan Liebig: »Es wäre gut, wenn Rot-Rot-Grün 2013 als Alternative zu SchwarzGelb zur Wahl stehen würde.« Auch das gerade in Brandenburg geschlossene Regierungsbündnis mit den Sozialdemokraten dient durchaus als Testlauf für die Bundesebene. So berechtigt der Wunsch nach einem schnellen Ende von Schwarz-Gelb und einem grundsätzlichen Politikwechsel ist, birgt das Projekt einer linken Regierungsbeteiligung jedoch auch Risiken. Ein Blick nach Italien macht dies deutlich. Die dortige Linke war Anfang dieses Jahrzehnts die stärkste in ganz Europa. Nach nur zwei Jahren in der Regierung steht sie nun vor einem Scherbenhaufen.

Marcel Bois ist Redakteur von marx21 und Mitglied des Landesvorstandes der LINKEN in Hamburg.

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Einer der Profiteure dieser Situation heißt Silvio Berlusconi. Medienmogul, Multimilliardär und immer wieder Ministerpräsident. Mittlerweile bekleidet der Mann, der derzeit vor allem wegen Affären, wilden Partys und möglicher Strafverfahren in den Schlagzeilen steht, das Amt schon zum dritten Mal. Seine erste Dienstzeit Mitte der neunziger Jahre währte nur wenige Monate, doch von 2001 an gelang es ihm, eine ganze Legislaturperiode durchzuregieren – ein Kunststück, das seit dem Zweiten Weltkrieg bislang kein italienischer Politiker vollbracht hatte. Doch auch diese Regierungszeit verlief keineswegs reibungslos. Vielmehr sah sich der »Cavaliere« mit einem massiven Aufschwung der außerparlamentarischen Bewegungen konfrontiert. Es begann mit der eindrucksvollen Demonstration gegen den G8Gipfel in Genua 2001. Danach verging kein Monat, in dem nicht gegen Berlusconis Kürzungspolitik protestiert wurde. Mehrere landesweite Generalsstreiks fanden in dieser Zeit statt. Millionen Menschen demonstrierten zudem gegen den drohenden Krieg im Irak. Nr. 13 | Winter 2009/10 | www.marx21.de

Warnung aus Italien Nach dem Wahlsieg von Union und FDP hoffen viele auf eine zukünftige rot-rote Koalition. Ein ähnliches Bündnis gab es bis 2008 in Italien. Marcel Bois zieht eine kritische Bilanz der linken Regierungsbeteiligung

Trotz ihrer gesellschaftlichen Breite und Stärke hatten die außerparlamentarischen Kräfte scheinbar wenig gegen die Politik der Berlusconi-Regierung ausrichten können. Die Friedensbewegung mobilisierte Millionen – dennoch beteiligte sich Italien am Irak-Krieg. Auch ihre Sozialkürzungen nahmen die Rechten trotz massiver Proteste nicht zurück. Es schien für die Linke, die ein wichtiger Teil der sozialen Bewegungen gewesen war, nur einen Weg zu geben, Berlusconi los zu werden und gleichzeitig wichtige politische Verbesserungen auf den Weg zu bringen: Eine Koalition mit Romano Prodi und seiner Demokratischen Partei. Fausto Bertinotti, Vorsitzender der Partito della Rifondazione Comunista (Partei der kommunistischen Neugründung – Schwesterpartei der LINKEN) erklärte, wenn die Bewegung nicht alleine von unten gewinnen könne, müsse man die Dinge von oben verändern. Zudem herrschte in der Bevölkerung eine weit verbreitete »Berlusconi muss weg«-Stimmung, viele hofften auf die »Einheit der Linken«. Tatsächlich gewann Prodi im April 2006 die Wahl gegen Berlusconi. Die Parteien der radikalen Linken kamen zusammen auf über zehn Prozent der Stimmen. Doch der neue Ministerpräsident stand keineswegs für ein linkes Projekt. Der ehemalige Präsident der Europäischen Kommission hatte sich schon in


Tunguska.RDM

der Vergangenheit einen zweifelhaften Namen als Sparfuchs gemacht. 1996 bis 1998 regierte er schon einmal das Land und machte es durch massive Sozialkürzungen für den Euro fit. Nicht von ungefähr setzten die italienischen Unternehmer auf die MitteLinks-Koalition. Sie waren unzufrieden mit Berlusconis Regierungsbilanz: Zwischen 2001 bis 2006 wuchs die italienische Wirtschaft nur um durchschnittlich 0,35 Prozent im Jahr – verglichen mit 1,45 Prozent im restlichen Europa. Nachdem in Deutschland die rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder durch die Agenda 2010 auf Kosten der lohnabhängig Beschäftigten die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie gestärkt hatte, wuchs der Druck auf die italienische Wirtschaft, gleichzuziehen. Angesichts des stetigen Zurückfallens gegenüber der internationalen Konkurrenz übten die italienischen Unternehmer immensen Druck auf die neu gewählte Regierung Prodi aus. Sie wollten wirtschaftliche Reformen nach deutschem Beispiel und eine Stärkung der militärischen Präsenz Italiens im Ausland. Bisherige »Reform«-Versuche nach dem Muster der Agenda 2010 waren vor allem an großen gewerkschaftlichen Mobilisierungen gescheitert, in denen sowohl Rifondazione als auch Prodis Demokratische Partei eine wichtige Rolle gespielt hatten. Die

Unternehmer erhofften sich von der neuen Regierung, dass sie ihre gewerkschaftliche Verankerung nutzen könne, um Proteste im Zaum zu halten und die Gewerkschaften zum Stillhalten zu zwingen. Die linke Regierung sollte also eine ähnliche Rolle wie Rot-Grün in Deutschland spielen. Die Einführung der Agenda 2010 durch »ihre« Regierung hat die Gewerkschaften hierzulande enorm verunsichert. Ähnlich verhielt es sich mit der Friedensbewegung, als ein grüner Außenminister den ersten deutschen Angriffskrieg seit 1945 rechtfertigte. Tatsächlich erfüllte die Prodi-Regierung die Wünsche der italienischen Unternehmer: Innerhalb von 18 Monaten senkte sie die Renten und erhöhte das Renteneintrittsalter, führte die Selbstbeteiligung bei ambulanter Hilfe in öffentlichen Krankenhäusern ein, baute 47.000 Stellen an den Schulen ab, senkte die Mittel für öffentliche Forschung, liberalisierte das Verkehrswesen, ließ ein Gesetz verabschieden, das Massenabschiebungen ermöglicht, erhöhte die Militärausgaben um 23 Prozent, stimmte dem Bau einer neuen US-Militärbasis in Vicenza zu und entsandte zusätzliche Truppen ins Ausland, vor allem nach Afghanistan, aber auch in den Libanon. Da Prodi nur über eine knappe Mehrheit von zwei Senatoren verfügte, musste die Koalition permanent diszipliniert werden. In Schröder-Manier stellte er mehrfach die Vertrauensfrage. Die Argumentation lautete immer gleich: Wenn die Regierung zerbricht, kommt Berlusconi wieder an die Macht. Vor allem Rifondazione als linker Flügel der Regierung wurde permanent unter Druck gesetzt. Claudio Grassi, der für die Partei im Senat saß, sagt heute selbstkritisch: »Aus Loyalität und um einen Sturz der Regierung zu verhindern, hat die Linke für alle Maßnahmen gestimmt, die sie inhaltlich nicht teilte.« Dissidenten in den eigenen Reihen duldete die Parteiführung nicht: Als der Rifondazione-Abgeordnete Franco Turigliatto gegen den Bau der Militärbasis in Vicenza stimmte, wurde er aus der Partei ausgeschlossen. Alex Gaudillière, ehemaliges Mitglied der Rifondazione, erklärt, dass die Regierungsbeteiligung zu einem Wandel der Partei geführt habe – und zwar schon vor dem Eintritt in die Regierung. Bereits im Wahlkampf habe sie begonnen »sich das Image einer Regierungspartei zu geben, um ihren zukünftigen Bündnispartnern Sicherheit zu geben. Als beispielsweise zwei Mitarbeiterinnen von Hilfsorganisationen im Irak entführt wurden, nahm Bertinotti an einer von Berlusconi geleiteten Versammlung aller Parteien teil und erklärte, die Frage des Truppenrückzugs sei zu einer nachrangigen Frage geworden.« www.marx21.de | Winter 2009/10 | Nr. 13

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gianni blumthaler/Flickr.com

Letztendlich führte die Regierungsbeteiligung die Linke ins gesellschaftliche Abseits. Die vorgezogene Parlamentswahl im April 2008 endet für sie mit einem Desaster. Das Bündnis »Regenbogenlinke« – ein Zusammenschluss von Rifondazione, den Grünen, der Partei der italienischen Kommunisten und einigen linken Sozialdemokraten – erzielte nur noch 3,1 Prozent der Stimmen. Eine historische Niederlage: Erstmals in der Geschichte der italienischen Republik ist die radikale Linke weder in Abgeordnetenkammer noch Senat vertreten. Sang- und klanglos verschwanden die Erben der ehemals stärksten kommunistischen Partei Westeuropas aus der italienischen Parlamentslandschaft.

»Kopf hoch«. Nach dem Absturz machte sich Rifondazione im diesjährigen Europawahlkampf selbst Mut

Meine Meinung

Aber nicht nur das: Silvio Berlusconi war zurück. Mit deutlichem Vorsprung gewann er die Wahl. Mit ihm jubelten zweifelhafte Persönlichkeiten wie Alessandra Mussolini. Die Enkelin des »Duce« gehörte zu dem großen Kreis von Rechtsradikalen, die den reichsten Mann Italiens bei seinem neuerlichen Anlauf auf das Ministerpräsidentenamt unterstützt hatten. Die sich selber als »post-faschistisch« bezeichnende Alleanza Nazionale beteiligte sich ebenso an Berlusconis Wahlbündnis wie die rassistische Lega Nord. Seit ihrem Wahlsieg agiert die radikale Rechte enorm selbstbewusst. Kurz nach Berlusconis Triumph ging sein Bündnispartner Gianni Alemanno als Sieger

von Marcel Bois

Aufstehen aus Ruinen Die italienische Linke gleicht einem Trümmerhaufen. Anfang des Jahrzehnts schauten Aktivisten aller Länder voller Neid Richtung Mittelmeer: Die machtvollen Proteste gegen den G8-Gipfel in Genua hatten die globalisierungskritische Bewegung nach Europa gebracht. Millionen Italiener gingen gegen den Krieg im Irak auf die Straße, die Gewerkschaften mobilisierten zu einem Generalstreik nach dem anderen. Doch davon ist nicht mehr viel übrig. Die außerparlamentarische Bewegung ist verunsichert, die linken Parteien sind aus dem Parlament geflogen und die Rifondazione hat sich gespalten. Der Grund für die Krise der italienischen Linken ist ihre Regierungsbeteiligung. Daran sind sich die meisten mittlerweile einig. Doch es bleibt die Frage: Was wäre die Alternative gewesen? Die Antwort darauf umfasst zwei Aspekte. Der eine lautet: Politische Standfestigkeit. Zu Recht hat die Linke 2006 die »Berlusconi muss weg«Stimmung aufgegriffen und die Wiederwahl des Multimilliardärs im Parlament verhindert. Doch

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sie hätte die Regierungsbeteiligung an klare Mindestbedingungen knüpfen müssen: Kein Stellenabbau im öffentlichen Dienst, keine Rentenkürzung, keine Erhöhung der Militärausgaben und ein sofortiger Truppenabzug aus Afghanistan. Dann hätte sich gezeigt, ob Prodi tatsächlich für einen Bruch mit der Politik Berlusconis bereit gewesen wäre. Der andere Schlüssel zum Erfolg wäre die weitere Orientierung auf die außerparlamentarische Bewegung gewesen. Die Italiener haben selber gezeigt, wie man Berlusconi am Besten stoppt. Am 22. März 2002 gingen drei Millionen auf die Straße, um gegen die geplante Lockerung der Kündigungsschutzes zu protestieren. Es war die größte Demonstration in der Geschichte Italiens. Berlusconi zog daraufhin sein Vorhaben zurück. Mittlerweile wird auch in der Rifondazione die Regierungsbeteiligung ausgiebig diskutiert. Die Mehrheit meint, sie habe geschadet. Die Partei will nun wieder Teil der Mobilisierungen auf der Straße werden. Der Wiederaufbau kann also beginnen.


Die Entscheidung der Linken, sich an der Regierung zu beteiligen, muss man im Nachhinein als Fehler bezeichnen. Die Frage, ob die Linke unter den gegeben wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ihre Ziele in der Regierung erreichen könnte, verschwand hinter dem Wunsch, Berlusconi zu verhindern. Erst wurde damit der Regierungseintritt gerechtfertigt, später die Unterwerfung der Rifondazione unter die rechteren Kräfte in der Regierung. Politisch genutzt hat dies weder der Rifondazione und der Linken noch der Mehrheit der Italiener. Im Gegenteil: Dass die Linke Sozialkürzungen, Kriegseinsätze und Sicherheitsgesetze mittrug, hat die sozialen Bewegungen stark geschwächt. Da es keine Kraft gab, die die Entfremdung von Prodi nach links hätte kanalisieren können, profitierten die Rechten. Die Prodi-Koalition wurde von einer kleinen konservativen Partei gesprengt und Berlusconi ist wieder an der Macht, weil er die Enttäuschung über Prodis Sparpolitik mit einem rassistischen Wahlkampf auf seine Mühlen lenken konnte. Das vermeintliche »kleinere Übel«, nämlich die Regierungsbeteiligung, um Berlusconi zu verhindern, hat dem »großen Übel« Berlusconi Tür und Tor geöffnet. Gleichzeitig hat es eine schwächere und desorientierte Linke hinterlassen. Diese Erfahrungen sind durchaus auf Deutschland übertragbar. Genau wie Prodi haben SPD und Grüne im vergangenen Jahrzehnt gezeigt, dass sie keineswegs geeignete Partner für einen Politikwechsel sind. Die weltweite Krise hat zudem die Spielräume

für linke Regierungspolitik deutlich eingeengt. Das macht der gerade in Brandenburg unterzeichnete rot-rote Koalitionsvertrag deutlich. Er verheißt nichts Gutes: Dort festgeschriebene Maßnahmen wie der Stellenabbau im Öffentlichen Dienst, Studiengebühren im Zweitstudium und Handyüberwachung richten sich fundamental gegen die Forderungen von Gewerkschaften, Studierenden und Bürgerrechtlern. Die Nazis stehen auch hierzulande in den Startlöchern. Sie warten nur darauf, von einem Versagen der LINKEN zu profitieren. Die Partei sollte gewarnt sein.

Kkarl - Pennarossa/Flickr.com

aus der Bürgermeisterwahl in Rom hervor. Seine Anhänger feierten ihn frenetisch mit Faschistengruß und »Duce, Duce«-Rufen. Auch die Zahl rechtsextremer Übergriffe hat seit dem vergangenen Jahr massiv zugenommen. So wurde am 1. Mai 2008 in der Lega-Nord-Hochburg Verona ein Jugendlicher von einer Neonazigang zu Tode geprügelt – weil sie ihn für einen »Kommunisten« hielten. In Rom kam es zu brutalen Übergriffen von Neonazis gegen mehrere Rumänen. Auch ein Lokal, in dem Homosexuelle verkehren, überfiel der rechte Mob. Im Februar dieses Jahres wurde in der Nähe der Hauptstadt ein indischstämmiger Mann im Schlaf überwältigt, mit Benzin übergossen und angezündet. Der rechte Terror geschieht durchaus mit Unterstützung der Regierung. Sie hat das Einwanderungsrecht verschärft und forciert landesweit den Aufbau von lokalen »Bürgerwehren«. Als im Mai vergangenen Jahres in Neapel eine ganze Roma-Siedlung niedergebrannt wurde, erklärte Reformminister Umberto Bossi: »Die Menschen machen das, worum sich der Staat nicht kümmern kann.« Innenminister Roberto Maroni fügte hinzu: »Das passiert halt, wenn Zigeuner Babys stehlen oder wenn Rumänen sexuelle Übergriffe begehen.«

»Niemand gibt mir Schutz«. Plakat für eine antirassistische Demonstration in Rom. Seit Berlusconis Wiederwahl haben rechte Übergriffe massiv zugenommen www.marx21.de | Winter 2009/10 | Nr. 13

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Kolumne

Mythos Godesberg

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Arno Klönne ist emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Paderborn und Autor zahlreicher Bücher zur Geschichte der Arbeiterbewegung. Er schreibt regelmäßig für marx21.

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Kolumne

s hätte eine große Feier werden können. Altvordere hätten schildern können, wie die SPD 1959 in Godesberg den Weg zur Volkspartei und sieben Jahre später den Weg zur Regierungspartei in der Bundesrepublik Deutschland eingeschlagen habe. Es hätte ein wirklich rundes Jubiläum begangen werden können«, schreibt die Frankfurter Allgemeine Zeitung mitleidig und konstatiert: »Aber das Erbe ist verzehrt.« War der Parteitag von Bad Godesberg die entscheidende »Wende« im Kurs der Sozialdemokratie? Wurde mit der »Abkehr vom Marxismus« und dem »Abschied von der Arbeiterpartei« der Weg offengelegt für ihre Wahlerfolge und ihre Einflussnahme auf die gesellschaftspolitische Realität? Keineswegs. Diese Einschätzung ist eine geschichtspolitische Konstruktion, sie nimmt die historische Wirklichkeit nicht zur Kenntnis. Als 1949 der erste Bundestag gewählt wurde, stand die SPD um einige Prozentpunkte günstiger da als bei der Bundestagswahl 2009. Sie war aber keineswegs die »geborene Mehrheits- und Führungspartei« der neugegründeten westdeutschen Republik, wie ihr Vorsitzender Kurt Schumacher bis dahin angenommen hatte. Die Unionsparteien hingegen etablierten sich als wahlpolitisch höchst erfolgreiche Sammelstätten für eine Bürgerblockstrategie, die weit nach rechts hin die Gefolgschaften kleinerer Parteien an sich zogen – der »Adenauerstaat« war geboren. Ideologisch setzte der neue Kanzler auf die Wirksamkeit eines aggressiven Antikommunismus – von der auch die SPD nicht ungeschoren blieb, mochte Schumacher noch so heftig die Kommunisten als »rotlackierte Nazis« beschimpfen. Nur mühsam begriff die SPD-Führung, dass sich ihre Partei in einer keineswegs komfortablen Lage befand. Nur mühsam löste sie sich von der törichten Annahme, die ökonomisch-politische Kraft des Kapitalismus habe sich in Deutschland durch den »Zusammenbruch« 1945 auf wunderbare Weise verflüchtigt und »der Sozialismus«, was immer das sein mochte, sei nun »Gegenwartsaufgabe«, die durch Parlamentsbeschlüsse und Regierungsdekrete unschwer zu lösen sei. Eher widerwillig stellte sich die SPD im Bund ab 1949 erst einmal auf Opposition ein, immer in der Hoffnung, diese Rolle nach der nächsten Bundestagswahl abgeben zu können. Dennoch – als List der Geschichte erwies sich, dass

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die oppositionelle Sozialdemokratie durchaus positive Effekte hervorrief, nämlich im Feld der Sozialpolitik. Das »Wirtschaftswunder« – oder nüchtern formuliert: der wirtschaftliche Aufstieg der Bundesrepublik, ihr Erfolg im Weltmarkt und die damit verbundene mögliche Steigerung des Lebensstandards weiter Teile der Bevölkerung – gaben dem Regime Adenauer Rückhalt. Dass aber dem florierenden westdeutschen Kapitalismus im internationalen Vergleich recht ansehnliche sozialstaatliche Komponenten eingefügt wurden, resultierte keineswegs aus den karitativen Gefühlen der Wirtschaftsherren. Sondern sie wurden ihnen abgerungen. Die politische Klasse war daran interessiert, die Sozialdemokratie als Opposition einzuhegen und die organisationsstarken Gewerkschaften loyal zu halten. Also wurden im Konflikt zwischen Kapital und Lohnarbeit Zugeständnisse gemacht und Kompromisse gesucht: Ein soziales Netz wurde geknüpft und Konrad Adenauer höchstpersönlich setzte sich für die Arbeitnehmermitbestimmung in der Montanindustrie ein. Insofern war die SPD in Sachen Sozialstaat gerade in der Zeit ihrer Opposition erfolgreich, im Verbund mit den Gewerkschaften und mit Unterstützung des damals noch existierenden »Arbeitnehmerflügels« der Unionsparteien. Mit der vielzitierten »Wende« per Godesberger Programm hatte dieser Effekt nichts zu tun. Schrittweise konnte die SPD neue Gruppen in der Wählerschaft für sich erschließen, und zwar schon vor »Godesberg«. Dieser Trend lässt sich deutlich erkennen an der Entwicklung im bevölkerungsreichsten, industriell geprägten Bundesland Nordrhein-Westfalen (NRW). Keineswegs war das Rhein-Ruhr-Revier vor 1933 und dann in den ersten Jahren nach 1945 eine Bastion der SPD. Starke Positionen hatten hier vielmehr die Kommunistische Partei und der zur Zentrumspartei und später zur CDU neigende Arbeiterkatholizismus. Diese Wählerpotentiale wechselten ab Anfang der 1950er Jahre mehr und mehr zur SPD hinüber – Kommunisten, weil sie die DDR nicht als Vorbild sehen mochten, und Arbeiterkatholiken, weil sie in den DGB-Gewerkschaften positive Erfahrungen mit Sozialdemokraten gemacht hatten. Nicht erst mit »Godesberg« wurden die industriellen Regionen in NRW zu Hochburgen der SPD. Eine revolutionäre marxistische Partei war die SPD schon lange nicht mehr. Schon vor »Godesberg« hatte sie sich auf verschiedene ideelle Wurzeln


© AdsD der Friedrich-Ebert-Stiftung

Parteitag der SPD in Bad Godesberg. Eine marxistische Partei war sie schon lange nicht mehr berufen, dabei allerdings auch Marx und Engels als gedankliche Anreger benannt. Dieser Hinweis tauchte im Godesberger Programm nicht mehr auf, sicherlich aus dem Grunde, den Diffamierungen der CDU/CSU zu entweichen, die ja plakatierte: »Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau«. Aber eine »Abkehr der SPD vom Marxismus«? Die hätte nur stattfinden können, wenn diese Partei bis dahin »marxistisch« gewesen wäre. Neu war am Godesberger Programm auch nicht, dass die SPD dem Konstrukt »Marktwirtschaft« eine gewisse Ehrerbietung zollte. Schon in den vorhergehenden Aktionsprogrammen hatte sie sich mit dem Spruch »Wettbewerb soweit wie möglich, Planung soweit wie nötig« aus der programmatischen Affäre gezogen. Die SPD gewann zu dieser Zeit an profilierten Mitstreitern, auch an Anerkennung bei Intellektuellen und Literaten. Auch das war kein Ertrag einer vermeintlichen »Wende«, sondern eine Art »Kolalateralschaden« ihrer zeitweiligen und immer halbherzigen Kooperation mit außerparlamentarischen Bewegungen und Gruppierungen, die entschieden gegen die Remilitarisierung und gegen die Atomrüstung auftraten. Nicht nur der spätere Bundespräsident Gustav Heinemann kam auf diese Weise zur SPD. Auch die außerparlamentarische Bewegung um 1968 brachte, trotz ihrer heftigen Kritik an der SPD-Politik, der Partei den Zustrom neuer, aktiver Mitglieder – ganz gewiss waren diese dazu nicht durch die Lektüre

des Godesberger Programms motiviert worden. Das Programm selbst, bei all seinen Schwächen und Ungereimtheiten, war übrigens – anders als heute oft gedeutet wird – kein reumütiges Bekenntnis zu einem alleinseligmachenden Kapitalismus. Es finden sich viele Aussagen darin, die beim gegenwärtigen Parteimanagement der SPD größten Schrecken auslösen würden. In einer »vom Gewinn- und Machtstreben bestimmten Wirtschaft und Gesellschaft« seien »Demokratie, soziale Sicherheit und freie Persönlichkeit gefährdet«, heißt es da. Wer »in den Großorganisationen der Wirtschaft über Millionenwerte und über Zehntausende von Arbeitnehmern« verfüge, übe »Herrschaftsmacht über Menschen aus«; »führende Männer der Großwirtschaft« hätten »Einfluss auf Staat und Politik, der mit demokratischen Grundsätzen nicht vereinbar« sei. Zudem plädiert das Programm für einen gemeinwirtschaftlichen, nicht profitorientierten Sektor in der Wirtschaft, für die »Bändigung der Macht der Großwirtschaft« – Staat und Gesellschaft dürften nicht »zur Beute mächtiger Interessengruppen werden.« Insofern steht die heutige SPD keineswegs in der Tradition von Godesberg. Die »Partei des Sozialstaats« ist sie längst nicht mehr, auch nicht die Vertretung gewerkschaftlicher Forderungen auf parlamentarischer Ebene. Was sie an innerparteilicher Lebendigkeit hatte, ist verloren gegangen. Dass diese Partei das wieder werden könnte, was sie einmal war, ist tatsächlich nicht zu erwarten. www.marx21.de | Winter 2009/10 | Nr. 13

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Neues aus der

»Viele Menschen wollen sich wehren« Seit Anfang des Jahres hat DIE LINKE ein neues Wahlkampfkonzept ausprobiert. Loren Balhorn und Benjamin Cers haben im zentralen Linksaktiv-Team in Berlin mitgearbeitet, in Bayern Wahlkampf gemacht und ziehen jetzt im Gespräch mit marx21 Bilanz

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er Aktivierungswahlkampf der LINKEN sollte Menschen ermutigen, selbst für ihre Interessen einzutreten. Ist das passiert und wie sah das aus? Benjamin: Es gab in der Partei drei Reaktionen auf die Idee: Die einen unterstützten sie von Anfang an, die anderen fanden sie gut, hatten aber praktische Schwierigkeiten und manche lehnten sie ab. Grundsätzlich ging es uns darum, vom reinen Medienwahlkampf zum Straßenwahlkampf zurückzukehren. Dabei wollten wir an den Sorgen der Menschen – zum Beispiel durch die Wirtschaftskrise – anknüpfen, und ihnen ein Angebot machen, politisch aktiv zu werden.

I

st das Konzept dort, wo es umgesetzt wurde, aufgegangen? Loren: Wir haben alle gemerkt, dass es viele Menschen gibt, die sich an Abwehrkämpfen beteiligen würden, aber bisher nicht angesprochen wurden. In München haben mir zum Beispiel zwei türkische Mädchen gesagt: »Die anderen Parteien sind alle gegen uns, Ihr seid die einzigen, die für uns sind, wir wollen mitmachen.« Benjamin: Es hat sich oft eine eigene Dynamik entwickelt, wie in Coburg. Nachdem im Frühjahr der Schwerpunkt darauf lag, Aktivisten zu gewinnen,

stand nach der Europawahl im Juni im Zentrum, mit diesen Aktivisten Teams zu bilden, die selbstständig politisch aktiv werden. Zum Schluss gab es in Coburg zwei Teams mit je rund 20 Aktivisten, die regelmäßig und eigenständig Aktionen gemacht haben.

in Zahlen 5000

Menschen sind bis zum Freitag vor der Wahl mit der LINKEN aktiv geworden

60/40

war das geschätzte Verhältnis von Parteimitgliedern zu Nichtmitgliedern

Schick uns Neues aus der LINKEN

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Die Rubrik »Neues aus der LINKEN« lebt von der Mitarbeit der marx21-Leser. Die Redaktion kann nicht überall sein – aber das Magazin und seine Leser schon. Auf dieser Doppelseite wollen wir über interessante Aktionen und Kampagnen der LINKEN berichten sowie spannende Termine ankündigen. Wenn ihr etwas beizutragen habt, schickt eine E-Mail an redaktion@marx21.de. Die Redaktion behält sich das Recht auf Auswahl Nr. 13 | Winter 2009/10 | www.marx21.de und Kürzung vor.

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oren, du hast den letzten Präsidentschaftswahlkampf in den USA erlebt und Dich dann im Sommer dem Linksaktiv-Team angeschlossen. Was war der Unterschied? Loren: In den USA war tatsächlich etwas in Bewegung geraten. Die sozialen Bewegungen haben den Wahlkampf von Obama mitgetragen. Ein Nachteil dieser Entwicklung war, dass ein Jahr lang kaum Antikriegsdemonstrationen oder Streiks stattgefunden haben. Aber Obama hat reale Bewegungen hinter sich vereint. Der LINKEN muss das erst noch gelingen. Der Aktivierungswahlkampf war aber ein guter Schritt in diese Richtung, weil wir damit begonnen haben, unser politisches Umfeld systematisch zu pflegen.

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enjamin, du bist in der Antifa-Bewegung aktiv und kein Parteimitglied. Hat sich in deinem politischen Umfeld die Wahrnehmung der LINKEN jetzt verändert? Benjamin: Die Stimmung gegenüber der LINKEN dreht sich etwas. Es gab schon immer auf der einen Seite Leute, die DIE LINKE nur als kleineres Übel empfinden. Und auf der anderen Seite Leute, denen es wichtig ist, dass es auch im Parlament eine starke Linke gibt. Neu ist, dass viel mehr Menschen auf die Verzahnung von Partei und Bewegung achten. Dazu kommt, dass DIE LINKE mit Linksaktiv Menschen ohne politische Erfahrung einen Raum gegeben hat, erstmals selbst aktiv zu werden. Ihre Radikalisierung wird aber wohl außerhalb der Partei stattfinden. Loren: Das glaube ich nicht. In der LINKEN sind viele verschiedene politische Aktivitäten möglich. Gerade der Aktivierungswahlkampf hatte zum Ziel, gemeinsam mit den Unterstützern etwas zu machen und nicht stellvertretend für sie. Die Partei ist zwar noch kein Motor der sozialen Bewegungen, aber sie kann es werden.


David Paenson

Kampf gegen Tarifflucht bei Schlecker DIE LINKE unterstützt von der Kündigung bedrohte Angestellte der Drogeriekette, wie David Paenson berichtet

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twa 40 Menschen beteiligten sich am 26. Oktober an einer von der LINKEN in Frankfurt am Main organisierten Solidaritätsveranstaltung mit den von der Kündigung betroffenen Schlecker-Kolleginnen. Zehn von ihnen waren selbst anwesend. Vor und während der Veranstaltung traten einige in die Gewerkschaft ein und diskutierten darüber, einen Betriebsrat zu gründen. Auf dem Podium saßen der Landtagsabgeordnete der hessischen LINKEN, Hermann Schaus, die ver.di-Vertreter Walter Busch Hübenbecker und Jörg Jungmann und Katja Deusser, Schlecker-Betriebsrätin für die Region Darmstadt. Sie beleuchteten die verschiedenen Dimensionen der Schlecker-Strategie zur Tarifflucht im großen Stil: die Gründung eines »neuen« XL-Schlecker-Netzes, wo der Stundenlohn bei 6,50 Euro statt des bisherigen Tariflohns von 11 bis 13 Euro liegt, die Streichung von Urlaubs- und Weihnachtsgeld, sowie die Kürzung des Urlaubsanspruchs und die Einführung befristeter Arbeitsverträge.

Katja Deusser gab viele konkrete Beispiele von erfolgreichen Abwehraktionen, die verschiedentlich zur Wiedereinstellung von Kolleginnen zu den alten Bedingungen, zur Auszahlung einbehaltener Lohnanteile und zur Rücknahme rechtswidriger Abmahnungen geführt hatten. Sie berichtete vom rauen Umgangston, der von Anton Schlecker und seinen Bezirksleiterinnen gepflegt wird. Von einer besonders gelungenen Aktion berichtete Jörg Jungmann, ver.di-Sekretär für den Bereich Medien und Mitglied des Landesvorstandes der hessischen LINKEN. Angestellte von Schlecker hatten die ebenfalls von Tarifflucht betroffenen Kollegen des Darmstädter Echos in ihren Arbeitskampf einbezogen: Gemeinsam marschierten sie durch das Tor und die Werkshallen der Zeitungsdruckerei, die geschlossen und auf der grünen Wiese neu eröffnet werden soll. Zu der Veranstaltung wurde in über zwanzig Frankfurter Schlecker-Filialen eingeladen. So hatte DIE LINKE Kontakt zu einzelnen Verkäuferinnen knüpfen können – eine wichtige Grundlage für den Aufbau weiterer Solidaritätsarbeit.

Der Stadtabgeordnete Lothar Reininger rechnete vor, dass bei der untertariflichen Bezahlung die Kolleginnen nach einem vollen Berufsleben auf eine Rente von 520 Euro kämen. Das will die LINKE-Fraktion nun thematisieren. Das Publikum machte viele Vorschläge für weitere Aktionen – so zum Beispiel eine Plakataktion vor den insgesamt 60 Filialen, kombiniert mit zentralen Kundgebungen vor dem in der Innenstadt in bester Lage geschlossenen Woolworth. Dort soll demnächst ein XL-Schlecker eröffnet werden. Es gab einige Kontroversen über die Zusammenarbeit von ver.di und der LINKEN. Konsens herrschte hinterher aber darüber, dass die Partei auf der allgemeinen politischen Ebene, in den Parlamenten, aber auch auf der Straße, gegen Tarifflucht und Lohndumping tätig werden und bei der Verknüpfung von überbetrieblichen und zwischenbetrieblichen Solidaritätsnetzwerken eine wichtige Rolle spielen soll und kann. Eine solche Kampagne wird einen langen Atem und die gemeinsamen Anstrengungen aller Mitglieder der LINKEN erfordern.

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Neues Aus der Linken

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Schwerpunkt Dresden 2010 – Nazis Stoppen

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Hitlers Erben

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Frühe Hinweise

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Von Opfern und Tätern

Trotzkis Warnungen vor den Nazis

Die Linke & die Bombardierung Dresdens

Schwerpunkt

Nr. 13 | Winter 2009/10 | www.marx21.de Marek Peters

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Christine Buchholz über den Faschismus


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oralf, wie stark ist die NPD derzeit? Die NPD steht besser da, als viele das wahrhaben wollen. Ja, die Partei steckt in einer Finanzkrise aufgrund der Rückforderungen des Bundestags. Doch diese Finanzkrise ist nicht die erste der Partei – sie wird sie überstehen. Die NPD hat das Recht, mit der Bundestagsverwaltung einen Tilgungsplan per Ratenzahlung zu vereinbaren und wird dies sicherlich auch in Anspruch nehmen. Am Geld jedenfalls wird die NPD nicht scheitern: Die Partei verfügt über 7000 meist hochmotivierte Mitglieder, die Beiträge zahlen und Geld spenden. Daneben hat sie Anspruch auf staatliche Gelder, auch wegen ihrer letzten Wahlergebnisse in Thüringen und

zwei erfahrene Kader und sind deswegen instabil. Wenn der zentrale Aktivist vor Ort dem Suff verfällt, ins Gefängnis muss oder wegzieht, dann reißt es meist die gesamte Struktur ein. Aber trotzdem: Unter den Gruppen am rechten Rand ist die NPD der Platzhirsch.

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eben der NPD agieren im Nazi-Milieu die sogenannten »Freien Kameradschaften«. Wie ist das Verhältnis zwischen Partei und Kameradschaften? Die Kameradschaften sind ein diffuses, wenig strukturiertes Milieu rechts von der NPD. Hier gibt es ganz verschiedene Strömungen: Harte Nationalsozi-

»Die NPD arbeitet an der Faschisierung der Provinz« Toralf Staud sprach mit marx21 über die gegenwärtige Stärke der Nazis – und darüber, wie eine erfolgreiche Gegenstrategie aussehen kann Sachsen. Dazu kommt eine zunehmende regionale Verankerung mit über 300 Kommunalmandaten.

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n ihrer Wahlauswertung gibt sich die NPD zufrieden mit dem Bundestagswahlergebnis. Sie habe sich als zentrale Partei rechts außen durchgesetzt, »die nationalen Konkurrenzparteien REP und DVU wurden vom Wähler in die Bedeutungslosigkeit katapultiert«. Das ist natürlich ein bisschen Rhetorik für die Moral der Mitglieder. Man darf sicher sein, dass sich die NPD-Führung angesichts der Wirtschaftskrise mehr von der Wahl erhofft hatte – schließlich hat sie mehr als 100.000 Wähler gegenüber 2005 verloren. Richtig ist aber, dass sich die NPD gegenüber ihren Konkurrenten durchsetzt. Das ist angesichts der grundverschiedenen Strukturen aber auch kein Wunder: Die DVU war immer eine Phantompartei, teilweise eher ein Lesezirkel für die nationalistische Literatur des Münchner Verlegers Gerhard Frey. Er hatte überhaupt kein Interesse daran, Strukturen vor Ort aufzubauen, er duldete offenbar auch keine selbstbewussten Leute neben sich. Die NPD hingegen ist, zumindest vom Anspruch her, eine straffe Kaderpartei mit einer klaren Weltanschauung. Sie will Strukturen vor Ort aufbauen und sich verankern. Das ist der Anspruch – die Realität gestaltet sich für die Partei schwieriger. Die lokalen Verbände und Gruppen stützen sich oft nur auf ein,

alisten, Gruppen im Pfadfinderstil und auch einfach Saufclubs. So verschieden die Gruppen sind, so unterschiedlich ist auch ihre Haltung zur NPD. Manche arbeiten mit der Partei zusammen, anderen ist sie zu »weich« und zu bürgerlich. Gerade in Sachsen, wo sowohl die NPD als auch die Kameradschaften stark sind, entzündet sich immer wieder Streit an der Arbeit der NPD-Fraktion im Landtag. Dennoch: Wenn es hart auf hart kommt, sind die NPD-nahen Kameradschaften die aktivistischen Hilfstruppen der Partei – in Sachsen waren sie für die Durchführung des Wahlkampfes unverzichtbar.

Toralf Staud ist freier Journalist und Autor diverser Bücher zum Thema Rechtsextremismus.

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n den letzten Jahre sind verstärkt sogenannte »autonome Nationalisten« aufgetreten, die in Kleidung und Slogans kaum von der radikalen Linken zu unterscheiden sind. Woher kommen diese Leute? Das Phänomen der »autonomen Nationalisten« ist vor allem eines des Westens, der Schwerpunkt liegt im Ruhrgebiet. Dort ist der gesellschaftliche Druck durch öffentliche Ablehnung und die Antifa viel höher als im Osten – deshalb macht es durchaus Sinn, einen Stil zu wählen, der einen nicht sofort als Nazi erkennbar macht. Die Kopie des Stils der radikalen Linken folgt klaren taktischen Erwägungen: Man hofft, damit leichter an modebewusste Jugendliche heranzukommen. Auch von der Betonung antikapitalistischer Thesen erhofft man sich größere Breitenwirksamkeit. www.marx21.de | Winter 2009/10 | Nr. 13

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Im Osten ist beispielsweise der Hang zur Realitätsverweigerung größer – man will schlicht nicht wahrhaben, dass die Nazis vor Ort verankert und präsent sind. Man wolle das Problem nicht »hochspielen«, heißt es oft, um die Gemeinde nicht in Verruf zu bringen. Leider sind auch Kommunalpolitiker der LINKEN davon nicht ausgenommen. Die NPD jedenfalls freut sich darüber, sie kann dann ungestört weiterarbeiten. Andererseits hat sich in den vergangenen Jahren auch viel getan, gerade auf kommunaler Ebene. Lokale Bündnisse, die teilweise von der Antifa bis weit ins bürgerliche Spektrum hineinreichen, versuchen im Verbund mit Jugendzentren, den demokratischen Parteien, aber auch den Sicherheitsbehörden, den Nazis durch Informationen und Aktionen Wasser abzugraben. Das ist am erfolgreichsten, wenn die Aktionen dort ansetzen, wo es auch die der NPD tun – an der gesellschaftlichen Basis. Marek Peters

In diesen Kreisen wird zum Beispiel die Literatur der Strasser-Brüder, des vorgeblich »sozialrevolutionären« Flügels der NSDAP, eifrig gelesen. Dennoch: Der ideologische Kern auch der »Autonomen Nationalisten« bleibt Rassismus, nicht Antikapitalismus.

Die NPD demonstriert gegen Krieg. Gleichzeitig fordert sie die Wiederherstellung des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1938. Das würde bedeuten: Krieg gegen Polen und Tschechien Bislang ist nicht klar, wohin die Entwicklung geht. Die Szene ist sehr fragil, Leute kommen schneller rein und schneller wieder raus als in andere rechtsextremistische Gruppen. Zudem gibt es einen dicken inhaltlichen Widerspruch: Wie soll ich autonom und unabhängig sein in einer völkischen kollektivistischen Bewegung? Auch das macht die Szene instabil.

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★ ★★ WEITERLESEN: Toralf Staud: Moderne Nazis. Die neuen Rechten und der Aufstieg der NPD (Kiepenheuer & Witsch 2005). Toralf Staud und Holger Kulick: Das Buch gegen Nazis: Rechtsextremismus – was man wissen muss und wie man sich wehren kann (Kiepenheuer & Witsch 2009).

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u schreibst, die NPD arbeite an der Faschisierung der ostdeutschen Provinz. Was heißt das genau? Die NPD versucht an den Graswurzeln der Gesellschaft anzudocken: Sportvereine, Elternvertretungen, Freiwillige Feuerwehr. Ihre Mitglieder sind Schöffen bei Gericht oder einfach der nette Nachbar von nebenan, der mal auf die Kinder aufpasst. Die Partei hofft, so die gesellschaftliche Abwehr zu unterlaufen, nicht ohne Erfolg. So hatte der »nette Uwe von der NPD« in Königstein Spitzenwahlergebnisse geholt – er war unter anderem als Tischtennistrainer und in anderen Initiativen aktiv. Ein zweiter Aspekt der Faschisierung ist handfester Straßenterror, die Homogenisierung von Gegenden, in denen die NPD verankert ist, durch Gewalt – oder die Androhung von Gewalt. Sie richtet sich gegen Ausländer, Punks, Linke, engagierte Antifaschisten, überhaupt jeden, der anders aussieht oder sich der NPD entgegenstellt.

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ie reagiert die Gesellschaft vor Ort? Vorneweg: Die NPD ist ein gesamtdeutsches Problem. Dennoch gibt es Unterschiede in der zivilgesellschaftlichen Reaktion zwischen Ost und West. Nr. 13 | Winter 2009/10 | www.marx21.de

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as ist für dich zentral, um die Nazis zu schwächen? Man muss sich viel stärker inhaltlich mit Nazi-Propaganda auseinandersetzen. Damit meine ich nicht, dass sich Demokraten zusammen mit NPD-Kadern auf öffentliche Podien setzen sollen – das wertet sie nur auf. Aber man muss die Propaganda, die ja oft eingängig ist, argumentativ zerlegen, den rassistischen oder nationalsozialistischen Kern bloßstellen. Dabei geht es nicht darum, die Nazis zu überzeugen – es geht um die Unentschiedenen. Ein Antifaschist, der in einen Jugendclub geht und dort mit von der NPD beeinflussten Jugendlichen redet, muss die NPD-Argumente kennen und Antworten haben. Er muss argumentieren können, dass das NPD-Programm mit der Forderung nach Wiederherstellung der Grenzen von 1938 ein Programm für Krieg in Europa ist. Oder warum Rassismus keine Lösung für soziale Probleme bietet. Er sollte wissen, welche Lieder auf der NPD-Schulhof-CD sind und deren Texte kontern können. Linke machen es sich oft zu einfach, indem sie »Nazi« oder »Rassist« rufen, aber jenseits der emotionalen Ablehnung nicht zu überzeugen versuchen.

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as hältst du von einem NPD-Verbot? Ich war immer dagegen. Zum einen schafft das Verbot nicht einen einzigen NPD-Kader aus der Welt – Menschen kann man ja nicht verbieten. Das Potential bliebe also erhalten, und würde sich nach dieser kurzen Störung wieder organisieren. Zum zweiten bin ich einfach der Meinung, dass man immer vorsichtig sein sollte mit der Forderung nach mehr staatlicher Repression. Die NPD ist Ausdruck eines gesellschaftlichen Problems, das kann man nicht mit Verboten lösen. Und ich wundere mich schon, wie viel Vertrauen in den Staat – und insbesondere in diesen – Linke zu haben scheinen.


Hitlers Erben Binnen weniger Jahre wuchs die NSDAP zu einer Massenbewegung. Dabei agierte sie ähnlich wie die heutigen Nazis, meint Christine Buchholz

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Was aber genau ist Faschismus? Auch hier gehen die Meinungen weit auseinander. Einige Wissenschaftler beschreiben Faschismus als eine besondere Herrschaftsform der 1930er Jahre, die heute nicht mehr möglich sei. Manche Linke hingegen neigen dazu, beispielsweise auch bürgerliche Politiker wie Wolfgang Schäuble als »Faschist« zu beschimpfen. Beides ist falsch. Nicht jeder, der für eine unsoziale oder rassistische Politik steht, ist ein Faschist. Umgekehrt ist es aber auch fatal, davon auszugehen, der Faschismus könnte nie wieder kommen. Auch wenn er glücklicherweise derzeit nirgendwo als Herrschaftsform existiert, sind die Wahlerfolge und Regierungsbeteiligungen von Faschisten in den letzten Jahren ein deutliches Warnsignal. »Ich glaube, dass es wieder passieren kann, und ich glaube auch, dass wir uns deswegen so genau mit Hitler und dem Dritten Reich beschäftigen müssen, um uns klarzumachen, unter welchen Umständen eine so fürchterliche Entwicklung möglich ist«, sagt die

Christine Buchholz ist Bundestagsabgeordnete und Mitglied im geschäftsführenden Parteivorstand der LINKEN.

Bundesarchiv

er Skandal war perfekt. »Die NPD ist keine faschistische Partei«, dozierte der Soziologe Bernd Rabehl im Juni 2005 bei einer Pressekonferenz im Sächsischen Landtag. Anschließend posierte er für die Fotografen freudig lächelnd mit NPD-Wahlkampfleiter Peter Marx. Die Empörung in der Öffentlichkeit war groß – doch weniger über Rabehls Charakterisierung der NPD als über sein klares Bekenntnis zu den Nationaldemokraten. Denn auch wenn die NPD von großen Teilen der Bevölkerung verabscheut wird, ist in der öffentlichen Diskussion doch umstritten, wie man die Partei am Besten bezeichnet. Meist werden wahllos Begriffe wie »rechtsextrem«, »verfassungsfeindlich« und »rassistisch« verwendet. Dabei ist es wichtig, den Charakter der NPD klar zu analysieren. Erst dann kann man sie auch effektiv bekämpfen. Daher soll im Folgenden gezeigt werden, dass es sich bei ihr – anders als von Rabehl behauptet – durchaus um eine faschistische Partei handelt.

Auffangbecken für Arbeitslose: Die paramilitärische SA, hier Neumitglieder 1932 bei der Vereidigung in Döberitz www.marx21.de | Winter 2009/10 | Nr. 13

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Historikerin und Hitler-Biographin Brigitte Hamann. Tatsächlich kann ein Blick zurück auf den Aufstieg der Nazis Ende der 1920er Jahre bei der Analyse helfen. Noch wenige Jahre vor ihrer Machtübernahme 1933 war Hitlers Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) eine unbedeutende Splittergruppe. Bei den Reichstagswahlen 1928 erhielt sie lediglich 2,8 Prozent der Stimmen. Doch schon zwei Jahre später zog sie mit einem Stimmenzuwachs von 5,6 Millionen als zweitstärkste Fraktion in den Reichstag ein. 1932 konnte sie ihre Stimmenzahl noch einmal mehr als verdoppeln und wurde mit 37,3 Prozent stärkste Kraft. Dazwischen lag die Weltwirtschaftskrise. Im Oktober 1929 wurde der Kapitalismus bis auf seine Grundfesten erschüttert: Nach dem Börsencrash an der New Yorker Wall Street kam es zur globalen Krise. In Deutschland gingen große und kleine Firmen bankrott. Erhebliche Teile des Mittelstandes stürzten in Armut. Die Arbeitslosigkeit wuchs von 1,3 Millionen im Jahr 1929 auf etwa 6 Millionen Anfang 1933.

Montage des Künstlers John Heartfield: Goebbels hängt Hitler den Bart von Marx um. Die Nazis versuchten, durch pseudo-antikapitalistische Propaganda neue Anhänger zu gewinnen

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Zwischen 1930 und 1932 zerschlugen die Kanzler Heinrich Brüning und Franz von Papen den Sozialstaat fast vollständig. Die Kürzungen geschahen im Interesse der deutschen Wirtschaft. Die Unternehmer behaupteten, »übermäßige« Sozialleistungen, zu hohe Löhne und zu niedrige Arbeitszeiten hätten die Krise verursacht. Sie kündigten Tarifverträge, kürzten Löhne und schafften den Achtstundentag ab. Die Regierung wollte so die Wirtschaft entlasten, deutsche Produkte auf dem Weltmarkt billiger machen und Wachstum erreichen. Doch da alle großen Wirtschaftsmächte dieselbe Politik betrieben, kam es zu keinem Aufschwung. Lediglich die Armut stieg immer weiter. Die Arbeitslosen und die Mittelschichten waren am härtesten von der Krise betroffen. Aus ihnen rekrutierte sich größtenteils die Anhängerschaft der Nationalsozialisten. Für die Mittelschichten – vor allem Handwerker, Kleinunternehmer, mittlere Beamte und Geschäfts­ inhaber – war die Krise deshalb so schlimm, weil sie von zwei Seiten unter Druck standen. Sie »sahen oder fühlten sich gleichermaßen bedroht von der zunehmenden Konzentration des industriell-gewerblichen oder handelskapitalistischen Besitzes auf der einen, wie von den Ansprüchen der gut organisierten Industriearbeiterschaft auf der anderen Seite«, wie es der Soziologe Arno Klönne ausdrückt. Die sowohl gegen das Großkapital als auch gegen die organisierte Arbeiterschaft gerichtete Demagogie der Nationalsozialisten fiel hier auf fruchtbaren Boden. Der Antisemitismus bot den Mittelschichten scheinbar eine Erklärung für ihre Armut: Um das »deutsche Volk« zu vernichten, hätte sich das »jüdische Finanzkapital« mit der »jüdisch-bolschewistischen Arbeiterbewegung« verschworen. Dem setzten die Nazis die scheinbar revolutionäre Lösung der »Volksgemeinschaft« ohne Juden gegenüber. Die Situation der Arbeitslosen war noch verzweifelter. Da alle sozialen Sicherungssysteme zusammengebrochen waren, bedeutete arbeitslos zu sein meist den Kampf ums Überleben zu führen. Gleichzeitig ließen die hohen Arbeitslosenzahlen keine Hoffnung zu, bald wieder angestellt zu werden. Die SA und andere Terrororganisationen der Nationalsozialisten konnten so zum Auffangbecken für Arbeitslose werden. Hier konnten diese eine soziale Heimat, Kameradschaft und ein neues Machtgefühl finden. Der Rassismus und Antisemitismus der Nazis erlaubte es ihnen, wieder »stolz« zu sein, weil es nach dieser Ideologie Menschen gab, die noch unter ihnen standen: Juden, »Fremde« oder Homosexuelle. Zudem versprach die NSDAP eine radikale Alternative zum Weimarer Staat. Gerade »die jungen und die Dauer-Arbeitslosen (waren) von Verzweiflung und Ungeduld bestimmt; ihnen konnte man nicht mit einer ›langfristigen Perspektive‹ kommen, sondern


sie wollten Arbeit und Brot, hier und jetzt. (…) Die NSDAP versprach Abhilfe gegenüber ihrer Not in kürzester Frist«, so Klönne. Auf diese Weise gelang es Hitlers Partei innerhalb weniger Jahre eine wirkliche Massenbewegung aufzubauen. Im Juli 1932 war die Mitgliedschaft der SA auf 400.000 angewachsen. Die Wirtschaftskrise hatte nicht nur ein Erstarken der extremen Rechten zur Folge. Vielmehr bewirkte sie eine politische Polarisierung – auch die Linke gewann. So bescherte die erste Wahl nach Beginn der Krise den Kommunisten einen Stimmenzugewinn von 1,3 Millionen. Bis 1932 wuchs ihre Mitgliederzahl von 100.000 (1928) auf eine Viertelmillion. Die Partei organisierte Demonstrationen gegen Sozialabbau und die Nazigefahr. Wie stark die Linke war, zeigt sich daran, dass bei den letzten freien Wahlen 1932 die beiden Parteien der Arbeiterklasse, SPD und KPD, zusammen mehr Stimmen als die Nationalsozialisten erhielten. Die deutschen Unternehmer erkannten, dass die zugespitzte Lage nicht endlos bestehen bleiben würde. Sie fürchteten, dass die Arbeiterklasse ihnen die Macht entreißen könnte. Ihnen waren noch gut die Entwicklungen anderthalb Jahrzehnte zuvor im Gedächtnis, als in der Novemberrevolution eine Massenbewegung den Kaiser gestürzt und Arbeiter in ihren Betrieben Räte gebildet hatten. Derweil versprachen die Nazis, die Interessen der Wirtschaft mit aller Gewalt durchzusetzen. Je stärker die Arbeiterbewegung wurde, desto mehr wuchs die Unterstützung für die Nazis im Unternehmerlager. Der ehemalige Hamburger Gauleiter der NSDAP Albert Krebs schrieb in seinen Memoiren: »Zwar waren keineswegs alle Kapitalisten hellauf von den Nazis begeistert. Ihre Skepsis war aber nur relativ. Sie endete, je mehr klar wurde, dass nur Hitler in der Lage war, die Arbeiterbewegung restlos zu zerschlagen.« Der Nationalsozialismus war also keineswegs eine Erfindung des Kapitals, wie es später in einer berühmten Definition von Georgi Dimitroff hieß. Der Generalsekretär der Kommunistischen Internationale erklärte 1935 den Faschismus zur »offenen, terroristischen Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischsten, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals«. Dabei übersah er jedoch, dass die Nazis als eigenständige Massenbewegung entstanden und erst später vom Kapital unterstützt worden waren. Insofern ist die Beschreibung des oppositionellen Kommunisten Leo Trotzki treffender. Er meinte, dass die Unternehmer den Faschismus ebenso sehr lieben »wie ein Mensch mit kranken Kiefern das Zahnziehen« – es ist nicht schön, aber manchmal eben notwendig.

Hitler hielt schließlich sein Versprechen. Noch bevor die Nazis den Massenmord an den europäischen Juden begangen, zerschlugen sie die deutsche Arbeiterbewegung. Nachdem er im Januar 1933 vom Reichspräsidenten Hindenburg zum Kanzler ernannt worden war, verbot Hitler innerhalb weniger Monate die Arbeiterparteien und die Gewerkschaften. Tausende Sozialdemokraten, Kommunisten und Gewerkschafter wurden verhaftet oder ermordet. Deutschland war kein Einzelfall. In der Zeit zwischen den Weltkriegen gewannen Naziparteien auch in anderen europäischen Ländern Zulauf. In Italien und Spanien wurden faschistische Diktaturen errichtet. Sowohl Benito Mussolini in Italien (1922) als auch General Franco in Spanien (1939) konnten sich auf die deklassierten Mittelschichten stützen, bauten eine starke paramilitärische Bewegung auf, kamen schließlich mit Unterstützung der Wirtschaft an die Macht und zerschlugen als erstes die Arbeiterbewegung ihres Landes.

»Die NPD fordert die Auflösung der Gewerkschaften«

Betrachtet man nun die NPD, so entdeckt man alle Elemente vergangener faschistischer Parteien. Ganz offensichtlich ist die Partei rassistisch: Ihre Mitglieder hetzen gegen Juden, Muslime, Polen und kämpfen gegen die angebliche »Überfremdung« Deutschlands. Gleichzeitig richtet sich die NPD gegen die organisierte Arbeiterbewegung. Während eines Streiks bei Opel in Bochum verlangte sie in einem Demoaufruf die »Auflösung der Gewerkschaften«. Genau wie die Faschisten der 1920er und 1930er Jahre versuchen die heutigen Nazis eine starke paramilitärische Bewegung aufzubauen. Das, was für Franco die Falange und für Hitler die SA waren, sind für die Führer der NPD die Freien Kameradschaften. Zudem mobilisiert auch die NPD die Deklassierten dieser Gesellschaft als Mitglieder und Wähler. Es kommt nicht von ungefähr, dass sie ihre besten Ergebnisse dort erzielt, wo die Arbeitslosigkeit am höchsten ist. Ähnlich wie Hitler geben sich die Repräsentanten der neuen Nazipartei pseudo-antikapitalistisch. So erklärte der sächsische Landeschef Holger Apfel, die NPD sei die einzige Partei, »die das politische System in der BRD bis auf die Wurzel bekämpft«. Doch schon die NSDAP hat gezeigt, dass sie letztendlich Politik für das Kapital macht. Das kann die NPD (noch) nicht. Denn anders als ihre historischen Vorbilder ist sie weder an der Macht noch wird sie von den deutschen Unternehmern unterstützt. Doch man sollte sich davon nicht täuschen lassen. Die Krise von 1929 hat gezeigt, wie schnell eine gesellschaftliche Radikalisierung stattfinden kann. www.marx21.de | Winter 2009/10 | Nr. 13

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Klassiker des Monats

Frühe Hinweise Leo Trotzki erkannte als einer der ersten die mörderischen Absichten der Nazis und plädierte vehement für eine gemeinsame Gegenwehr der Arbeiterbewegung. Die Argumente aus seinen Schriften können auch 80 Jahre später unter veränderten Bedingungen noch nützlich sein, meint Philipp Kufferath

E Philipp Kufferath ist Historiker und Co-Autor der Broschüre »Stoppt die Nazis. Argumente gegen Rassismus und Faschismus« (Edition Aurora 2005).

in äußerst aufmerksamer Beobachter des Aufstiegs der Nazis war der russische Revolutionär Leo Trotzki. Er hielt sich, verfolgt von Stalins Geheimdiensten, mit seiner Familie im Exil auf der türkischen Insel Prinkipo auf. Trotz dieser widrigen Umstände sammelte er alle verfügbaren Informationen über die Situation in Deutschland. Der Schriftsteller Kurt Tucholsky staunte damals über den Kenntnisreichtum seiner Schriften: »Und Trotzki, der prachtvolle Sachen schreibt... Neulich ein ›Porträt des Nationalsozialismus‹, das ist wirklich eine Meisterleistung. Da stand alles, aber auch alles drin. Unbegreiflich, wie das einer schreiben kann, der nicht in Deutschland lebt.«

Seine ganze Hoffnung legte Trotzki auf die starke Arbeiterbewegung der Weimarer Republik. In zahlreichen Briefen, Artikeln und Broschüren versuchte er daher, auf die Politik der Arbeiterparteien SPD und KPD Einfluss zu nehmen. Kurz nach der Wahl 1930 warnte er: »Der Faschismus ist in Deutschland zu einer wirklichen Gefahr geworden; er ist Ausdruck der akuten Ausweglosigkeit des bürgerlichen Regimes, der konservativen Rolle der Sozialdemokratie und der akkumulierten Schwäche der Kommunistischen Partei im Kampf gegen dieses Regime. Wer das leugnet, ist blind oder ein Schwätzer.« Trotzki analysierte den Faschismus als eigenständige Massenbewegung des Kleinbürgertums und der verarmten proletarischen Schichten, die jedoch auf die Unterstützung des Großbürgertums angewiesen sei, um die Macht zu erlangen. Mit der Polarisierung in der Krise wachse trotz Widerwillen dessen Bereitschaft, auf den Terror der Nazis zu setzen, um die Arbeiterbewegung zu bekämpfen und zu zerschlagen. »Die untergehende Bourgeoisie ist unfähig, sich mit den Methoden und Mitteln des von ihr selbst geschaffenen parlamentarischen Staates an der Macht zu halten. Sie braucht den Faschismus als Waffe der Selbstverteidigung, zumindest in den kritischsten Augenblicken.« Trotzki betonte an anderer Stelle, welche Folge diese Allianz

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haben werde: »Der Faschismus ist nicht einfach ein System von Repressionen, Gewalttaten, Polizeiterror. Der Faschismus ist ein besonderes Staatssystem, begründet auf der Ausrottung aller Elemente proletarischer Demokratie in der bürgerlichen Gesellschaft. Die Aufgabe des Faschismus besteht nicht allein in der Zerschlagung der proletarischen Avantgarde, sondern auch darin, die ganze Klasse im Zustand erzwungener Zersplitterung zu halten.« Dieser Gefahr müssten sich alle Arbeiterorganisationen stellen. Die Situation der Linken war jedoch für ihn alles andere als verheißungsvoll. Zwar gewannen auch die Kommunisten Stimmen und Mitglieder hinzu, erkannten aber nicht genügend die Bedrohung durch Hitlers Bewegung. Die KPD sah vielmehr die SPD als »Hauptgegner«, weil diese nach der Novemberrevolution von 1918 und in den Koalitionsregierungen der Folgejahre die revolutionären Bewegungen bekämpft hatte. Im Prinzip seien die Sozialdemokraten noch schlimmer als die Nazis, sie seien »Sozialfaschisten«, lautete mitunter der absurde Vorwurf der Parteiführung. Die SPD wiederum betrachtete die zentralistische, von Moskau abhängige kommunistische Partei gleichsam nicht als Bündnispartner, auch wenn viele Mitglieder beider Parteien ein gemeinsames Vorgehen wünschten. Sie verstand sich vielmehr als Stütze der Weimarer Verfassung, die durch Angriffe von rechts (NSDAP) und links (KPD) gleichsam in Gefahr sei. Aber durch ihre Tolerierung der Kürzungspolitik in der Krise und der rechten Präsidialkabinette ab 1930 trug sie ebenfalls zu deren Ende bei. Trotzki betonte dagegen vor allem die Gefährdungen für die gesamte Demokratie. Grundlage einer Zusammenarbeit müsse die Erkenntnis sein, dass der Faschismus, wenn er an die Macht gelange, unterschiedslos die Organisationen der Linken terrorisieren werde. Der gemeinsame Kampf diene deshalb in erster Linie der Verteidigung bereits er-


flickr.com/Jan Stettler

Massenbewegung der Mittelschichten: Hitlers NSDAP, hier auf dem Reichsparteitag 1936 rungener Positionen: »Es geht unmittelbar um das Schicksal seiner politischen Organisationen, seiner Gewerkschaften, seiner Zeitungen und Druckereien, seiner Heime, Bibliotheken usw. Der kommunistische Arbeiter muss zum sozialdemokratischen Arbeiter sagen: ›Die Politik unserer Parteien ist unversöhnlich; aber wenn die Faschisten heute Nacht kommen, um die Räume Deiner Organisation zu zerstören, so werde ich Dir mit der Waffe in der Hand zu Hilfe kommen. Versprichst Du, ebenfalls zu helfen, wenn die Gefahr meine Organisation bedroht?‹ Das ist die Quintessenz der Politik der jetzigen Periode.« Auch wenn Trotzki die bedingungslose Zusammenarbeit im Kampf gegen die Nazis einforderte, trat er nicht dafür ein, die politischen Unterschiede zu verschweigen. Seine Hoffnung war vielmehr, dass sich im gemeinsamen Vorgehen erweise, dass sich die Kommunisten am entschlossensten gegen den Faschismus stellen würden. Die sozialdemokratische Basis könne nur so nach und nach von der Notwendigkeit einer revolutionären Veränderung überzeugt werden. Mache die KPD jedoch den Bruch mit der sozialdemokratischen Reformstrategie und der Parteispitze zur Bedingung für den gemeinsamen Kampf, so scheitere jede Gegenwehr und den Nazis wäre das Feld überlassen. In der Praxis gelang die Einheit von KPD und SPD nur in wenigen Fällen auf regionaler Ebene. Die überstrapazierte Betonung ihrer Unterschiede hatte

die Parteien blind für die akute Gefahr von Rechts gemacht. Es gab zwar kleinere Gruppierungen zwischen den großen Parteien, die sich für eine Einheitsfront stark machten und auch auf Trotzkis Argumente zurückgriffen, sie konnten jedoch kaum Wirkung entfalten. Die Gefahr einer faschistischen Massenbewegung ist heute keinesfalls so akut ist wie in der Krise von 1929. Auch das Kapital gewährt den heutigen Nazis bislang nur sehr vereinzelt Unterstützung. Dennoch sind Trotzkis strategische Vorschläge im Kampf gegen Rechts durchaus aktuell. Denn auch die Stärke der revolutionären Linken ist deutlich zurückgegangen, die Arbeiterbewegung ist in eine Vielzahl kleinerer Organisationen und sozialer Bewegungen zergliedert, die sich nur bedingt als Einheit verstehen. Umso mehr ist der erfolgreiche Kampf gegen ausländerfeindliche, antiislamische und antisemitische Tendenzen von breiten Bündnisinitiativen abhängig, die sich entschlossen den Nazis in den Weg stellen. In der gemeinsamen Bewegung ist aber dennoch nötig, sich inhaltlich intensiv auseinander zu setzen und auch über die Hintergründe und Ursachen des Erstarkens der Nazis zu streiten. Trotzkis Analysen zur sozialen Basis des Faschismus und zu seiner Funktion in der kapitalistischen Krise können dabei eine gute Grundlage sein, um auch die Unterschiede zwischen der Situation damals und heute zu analysieren. www.marx21.de | Winter 2009/10 | Nr. 13

Trotzkis Texte über den Nationalsozialismus hat Helmuth Dahmer in den 1970er Jahren unter dem Titel »Schriften über Deutschland« herausgegeben (Europäische Verlagsanstalt 1971). Eine Auswahl findet sich in dem Band »Porträt des Nationalsozialismus« (Mehring 1999).

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Von Opfern und Tätern Nazis versuchen, das Gedenken an die Bombardierung von Dresden für ihre Zwecke zu missbrauchen. Welche Antwort sollte die Linke geben? Ein Beitrag zur Debatte von Stefan Bornost

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m Februar 1945, drei Monate vor Ende des Zweiten Weltkrieges, ließen amerikanische und britische Bomber 200.000 Spreng- und 650.000 Brandbomben auf die historische Altstadt Dresdens niederregnen. Das entstandene Flammenmeer ließ Fensterscheiben schmelzen, Tausende erstickten in Kellern, wurden von Trümmern erschlagen oder verbrannten. Die Stadt lag anschließend in Schutt und Asche. Diesen Angriff nehmen Nazis aus dem Inund Ausland seit Jahren zum Anlass für einen Großaufmarsch – 7000 Teilnehmer waren es letztes Jahr. Ihr Ziel: Anknüpfend an der Trauer vieler Dresdner über die Toten und Zerstörung wollen

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sie die Geschichte umschreiben. Die NPD redet in Bezug auf Dresden vom »Bombenholocaust« – und versucht so, die Verbrechen der Nazis zu relativieren. Die Nationalsozialisten haben den Zweiten Weltkrieg begonnen und allein in der Sowjetunion 25 Millionen Menschen getötet. Im Holocaust sind weitere 6 Millionen Juden, Sinti und Roma von ihnen ermordet worden. Zehntausende politische Gegner, Homosexuelle und Menschen mit Behinderung sind zudem den Nazi-Mördern in den Gaskammern von Auschwitz und anderen Vernichtungslagern zum Opfer gefallen. Für Februar 2010 sind größere Aktionen gegen den Nazi-Aufmarsch geplant. In diesem Rahmen stellt sich die Frage, wie Antifaschisten mit dem eigentlichen Anlass des Gedenkens umgehen sollen – der Bombardierung Dresdens. »Deutsche Täter sind keine Opfer« war einer der zentralen Slogans der antifaschistischen Proteste der vergangenen Jahre. Von Teilen des Protestbündnisses wird diese Position noch immer vertreten. So erklärt der Vorbereitungskreis »Keine Versöhnung mit Deutschland«: »Der Hintergrund vor dem die Neonazis ihre Propaganda anbieten, bleibt aber die Erzählung von den Deutschen als Opfer, die auch in ihren bürgerlichen Varianten die Relativierung der


Schuld der Deutschen zum Ziel hat.« Deshalb lehnt der Vorbereitungskreis das öffentliche Gedenken per se ab. Die Argumentation hinter dem Slogan »Deutsche Opfer sind keine Täter« läuft zugespitzt so: »Die Deutschen« haben es verdient, kollektiv durch Flächenbombardements bestraft zu werden, weil sie kollektiv mitschuldig geworden sind an Weltkrieg und Völkermord – mitschuldig durch die Wahl Hitlers, durch aktives Mittun im Regime oder passive Hinnahme, mitschuldig durch das Ausbleiben eines allgemeinen Aufstands gegen das Regime. Deshalb ist das Gedenken an die Opfer der Bombardierung eine Relativierung der Verbrechen des NS-Regimes, eine Reinwaschung der Schuldigen. Diese Argumentation ist problematisch und behindert eine erfolgreiche Mobilisierung gegen die Nazis. Selbst wenn man unterstellen würde, dass die überwältigende Mehrheit der Deutschen aktiv den Nazis beim Morden geholfen hat: Das wahllose Töten von Menschen, und darum handelt es sich bei Flächenbombardements auf Wohnviertel, kann keine »gerechte« Antwort darauf sein. Denn hier wird nicht unterschieden: Der Nazi-Funktionsträger wird genauso getroffen wie derjenige, der Juden bei sich versteckt hat, oder der Kommunist, der Widerstand gegen die Nazis organisierte, oder der Säugling, der noch gar keine individuelle Schuld haben kann. In der Bombennacht wurde zum Beispiel die Gefangenenanstalt Mathildenstraße stark zerstört, 400 Insassen starben. Die Anstalt war 1933 von den Nazis als »Schutzhaftlager« eingerichtet worden. Hier waren sowohl politische Gegner als auch Dresdner Juden und eine Vielzahl von Tschechen inhaftiert. Grundsätzlich treffen Kollektivstrafen vor allem die Schwächsten der Gesellschaft. In Dresden saßen die Nazi-Führer sicher in ihrem Bunker, während die »einfachen Leute« verbrannten. Natürlich wäre das Nazi-Regime ohne das aktive Zutun von Hunderttausenden und das Wegsehen von Millionen Deutschen nicht funktionsfähig gewesen. Doch das ist etwas anderes als das, was die »Kollektivschuld«-These besagt, die seit dem Zweiten Weltkrieg immer wieder aufgewärmt wird und die auch in der Formulierung »Deutsche Täter sind keine Opfer« durchscheint. Die Situation ist jedoch differenzierter. So waren keineswegs alle Deutsche Unterstützer der Nazis. Vielmehr wurde von Anfang Widerstand gegen das Regime geleistet – insbesondere aus Reihen der politischen Linken, die deshalb brutal verfolgt wurde. Der deutsch-britische Historiker Francis L. Carsten geht davon aus, das zwischen 1933 und 1935 mindestens 75.000 KPD-Mitglieder inhaftiert wurden, sein Kollege Ben Fowkes sogar von weitaus mehr. Nach seiner Annahme wurden insgesamt

120.000 Kommunisten verhaftet und allein 1933 schon 2.500 ermordet. Selbst bei der niedrigeren Zahl ist davon auszugehen, dass die KPD in den ersten Jahren des Regimes mehr als ein Drittel ihrer 1932 registrierten Mitglieder verloren hat. Auch wenn den linken Organisationen sehr schnell das Rückgrat gebrochen wurde, existierte weiterhin Widerstand – bis hinein in kirchliche und bürgerliche Kreise. Allein 8071 katholische Geistliche aus deutschen Bistümern wurden vom Nazi-Regime verfolgt – das ist ein Fünftel der deutschen Ordensgeistlichen. Ein Gestapo-Bericht vom April 1939 führt auf, dass zu diesem Zeitpunkt 163.734 Menschen aus politischen Gründen in Untersuchungshaft saßen. Zwischen 1933-1945 wurden rund 40.000 Menschen von Sonder- und normalen Gerichten wegen Widerstand gegen das Regime zum Tode verurteilt, dazu vollstreckten Militärgerichte bei 25.000 Soldaten der Wehrmacht Todesurteile wegen »Defätismus«, Desertion oder Wehrkraftzersetzung. Das Ausmaß des Terrors nach innen drückt die Unsicherheit des Nazi-Regimes über den Rückhalt in der Bevölkerung aus. Hitler war politisch geprägt durch die Novemberrevolution 1918, die er als Katastrophe empfand. 1918 hatte ein allgemeiner Aufstand den Krieg beendet – für Hitler und das gesamte deutschnationale Milieu ein »Dolchstoß der Heimat« Wie präsent diese Tatsache der Nazi-Elite war, zeigt eine Rede Hitlers vor Wehrmachtgenerälen kurz vor dem Angriff auf Frankreich: »Ich werde mit dieser Schlacht stehen oder fallen. Keine Kapitulation! Keine Revolution in der Heimat!« Um einen neuen November 1918 zu vermeiden, arbeitete das Regime mit »Zuckerbrot und Peitsche«: Die Peitsche war der Terror gegen abweichende Gesinnungen. Das Zuckerbrot hingegen entsprach den Anstrengungen, die Versorgungslage für die Bevölkerung nicht zu schlecht werden zu lassen. Bis 1944 blieb der durchschnittliche Lebensstandard in Deutschland höher als in Großbritannien. Nach dem Fall Frankreichs wurde die Militärproduktion erst einmal heruntergefahren um Versorgungsengpässe zu vermeiden. Zur Aufrechterhaltung der Moral zahlte das Deutsche Reich höhere Trennungsbezüge an die Frauen von Frontsoldaten (85 Prozent des vorherigen Durchschnittslohnes des Mannes) als jedes andere Land im Zweiten Weltkrieg. Diese Bemühungen um die Sympathien der Bevölkerung widersprechen Deutungen von Historikern wie Daniel Jonah Goldhagen, dass die NaziHerrschaft schon ausreichend durch einen breiten antisemitischen Konsens in der Bevölkerung abgesichert gewesen wäre. Antisemitismus war ein tiefgehendes gesellschaftliches Phänomen, vor allen in bürgerlichen und kleinbürgerlichen Schichten. Dennoch scheiterten die Nazis bei dem Versuch, die breite Teile der Bevölkerung für antisemitische www.marx21.de | Winter 2009/10 | Nr. 13

Stefan Bornost ist leitender Redakteur von marx21.

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Unterstützung und Unterdrückung : In Berlin jubeln am 1. Mai 1935 eine Million Nazi-Sympathisanten (l.), im März 1933 verhaftet die SA dort eine Gruppe von Kommunisten (r.) Aktionen zu begeistern. Der am 1. April 1933 begonnene Boykott jüdischer Geschäfte wurde am 4. April wegen Passivität und Ablehnung durch die Bevölkerung wieder abgebrochen. Selbst Wolfgang Wippermann, unter den deutschen Historikern einer der wenigen Verteidiger Goldhagens, kommt angesichts des Scheiterns des Boykotts zum Schluss, man könne unmöglich »für diese Zeit von einer weit verbreiteten aggressiven Antipathie gegen die Juden in der deutschen Bevölkerung [...] sprechen«. Hans Mommsen und Dieter Obst sprechen in ihrem Buch »Die Reaktion der deutschen Bevölkerung auf die Verfolgung der Juden 1933-1943« davon, dass die Aktion ein eklatanter Fehlschlag gewesen sei. Fünf Jahre hat sich dies nicht wesentlich geändert. Und auch die Hoffnung der Nazi-Führung, durch die »Reichspogromnacht« am 9. November 1938 einen antisemitischen Flächenbrand zu entfachen erfüllte sich nicht. Im Gegenteil: Der Hitler-Biograph Ian Kershaw kommt bei einer Untersuchung über politische Einstellungen in Bayern von 1933-45 zum Schluss, dass die Nazis im Nachgang des Pogroms mehr Probleme mit empörten Bürgern hatten als vorher. Die angestrebte breite Beteiligung von NichtParteimitgliedern an der Aktion – als Ausdruck des vermeintlichen »Volkszorns« – fand jedenfalls nicht statt. Hermann Göring regte sich darauf hin über die »verdammte Sentimentalität« der Deutschen auf. Nach dem Kriegsbeginn am 1. September 1939 stützen die anfänglichen Erfolge das Regime – doch nur für kurze Zeit, wie Shoah.de, ein Informationsportal zu Holocaust, Drittem Reich und Zweitem Weltkrieg, zusammenfasst: »Wurden Hitler nach dem deutschen Sieg über ›Erbfeind‹ Frankreich im Sommer 1940 von den meisten Deutschen geradezu abgöttische Sympathien zuteil, so zweifelten im

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weiteren Kriegsverlauf – als die Gefallenenlisten bisher unbekannte Ausmaße annahmen – immer mehr ›Volksgenossen‹ am ›Geschick des Führers‹. Nach der Kapitulation der 6. Armee in Stalingrad im Februar 1943 und der sich unmittelbar anschließenden deutsch-italienischen Niederlage im Afrikafeldzug veränderte sich die Stimmungslage im Deutschen Reich dramatisch. Die Moral in der Bevölkerung sank rapide, und Zweifel am ›Endsieg‹ wurden laut, die – wenn sie in der Öffentlichkeit fielen – mit drakonischen Strafen belegt wurden. Kriegsmüdigkeit und Defätismus nahmen spürbar zu, zugleich aber auch die Angst, dafür denunziert und drastisch bestraft zu werden. Missstimmungen gegen die als privilegiert geltenden ›Parteibonzen‹ der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) nahmen zu, und auch Adolf Hitler wurde davon nun nicht mehr ausgenommen.« Die Flächenbombardierungen deutscher Städte haben es jedoch erschwert, in Opposition zum Regime zu treten. Denn in einer solchen Mangelsituation wurde der Staat für die ausgebombte Bevölkerung wichtiger – denn er teilte lebensnotwendige Ressourcen wie Feuerholz, Wohnraum, Tee, Brot und ähnliches zu. Offensichtlich gab es gen Kriegsende keine Bewegung wie im November 1918. Das war verschiedenen Faktoren geschuldet: Der Zerschlagung der Linken, dem Unterdrückungsapparat des Regimes, der Beschäftigung der Mehrheit mit dem täglichen Überlebenskampf in den zerbombten Städten und vor allem der weitverbreiteten Angst vor dem, was nach der Niederlage des Nazi-Regimes komme. Durch die Heimkehrer von der Ostfront war bekannt, wie barbarisch die Wehrmacht im Osten gewütet hatte. Man fürchtete im Falle der Niederlage ein ebenso furcht-


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»Führer befiehl, wir tragen die Folgen«: Enthusiastische Nationalsozialisten bei einem Aufmarsch in Bad Harzburg im Oktober 1931 (l.). 14 Jahre später: Überlebende beginnen in den Trümmern von Dresden mit den Aufräumarbeiten (r.) bares Strafgericht durch die russischen Truppen. Nazi-Funktionäre nahmen diese Ängste mit dem zynischen Spruch »Genießt den Krieg, der Frieden wird schrecklich« auf. Obige Beispiele sollten deutlich machen, dass die »Kollektivschuldthese« wenig Erklärungskraft für die innere Dynamik des Dritten Reichs liefert. Dafür öffnet sie dem Geschichtsrevisionismus Tür und Tor: Die Verantwortung für das NS-Regime wird einfach in das große Kollektiv »die Deutschen« aufgelöst. Aber wenn alle ein bisschen schuld sind, ist es niemand mehr so richtig. Das war und ist sehr bequem für die Funktionseliten der NS-Bürokratie, für willfährige Wehrmachtgeneräle, und vor allem für die Unternehmer, die Hitler hochfinanziert haben und von Krieg, Enteignung und Sklavenarbeit profitierten. Deshalb sollten Linke diesen Ton gegenüber dem Gedenken in Dresden nicht anschlagen. Dafür kann sie einen anderen wichtigen Beitrag leisten: Nämlich Anklage erheben gegen ein mörderisches System, in dem Menschen nichts zählen. Denn die militärische Strategie der Bombardierung dicht besiedelter Städte ist die barbarische Folge moderner Kriegsführung im Kapitalismus. Moderne Kriege zwischen Industriestaaten werden wesentlich durch das einsetzbare beziehungsweise vernichtbare Industriepotential entschieden. Was der Zeppelin des Ersten Weltkrieges noch nicht vermochte, das vermochten die Flugzeuge des Zweiten Weltkrieges: enorme Bombenlasten schnell über weite Entfernungen zu transportieren, um damit das kriegswichtige Industriepotential des Gegners zu treffen. Ein anderer Weg, die Kriegsindustrie zu beschädigen, ist die Vernichtung der Arbeiterschaft als Quelle der in-

dustriellen Produktion – so die perfide Logik. Damit wird die Zivilbevölkerung als konstitutives Element der industriellen Produktion zum Angriffsziel. Die Nazis sind die Pioniere dieser Art der Kriegsführung gewesen. Eine Serie von Bombenangriffen auf London, von den Briten »The Blitz« genannt, tötete bis Dezember 1940 rund 14.000 Menschen. Mindestens 250.000 Einwohner verloren ihre Wohnung. Am 14. November 1940 und noch einmal am 8. April 1941 wurde die Industriestadt Coventry fast vollständig zerstört, 2000 Menschen starben. Die Alliierten übernahmen diese Strategie. In den Anweisungen zum Flächenbombardement (»Area Bombing Directive«) der Royal Air Force war festgeschrieben, dass die Einsätze auf die Moral der feindlichen Zivilbevölkerung zu konzentrieren seien – insbesondere auf die der Industriearbeiter. Dies unterstrich auch Sir Charles Portal, Stabschef der britischen Luftwaffe, als er 1942 betonte: »Es ist klar, dass die Zielpunkte Siedlungsgebiete sein sollen.« Mit der Umsetzung der Area Bombing Directive begann die britische Luftwaffe mit dem Nachtangriff auf Essen am 8. und 9. März 1942. Weitere 150 Städte folgten. Vorsichtigen Schätzungen zufolge wurden in diesen Feuerwalzen 570.000 Menschen getötet. 10 Millionen wurden obdachlos. Es ist keine Relativierung, wenn man zur Feststellung gelangt, dass die beabsichtige Tötung von möglichst vielen Zivilisten des Kriegsgegners ein Akt der Barbarei ist. Coventry, Dresden und natürlich auch die Auslöschung Hiroshimas sind Warnungen der Geschichte. Sie erinnern uns daran, dass der Kapitalismus enorme Zerstörungskräfte in die Welt gebracht hat – und Herrscher, die nicht zögern, diese ohne Rücksicht auf die Menschen einzusetzen. www.marx21.de | Winter 2009/10 | Nr. 13

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WELTWEITer WIDERSTAND

Protestkundgebung im Audimax der Uni Wien. In ganz Ă–sterreich haben Studierende die Hochschulen besetzt

WELTWEITER WIDERSTAND Nr. 13 | Winter 2009/10 | www.marx21.de Peter Fuchs

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Österreich

8NEWS

Heißer Herbst

8 Puerto Rico

Aufruhr an den Universitäten. Karin Haedicke berichtet über die Proteste der österreichischen Studierenden

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ktober 2009: 2000 Druckerei­ beschäftigte gehen für ihren Tarifvertrag auf die Straße. 2000 Kindergärtner und Kindergärtnerinnen demonstrieren mit Unterstützung der Eltern für mehr Lohn und bessere Arbeitsbedingungen. 1500 Menschen nehmen an einer Kundgebung gegen die erneute Verschärfung des Asylrechts teil. Hörsäle an Universitäten in ganz Österreich werden von Studierenden besetzt. Nach jahrelangen Umstrukturierungen und Sozialabbau hat sich die Wut der Österreicher das erste Mal bei der Demonstration »Wir zahlen nicht für Eure Krise« am 28. März gezeigt. 15.000 Menschen protestierten in Wien gegen die Politik der Bundesregierung, die den Banken in kürzester Zeit Milliarden Euro zugeschoben hat. Zunächst setzte sich die Dynamik der Demonstration jedoch nicht fort. Vielmehr kam es zu einem Aufschwung der Rechten. Bei diversen Landtagswahlen verloren die in einer Großen Koalition regierenden Sozialdemokraten massiv an Stimmen. Zugleich konnte die rechtsradikale FPÖ ihre Ergebnisse verdoppeln. Und plötzlich der Aufruhr an den Universitäten! Zuerst besetzten Studierende die Akademie der Bildenden Künste. Sie protestieren gegen die Auswirkungen des Bologna-Prozesses. Es ist keine spontane Aktion – eine Gruppe an der Hochschule beschäftigte sich schon seit längerem mit den Problemen, organisierte Diskussionen und versuchte sich mit anderen Strukturen wie dem Widerstandscafé an der Universität Wien zu vernetzen. Diese waren dann auch die ersten Anlaufstellen zur Ausweitung der Proteste – schon einen Tag später wurde auch der Audimax der Uni Wien besetzt – es folgten Graz, Linz, Klagenfurt, Innsbruck…

Dass sich Tausende an den Protesten beteiligten, hat mehrere Gründe: Erstens gelten die Umstrukturierungen der letzten Jahre als gescheitert. Zweitens führte die Unterfinanzierung der Unis und demgegenüber die schnelle Unterstützung der Banken in der Finanzkrise zu großem Unmut. Und drittens hat die Umsetzung von Forderungen allein über den Verhandlungsweg bislang keine Verbesserungen gebracht. Die Österreichische Hochschülerinnenund Hochschülerschaft (ÖH) als Interessenvertretung der Studierenden ist zwar an den Protesten beteiligt, ihr Einfluss aber gering. Mehr zu sagen haben die Arbeitsgruppen und das tägliche Plenum. Sie geben vielen die Möglichkeit, sich aktiv an der Gestaltung von Veranstaltungen und Aktionen zu beteiligen – das völlige Gegenteil von dem, was sie sonst an der Uni erleben. Es entsteht das Gefühl, endlich als Mensch wahrgenommen zu werden und nicht nur als Träger von Humankapital. Die Bewegung wird von einer Sympathiewelle begleitet: Gewerkschaften, Landtage und Prominente senden SolidaritätsErklärungen. Es geht offensichtlich nicht nur um den Bildungsnotstand, sondern um gesellschaftlich relevante Fragen wie Umverteilung, Demokratie und Antidiskriminierung. Diese Ausstrahlung nach außen birgt ein großes Potential, um mit nicht-studentischen Initiativen oder den Gewerkschaften zusammenzuarbeiten. Aus den gemeinsamen Anliegen heraus kann ein breites Bündnis entstehen, das die Regierung ernst nehmen muss. Es besteht zudem die Chance, dass sich aus der Protestbewegung heraus eine landesweite Organisierung der Studierenden entwickelt, die dazu beitragen kann, eine Kraft links der Sozialdemokratie zu etablieren. Das wäre angesichts ihrer katastrophalen Politik bitter notwendig.

Mitte Oktober traten die Gewerkschaften des karibischen Inselstaats in einen Generalstreik um gegen das »Gesetz 7« zu protestieren. Das vom rechten Gouverneur Luis G. Fortuño erlassene Gesetz sieht massive Kürzungen im öffentlichen Sektor vor. Bis zu 30.000 Beamte sollen demnach entlassen werden, um das Haushaltsdefizit von 3,2 Milliarden Dollar zu stopfen.

8 GroSSbritannien Seit Wochen streiken in Großbritannien die Postangestellten der Gewerkschaft CWU gegen die zunehmend schwierigen Arbeitsverhältnisse bei der Royal Mail. Bislang beteiligten sich an dem Ausstand etwa 120.000 Arbeiter. Die Manager würden sie schlecht behandeln und zwängen ihnen unzumutbare Strecken auf, die sie in der vorgegebenen Zeit nicht erledigen könnten. Dies werde dann zum Anlass einer Kündigung genommen, so die Postboten.

8 Niederlande Mitte Oktober hat das niederländische Parlament beschlossen, die Besetzung leerstehender Gebäude gesetzlich zu verbieten. Bis zu drei Jahre Haft sollen bei der neuen »Straftat« drohen. Angesichts der Wohnungsknappheit ist dies fatal für die Armen der Gesellschaft. Dagegen hat sich eine landesweite Protestbewegung gestellt. International haben Aktivisten aus Russland, Tschechien, Japan, Frankreich und Griechenland dazu aufgerufen, vor niederländischen Botschaften zu protestieren.

8 Mexiko Anfang Oktober haben einhundert von TRW Automotive Maquiladora entlassene Mitarbeiter in Reynosa im mexikanischen Bundesstaat Tamaulipas eine Brücke besetzt, die die Grenzstadt mit dem US-Bundesstaat Texas verbindet. TRW gehört zu den größten Automobilzulieferern, die für General Motors, Ford und Chrysler SitzgurtKomponenten herstellen. Ohne Ankündigung verlegte die Firma eine ihrer Fabriken auf die andere Seite der Stadt. Hierdurch sind die meisten Angestellten täglich zwei Stunden länger unterwegs und müssen länger für Kinderbetreuung sorgen, denn die meisten Arbeiter bei TRW sind Väter. Als Protest innerhalb der Belegschaft aufkam, wurden prompt 300 gefeuert, von denen sich nun einhundert zur Wehr setzen.

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Bookwatch

Eine notwendige Debatte Reuven Neumann stellt zwei Neuerscheinungen zum Nahost-Konflikt vor

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Reuven Neumann ist Islamwissenschaftler und Mitglied der LINKEN in Berlin.

er Nahost-Konflikt. Kaum ein anderes Thema wird in der Linken so kontrovers diskutiert. Warum gibt es keinen Frieden? Ist Kritik an Israel antisemitisch? Was ist Zionismus? Die Antworten auf diesen Fragen sind umstritten. In diesem Jahr sind zwei weitere Bücher zu diesen Themenkomplex erschienen. Das eine trägt den Titel »Die deutsche Linke, der Zionismus und der Nahostkonflikt - Eine notwendige Debatte«. Seine Autoren sind mit Wolfgang Gehrcke, Harri Grünberg und Jutta von Freyberg friedenspolitisch engagierte Mitglieder der LINKEN. Das zweite Werk, »Die eiserne Mauer«, stammt von dem in Kairo lebenden Journalisten Heiko Flottau. Insbesondere das Buch des Autorenteams Gehrcke, Grünberg und Freyberg bezieht sich explizit auf die Debatten in der Linken. Dabei verfolgen sie einen Ansatz, der neugierig macht. Sie schreiben: »Wir wollten uns genauer ansehen, welche Haltung die Arbeiterbewegung, in deren Tradition wir uns sehen, zum Antisemitismus in Theorie und Praxis eingenommen hat, ob und in welchem Umfang und zu welchen Zeiten Antisemitismus in den Arbeiterparteien selbst eine Rolle gespielt hat.« Zu diesem Zweck werfen die Autoren einen Blick zurück in die Geschichte. Im 19. Jahrhundert bedrohte der parallel zum modernen Industriekapitalismus aufkommende rassistisch begründete

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Antisemitismus die jüdische Bevölkerung Europas. Unterdrückung, Vertreibung und Pogrome waren an der Tagesordnung. Als Reaktion darauf entstand Ende des Jahrhunderts eine politische Bewegung zur Gründung eines jüdischen Nationalstaates, von ihren Gründern auch Zionismus genannt. Anfangs hatte diese Bewegung in den jüdischen Gemeinden relativ wenig Einfluss. Ein Großteil der politischen Aktivisten unterstützte vielmehr sozialistische Parteien. Wie reagierte die Arbeiterbewegung auf diese Idee? »Den Zionismus lehnten namhafte Vertreter der Sozialdemokratie wie Karl Kautsky, Plechanow und schließlich die Kommunistische Internationale ab, weil er eine nationalistische Antwort auf den mit Antisemitismus gepaarten europäischen Nationalismus darstelle.« Der Zionismus sei nicht, so Kautsky, »in der Lage, die Judenfrage in Europa zu lösen, sondern weite sie vielmehr auf den Nahen Osten aus. In Palästina werde ein neues ›Weltghetto‹ entstehen.« Er argumentierte gegen den zionistischen Separationsgedanken. Dieser würde den Antisemitismus nicht schwächen: »Wodurch kann diese Feindseligkeit überwunden werden? Am radikalsten dadurch, dass die den fremdartigen Charakter tragenden Bevölkerungsteile aufhören Fremde zu sein, dass sie sich mit der Masse der Bevölkerung vermischen. Das ist schließlich die einzig mögliche Lösung der Ju-


Gehrcke, Grünberg und Freyberg zeigen die stets bestehende enge Verknüpfung zwischen dem Zionismus (bzw. dem späteren israelischen Staat) mit den imperialen Zielen der europäischen Großmächte und der USA. Gerade in den Schriften des zionistischen Theoretikers Theodor Herzls spiegelte sich der Wille wider, den Europäern als ein »Wall gegen die Barbarei« zu dienen und somit kultureller und politischer Vorposten Europas zu werden. Die Autoren stellen eine stete politische, aber auch wirtschaftliche Abhängigkeit des Zionismus als Bewe-

gung und Israels als Staat von den imperialistischen Interessen fest, so dass Israel »keine neutrale Haltung gegenüber der Politik der imperialistischen Staaten einnehmen, geschweige denn eine antiimperialistische Politik betreiben« könne. Dies zeige sich, so die Autoren, gerade in einer finanziellen Unterstützung von außen, ohne die das Ziel eines eigenständigen jüdischen Staates wohl nicht erreicht worden wäre. Dieser grundsätzlich »koloniale Aspekt« sei ein »konstituierendes Merkmal des Zionismus«, die ihn nicht zu einem Teil der antikolonialen Kämpfe werden ließ. Dies verdeutliche sich gerade auch in der gezielten wirtschaftlichen Abschottung der zionistischen Gemeinschaft gegenüber den Arabern. Diese fand unter dem Begriff der »jüdischen Arbeit«, der den Ausschluss arabischer Arbeitskräfte bedeutete, ihren Ausdruck. Auf der anderen Seite argumentieren die Autoren aber auch, dass innerhalb der zionistischen Bewegung immer verschiedene Strömungen bestanden hätten – so beispielsweise ein vorwiegend sozialistisch beeinflusster Flügel und ein eher rechter, revisionistischer Teil unter dem Schriftsteller Wladimir Jabotinsky. Dieser lehnte jeglichen Kompromiss ab und beanspruchte ganz Palästina für sich. Dies habe sich später im Staat Israel in der Ausformung von zwei unterschiedlichen außenpolitischen Richtungen manifes-

Adam Nieman/Flickr.com

denfrage, und alles, was das Aufhören der jüdischen Abschließung fördern kann, ist unterstützenswert.« Die Zionisten blieben mit ihren Ideen auch in der jüdischen Gemeinde in der Minderheit. So folgten bis 1930 – den ersten fünfzig Jahren seit Bestehen ihrer Bewegung – nur etwa 120.000 Juden dem Ruf, in Palästina zu siedeln. Das waren viel zu wenig Menschen, um dort einen jüdischen Nationalstaat zu errichten. Zudem gerieten die Neuankömmlinge, anstatt Frieden zu finden, unmittelbar in einen neuen Konflikt. Seit Beginn der zionistischen Siedlung kam es zu scharfen Spannungen mit der ansässigen arabischen Bevölkerung. Denn das zionistische Siedlungsprojekt schloss von vornherein ein integriertes Zusammenleben von jüdischen Siedlern und Arabern aus. Stattdessen zielte es auf die Verdrängung der arabischstämmigen Bevölkerung, um einen jüdischen Nationalstaat zu etablieren. Organisationen des Zionismus kauften arabischen Großgrundbesitzern so viel Land wie möglich ab und zwangen die darauf lebenden kleinen Pächter, Arbeiter und Nomaden, es zu verlassen. Schon die frühe jüdische Besiedlung Palästinas nahm die Form einer gewaltsamen Kolonisierung an.

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tiert. So sei beispielsweise die von Außenminister Moshe Sharett in den 1950er Jahren vertretene Linie relativ kompromissbereit gegenüber den Arabern gewesen. Hieraus hätte sich zumindest theoretisch die Möglichkeit eines Friedensabkommens mit den Arabern entwickeln können. Hier übersehen die Autoren jedoch, dass es bereits vor der Staatsgründung stets das Ziel der zionistischen Bewegung gewesen war, den Zugriff auf möglichst viel Land in Palästina zu sichern – unabhängig von der jeweiligen Strömung. Dies zeigte sich auch darin, dass sich Israel im Krieg 1948/49 bereits 67 Prozent der Fläche Palästinas sichern konnte. Dies geschah vor allem durch die massive Vertreibung von hunderttausenden Palästinensern, so dass nur noch eine arabische Minderheit hier ansässig blieb. Gehrcke, Grünberg und Freyberg nehmen durchaus auch die problematischen Umstände der Staatsgründung Israels kritisch zur Kenntnis und verweisen im Besonderen auf die aktuellen Geschichtsdebatten hierüber. Sie argumentieren jedoch auch, dass Teile des vorwiegend linken zionistischen Establishments die Vertreibungen nicht befürwortet hätten. Die historischen Darstellungen zur Arbeiterbewegung und zu Imperialismus sind die Stärke des Buches. Allerdings spielen diese Erfahrungen und Traditionen in der Bewertung der aktuelleren Entwicklungen keine Rolle mehr. Wo Gehrcke, Grünberg und Freyberg aufhören macht das Buch von Heiko Flottau weiter. Flottau belegt faktenreich die Kontinuität der zionistischen Kolonisierungspolitik bis hin zu der gegenwärtigen Verfestigung der Besatzung von Westbank und Gaza-Streifen. Hierbei erinnert er an den Zionisten Wladimir Jabotinsky. Dieser hatte bereits 1923 in der Schrift »Die eiserne Mauer« für eine völlige Trennung von Juden und Arabern plädiert. Er schrieb: »Die Kolonisierung kann nur ein Ziel haben: Für die palästinensischen Araber ist dieses Ziel unakzeptabel. Das liegt in der Natur der Sache (...).« Die Kolonisierung könne daher nur unter einer Bedingung weitergeführt werden: »durch eine eiserne Mauer, welche die eingeborene Bevölkerung nicht durchbrechen kann.« In dem Bau der Sperrmauer zur Westbank sieht Heiko Flottau vor allem die Manifestation dieses Gedankens. Er erklärt: »Die Geschichte Israels, welche im Bau des Sperrwalls und – Anfang 2009 – in einem brutalen Krieg mit der Hamas gipfelt, zeigt, dass Jabotinskys Thesen der zukünftigen

Aufwachsen unter der Besatzung. Der englische Kinderbuchautor Michael Rosen dichtete: »In Gaza lernen die Kinder, dass der Himmel tötet, dass Häuser wehtun. Sie lernen, dass Rauch ihre Decke ist und Schmutz ihr Frühstück.«

Realität eher entsprachen als die Auffassungen Chaim Weizmanns. Denn eine Art Mauer zwischen Arabern und Israelis besteht bereits seit vielen Jahrzehnten.« Dem entsprechend hebt Heiko Flottau hervor, dass die Funktion der Mauer weniger darin bestünde, die israelische Bevölkerung vor Selbstmordattentaten zu schützen. Vielmehr diene sie der weiteren Besiedlung der besetzten Gebiete und verhindere so die Gründung eines eigenständigen palästinensischen Staates. Denn, so Flottau, »Mauer-, Zaun und Siedlungsbau haben Palästina zerstückelt und als zusammenhängendes Wohnund Kulturgebiet zerstört.« Der Sperrwall verlaufe auf etwa 10 Prozent der Fläche, die nach internationalem Recht den Palästinensern gehört. Er zerschneidet Dörfer und Ortschaften und stellt zudem eine massive Einschränkung für die Bewegungsfreiheit der palästinensischen Bevölkerung dar.

»Tatsächlich wurde der Siedlungsbau trotz des Friedensprozesses von Oslo unvermindert fortgesetzt«

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Vorwiegend illusionslos betrachtet Flottau letztlich auch den 1993 in Oslo begonnenen Friedensprozess, der den Palästinensern in mittelbarer Zukunft zumindest einen gewissen Autonomiestatus gewähren sollte. Tatsächlich aber führe dieser zu keinerlei Resultaten, da gerade israelische Politiker die Verhandlungen kaum ernst nähmen.


Rusty Stewart/Flickr.com

seien etwa fünf Milliarden Dollar in die palästinensische Infrastruktur – in Krankenhäuser, Schulen und Ministerien – geflossen, die jetzt durch Israel wieder zerstört worden seien.

Zudem sei Israel von der internationalen Gemeinschaft nie zur Einstellung des Siedlungsbaus aufgefordert worden. So würde die politische und territoriale Grundlage für einen eigenständigen palästinensischen Staat sukzessive zerstört. Tatsächlich wurde der Siedlungsbau trotz Oslo bis heute konsequent fortgesetzt und die Zahl der Siedler hat sich mit 400.000 nahezu verdoppelt. Auch die Gewalt durch den israelischen Staat geht weiter. In den ersten elf Monaten nach den Verhandlungen von Annapolis seien alleine 498 Palästinenser getötet worden. Abschließend urteilt Flottau über den Friedensprozess: »Annapolis, Sharm el Sheikh, Camp David, Taba (wo beide Seiten Ende 2000 versuchten, eine Einigung zu erzielen), Oslo, Madrid – alle diese Konferenzorte wurden letztlich zu Symbolen des Scheiterns. An diesen Stätten wurde der Kriegszustand zwischen beiden Völkern lediglich verwaltet.« Hier liefert Heiko Flottau eine durchaus realistischere Einschätzung zu der Erfolgsaussicht von Verhandlungen als Wolfgang Gehrcke, Harri Grünberg und Jutta von Freyberg, die hierin einen möglichen Lösungsansatz sehen. Auch der Hoffnung auf ein stärkeres Engagement der internationalen Gemeinschaft erteilt Flottau eine Absage. Betrachte man die katastrophale humanitäre Lage der Palästinenser, insbesondere im vollkommen abgeriegelten Gazastreifen – ganz zu schweigen von den massiven Menschenrechtsverletzungen während des Kriegs in Gaza – so zeige sich die Schwäche der internationalen Gemeinschaft und ihrer Institutionen wie UNO und EU. Diese, so konstatiert Flottau, erwiesen sich als »machtlos«, Israel die Grenzen aufzuzeigen. Zwischen 1993 und 2002

Flottaus Buch verdeutlicht anschaulich die gezielte Enteignung und Entrechtung der Palästinenser durch die israelische Besatzung, wie sie sich auch vor allem durch den Bau der Sperrmauer manifestiert. Hierbei sieht er durchaus Kontinuitäten einer grundsätzlichen im Zionismus angelegten Strategie. Allerdings analysiert er die Problematik weniger im Zusammenhang von politischer und wirtschaftlicher Einflussnahme durch Europa und den USA und deren Verhältnis zu Israel, wie dies Gehrcke, Grünberg und Freyberg tun. Aus diesem Grund erweisen sich die von Flottau aufgezeigten Perspektiven als ein Schwachpunkt, da letztlich nur die Hoffnung auf einen »grundsätzlichen Paradigmenwechsel« in der israelischen Gesellschaft bleibe. Dies laufe schließlich auf eine »neue Art von Republik« hinaus, die vor allem ihren Exklusivitätsanspruch aufgeben müsse. Leider erklärt Flottau hier nicht, welche politischen oder sozialen Kräfte derzeit überhaupt in Israel einen solchen Umschwung herbeiführen könnten. Während er sich letztlich weitestgehend auf die aktuelle Situation bezieht, verfolgten die Autoren Wolfgang Gehrke, Harri Grünberg und Jutta von Freyberg einen eher historischen Ansatz, der sich in die Debatte innerhalb der Linken einfügen sollte. Mit der Betonung, dass die »pauschale Ablehnung des Zionismus durch Heiko Flottau namhafte sozialdemokratische Die eiserne Mauer. Palästinenser und Israelis in einem zerrissenen Land und kommunistische TheoreCh.Links, Berlin 2009 tiker nicht gerechtfertigt war«, 224 Seiten, 16,90 Euro da sie auf einem »dogmatischen

8Die Bücher

Verständnis der nationalen Frage« basiere, entschärften sie jedoch einen Teil ihrer kritischen Darstellung. Dies gilt auch für ihre hauptsächlich völkerrechtlich orientierte Argumentation. Denn so vermeiden sie es, sich zum gegenwärtigen Widerstand zu positionieren. Als positiv ist jedoch zu bemerken, dass sie auf marxistische Imperialismustheorien wie auf antikoloniale Befreiungsbewegungen explizit verweisen, auch wenn diese in ihren Perspektiven keine Rolle spielen.

Wolfgang Gehrcke, Jutta von Freyberg, Harry Grünberg Die deutsche Linke, der Zionismus und der Nahost-Konflikt. Eine notwendige Debatte Papyrossa, Köln 2009 270 Seiten, 16,90 Euro

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»Wir stehen erst am Anfang« In Venezuela findet eine Debatte über den weiteren Kurs der bolivarianischen Revolution statt. Osly Hernandez zeichnet im Gespräch mit Ben Stotz die Konfliktlinien nach

I Osly Hernandez ist Studentin der Universidad Central de Venezuela, Mitglied im regionalen Vorstand der Vereinigten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) in Caracas und Mitglied in der Kommission für soziale Bewegungen.

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n den deutschen Medien wird in Bezug auf Venezuela und den Präsidenten Hugo Chávez oft das Bild eines neuen »Caudillos« (autoritärer Militärführer, Anm. d. Red.) gezeichnet. Wie siehst du das? Das politische Phänomen des Caudillismo stützt sich immer auf die ein oder andere Form autoritärer Herrschaft und versucht, die gesamte Staatsgewalt in den Händen einer einzigen Person zu konzentrieren. In Venezuela haben wir es auch mit einer charismatischen Persönlichkeit zu tun, die jedoch den ständigen Austausch mit sozialen Bewegungen sucht und neue Strukturen politischer und demokratischer Partizipation jenseits von Wahlen geschaffen hat, wie beispielsweise die Kommunalräte. Wir sind weit davon entfernt, in einem System des Caudillismo zu leben, obwohl immer noch nicht alle Entscheidungen von unten getroffen werden. Dies liegt vor allem an den Interessen bestimmter Gruppen innerhalb der Regierung, welche die vertikale Struktur des Staates aufrecht erhalten wollen. Trotzdem sind die sozialen Bewegungen stärker geworden und haben sich wichtige Spielräume erkämpft. Wir versuchen, mit der alten Logik zu brechen.

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ls Beleg für das enge Verhältnis der sozialen Bewegungen zum Präsidenten werden immer wieder die Niederschlagung des Putschversuches 2002 und das Ende des Unternehmerstreiks in der Erdölindustrie 2003 genannt. Wie hast du diese Bewegungen wahrgenommen? Diese Bewegungen waren deswegen so stark, weil sie für die unmittelbare Verteidigung der Regierung und der sozialen Fortschritte des bolivarianischen Prozesses gekämpft haben – für den Zugang zu Gesundheit, zu Lebensmitteln, zu Bildung und Kultur, für alles was unter den Vorgängerregierungen in Venezuela nie existiert hat. Allen war klar, worum es ging. Damit wurde auch das revolutionäre Projekt und sein politisches Führungspersonal bestätigt.

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xistieren neben den bekannten Kämpfen zwischen der alten Oligarchie und der bolivarianischen Bewegung auch Konflikte und Widersprüche innerhalb der Bewegung selbst? Selbstverständlich. Das Problem ist: Politik entsteht nicht spontan. Alle, die versuchen ein neues politisches Projekt zu entwickeln, tragen die Lasten des alten Systems mit sich herum. Einige haben bereits


Erfahrung und bringen sich schnell in die neue Bewegung ein, andere sind zögerlicher und haben weniger politisches Bewusstsein. Und wieder andere sehen die eigenen politischen und sozialen Interessen gefährdet, weil sie mit der nationalen Bourgeoisie verflochten sind. Erinnern wir uns daran, dass Chávez Antiimperialist ist, aber nicht immer und nur an manchen Stellen vom Klassenkampf spricht. Auch in unserer Partei gibt es bis heute keinen diskutierten und klaren Klassenbegriff. Beim letzten Parteitag der PSUV wurde gestritten, ob die Partei polyclasista sein soll – das heißt, ob sie sich auf verschiedene soziale Klassen zugleich stützen kann. All dies ist Teil unseres Prozesses. Es ist ein großer Lernprozess ist, der fortgesetzt werden muss.

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ie könnte man diejenigen charakterisieren, die die Revolution bremsen? Es sind vor allem antidemokratische Strömungen, die versuchen Entscheidungen in der Partei zu kontrollieren. Kleine Gruppen stellen sich über die einfachen Mitglieder und werden zu abgehobenen Teilen des Staates. Deshalb hängen sie auch so sehr an der Logik des bürgerlichen Staates. Sie bevorzugen generell die nationale Bourgeoisie vor den sozialen Bewegungen und pflegen gute Kontakte zu vielen Unternehmern. In ihrem Verständnis von der Rolle der Partei steht das Ausführen der Beschlüsse von oben an erster Stelle – sie scheuen jedoch Reflexion, Debatten und Korrekturen. Wir nennen sie die »endogene Rechte«.

Ohne die Massenaufstände der Armen und Arbeiter wären Hugo Chávez und die bolivarianische Revolution schon gescheitert. Jedoch sind aus den sozialen Bewegungen zu wenig starke Organisationen hervorgegangen. Die Gründung der Partei PSUV sollte diese Schwäche beheben

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atten diese Konflikte auch etwas mit der Niederlage des Verfassungsreferendums 2007 zu tun? Ja und Nein. Die Verfassungsreform war ein sehr breit angelegtes Projekt, das auch Momente beinhaltete, die wir als radikalere Linke abgelehnt haben. Im Prinzip wurde versucht, viele oft grundverschiedene Artikel mit einem Schlag zu ändern. Einigen Teilen der Linken gelang es, im Reformvorschlag weitreichende und radikale Verbesserungen zu platzieren – genauso wie der Rechten, die einige Artikel unterbringen konnte. So gab es am Ende viele Widersprüche quer durch alle Strömungen, so dass niemand wirklich zufrieden war und sich geschlossen für den Erfolg der Reform einsetzte. Am meisten Widerstand kam jedoch von den Gouverneuren und Bürgermeistern, also von denjenigen, die sich in den bestehende Strukturen des Staates eingerichtet haben. Und zwar deshalb, weil im Reformvorschlag neue Organe der politischen Selbstverwaltung benannt waren, welche die alten Machtverhältnisse in Frage stellen. Venezuela ist immer noch ein sehr ungleiches Land – Caracas und das Landesinnere unterscheiden sich sehr, gerade vom Niveau der Kämpfe. In ländlichen Gebieten ist es schwerer, ein kollektives Bewusstsein und gemeinsame politische Aktionen zu erreichen. Dort gibt es tatsächlich noch viel Caudillismo. www.marx21.de | Winter 2009/10 | Nr. 13

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ittlerweile gibt es ein neues politisches Werkzeug der bolivarianischen Revolution: die Vereinigte Sozialistische Partei (PSUV). Was waren die Beweggründe zur Gründung? Die PSUV entstand als Weiterentwicklung der Vorgängerpartei MVR, mit der Chávez an die Macht gekommen war, die jedoch viele Sektoren und Bevölkerungsgruppen von politischen Entscheidungen ausgeschlossen hatte. Im Kern geht es um die Idee, mehr Mitglieder aktiv einzubeziehen. Dies konnte aber mit der alten MVR nicht funktionieren, da diese sich schon mehr und mehr von den sozialen Bewegungen entfernt hatte. Deshalb rief der Präsident zur Gründung einer neuen Partei auf, die eine echte Massenpartei sein sollte. Der zeitgleich stattfindende Aufbau der neuen Partei hat allerdings die Kampagne für die Verfassungsreform geschwächt und uns politisch und organisatorisch überfordert. Wir hatten nicht mehr die MVR und noch nicht die PSUV – also kaum politische Strukturen, durch die wir handlungsfähig hätten sein können. Nach dem Scheitern der Reform haben viele erkannt, dass die Revolution nur durch aktive politische Beteiligung in der Partei vorangetrieben werden kann. In dieser Zeit sind Millionen Menschen eingetreten. Bisher war der Hauptfokus der PSUV allerdings auf Wahlen beschränkt, weshalb die Partei als Werkzeug der Revolution noch zu schlecht funktioniert.

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ntspricht die Realität der PSUV momentan schon einer Massen- und Mitgliederpartei? Nein. Wir stehen am Anfang des Parteiaufbaus und versuchen erst mal, handlungsfähige Kerne von Aktivisten zu bilden. Strukturell setzen wir nicht mehr auf die großflächigen und zum Teil statischen Bataillone mit mehreren hundert Basismitgliedern, sondern auf kleinere, aktionsorientiertere Patrouillen. Wir müssen nicht immer Millionen sein, um etwas zu erreichen. Daneben gibt es mehr und mehr Angebote politischer Bildung, um unsere Mitglieder zu schulen und neue politische und technische Führungspersonen auszubilden. Die Revolution dauert inzwischen zehn Jahre, aber wir haben noch zu wenig neue Gesichter hervorgebracht. Dies sieht man auch innerhalb der Partei und im Kabinett. Neben den aktionsorientierten Kernen werden die passiveren Parteimitglieder vor allem zu großen Kampagnen und Abstimmungen mobilisiert. Die PSUV kann beides werden: Massen- und Mitgliederpartei. Es ist aber noch ein weiter Weg. Auf marx21.de sind diverse Artikel zur Situation in Venezuela erschienen – zuletzt von Mike Gonzales über »Chávez, das Öl und den Sozialismus« (tinyurl.com/m21venezuela).

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ie sieht die Parteistruktur genau aus? Sind die Patrouillen als kleinste Aktionseinheit tatsächlich jene demokratischen Basisgliederungen, von denen die Macht innerhalb der PSUV ausgeht? Dies hängt von verschiedenen Faktoren ab. Eine einzige Patrouille hat genauso wenig Macht wie eine

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einzelne Person. Wir versuchen generell als Patrouille verschiedene Kräfte zu verbinden, um unsere Schlagkraft zu vergrößern, genau wie in den sozialen Bewegungen. Aus meiner Sicht müssen die politischen Strukturen unserer Partei aber noch reifer werden. Dann kann auch Kritik verbindlicher geäußert werden. Generell stellt sich die Frage, wie die Parteigliederungen in die Lage kommen, demokratisch und koordiniert zu agieren. Kritik muss nämlich auch ankommen und im gesamten Willensbildungsprozess der Partei berücksichtigt werden. Der Parteivorstand ist beispielsweise ansprechbar, aber es bedarf immer wieder politischen Drucks und koordinierter Vorstöße der Linken, um Korrekturen durchzusetzen. Uns ist es aber zum Beispiel bei der Gründung der Jugendorgansiation jPSUV gelungen, einen breiten Diskussionsprozess an der Basis und in unserer Patrouille zu erzwingen.

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in wichtiges Merkmal der Partei ist der Diskurs der sozialistischen Einheit. Offiziell gibt es in der Partei weder artikulierte Strömungen noch andere politische Zusammenschlüsse. Wie sieht die Einheit im Innern wirklich aus? Formal existieren keine Strömungen, weil wir versuchen, große Zusammenstöße zwischen verschiedenen Fraktionen zu vermeiden. Dies liegt auch an der spezifischen historischen Erfahrung in Venezuela, wo sich die Linke durch Spaltungen, föderale Zersplitterung und Fraktionskämpfe oft selbst handlungsunfähig gemacht hat. Dies gilt sowohl für die Zeit der Unabhängigkeitsbewegung, als auch für die Phase der Guerilla und des Caracazo 1989. Mit seinem Wahlsieg gelang Chávez das politische Novum, die Linke zu einen. Das hat keine der bestehenden Gruppen und Strömungen vor ihm erreicht. Mit zunehmender Reife werden sich auch bei uns formal organisierte Plattformen artikulieren, aber ohne die Einheit der bolivarianischen Revolution in Frage zu stellen. Bisher sind viele Gruppen quasi eigenständige Parteien, was eine gemeinsame Diskussion über Theorie und Praxis der PSUV erschwert. Da es aber auch tatsächliche Konflikte und Widersprüche – auch Klassenwidersprüche in der Partei gibt, entstehen um solche Fragen zwangsläufig politische Strömungen. Es gibt die Sozialdemokraten, die eher pragmatisch orientiert sind und eher am rechten Rand des Prozesses stehen. Diese Kräfte sind sehr gut koordiniert und organisiert, ohne deswegen als Strömung aufzutreten. In unserem Fall der Linken sieht es anders aus, wir sind zwar radikaler und theoretisch klarer, jedoch organisatorisch wesentlich zersplitterter und schlechter aufgestellt. Für den Moment sind wir noch nicht formal organisiert. Wir brauchen aber auch in Zukunft eine strategische Vision von der Einheit der Linken.


Eneas De Troya

Profiteure der Angst Millionen Deutsche sollen gegen die Schweinegrippe immunisiert werden. Hans Krause fragt sich, ob die Massenimpfung nicht vor allem die Profite der Pharmakonzerne schützt

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ie Besprechung ist eigentlich Routine. In schneller Folge tragen die 15 versammelten Wissenschaftler aktuelle Daten über die globale Verbreitung von Grippeviren zusammen. Von der Ankunft des neuen »pandemischen« Erregers in Ruanda ist die Rede und dem Befall australischer Schweineherden. Dann aber berichtet der Teamleiter von einer überraschenden Beobachtung: In China und anderen Ländern, wo sich die Schweinegrippe ausbreite, »gehen die Befunde mit H3N2 gleichzeitig schnell nach unten«, sagt er. Die Kollegen merken auf. Heißt das, die neuen Viren, Verursacher der weltweit verbreiteten Schweinegrippe, verdrängen die bisherigen, saisonalen Grippeviren, weil sie im Körper der Menschen um den gleichen Platz konkurrieren? Werden damit die Viren ausgerottet, die mehr schwere Erkrankungen und Todesfälle verursachen? »Das wäre ja eine gute Nachricht«, sagt einer der Virologen. Der Teamleiter mahnt zur Vorsicht. Für solche Schlussfolgerungen sei es »zu früh, das geben die Zahlen noch nicht her«, versichert er. Aber möglich sei eine solche Entwicklung schon.

In der Zentrale der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Genf haben die versammelten Grippeexperten schon am 21. Oktober eine Grundannahme der größten Impfkampagne aller Zeiten infrage gestellt, wie der Tagesspiegel damals berichtete. Die »neue Grippe« muss keineswegs jene große Gefahr sein, vor der Regierungen in aller Welt seit Monaten warnen. Warum aber mobilisieren dann die WHO und mit ihr mehr als hundert Regierungen für eine teure, globale Massenimpfung? Warum wurde die Verbreitung eines neuen Grippevirus, das bisher weniger als ein Zehntel der Todesfälle einer ganz normalen Wintergrippe verursacht, zur gefährlichen »Pandemie« erklärt? Ist es nur eine »Inszenierung, mit der die Pharmakonzerne schlichtweg Geld verdienen wollen«, wie Wolf-Dieter Ludwig, Chefarzt im Helios-Klinikum Berlin-Buch und Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, beklagt? Ein Teil der Antwort liegt bei der WHO. Sie darf seit 2005 auf eigene Initiative – ohne Anfrage durch die nationalen Gesundheitsbehörden – nach Seuchen suchen. Seit damals entscheidet allein der WHOwww.marx21.de | Winter 2009/10 | Nr. 13

Hans Krause ist Sozialwissenschaftler. Er ist Mitglied der LINKEN in Berlin-Neukölln und aktiv bei Die Linke.SDS an der Humboldt-Universität.

aktuelle Analyse

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Generalsekretär über die Warnstufen für ansteckende Krankheiten und die Gegenmaßnahmen zu denen die Regierungen aufgefordert werden. So war es im Juni allein die WHO-Chefin Margaret Chan, die den Pandemie-Alarm für Schweinegrippe auf die höchste Warnstufe anhob und damit auf der ganzen Welt den Start der nationalen Aktionspläne auslöste. Aber die jetzt wieder vielfach erklärte Befürchtung, das Virus werde in der kalten Jahreszeit mutieren und besonders gefährlich, hat sich im Winter der Südhalbkugel gerade nicht bestätigt. In Australien starben 118 Menschen an der Schweinegrippe, während über 1000 der saisonalen Grippe zum Opfer fielen. Ähnlich sind die Zahlen in Chile und Neuseeland. Trotz all dieser seriösen Einwände halten WHO und die ihr verbundenen Impfstrategen aller Länder an ihren Plänen fest und werden mindestens 14 Milliarden Euro für eine Massenimpfung ausgeben, deren Nutzen unklar ist. Würde die gleiche Summe für die Eindämmung der saisonalen Grippe eingesetzt, könnten gewiss mehr Menschenleben gerettet werden. Geht es also doch um gut organisierte Interessen statt um Gesundheitsschutz? Keiji Fukuda, der Grippekoordinator der WHO, weist den Vorwurf der Manipulation zurück. Die Pandemie-Warnstufen seien nicht willkürlich, sondern in einem Beratungsprozess mit über Anzeige 100 externen Fachleuten festgelegt worden. Doch womöglich liegt genau da das Problem. Denn die Gemeinde der Grippeforscher ist der Pharmaindustrie eng verbunden. So war an der Ausarbeitung der Richtlinie, die es geradezu erzwingt, auch eine harmlose Grippevariante zur globalen Bedrohung zu erklären, zum Beispiel Walter Haas beteiligt, der beim staatlichen Robert-Koch-Institut in Berlin die Pandemieplanung koordiniert. Haas, so berichtete der Spiegel, ist aber auch Berater der »European Scientific Working Group on Influenza«, die »die Vorteile und die Sicherheit von Influenza-Impfstoffen und antiviralen Medikamenten« propagiert und dafür unter anderem von den Impfstoffherstellern GlaxoSmithKline, Novartis und Sanofi-Aventis finanziert wird.

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Präsident der Lobbygruppe ist der Virologe Albert Ostherhaus, der wiederum Mitglied der jüngst eingerichteten WHO-Arbeitsgruppe zu Impfstoffen gegen das Schweinegrippe-Virus ist. Den Vorsitz in der WHO-Expertengruppe für Impfstoffe führt David Salisbury, gleichzeitig Leiter der Impfstoffabteilung im Londoner Gesundheitsministerium. Ihm werfen Kritiker vor, dass er einst das Gesuch der Vorläuferfirma von GlaxoSmithKline unterstützte, sie von der Haftung für einen Impfstoff gegen Masern, Mumps und Röteln zu befreien, obwohl dieser in anderen Ländern bereits wegen schwerer Nebenwirkungen vom Markt genommen worden war. Nun war Salisbury maßgeblich daran beteiligt, dass die WHO im Juli auch solche Impfstoffe gegen die Schweinegrippe empfahl, über deren mögliche Nebenwirkungen noch gar keine sicheren Aussagen möglich sind. Der Epidemiologe Klaus Stöhr verbreitete als Leiter des WHOGrippeprogramms sechs Jahre lang die Parole, es sei nicht die Frage ob,


ghinson/Flickr.com

welche Impfungen in Deutschland von den Krankenkassen bezahlt werden und welche nicht.

sondern nur wann die nächste gefährliche Grippewelle weltweit ausbreche. Als 2005 in Ostasien einige Dutzend Menschen an einem Grippevirus erkrankten, das von Geflügel auf Menschen übergesprungen war, erklärte Stöhr: Werde das Virus erst einmal von Mensch zu Mensch übertragen, »werden viele sterben.« Stöhr sprach von Millionen Toten. Eine solche Katastrophe trat zwar niemals ein, aber die Warnung wirkte. Viele Regierungen begannen, für den ausgemalten Ernstfall zu planen und schlossen Verträge mit Impfstofflieferanten. Anfang 2007 wechselte Stöhr zum Pharmakonzern Novartis, um dort Grippeimpfstoffe zu entwickeln. Dass die Gesundheitsbehörden sich weltweit von Experten beraten lassen, die auch für Pharmakonzerne arbeiten, hat einen einfachen Grund: Es gibt keine anderen mehr. Weil Staaten kaum noch Geld für medizinische Forschung ausgeben, müssen sich Medizinwissenschaftler an Konzerne wenden, um überhaupt arbeiten zu können. So konzentriert sich die Forschung auf Bereiche, die kommerziellen Gewinn versprechen. Gleichzeitig bringen die Konzerne Wissenschaftler in führende Positionen, die die Anwendung ihrer Medikamente und Impfstoffe empfehlen, notfalls auch ohne echten Notfall. Auch von den 16 Mitgliedern der »Ständigen Impfkommission« (STIKO) des Robert-Koch-Instituts haben nur vier keine Verbindungen zu Impfstoffherstellern. Trotzdem entscheidet allein die STIKO,

Vieles spricht dafür, dass die WHO-Grippestrategen im besten Glauben handeln und doch nur Teil von Geschäftsinteressen sind, die alles ausblenden, was nicht ins Konzept passt. Wie weit diese Verstrickung geht, zeigt auch, wie unkritisch die WHO bis heute den Einsatz des vermeintlichen Grippekillers Tamiflu des Pharmakonzerns Roche empfiehlt. Dessen einzig belegte Wirkung ist, bei Grippekranken die Dauer der Symptome durchschnittlich einen Tag zu verkürzen. Auf Druck der US-Überwachungsbehörde musste der Konzern auf seiner Internetseite klarstellen, es sei »nicht bewiesen, dass Tamiflu eine positive Wirkung auf Sterblichkeit oder Dauer der Krankenhausbehandlung infolge von saisonaler, Vogel- oder Pandemiegrippe hat«. Die WHO aber legte sogar einen Vorrat Tamiflu an und ihre Funktionäre profilieren sich mit der Übergabe der Pillen an arme Länder. Dieser Umgang mit der Virengefahr sei nicht nur Verschwendung, sondern auch »sehr gefährlich«, warnt der Epidemiologe Tom Jefferson. Man konzentriere sich nur deshalb auf die Schweinegrippe, weil es dafür bereits verkäufliche Impfstoffe gebe. Tatsächlich aber existieren etwa 200 verschiedene Erreger, die grippeähnliche Erkrankungen verursachen und nicht minder gefährlich seien, warnt Jefferson. Zum Beleg verweist er auf die SARS-Seuche, die 2003 in China viele Menschen das Leben kostete, aber bis heute kaum erforscht ist, weil sich damit »kein großes Geld und keine Karriere machen« ließen. Mit den Impfstoffen für die Schweinegrippe haben die Konzerne hingegen schon Milliarden gewonnen, bevor die erste Spritze gesetzt wurde. Allein die Bundesländer haben bei GlaxoSmithKline 50 Millionen Impfungen gekauft und schon bezahlt, unabhängig davon, ob sie benötigt werden. Um diese Menge aufzubrauchen, müssten sich etwa 61 Prozent der deutschen Bevölkerung impfen lassen. Dadurch verkauft der Konzern nicht nur weit mehr Impfungen, sondern spart auch die Kosten für das Marketing. Nun sind Regierung und Gesundheitsbehörden praktisch gezwungen, den Menschen die Impfung schmackhaft zu machen. Denn wenn sich nur wenige Impfen und die große Seuche trotzdem nicht kommt, stehen sie als Panikmacher und Verschwender von Steuergeldern da. Für GlaxoSmithKline bedeuten die geschlossenen Verträge hingegen riesige Profite ohne irgendein Risiko. Der Traum eines jeden Kapitalisten. www.marx21.de | Winter 2009/10 | Nr. 13

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Serie 1989-2009 – 20 Jahre Mauerfall

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»Revolution!«

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Die Mauer ist weg. Was bleibt?

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Olaf Klenke und Win Windisch über 1989

Debatte über die Wende

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»Revolution!« Binnen weniger Wochen fiel 1989/90 ein Regime, das über Jahrzehnte unangreifbar schien. Millionen Menschen nahmen ihr Schicksal selbst in die Hand. Olaf Klenke und Win Windisch erinnern an die letzten Tage der DDR

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lfter September 1989: Ungarn öffnet die Grenze zu Österreich. In drei Tagen flüchten 15.000 DDR-Bürger gen Westen. In Prag und Warschau besetzen tausende Flüchtlinge die westdeutsche Botschaft und erzwingen ihre Ausreise. Es sind vor allem junge Arbeiter, die dem »Arbeiterund Bauernstaat« DDR keine Chance mehr geben. Die Ausreisebewegung erschüttert das SED-Regime in seinen Grundfesten. Stacheldraht und Mauer werden durchlässig. Jeder Ostdeutsche hat Verwandte, Bekannte und Kollegen, die das Land verlassen. Die Parteiführung reagiert mit Lügen und Verachtung. Die staatlichen Zeitungen berichten von angeblichem Kidnapping. Der Staatsratsvorsitzende Erich Honecker verkündet, er trauere den Geflohenen »keine Träne« nach. Immer mehr Menschen verlangen nach Freiheiten. Nachdem Anfang September 1000 an der Montagsdemonstration in Leipzig teilnahmen, sind es Ende des Monats bereits 8000. Neben der Forderung »Wir wollen raus« rufen immer mehr Demonstranten die trotzige Losung »Wir bleiben hier« und fordern, die neu gegründete Oppositionsgruppe »Neues Forum« zuzulassen. In der Parteiführung werden Erinnerungen an den Arbeiteraufstand vom Juni 1953 wach, als das Regime nur noch durch sowjetische Panzer zu retten war. Die SED-Spitze reagiert auf die Bewegung mit Unterdrückung und lässt den Protest gewaltsam auflösen. Anfang Oktober liefern sich Demonstranten in Dresden und anderen Städten Straßenschlachten mit der Polizei. Gleichzeitig warnt die Stasi vor der brodelnden Stimmung in den Betrieben. Es gibt vereinzelte spontane Arbeitskämpfe im Süden der DDR: In Altenberg organisieren 600 Bergarbeiter einen Bummel-Streik um die Wiedereröffnung des Grenzverkehrs über die tschechoslowakische Grenze zu erzwingen. Als am 7. Oktober, dem Staatsfeiertag der DDR, in 18 Städten protestiert wird, gehen Soldaten und Polizisten mit Gummiknüppeln und Massenverhaftungen gegen die Demonstranten und auch gegen

unbeteiligte Personen vor. In Plauen, einer Stadt mit 80.000 Einwohnern nahe der Grenze zu Bayern, wird die Polizei jedoch vom Ausmaß der Demonstration überrumpelt. 15.000 Menschen – mobilisiert über wenige Flugblätter und Mundpropaganda – kommen im Stadtzentrum zusammen, ohne zu wissen, was sie genau erwartet. Auch der Einsatz von zwei als Wasserwerfer umfunktionierten Feuerwehrautos hält sie nicht auf. Sie marschieren durch die gesamte Innenstadt und verabreden sich wieder für den nächsten Samstag. Ihre Demonstration ist die erste, die nicht gewaltsam von Ordnungskräften zerschlagen wird. In den Tagen danach verurteilt die Freiwillige Feuerwehr den unsachgemäßen Einsatz ihrer Fahrzeuge. In einigen Geschäften werden Polizisten nicht mehr bedient. Nach dieser Woche der Gewalt steht in Leipzig am 9. Oktober die nächste Montagsdemonstration bevor. Die Stadt ist im Ausnahmezustand. Von dort war der Funke der Proteste ausgegangen. Hier will die SED sie ersticken. In Medien und Betrieben wird vor dem Einsatz der Armee gewarnt. Krankenhäuser stellen Blutkonserven bereit. Aber die Menschen lassen sich nicht mehr einschüchtern. Am Abend ziehen 80.000 Personen durch die Innenstadt und trotzen der Staatsgewalt. Soldaten verweigern wie bereits in den Tagen zuvor ihre Befehle. Die Parteiführung vor Ort schreckt vor dem Einsatz von Gewalt zurück. Die Bewegung feiert ihren ersten großen Sieg über das SED-Regime.

Olaf Klenke wurde durch die Wendebewegung politisiert und beschäftigt sich seitdem mit der Geschichte der DDR. Seine Doktorarbeit hat er über Rationalisierung und soziale Konflikte in der DDR geschrieben. Derzeit arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Linksfraktion im Bundestag.

Win Windisch wurde in Ost-Berlin geboren und war bis zur zweiten Klasse Jungpionier. Derzeit ist er bei Die Linke.SDS an der Humboldt Universität Berlin aktiv.

Nach dem Durchbruch in Leipzig ist die Bewegung nicht mehr aufzuhalten. In kleinen Städten prügelt die Polizei noch Proteste nieder. Aber vom Süden her breiten sich die Demonstrationen aus. In den Großstädten nehmen Hunderttausende an den Protesten teil. Anfang November gehen allein in Berlin und Leipzig zusammen eine Million Menschen auf die Straße. Nach jahrzehntelanger Unterdrückung wird mit den Massendemonstrationen das Gefühl der Machtlosigkeit überwunden. »Wir sind das Volk« wird zum Slogan einer Bewegung, die die Gesellwww.marx21.de | Winter 2009/10 | Nr. 13

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schaft grundlegend verändern wird. Überall organisieren Aktivisten Diskussionen. Allein zwischen dem 30. Oktober und dem 5. November meldet die Staatssicherheit 230 »politisch geprägte Veranstaltungen mit fast 300.000 Teilnehmern«. Bis zum Januar 1990 werden 250 verschiedene Initiativen anerkannt. Komitees zur Aufarbeitung der Stasi-Gewalt werden gegründet, Häuser besetzt, Galerien und Bars eröffnet, Studierende gründen unabhängige Vertretungen, Frauengruppen eröffnen Cafés und Inhaftierte fordern die Beteiligung an der Gefängnisverwaltung. In den Betrieben erheben Arbeiter die Forderung nach Demokratie und der Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen. In einem Berliner Elektronikwerk erreicht eine Wandzeitung mit Diskussionsbeiträgen eine Länge von mehreren hundert Metern. In einigen Kasernen wählen Rekruten Soldatenräte. Der Druck der Straße zwingt die SED zu Zugeständnissen. Das Staatsfernsehen beginnt, über die Demonstrationen zu berichten. Staats- und Parteichef Honecker tritt am 18. Oktober von allen Ämtern zurück. Doch die Menschen misstrauen auch der neuen Regierung und fordern mit dem Slogan »Die Mauer muss weg!« den freien Reiseverkehr. Am Abend des 9. November kündigt der SED-Funktionär Günter Schabowski im Rahmen einer internationalen Pressekonferenz die vorgesehene Öffnung der Grenze an. Auf die Frage eines Journalisten, ab wann die neue Regelung gelte, antwortet Schabow-

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ski ohne Wissen über die Vorgabe: »Das tritt nach meiner Kenntnis… ist das sofort, unverzüglich.« Er beschleunigt damit, was sowieso nicht mehr zu verhindern war. Es versammeln sich Zehntausende an den Grenzübergängen in Berlin und drücken die Absperrungen buchstäblich ein. Mit dem Fall der Mauer verliert die SED die Kontrolle über die Bevölkerung. Enthüllungen über Privilegien der SEDOberen und deren Versuche, den Machtapparat zu rechtfertigen und Reformen zu verschleppen, heizen die Unzufriedenheit weiter an. Anfang Dezember stürmen Demonstranten in Erfurt und anderen Bezirksstädten die Stasizentralen. Der Unterdrückungsapparat der SED ist angeschlagen. In diesen Tagen liegt die Macht »auf der Straße«. Doch nun geht es auch um die Kontrolle der Betriebe. Auf den Demonstrationen wird gefordert: »SED – raus aus den Betrieben«. Am 3. Dezember tritt die komplette Parteiführung zurück. Am selben Tag treffen sich Vertreter des Neuen Forums, der einzigen landesweit einflussreichen Widerstandsgruppe, um zu diskutieren, wie sie mit den aufkommenden Forderungen nach einem Generalstreik umgehen. Schon in der Woche zuvor fand in der Tschechoslowakei ein zweistündiger Generalstreik statt, der in der DDR mit großer Aufmerksamkeit verfolgt wurde. In vielen Betrieben wird nun diskutiert, warum man nicht das selbe macht. Die ersten


90 Jahre deutsche Revolution Betriebsgruppen des Neuen Forums haben sich bereits gegründet. Das Treffen des Neuen Forums erfährt von einem weiteren Streikaufruf, als eines der führenden Mitglieder verspätet eintrifft. Jochen Tschiche berichtet von einer Demonstration in Magdeburg mit 100.000 Teilnehmern, die alle von ihm wissen wollten, wie es weitergehen solle. Die Arbeiter des Großbetriebs Schwermaschinenbaukombinat »Ernst Thälmann« mit 12.000 Kollegen wären entschlossen, zu streiken und fragten ihn, welche Forderungen er vorschlagen würde. Er gibt die Frage an die Sitzung weiter: »Was sollte ich ihnen sagen, welche Forderungen sollen aufgestellt werden?« Eine Streikbewegung wäre der nächste Schritt, um weitere Teile der Bevölkerung zu aktivieren. Wenn es zu Arbeitsniederlegungen in großen Betrieben im Süden und Berlin käme, dann hätte die Regierung dem nichts mehr entgegenzusetzen. Der Demoslogan »Neues Forum an die Macht« könnte zur Realität werden. Aber die Oppositionsgruppe schreckt davor zurück, die SED zu stürzen und eine Gegenregierung zu bilden. Führende Personen des Neuen Forums lehnen die Forderung als »verfrüht« ab und nehmen stattdessen am »Runden Tisch« mit den Vertretern der alten Macht Platz. Ihr gemeinsames

Ziel: Die DDR erhalten. Die Bürgerrechtsgruppen hoffen auf einen »Dritten Weg« einer eigenständigen DDR. Damit stellen sie sich zunehmend ins Abseits. Die Mehrheit der Bewegung hat sich radikalisiert. Sie wollen keine Verhandlungen mit den alten Eliten. Sie wollen den Sturz des gesamten Machtapparates der SED. In den ersten Wochen des Jahres 1990 erreicht die Bewegung noch einmal einen Höhepunkt. In Dutzenden Betrieben legen Arbeiter gegen den drohenden Machterhalt der SED die Arbeit nieder. In Berlin stürmen am 15. Januar Demonstranten die Stasizentrale und rufen »Nieder mit der SED« und fordern den Rücktritt des neuen Regierungschefs Hans Modrow. Mit dem Rücken zur Wand lädt dieser die Bürgerrechtsgruppen zum Eintritt in eine Übergangsregierung ein. Die Bürgerrechtler nehmen das Angebot an, um den Sturz der Regierung zu verhindern. Diejenigen im Neuen Forum, die den Regierungskurs kritisieren, oder auch die vielen neuen Aktivisten verfügen nicht über die Strukturen, die es bräuchte, um dem eine alternative Führung entgegenzusetzen. So entsteht ein Machtvakuum, das Helmut Kohl in den Folgemonaten ausnutzen kann. In der nächsten Ausgabe: Der Ausverkauf der DDR

mjk23/Flickr.com

Der Mauerfall als Kunstwerk: Foto-Installation von Peter Zimmermann im Museum de Fundatie im niederländischen Zwolle

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Ein Akt der Befreiung Von Gabriele Engelhardt

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achdem klar war, dass dieses Mal die russischen Panzer nicht mehr zur Verfügung stehen würden, um die Bewegung niederzuschlagen – wie 1953 in der DDR, 1956 in Polen, 1968 in der CSSR – forderten wir unter dem Motto »Wir sind das Volk« mehr Demokratie und Freiheit. Es ging jedoch um mehr als die Erkämpfung demokratischer Rechte. Wir wollten höhere Löhne, mehr Urlaub, höhere Renten und bessere Wohnungen. Das wird heute oft ausblendet. Doch die soziale Frage war eine Triebfeder des Protestes. Wie viele damals empfanden, ging es darum, wieder den aufrechten Gang zu lernen nach Jahren der Unterdrückung und des Rückzugs ins Private. Was ich und viele damals erlebten, war das Gefühl, die Welt verändern zu können. Jahrzehnte alte Regeln wurden über Nacht abgeschafft. Der Fall der Mauer am 9. November wurde von den meisten, die als erste im Herbst '89 auf der Straße waren, abgelehnt. Sie befürchteten, dass dann ein Neuanfang in der DDR nicht mehr möglich gewesen wäre. Aber für Millionen Menschen war es der Höhepunkt der Bewegung von 1989, ein unheimliches Gefühl der Befreiung. Hunderttausende hatten in den Wochen zuvor dafür den Boden bereitet. »Die Mauer muss weg«, war einer der meist gerufenen Demo-Sprüche. Zugleich fand eine Abstimmung mit den Füßen statt. Allein in der Woche vor dem Mauerfall siedelten fast 50.000 DDR-Bürger über die Grenze zur CSSR in die Bundesrepublik über. Nur unter diesem Druck von unten legte die SED ein neues Reisegesetz vor, das aber vielen nicht weit genug ging. Es gelang der Parteiführung nicht, die Grenzen am 10. November unter ihrer Kontrolle zu öffnen, mit langwierigen Antragsverfahren für den Einzelnen. Tausende versammelten sich in der Nacht des 9. November vor den Berliner Grenzübergängen und skandierten »Tor auf! Tor auf!« Und die Grenz-Kommandeure öffneten die Schlagbäume – aus Angst davor, dass die Lage eskalieren könnte. Auch das ist ein Verdienst unserer Bewegung von 1989: Die Maueröffnung wurde uns nicht geschenkt. Wir haben sie uns erkämpft. Was wäre denn auch die Alternative gewesen? Die Menschen weiter einzusperren, um dann einen »besseren Sozialismus« durchzusetzen? Hinter unserem Wunsch nach Einheit (»Wir sind ein Volk«) verbarg sich keineswegs der Wunsch nach Kapi(Fortsetzung auf Seite 56)

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Die Mauer ist weg.

was bleibt?

Staatsstreich gegen die Straße Von Stefan Bollinger

Thomas Brauner/ Flickr.com

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s ist kein Zufall, dass die herrschende Meinung den 9. November, den »Wahnsinns«-Mauerfall, in den Mittelpunkt des Erinnerns an den Herbst '89 wie an die DDR rückt. Nicht der versuchten Alternative zum Kapitalismus mit ihren Höhen und noch mehr Tiefen soll kritisch gedacht werden, erst recht nicht dem Versuch, sie gegen den Willen der SED-Politbürokratie doch noch durch eine antistalinistische Revolution zum Sozialismus zu bringen. Der 9. November steht für den Thermidor gegen die zu späte Revolution für eine souveräne, demokratisch-sozialistische DDR. Der dilettantisch gefasste und verkündete Beschluss zur Reisefreiheit, die Öffnung der Mauer durch die SEDFührung, war ein kalter Staatsstreich gegen die Massen auf den Straßen und die Reformer in der eigenen Partei. Die Reisewut vieler DDR-Bürger in den Westen ließ die Demonstrationen kurzzeitig abflauen. Bereits wenige Tage danach wurde jedoch klar, dass diese Entscheidung auch für die Verantwortlichen, SED-Generalsekretär Egon Krenz und ZK-Sekretär Günter Schabowski, zum Debakel werden musste, ebenso für die Reformer im Land. Nun stand nicht mehr ein erneuerter Sozialismus an, sondern dessen Abschaffung und die durch die West-Eliten betriebene und von vielen Ostdeutschen kurzschlüssig unterstützte Restauration des Kapitalismus, wenn auch in der scheinbar modernen Gestalt der Bonner Republik. Der Weg zum »Anschluss« an die alte BRD war offen. Erst jetzt konnte die Forderung nach Einheit akut werden, gerade, weil die DDR-Bürger den zu lang vorenthaltenen Westen in seiner Pracht sahen und begriffen, dass 100-DMBegrüßungsgeld zu wenig waren. War es realistisch, mit schnellen Reformen diese Situation zu ändern? Aus dem Westen trommelten Medien, Politiker und einreisende Aktivisten entschieden für einen Stimmungswandel. Die SED taumelte, die Bürgerbewegten waren für sie nur ehrenwerte Spinner. Reformen, so verkündete der Bundeskanzler am 8. November, sollten die DDR zu BRD-Wirtschaft und -Politik kompatibel machen – zu ihren Bedingungen. Bald sollten BRD-Fahnen die ersten Rufe nach dem »Wir sind ein Volk!« unterstreichen und spätestens bei Kohls »Heimspiel« in Dresden (19.12.89) konnte der sich ob dieses Stimmungswandels freuen: »Die Sache ist gelaufen«. Dabei wollte eine Mehrheit der DDR-Bürger im Herbst ’89 etwas anderes – endlich Veränderungen: Praktizierte De(Fortsetzung auf Seite 57) www.marx21.de | Winter 2009/10 | Nr. 13

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Fortsetzung: »Ein Akt der Befreiung« von Gabriele Engelhardt

Gabriele Engelhardt ist Anglistin. 1989 war sie Geschäftsführerin der Vereinigten Linken in Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) und beteiligte sich am Runden Tisch. Heute ist sie in der Friedensbewegung aktiv und Mitglied der LINKEN.

talismus mit Arbeitslosigkeit, Krise und Krieg. Zurückblickend denke ich: Mit der Forderung nach Wiedervereinigung war die Hoffnung auf einen höheren Lebensstandard verknüpft. Die Möglichkeit der Teilhabe an einer demokratisch verfassten Gesellschaft in relativem Wohlstand – was die BRD damals für viele Menschen verkörperte – ließ sich aus Sicht vieler am schnellsten über die Wiedervereinigung erreichen. Die damalige Forderung nach Wiedervereinigung als einen Ruf nach der Banane abzustempeln, ist letztlich elitär. So wird elementaren Bedürfnissen nach gesichertem Wohlstand und Freiheit eine Absage erteilt. Es waren gerade die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der DDR, die sich ab Mitte November mit der Forderung nach nationaler Einheit einmischten und zunehmend den Charakter der Bewegung als reine Demokratiebewegung infrage stellte. Viele Bürgerbewegte haben diese »Proletarisierung« der Wende angewidert zurückgewiesen. Die Forderung nach einem Generalstreik zur Erzwingung einer Volksabstimmung, unter anderem auch über die Wiedervereinigung, wurde besonders im industriellen Süden der DDR laut. Auch in Chemnitz haben wir über den Generalstreik diskutiert und abgestimmt. Abgelehnt wurde dieser aufgrund der Forderung nach sofortiger Wiedervereinigung. Das schwächte jedoch auch den Kampf für demokratische Rechte und unsere Forderung »Stasi raus aus den Betrieben«. Die Kehrseite dieser Haltung der DDR-Opposition war der politische Aufstieg Helmut Kohls, seiner CDU und die Fortdauer der schwarz-gelben Regierung in Gesamtdeutschland. Bis heute beeinflusst dies manchen Linken in seinem Urteil zur Bewegung von 1989. Für Kohl war die Wiedervereinigung der Rettungsanker. Er hat die drohende Wahlniederlage verhindert und zögerte die Wirtschaftskrise in Westdeutschland um zwei Jahre hinaus. Aber selbst Kohl musste sich dem Tempo der Bewegung anpassen, sonst wäre er von ihr überrannt worden. So war er zunächst gegen eine schnelle Wiedervereinigung und sprach von einer Konföderation. Rückblickend muss man sagen, dass die Wiedervereinigung dem Wunsch der überwältigenden Mehrheit der DDR-Bevölkerung entsprach und so akzeptiert werden muss.

Trotzdem wäre eine andere politische Entwicklung möglich gewesen, wenn die DDR-Opposition die Forderung nach Wiedervereinigung ernst genommen hätte. An eine weitere Reformierbarkeit der DDR glaubten immer weniger. Für sie war ein Ja zur Einheit ein Ja zur schneller politischer Freiheit und sozialem Fortschritt. Auf dieser Grundlage und mit einem möglichen Generalstreik hätte der Sturz der SED-Regierung und die Bildung einer provisorischen Übergangregierung angestrebt werden können. Das hätte die Tür geöffnet, Druck von unten für eine andere Wiedervereinigung zu organisieren. Leider gingen bis auf die »Vereinigte Linke« alle Oppositionsgruppen einen anderen Weg und traten im Januar 1990 der gewendeten PDS/SED-Regierung bei und gaben damit ihren Oppositionsstatus auf. Übrig blieb nur noch Kohl, der blühende Landschaften versprach, um später den Ausverkauf der DDR im Interesse des westdeutschen Kapitals zu organisieren. Wir waren Teil einer Revolution, die das Ende des Stalinismus einleitete. Die Bewegung von 1989 war auf ihrem Höhepunkt eine Massenerhebung von Arbeitern und einfachen Angestellten gegen eine Parteidiktatur, die vorgab, in ihrem Namen zu regieren. Ein Staat, in dem es kein Streikrecht gibt, keine Meinungs- und Versammlungsfreiheit, kein Recht auf Gründung unabhängiger Organisationen, ist kein Sozialismus. In der DDR stand das Interesse der herrschende Klasse aus Parteibürokratie, Betriebsdirektoren und Armeegenerälen, mit dem Land im internationalen Konkurrenzkampf bestehen zu müssen, gegen das Interesse der Mehrheit der Bevölkerung nach einem besseren Leben. Deswegen rührte in dem angeblichen »Arbeiter- und Bauernstaat« die übergroße Mehrheit der Arbeiter und Bauern keinen Finger, um ihn zu verteidigen. Aber die Revolution blieb unvollendet. Die sozialen Hoffnungen der Menschen haben sich noch nicht erfüllt. Doch das Ende der DDR war nicht die Niederlage des Sozialismus. Ein »Sozialismus«, der keiner ist, kann auch nicht reformiert werden. An die Stelle der SED-Bürokratie sind die privatkapitalistischen Konzerne getreten. Wir haben nun die Chance – in Ost und West gemeinsam – für eine Welt ohne Ausbeutung, Krise und Krieg zu kämpfen.

»Kohl organisierte den Ausverkauf der DDR im Interesse des westdeutschen Kapitals«

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Fortsetzung: »Staatsstreich gegen die Straße« von Stefan Bollinger

mokratie, Öffentlichkeit, bessere Versorgung, kontinuierliches und erfolgreiches Wirtschaften, mehr Leistungsprinzip, auch größere Reisemöglichkeiten. Nicht wenige, gerade Jüngere, nahmen die veränderte Weltlage, die Glitzerwelt der Westmedien und die Angst der SED-Führung vor der Perestroika zum Anlass, mit DDR und Sozialismus zu brechen und in den Westen zu flüchten. Das stalinistische Modell – und das zeigt erst der Blick auf ganz Europa, wo weder Wiedervereinigung noch Reisen Schlüsselthemen waren – war an seine Grenzen gestoßen. Moderne Produktivkräfte, der Wandel im Systemwettstreit brauchten einen Sozialismus, der einer war, der demokratisch – und was auch heute gern übersehen wird -– der effizient war. Darum ging es zunächst der im Lande gebliebenen Mehrheit, die keine schweigende mehr sein wollte. In Bürgerbewegungen organisierte sich ein kleiner Kern oppositioneller Kräfte gegen den deformierten Sozialismus. Ebenso wie kritische SED-Mitglieder und -Funktionäre wollten sie die DDR retten, im Lande etwas bewegen. Ihre Vision: »Stell dir vor, es ist Sozialismus und keiner geht weg!« Angesichts der preislos geöffneten Grenze und der unmittelbaren Einflussnahme der westdeutschen Akteure missglückte die Revolution. Auch die Reformen der Modrow-Regierung und die versuchte Erneuerung der SED zur PDS konnten das nicht mehr aufhalten. Die DDR bekam keine Chance, gleichberechtigt und erneuert in Verhandlungen für eine deutsch-deutsche Zukunft einzutreten. Die letzten Wochen des Jahres 1989 brachten einen Stimmungsumschwung. Das Volk verzichtete auf seine Mündigkeit und entschied sich für seine unmittelbaren Interessen: für die Banane, für Gesamtdeutschland. Heute die Arbeiterklasse zu beschwören, von einem Generalstreik auch für die Einheit im Herbst zu reden, entbehrt den Realitäten. Um den 1. Dezember geisterte der Generalstreik gegen SED und MfS-Nachfolger durch die Medien, aber in der breiten Öffentlichkeit keineswegs für die Wiedervereinigung – und stieß auf einhellige Ablehnung auch in den Bürgerbewegungen. Der Traum von der Weiterführung der Revolution, von der Revolutionsregierung wäre nur Wirklichkeit, wenn die angebeteten Arbeiter ein anderes politisches Bewusstseins gehabt und Bürgerbewegungen oder eine neue Linke sie geführt hätten. Hätten

-– haben sie aber nicht! Die Kraft des Faktischen war stärker. Weder auf die Vereinigte Linke noch auf andere Bürgerbewegungen wurde im Dezember gehört. Die Maueröffnung hatte – trotz des Intermezzos des Kampfes gegen die MfS-Nachfolger – für die Mehrheit der Menschen Lebensfragen gestellt: Wie sichern sie ihren Arbeitsplatz, wie kommen sie zu Geld, mit dem sie etwas kaufen können, gar zur harten DM. Jetzt in den Westen zu gehen, könnte noch einen Vorteil im wirtschaftlichen Überlebenskampf bringen. Oder eben schnell die harte DM, die florierende Wirtschaft durch die Einheit zu bekommen – und selbstredend die soziale Sicherheit der DDR behalten. Nur harte Kerne kritischer, bewusster Arbeiter und Angestellter begriffen, dass Wirtschaftsreformen – ob unter Modrow oder bei der Vereinigung – Widerstand in den Betrieben, Betriebsräte, vielleicht gar unabhängige Gewerkschaften erfordern würde. Es war aber auch die Zeit, in der noch wichtige revolutionäre, widerständige Erfahrungen gegen die Preisgabe der eigenen Revolution zum Tragen kamen. Zu nennen sind die Runden Tische, die Schaffung unabhängiger Arbeitervertretungen sowie die Versuche, wichtige soziale und demokratische Leistungen der DDR zu bewahren, der Verfassungsentwurf des Runden Tisches. Der Rest der Geschichte ist bekannt. Der Anschluss fand statt. Von der DDR sollte außer grünem Verkehrs-Pfeil, Gauck/Birthler-Behörde und PDS nichts bleiben. Die Wirtschaft wurde platt gemacht und der Osten zum Biotop mit Arbeitslosen. Aber es zeigte sich, dass Lebenswille und Experimentierfreude der Ostdeutschen nicht immer zu brechen waren – ja eine DDR-Identität sich post mortem einstellte. Diese erinnert daran, dass nicht allein eine abgebrochene antistalinistische Revolution übrig blieb, sondern auch die Erfahrung, dass der Realsozialismus trotz seiner Unvollkommenheit zivilisatorische Errungenschaften – vom gebrochenen Bildungsprivileg über die Gleichberechtigung der Frauen bis zur profitfreien Gesundheitsfürsorge – hervorbrachte. Sie gehören ebenso wie die Erfahrungen mit Verbrechen und Fehlern zum unverzichtbaren Erbe der Linken. Sie sollte sich aber auch erinnern, dass ohne dem Widerpart Realsozialismus nun der Kapitalismus entsichert ist. Eins bleibt: Scheinbar stabile Zustände können über Nacht zerbrechen, wenn das Volk sich seines aufrechten Ganges erinnert.

»Der Realsozialismus brachte trotz seiner Unvollkommenheit zivilisatorische Errungenschaften hervor«

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Stefan Bollinger ist Politikwissenschaftler und Historiker, Mitglied der Historischen Kommission der LINKEN, der Leibniz-Sozietät und stellvertretender Vorsitzender der Helle Panke e.V. Er lehrt an der Freien Universität in Berlin.

★ ★★ Weiterlesen Stefan Bollinger (Hrsg.): Das letzte Jahr der DDR. Berlin 2004. Demnächst erscheint in der von der Rosa-Luxemburg-Stiftung herausgegebenen Reihe »kontrovers«: »Der missglückte Neuanfang 1989/90. Die DDR zwischen antistalinistischer Revolution und kapitalistischer Vereinnahmung«.

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Elmar Altvater und DAgmar Vinz

Marx

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Die Finanzwelt ist dabei zu implodieren, der reale Akkumulationsprozess befindet sich in einem Krisenloch. Die Marx’sche Theorie hingegen boomt. Selbst Nichtsahner wie Steinbrück oder Steinmeier finden, dass uns Marx’ Krisentheorie mehr zu sagen hat als die sich selbst demontierenden Experten von Banken, Forschungsinstituten oder

der Wirtschaftspresse. Im vergangenen Jahr hat marx21 den Versuch gemacht, einige grundlegende Begriffe aus dem Marx’schen Theoriereichtum vorzustellen und den Nutzen bei der konkreten Analyse anzudeuten. Nun wollen wir einen Schritt weiter gehen. Wir werden uns vom Marx’schen Werk lösen und aktuelle Probleme aufgreifen.

Diese werden wir mit der Marx’schen Begrifflichkeit, aber immer unter Berücksichtigung der modernen Theorieansätze und empirischen Analysen angehen, also so verfahren, wie es Marx auch getan hat. Wir werden folglich einige Themen aufgreifen, die heute aktuell sind und die einer Klärung dringend bedürfen.

Die Reproduktion des Arbeitsvermögens oder »Teilzeitarbeit für alle«

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at Karl Marx der Geschlechterfrage Aufmerksamkeit gewidmet oder war er ihr gegenüber blind und verschlossen, wie die meisten seiner Zeitgenossen? In der Logik der Entfaltung des Kapitalbegriffs muss sie ja dort gestellt werden, wo Marx sich der Produktion und Reproduktion dieser »eigentümlichen Ware, (der) Arbeitskraft« (MEW 23: 184) zuwendet. In den ersten drei Kapiteln des »Kapital« hat er sich mit der einzelnen Ware aus dem »Warenpöbel« (MEW 23: 72), dem Austauschprozess der Waren und dem Geld beschäftigt. Nun geht es im vierten Kapitel um

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die »Verwandlung von Geld in Kapital«. Kapital ist nicht einfach eine Summe Geldes, sondern ein gesellschaftliches Verhältnis, das sich – dies wird von Marx später dargestellt – im Akkumulationsprozess reproduziert, auf lange Dauer fortsetzt. In diesem gesellschaftlichen Verhältnis aber trägt der Arbeiter (fast immer als männliche Person gedacht) sein Arbeitsvermögen zu Markte, verkauft es und leistet für den Kapitalisten, der es für bestimmte Zeit gekauft hat, Arbeit, um so den Arbeitsvertrag zu erfüllen. Auch der Kapitalist ist an den Vertrag gebunden, und inwieweit die vertraglichen Bindungen

Dave Killingback

Teil 10 der Serie


und Bedingungen eingehalten werden, ist sehr häufig strittig. Die Erfüllung des Arbeitsvertrags erfolgt anders als beim gewöhnlichen »Warenpöbel« nicht in der Sphäre des Marktes oder der Zirkulation, sondern erst im Prozess der Produktion, wo die Arbeitsleistung erbracht wird. Was ist der Wert des Arbeitsvermögens bzw. der Arbeitskraft? Der Wert der Ware Arbeitskraft bestimmt sich, wie der Wert anderer Waren auch, gemäß den Reproduktionskosten. Freilich existiert die Arbeitskraft nur als »Vermögen« des lebendigen Individuums und schließlich ist dieses Individuum schon wegen des Reproduktionsprozesses, aus dem es hervorgeht, gesellschaftliches und nicht nur »individuelles« Individuum. Es gibt natürliche und historische Bedürfnisse, und daher enthält »im Gegensatz zu den andren Waren (…) die Wertbestimmung der Arbeitskraft ein historisches und moralisches Element« (MEW 2: 185): In der Reproduktion ist die Familie wichtig, und in ihr wirken gesellschaftliche Formen, die dem Kapitalverhältnis nicht vollständig subsumiert sind. Eigenleben und Eigensinn haben dort noch ein Zuhause, das Regime der Manufakturen und Fabriken hat hier keine volle Gültigkeit. Obendrein, so fügt Marx hinzu, ist »der Eigentümer der Arbeitskraft (…) sterblich. Soll also seine Erscheinung auf dem Markt eine kontinuierliche sein, wie die kontinuierliche Verwandlung von Geld in Kapital voraussetzt, so muss der Verkäufer der Arbeitskraft sich verewigen, (…) durch Fortpflanzung« (MEW 23: 185f.). »Ersatzmänner, d.h. die Kinder der Arbeiter« (ebd.) müssen herangebildet werden, und daher gehen auch die Bildungskosten in den Wert der Arbeitskraft ein. Hier zeigt sich die Bedeutung der Hausarbeit für die gesellschaftliche Reproduktion schlechthin und gleichzeitig ihr indirekter Beitrag zur Mehrwertproduktion. Denn den Mehrwert produzieren die Arbeiter, weil der Wert ihrer Arbeitskraft geringer ist als der Wert des Produktes, das sie erzeugen. Dass die Arbeitskraft diese Leistung im Produktionsprozess des Kapitals (zu Marx’ Zeiten vor allem in der Fabrik) erbringen kann, ist unter anderem Ergebnis der Hausarbeit in der »Reproduktionssphäre«. Marx stellt nicht die Frage nach der Art und Weise, wie die Arbeitskraft – deren Zentralität für die Ana-

lyse des kapitalistischen Produktions- und Ausbeutungsprozesses, für die Kapitalakkumulation und die Klassenauseinandersetzungen von Marx wie von keinem anderen hervorgehoben wird – eigentlich »produziert« wird, was in den Haushalten vor sich geht, wie Bildungsprozesse ablaufen, wie sich kapitalistische Rationalisierung von Küche, Sex und Schule mit Eigensinn und Traditionen verbinden und welche Konflikte sich daraus ergeben. Er hatte wie viele andere kritische Autoren des 19. Jahrhunderts einen Blick für die besondere Ausbeutung der Frauen und Kinder in den Fabriken – man lese dazu die Ausführungen im 8. oder im 13. Kapitel des ersten Bandes des Kapital. Doch die Sphäre der Reproduktion der Arbeitskraft behandelte er eher wie einen »schwarzen Kasten«, dessen Ergebnis, nämlich die auf dem Markt verkaufte Arbeitskraft, bedeutsam ist, während man den Prozess der Heranbildung des Arbeitsvermögens, von der Geburt über das Waschen der Windeln bis zur Ernährung und Schulbildung vernachlässigen kann. In den »schwarzen Kasten« haben erst Autorinnen wie Maria Rosa della Costa, Claudia von Werlhof oder Maria Mies Licht geworfen. Mit ihren Ansätzen für einen sozialistischen oder marxistischen Feminismus gingen sie aus der linken, theoretisch an Marx anknüpfenden Studentenbewegung hervor. Die frühe Diskussion im Feminismus entzündete sich dabei an der Frage nach der vergessenen Hausarbeit in der Marx’schen Wertlehre. So erweiterte Maria Rosa della Costa (1973) die Wertlehre um die Hausarbeit, von der sie behauptet, dass sie produktiv sei und in die Mehrwertbildung eingehe. In Form von persönlichen Dienstleistungen reproduziert die Hausarbeit die Arbeitskraft als Ware. Hinter dem Rücken der industriellen Produktion sorge die Hausarbeit für die Vergrößerung des Mehrwerts. Die Rolle der Frau sei dabei in der Form der Familienarbeit unsichtbar gemacht. Marx wird aus dieser Perspektive vorgeworfen, er habe der Hausarbeit ihren produktiven Wert abgesprochen und arbeite also mit an der Entwertung weiblicher Arbeit. Frigga Haug (1996) hat in ihren Konzepten für einen sozialistischen Feminismus Marx in andere Richtungen weiter gedacht, die für die heutigen Diskussionen möglicherweise fruchtbarer sind. Sie www.marx21.de | Winter 2009/10 | Nr. 13

Elmar Altvater ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. Er arbeitet im wissenschaftlichen Beirat von attac und ist Mitglied von DIE LINKE.

Dagmar Vinz ist Professorin für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Gender und Diversity am OttoSuhr-Institut der Freien Universität Berlin.

Sowjetisches Plakat zum internationalen Frauentag am 8. März 1932: »Sagt Nein zu Unterdrückung und Fesselung an Heim und Herd«

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mod as hell/Flickr.com

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schreibt, dass die Benachteiligung von Frauen ihren Grund in der Spaltung der Gesellschaft in einen »produktiven« und einen »unproduktiven« Bereich hat. Wird im wesentlichen produziert, was Profit bringt, bleiben alle Arbeiten liegen, die der ökonomischen Zeitlogik (Zeit ist Geld) nicht gehorchen, weil sie nicht ohne weiteres rationalisierbar, automatisierbar und zu beschleunigen sind. Sie lassen sich auch nicht leicht fabrikförmig organisieren und können am Markt nicht bestehen. Sie verlangen eine extensive Zeitverausgabung ohne entsprechende Wertbildung. Die messbare Produktivität ist gering. Das ist ein Grund, warum sie der unentgeltlichen Pflege von Frauen überlassen und nicht in einem kapitalistisch organisierten Betrieb organisiert und erbracht werden. Dazu zählen nach Haug das Hegen und Pflegen sowohl von Mensch als auch von Natur: »Es liegt in der Logik der Sache, dass der größte Teil der agrikulturellen Tätigkeiten, ebenso wie Waldund Naturpflege, ja im Grunde auch das Aufziehen von Menschen mit der Logik der Zeitreduktion unverträglich ist« (Haug 1996: 117). Sie schließt hier auf einen Zusammenhang zwischen dem Raubbau an der Natur und ihren Ressourcen und einer Zuordnung unbezahlter Arbeit zu Frauen, die auch die Frauenunterdrückung einschließt, zumal ihnen der Zugang zu bezahlter Arbeit erschwert wird. Daran anschließend hat Teresa Brennan (2000) eine Reinterpretation der Marx’schen Werttheorie versucht. Auch sie sieht einen Widerspruch zwischen der artifiziellen Geschwindigkeit der Produktion und den generationellen Zeiten der natürlichen Reproduktion. Im Namen des schnellen und kurzfristigen Profits werden Wachstumsprozesse von Tieren und Pflanzen um jeden Preis technologisch beschleunigt, auch wenn ihr Gebrauchswert sinkt und sie nicht mehr schmecken oder gar gesundheitliche Risiken für Mensch und Tier entstehen. Genauso unterliege die Reproduktion der menschlichen Arbeitskraft dem Beschleunigungsimperativ: Hier werden nach Brennan jedoch (noch?) nicht durch neue Technologien der Reproduktionsmedizin Zeiten verkürzt und verdichtet und Geld gespart. Es ist einfacher durch den Import menschlicher Arbeitskraft, also durch Migration zu erreichen. Auch in der Armut von Alleinerziehenden spiegelt sich die gesellschaftliche Tendenz wider, die reproduktiven Kosten der Arbeitskraft möglichst gering zu halten. Brennan verweist also auf die strukturelle Verknüpfung zwischen gesellschaftlicher Ungleichheit, weltweit zunehmender Armut und ökologischer Zerstörung im modernen Kapitalismus. Sie denkt diese Prozesse zusammen, indem sie die menschliche Ar-


mod as hell/Flickr.com

beitskraft genauso wie die Kräfte der Natur als energetische Quellen betrachtet, die wertbildend in den Produktionsprozess eingehen. Explizit formuliert sie ein Substitutionsgesetz, nach dem menschliche Arbeitskraft und natürliche Energiequellen alternativ zur Wertschöpfung eingesetzt werden können und kritisiert, dass Natur in der Marx’schen Theorie nur als Objekt und nicht als produktive Kraft behandelt wird. Während jedoch das Kapital für die Wiederherstellung der Ware Arbeitskraft aufkommen muss (Lohn), können die Eigenzeiten der Reproduktion von Natur ignoriert werden und die Beschleunigung der Ökonomie mit dem »Zeitdiebstahl« aus den Rohstoffdepots der Erde ermöglicht werden. Im daraus resultierenden Widerspruch zwischen artifizieller ökonomischer Beschleunigung und generativen Eigenzeiten von Mensch und Natur enthüllt sich die sozial-ökologische Krise als Krise der kapitalistischen Moderne. Vor dem Hintergrund der Kritischen Theorie beleuchtet Nancy Fraser das Verhältnis von Klasse und Geschlecht. Klasse ist in der Marx’schen Tradition vom Eigentum bzw. Nicht-Eigentum an Produktionsmitteln abhängig. Die einen, die Kapitalisten haben Eigentum an Produktionsmitteln, die anderen, die Proletarier haben es nicht. Der sich daraus ergebende Klassengegensatz könnte durch Umverteilung (von Produktionsmitteln, von Einkünften) gemindert, wenn auch nicht überwunden werden. Denn die Überwindung würde nach Marx die Abschaffung des Privateigentums verlangen. Nancy Fraser setzt sich damit unter einem anderen Aspekt auseinander. Frauen sind ihrer Auffassung nach eine in zweierlei Hinsicht benachteiligte Gruppe. Einerseits leiden sie unter ökonomischer Benachteiligung im Wirtschaftssystem aufgrund der vorherrschenden geschlechtlichen Arbeitsteilung. Diese ökonomische Struktur zwischen besser bezahlter, männlich dominierter und schlechter oder gar nicht bezahlter weiblicher Beschäftigung soll überwunden werden. Andererseits haben Frauen mit mangelnder Anerkennung in der gesellschaftlichen Statushierarchie zu kämpfen. Hierzu gehört beispielsweise die durchgängig schlechtere Bezahlung von typischen Frauenberufen oder die mangelnde Anerkennung von Hausarbeit als produktiver und nützlicher Arbeit. Auch die Höherbewertung von männlich konnotierten Werten wie Vernunft im Vergleich zu weiblich konnotierten Werten wie Emotionalität zählt dazu. Im Gegensatz zur Umverteilung in einer Klassengesellschaft, um mehr Gleichheit herzustellen, verlangt also die Verwirklichung von Geschlechtergerechtigkeit eine kulturelle Revolution, die eine

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Nationaal Archief/Flickr.com

Rollentausch: Anders als hier leisten Frauen noch immer den Großteil der unbezahlten Hausarbeit

★ ★★ Weiterlesen Die Zitate im Text stammen aus: Karl Marx und Friedrich Engels: Werke, 43 Bde., Berlin 1956-1990 (abgekürzt: MEW). Teresa Brennan (2000): Exhausting Modernity. Grounds for a new economy, London/New York. Nancy Fraser (2000): Die Gleichheit der Geschlechter und das Wohlfahrtssystem: Ein postindustrielles Gedankenexperiment, in: Braun, Kathrin et al. (Hrsg.): Feministische Perspektiven der Politikwissenschaft, München/Wien: 195-215. Nancy Fraser und Axel Honneth (2003): Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse, Frankfurt/M. Frigga Haug (1996): Frauen-Politiken, Hamburg. Frigga Haug (2009): Ein gutes Leben, in: Freitag, 15.10.2009. Dagmar Vinz (2005): Zeiten der Nachhaltigkeit. Perspektiven für eine ökologische und geschlechtergerechte Zeitpolitik, Münster.

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Höherwertung weiblich konnotierter Arbeiten, Eigenschaften und Werte mit sich bringen müsste. Dies ist der Ausgangspunkt für Nancy Frasers Überlegungen zur Geschlechtergerechtigkeit in einem postindustriellen Wohlfahrtsstaat. Sie entwirft das Bild eines »Universal Caregiver« (des universellen Fürsorgenden/Pflegenden/Erziehenden). Dieses enthält die Verpflichtung auf das Ziel der Geschlechtergerechtigkeit und verfolgt den gerechtigkeitstheoretischen Anspruch der »partizipatorischen Parität« (Fraser/Honneth 2003). Das Modell des »Universal Caregiver« sieht eine allgemeine Verkürzung der Normalarbeitszeit auf sechs Stunden pro Tag vor. Beiden Geschlechtern soll somit Erwerbsarbeit und Hausarbeit/Sorgearbeit ermöglicht werden. Ausgehend von einer »kurzen Vollzeit« wird die Vereinbarung beider Lebensbereiche für Männer und Frauen erleichtert. Dieses Modell kann nach Fraser den Weg zu Geschlechtergerechtigkeit am überzeugendsten vermitteln. Da Frauen und Männer sich in ihren Lebensmustern und Verantwortlichkeiten immer ähnlicher würden, seien die Voraussetzungen für die von ihr geforderten »partizipatorischen Parität« gegeben. Eine geschlechtergerechte und ökologische Zeitpolitik (Vinz 2005) ist die Voraussetzung dafür, einen Weg in Richtung einer nachhaltigen Entwicklung zu beschreiten und Alternativen zur kapitalistischen Vergesellschaftung zu entwickeln. Die ungeheure Beschleunigungsdynamik der Moderne, infolge der immer ausgedehnteren und immer schneller laufenden Geld- und Finanzkreis-

läufe bedarf der Reform, ebenso wie für die Versorgungsarbeit Alternativen zu entwickeln sind, die beispielsweise für die Zubereitung und den Verzehr von Mahlzeiten mehr kollektive Lösungen (durch Gemeinschaftsküchen, Gemüseabonnements oder andere ökologische Dienstleistungen im Wohnumfeld) anbieten. Frigga Haug hat auf dem deutschen Sozialforum im Oktober 2009 in ähnlicher Weise ebenfalls eine Verkürzung der Arbeitszeiten eingefordert: Wenn schon Teilzeitarbeit als Konjunkturstütze, dann Teilzeitarbeit für alle mit der Perspektive, das Zeitbudget gerecht und nach menschlichem Maß aufzuteilen: »Einmal in Bewegung gekommen, können sich alle daran setzen, sich einen neuen Arbeitstag auszuprobieren. Wie wäre es, wenn man in der herkömmlichen Erwerbsarbeit nur mehr vier Stunden zubrächte und über die freigewordene Zeit selbst verfügen könnte, statt andere einseitige Verfügung zuzulassen. Das Leben ist mehr als Erwerbsarbeit – ihre Bedeutung gehört abgewertet. Das Miteinander, die Aufeinander-Angewiesenheit braucht unbedingt mehr Zeit – nennen wir sie Zeit für Kinder, Alte, Nächste, Freunde und für alles Lebendige um uns, das mehr und mehr verkommt. Dass wir das nicht so ohne Weiteres verschieben können, stößt auf die politökonomische Grenze der Kapitalverhältnisse – noch lassen sich größere Profite erringen, wenn weniger Menschen länger arbeiten, und ihre Leben ganz den Kompetenzen, die es auch zum Profitmachen braucht, verschreiben« (Haug 2009). Von einem Modell, wie es von Nancy Fraser oder Frigga Haug entworfen worden ist, sind wir in Deutschland weit entfernt. Wie ein Blick auf die aktuelle Zeitbudgetstudie 2002/03 zeigt, brauchen Männer und Frauen zwar ähnlich viel Zeit für Schlafen, Essen und Körperpflege oder Kontakte und Unterhaltung. Signifikante Unterschiede gibt es aber in Bezug auf unbezahlte und bezahlte Arbeit. Frauen verrichten im Durchschnitt sechs Stunden mehr unbezahlte Arbeit als Männer und gleichzeitig sechs Stunden weniger Erwerbsarbeit/Weiterbildung. Frauen arbeiten pro Woche im Durchschnitt 43 Stunden, überwiegend unbezahlt. Männer arbeiten insgesamt im Durchschnitt 42 Stunden pro Woche, überwiegend bezahlt. Wenn man das Nettoeinkommen einer Hauswirtschafterin mit einem Stundenlohn von 7 Euro zugrunde legt, betrug nach den Berechnungen der Zeitbudgetstudie der Gesamtwert der unbezahlten Produktion im Haushalt, im Jahr 2001 1121 Mrd. Euro.

»Das Leben ist mehr als Erwerbsarbeit – ihre Bedeutung gehört abgewertet«

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Kultur

»Ich bin kein Reformer«

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Kultur

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Brave New Films/Flickr.com

In Michael Moores neuen Film geht es um das große Ganze: den Kapitalismus. Warum, erzählt der Filmemacher im Gespräch mit Amy Goodman


Michael Moore ist ein US-amerikanischer Filmregisseur und Autor. Populär wurde er hierzulande vor allem durch seinen Film »Bowling for Columbine«. Sein neuestes Werk »Kapitalismus: eine Liebesgeschichte« läuft seit dem 12. November in den Kinos.

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chen nur ein paar Regeln. Schaffen wir nicht den Kapitalismus ab, nur ein paar Regeln, und dann kriegen wir alles wieder auf die Reihe.« Die haben natürlich gar keine Absicht, so etwas zu tun, und die Finanzwirtschaft hat das ganze letzte Jahr über Lobbyarbeit betrieben, damit man sie in Ruhe lässt und sie weiter ihre wahnwitzigen Geschäfte betreiben kann. Zudem wollte ich eine filmische Erklärung dafür geben, was genau vor einem Jahr passiert ist und was dazu geführt hat. Ich glaube, eine Menge Leute, mich selbst eingeschlossen, sind keine Ökonomen. Wir hören diese Fachbegriffe und verstehen nicht, was sie bedeuten – Derivate, Credit Default Swaps und das alles. Ich dachte mir: Wetten, dass man diese Geschichte so erzählen kann, dass jeder sofort versteht, was für ein Raubzug da stattgefunden hat. Und außerdem wollte ich tun, was wahrscheinlich alle Filmemacher versuchen: Ich erkenne an, dass ich meine Zuschauer darum bitte, am Freitag- oder Samstagabend ihr Haus zu verlassen, einen Babysitter anzustellen, zum Kino zu fahren, Geld für die Karten auszugeben, absurde Summen für Popcorn und Soft Drinks auszugeben und dann mit 200 Fremden im Dunkeln zu sitzen. Ich will wirklich, dass sie am Ende dieser zwei Stunden aus dem Kino kommen und zu ihrer Begleitung sagen: »Da haben wir zwei gute Stunden verbracht.

www.capitalismalovestory.com

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ichael, warum jetzt »Kapitalismus: eine Liebesgeschichte«? Nun, ich mach seit rund zwanzig Jahren Filme. Und es scheint mir, als ob alle Filme, die ich gemacht habe – von »Roger & Me« bis »Sicko« – sich immer wieder um dasselbe Problem drehen: nämlich das Wirtschaftssystem, das wir haben. Es ist ungerecht, undemokratisch und hat anscheinend keinerlei ethisches Zentrum. Ich schätze, ich könnte die nächsten zwanzig Jahre weiter Filme über das nächste General Motors oder die nächste Krise des Gesundheitssystems machen. Aber ich dachte, ich komme diesmal gleich zum Kern und schlage vor, dass wir uns mit diesem Wirtschaftssystem beschäftigen und versuchen, es so umzustrukturieren, dass es allen Menschen nutzt und nicht nur dem reichsten einen Prozent. Ich habe mit diesem Film verschiedene Dinge versucht – zum Beispiel dieses System frontal anzugreifen. Ich bin kein Reformer. Ich warte nicht darauf, dass der Kongress ein paar neue Regeln verabschiedet. Nebenbei bemerkt ist ein Jahr seit dem Crash vergangen und sie haben nicht eine der Regeln beschlossen, die sie angekündigt hatten. »Wir brau-


Ich habe etwas gelernt. Ich habe mich schlapp gelacht. Ich habe geweint.« Hättest du, als du mit den Recherchen zu deinem Film begonnen hast, erwartet, dass es so schlimm kommen würde? Hmm. Ja, ich hab mit diesem Film rund ein halbes Jahr vor dem Crash angefangen. Wie andere Leute, die sich ansahen, was an der Wall Street abging, dachte ich: Da ist ein Kartenhaus errichtet worden, um für die Investorenklasse die Illusion von Wohlstand zu schaffen. Ich hatte das Gefühl, als seien wir nicht weit entfernt von einem Desaster. Ich wusste nicht, was passieren würde, aber ich dachte, das wäre wohl ein hervorragender Zeitpunkt, um mit diesem Film anzufangen. Noch vor dem Crash – im August – passierte etwas. In den USA benutzen wir in alltäglichen Unterhaltungen Worte wie »Kapitalismus« oder »Sozialismus« nicht. Das sind sozusagen nicht-existente Wörter in der Öffentlichkeit. Und dann spaziert Barack Obama im August 2008 durch einen Vorort und trifft diesen Typen auf der Straße. Obama unterhält sich mit ihm und sagt zu ihm, dass er es gut fände, den Reichtum zu verteilen, was natürlich die Kernidee des Sozialismus ist. Und sofort griffen die Republikaner, die ja nicht blöde sind, diese Bemerkung auf und fingen an, ihn einen Sozialisten zu nennen – »Sozialist, Sozialist, Sozialist«. Wow, ich habe diesen Wort seit Langem nicht mehr so häufig gehört. Das war zum Teil wirklich amüsant. Aber kaum einen Monat später findet der Crash statt. Und was macht Präsident George Bush? Er tritt mehrmals im Fernsehen auf. Er fängt an, Reden über den Kapitalismus zu halten. Weißt du, ich frage mich jetzt, wann in meinem Leben habe ich je einen Präsidenten der Vereinigten Staaten dieses Wort in den Mund nehmen hören? Ich hab wirklich gestaunt. Da dachte ich mir, wir sollten diese Gelegenheit ergreifen, dass es nun in Ordnung ist, diese Worte in der Öffentlichkeit zu äußern. Sie zählen nicht mehr zu den »beängstigenden« Wörtern, und sie sind nicht mehr so mit anderen Sachen überladen wie früher. Heute kann ich wirklich den Finger in die Wunde legen. Aber, weißt du, wenn ich vor zwei, drei, vier, fünf Jahren in eine Talkshow gegangen wäre und angefangen hätte, so zu reden, hätten die mich angesehen, als ob ich verrückt wäre. »Warum tun Sie das?« Das alles hat mir auf seltsame Weise erlaubt, diesen Film zu machen – und uns allen, diese Diskussion zu führen. Ich glaube, dass dieses Wirtschaftssystem, das wir haben, ein bösartiges System ist. Ich glaube wirklich, dass es im Kern dazu entworfen ist, Menschen Schaden zuzufügen. Es ist kein Zufall, dass das passiert, denn der Kapitalismus ist auf seine eigene Art ein Betrugssystem wie die Schneeballanlagebetrügereien der letzten Jahre. Wir reden sehr viel von Bernard Madoff (ehemaliger Finanzmakler, wurde im Som-

mer wegen Betruges zu 150 Jahren Haft verurteilt, Anm. d. Red.), der reiche Anleger um Milliarden betrogen hat. Ich schätze, er ist ein dankbares Thema und lenkt schön vom eigentlichen Problem ab. Aber tatsächlich ist der Kapitalismus und zwar besonders der Kapitalismus, wie wir ihn heute kennen, eine Art Schneeballsystem. Er ist so aufgebaut, dass die reichsten ein Prozent an der Spitze der Pyramide sitzen. Ihre Aufgabe besteht darin, alle anderen in der Pyramide, all die Arbeiterbienen, davon zu überzeugen, dass auch sie eines Tages an der Spitze der Pyramide sitzen können – obwohl sie genau wissen, dass nur sehr wenige Leute da oben Platz haben können. »Wenn du genug Amway-Aktien kaufst, kannst du hier zu uns hoch kommen.« Nein, so funktioniert das aber nicht. Aber es hat eine lange Zeit lang funktioniert, weil eine Menge einfacher Amerikaner daran glaubten, dass sie eines Tages auch reich sein könnten. Ich hatte das Gefühl, dass es Zeit sei, diese Lüge anzugreifen, sie beim Namen zu nennen und keine Angst davor zu haben, dass sie mich beschimpfen würden. Aber weißt du, ich werde diesen Spießrutenlauf mitmachen, denn ich bin’s einfach leid, ich hab’s wirklich satt, um den heißen Brei zu reden und mich bloß mit den Symptomen oder dieser oder jener Katastrophe zu beschäftigen, die der Kapitalismus verursacht hat. Ich könnte das wahrscheinlich für den Rest meines Lebens machen, aber ich glaube, nichts wird sich dadurch großartig verändern. Ich möchte aber gerne noch in meinem Leben Veränderungen erleben. Also habe ich diesen Film gemacht, um eine Debatte anzustoßen und diese Leute aufzuhalten, die nur ein paar Ecken entfernt von uns sitzen und sich in diesem Moment wahrscheinlich Gedanken darüber machen, was sie morgen tun werden, um das Leben von Millionen Menschen elend zu machen. Du hast offensichtlich eine Menge zusammengetragen, um den Kapitalismus zu verurteilen. Aber Kritiker könnten behaupten, der Film hat nicht viel zu bieten, wenn es um eine Alternative geht. Nun, ich mache in dem Film deutlich, dass ich kein Wirtschaftswissenschaftler bin. Aber eine Alternative zu schaffen – eine Wirtschaftsordnung für das 21. Jahrhundert – ist wirklich unsere dringlichste Aufgabe. Wir müssen aufhören, das Wirtschaftssystem aus dem 16. Jahrhundert gegen das Wirtschaftssystem aus dem 19. Jahrhundert zu stellen. Wir leben im 21. Jahrhundert. Wir stehen vor einer ganzen Reihe neuer Aufgaben und Probleme. Können wir denn kein Wirtschaftssystem etablieren, das auf diesen zwei Fundamenten ruht: dass es demokratisch verwaltet wird und dass es nach ethischen und moralischen Grundsätzen funktioniert? Also, was auch immer wir errichten, für mich persönlich müsste es diese beiden Grundpfeiler haben. www.marx21.de | Winter 2009/10 | Nr. 13

HINTERGRUND Bei dem hier dokumentierten Text handelt es sich um die stark gekürzte Version eines Interviews des US-amerikanischen Politikmagazins Democracy Now (der Originaltext unter democracynow. org). Aus dem Englischen von David Meienreis.

Kultur

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Kultur

Widerstand im Römerland Asterix wird 50. Marcel Bois lässt das bewegte Leben des kleinen Galliers Revue passieren

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Marcel Bois ist Redakteur von marx21. Er hat Asterix zum ersten Mal »gelesen«, als er noch gar nicht lesen konnte.

ir befinden uns im Jahr ’59. Frankreich ist nicht mehr von den Nazis besetzt. Und eine von unbeugsamen Comiczeichnern betriebene Zeitschrift beginnt gerade damit, dem Zeitgeist Widerstand zu leisten. Die Zeitschrift heißt Pilote. Deren Redakteure möchten einen Gegenpol zu den Film- und ComicHelden ihrer Zeit schaffen. Der Zeichner Albert Uderzo erinnert sich: »Wir wollten etwas typisch Französisches machen, weil wir damals in einer Zeit lebten, die komplett von den Comics und den Zeichnungen der Amerikaner beherrscht wurde.« Gemeinsam mit dem begnadeten Texter René Goscinny erfindet er zwei ungleiche Helden, ein paar Krieger, ein befestigtes Dorf und siedelt das Geschehen im Frankreich der Antike an. Die Geschichte von Asterix, dem unbeugsamen Gallier, ist geboren. Am 29. Oktober 1959 erscheint in der ersten Ausgabe von Pilote ein erster kurzer Strip. »Ich wollte einen Antihelden«, erzählte Goscinny später, »einen kleinen Kerl. Asterix sollte ein Knirps sein, so wahrnehmbar wie ein Satzzeichen. Es war mir wichtig, dass diese Figur in sich drollig war.« Die Abenteuer von Asterix und seinem ständigen Begleiter Obelix schlagen ein wie eine Bombe – erst

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in Frankreich, dann auch im Ausland. Von den ersten 33 Bänden werden weltweit über 300 Millionen Exemplare verkauft. Die Geschichten sind mittlerweile in 108 Sprachen und Dialekte übersetzt worden. Acht Trick- und drei Realfilme sind bislang in die Kinos gekommen. Der »Parc Astérix« nahe Paris lockt jährlich etwa 1,7 Millionen Besucher. So eindeutig die Zuneigung der Leser ist, so umstritten ist die Rezeption der Comics. »Stockkonservativ« und »chauvinistisch« seien die beiden Zeichner, so Kritiker. Die widerspenstigen Gallier wären ein Sinnbild für den französischen Kulturprotektionismus. Ein »reaktionär-gewaltverherrlichendes Weltbild« würden die Asterix-Comics wiedergeben, sagen andere. Die Kritik kam durchaus auch aus den eigenen Reihen. Im Mai 1968 wurde Chefredakteur Goscinny von seinen Mitarbeitern aus dem Redaktionsgebäude der Pilote gejagt, weil er ihnen zu bürgerlich war. Andere wiederum feiern Asterix als frühen Helden des anti-imperialistischen Widerstands. »1968, als der erste Band in Deutsch erschienen ist, war das wirklich im besten Sinne Zeitgeist«, sagt Michael Walz, der für die deutsche Ausgabe zuständig ist. »Das war die Zeit, als in Frankreich die jungen Leute auf die Straße gegangen sind, also zu der die ›Gallier‹ die Großen herausgefordert haben. Das hat viele gerade aus der intellektuellen Jugend in Deutschland sehr interessiert und das hat sich bis heute gehalten.« Auch die außerparlamentarischen Bewegungen der siebziger und achtziger Jahre begeisterten sich für den kleinen Gallier. In dieser Zeit entstanden Plagiate, in denen Bilder verschiedener Originalausgaben zu neuen Geschichten zusammenmontiert wurden. So will beispielsweise in »Asterix und das Atomkraftwerk« Julius

Nr. 13 | Winter 2009/10 | www.marx21.de ©2009 Les Éditions Albert René/Goscinny–Uderzo


Tatsächlich ist Widerstand ein immer wiederkehrendes Motiv auch in den original Asterix-Geschichten. Die Gallier, die dank des vom Druiden Miraculix gebrauten Zaubertranks über übermenschliche Kräfte verfügen, nehmen es ein ums andere mal mit der römischen Besatzungsmacht auf. Uderzo sieht hier einen wichtigen Grund für den Erfolg seiner Serie. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung erklärte er: »Ich finde, dass alle Menschen, die Deutschen, die Franzosen, die Engländer, immer eine Macht über sich haben, die sie ärgert. Die Polizei, die Regierung, die Menschen, die uns leiten. Und deshalb möchte man so sein wie Asterix. Asterix ist der Kleine, der sich von alledem befreit. (…) Man kann klein sein und trotzdem stark.« Die Ähnlichkeiten der Gallier zur französischen Résistance sind dabei durchaus gewollt. Der Einmarsch der Römer im ersten Band (»Asterix der Gallier«) erinnert in seiner Ästhetik bewusst an die Zeit der Nazi-Besatzung, wie Goscinny erklärte: »Man sieht nichts außer ihren Beinen, wie in den Wochenschau-Aufnahmen, die zeigen, wie die Deutschen in Frankreich einmarschierten.« Er selber, dessen Großvater ein polnischer Rabbiner war, überlebte die Judenverfolgung der Nazis nur, weil die Familie nach seiner Geburt nach Argentinien ausgewandert war. Vermutlich erklärt das auch, weshalb Asterix’ östliche Nachbarn nicht besonders gut wegkommen. Während Schweizer, Belgier oder Briten den Galliern stets freundschaftlich begegnen, erscheinen die Goten (als Abbild der Deutschen) als grausame Militaristen mit preußischer Pickelhaube, deren Sprechblasentexte in Frakturschrift gehalten sind. Dies haben konservativen Kreise in Deutschland den beiden Asterix-Schöpfern bis heute nicht verziehen, obwohl der entsprechende Band aus dem Jahr 1963 stammt und dementsprechend das damalige Deutschland-Bild vieler Franzosen widerspiegelt.

steht die Figur Augenblix, romfreundlicher Häuptling eines Nachbardorfes, symbolisch für die französischen Kollaborateure während des Zweiten Weltkriegs. Zu tagespolitischen Entscheidungen nahmen Goscinny und Uderzo hingegen in »Die Trabantenstadt« Stellung. In diesem Band kritisierten sie die seinerzeit von den Pariser Stadtplanern gebauten Satellitenstädte. Und wenn Asterix und Obelix in »Die Odysee« nach Mesopotamien aufbrechen, um ihrem Druiden das dringend benötigte Steinöl zu besorgen, dann ist der Verweis auf die in den Jahren vor Erscheinen des Bandes eskalierte Ölkrise nicht zu übersehen. 1977 verstarb Texter Goscinny mit gerade einmal 51 Jah­ren. Uderzo entwickelt seitdem alleinverantwortlich die Geschichten, die mit den Jahren deutlich schwächer geworden sind. Das erkennt er auch selbst: »Viele sagen, dass ich nicht die Qualität von Goscinnys Szenarios erreiche. Und das ist wahr.« Der Zeichner versucht dieses Manko wohl durch intensive Vermarktung zu kompensieren. Seine Tochter, mit der er sich überworfen hat, beschuldigt ihn, Asterix seinen ärgsten Feinden auszuliefern: »den Männern der Industrie, der Finanzwirtschaft«. Und tatsächlich gerät der 50. Geburtstag zu einem Marketingspektakel sondergleichen: Die französische Luftwaffe malt das Asterix-Konterfei mit Kondensstreifen an den Himmel, in einem Pariser Museum wird eine Sonderausstellung eröffnet und eine Asterix-Briefmarke soll gedruckt werden. Ein neuer Band ist auch erschienen. Die Welt schrieb treffend: »Schon der Vorgänger ›Gallien in Gefahr‹ (2005) war ein Desaster. Doch auch zum 50. Geburtstag tun sich Asterix und Obelix mit ihrem neuen Band keinen Gefallen. Darin tritt ihr gealterter Zeichner Albert Uderzo höchstselbst auf – und wird verprügelt. Es ist eine der wenigen gelungenen Szenen.« Doch auch das schwächere Alterswerk von Uderzo kann dem Widerstand der Gallier nichts anhaben. Da müsste ihnen schon der Himmel auf den Kopf fallen.

★ ★★ Weiterlesen

Ende Oktober ist der 34. Asterix-Band erschienen: Asterix & Obelix feiern Geburtstag. Das goldene Buch (Egmont Ehapa Verlag 2009).

©2009 Les Éditions Albert René/Goscinny–Uderzo

Caesar einen Brutus Rapidus (»schnellen Brüter«) an die Stelle des gallischen Dorfs bauen. In weiteren Heften wie »Asterix im Hüttendorf« und »Asterix in Bombenstimmung« werden der Bau der Startbahn West und das Thema Nachrüstung behandelt.

Überhaupt spielen zeitgenössische oder vergangene Gesellschaftsentwicklungen eine wichtige Rolle in fast allen Bänden. Nicht umsonst bezeichnete der Politologe Alfred Grosser die Comic-Serie als das bedeutendste politische Werk der französischen Nachkriegsgeschichte. In »Asterix als Legionär« wird die französische Fremdenlegion aufs Korn genommen, bei »Asterix in Spanien« der moderne Massentourismus persifliert und in »Asterix bei den Olympischen Spielen« Doping thematisiert. In »Kampf der Häuptlinge« www.marx21.de | Winter 2009/10 | Nr. 13

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Die Geschichte hinter dem Song

Mercedes Sosa: »Solo le pide a Dios« Von Yaak Pabst

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m Sommer 1982 tritt Mercedes Sosa im ausverkauften Opernhaus von Buenos Aires auf. Die Zuschauer jubeln begeistert, als sie den Song »Solo le pide a Dios« anstimmt. Ihr Anti-Kriegs-Lied ist eine Protesthymne gegen die Militärdiktatur.

Yaak Pabst ist Politologe und Redakteur von marx21.

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Geschichte des Songs

Im Frühjahr 1976 kehrt die dunkle Zeit nach Argentinien zurück. Am 24. März putscht sich das Militär an die Macht. General Jorge Rafael Videla übernimmt als Chef der Junta das Amt des Staatspräsidenten. Schon wenige Tage nach der Machtübernahme wird klar, dass diese Militärregierung gefährlicher ist als alle anderen, die Argentinien in seiner Geschichte zuvor schon erlebte: Die Generäle wollen die starke linke Opposition physisch vernichten. Hunderttausende protestieren in den Jahren zuvor auf den Straßen des achtgrößten Staates der Erde. Sie streiten für niedrigere Essenspreise, kämpfen für bessere Bildung und streiken für höhere Löhne. Die radikalen Flügel der Bewegung organisieren sich in revolutionären Organisationen. Die Bewegung griff von den Studierenden auf die Arbeiter über – das Land schien für die Herrschenden »unregierbar«. Die Machteliten wollen »Ruhe im Land« und fordern die »Wiederherstellung der alten Ordnung« – egal wie. General Luciano Benjamín Menéndez droht unmittelbar vor dem Putsch: »Wir werden 50.000 Menschen töten müssen: 25.000 Subversive, 20.000 Sympathisanten, und wir werden 5000 Fehler machen«. In den nächsten sieben Jahren folgen den harschen Worten schreckliche Taten. Zehntausende werden ohne Haftbefehl verschleppt, jahrelang ohne Prozess festgehalten, gefoltert und ermordet. Die perfideste Methode der Sicherheitskräfte ist das »Verschwinden lassen«: Linke, Gewerkschafter, Künstler, Studierende werden auf offener Straße oder aus ihren Häusern entführt und ermordet. Dann werden sie an geheimen Orten in Massengräbern verscharrt oder von Flugzeugen aus in den Rio de la Plata geworfen. Laut offiziellen Angaben erlitten fast 9000 Menschen dieses Schicksal. Menschenrechtsorganisationen schätzen die Zahl der »Verschwundenen« auf 30.000. Nr. 13 | Winter 2009/10 | www.marx21.de

Aber es finden nicht nur Massenmorde statt. Die Militärregierung und die Unternehmer organisieren den größten Sozialabbau der argentinischen Geschichte. Die Militärjunta formuliert in ihrem Wirtschaftsprogramm jene Vorstellungen, die später unter dem Begriff »Neoliberalismus« weltweit zur Wirtschaftsdoktrin werden. Gerade erkämpfte Lohnerhöhungen werden wieder beseitigt, öffentliche Betriebe privatisiert und Hunderttausende entlassen. Gleichzeitig rüsten die Generäle die Armee auf und drohen Chile mit einem Krieg um ein paar kleine Inseln im Beagle-Kanal. Trotz allem findet 1978 die Fußballweltmeisterschaft in Argentinien statt. In seiner Eröffnungsansprache erklärt General Videla: »Willkommen in diesem Land des Friedens, der Freiheit und der Gerechtigkeit!« Im selben Jahr veröffentlicht der junge Muisker León Gieco seine Platte »IV«. Das erste Lied auf der LP spricht aus, was viele in Argentinien denken. »Solo le pido a Dios» ist eine Anklage gegen die Brutalität der Putschisten und eindringlicher Aufruf sich nicht einschüchtern zu lassen. Sólo le pido a Dios / que el dolor no me sea indiferente, / que la reseca muerte no me encuentre / vacío y solo sin haber hecho lo suficiente. Nur das Eine erbitte ich von Gott / dass das Leiden mich nicht gleichgültig lässt, / dass der bleiche Tod mich nicht findet, / leer und einsam bevor ich nicht genügend tun konnte Sólo le pido a Dios / que lo injusto no me sea indiferente, / que no me abofeteen la otra mejilla / después que una garra me arañó esta suerte. Nur das Eine erbitte ich von Gott / dass die Ungerechtigkeit mich nicht gleichgültig lässt, / dass sie mich nicht auf die andere Wange schlagen, / nachdem ihre Klauen mich zum Glück nur gekratzt haben. Sólo le pido a Dios / que la guerra no me sea indiferente, / es un monstruo grande y pisa fuerte / toda la pobre inocencia de la gente.


rafa59(II)/Flickr.com

Nur das Eine erbitte ich von Gott / dass der Krieg mich nicht gleichgültig lässt, / dieses Furcht erregende Monstrum, / das die Unschuldigen gnadenlos zertrampelt. Sólo le pido a Dios / que el engaño no me sea indiferente / si un traidor puede más que unos cuantos, / que esos cuantos no lo olviden fácilmente. Nur das Eine erbitte ich von Gott / dass der Betrug mich nicht gleichgültig lässt, / falls ein treuloser Verräter an der gerechten Sache mehr erreicht als die Wenigen, / und dass diese Wenigen nicht so leicht vergessen. Sólo le pido a Dios / que el futuro no me sea indiferente, / desahuciado está el que tiene que marchar / a vivir una cultura diferente. Nur das Eine erbitte ich von Gott / dass die Zukunft mich nicht gleichgültig lässt, / und dass ich auch die nicht aufgebe, dass ich auch an die denke, / die sich aufgemacht haben, weil sie anders leben wollen. / Als León Gieco den Song in seinem Exil in Los Angeles 1978 komponiert, ist Mercedes Sosa bereits eine Berühmtheit – nicht nur in Argentinien. Sie selbst schreibt keine Lieder. Sie macht keinen Hehl daraus, dass sie ein unbändiges Vergnügen am Singen hat. Die richtigen Songs dafür findet sie bei den unterschiedlichsten Liedermachern in ganz Lateinamerika. So auch bei León Gieco und seinem »Sólo le pido a Dios«. Die Junta versucht, auch Sosa

zum Schweigen zu bringen. 1979 wird sie bei einem Konzert mitsamt ihrem Publikum verhaftet. Aus Angst vor den Reaktionen der Öffentlichkeit im Inund Ausland wird sie nach einigen Stunden mit der Auflage freigelassen, das Land zu verlassen. Die Junta fürchtet die politische Folklore, weil es die Musik der Armen ist. Entstanden war die sogenannte Bewegung des »Neuen Lateinamerikanischen Liedes« in der Zeit, in der die kubanische Revolution die Jugend und die Intellektuellen auf dem ganzen Kontinent aufrüttelte. Abertausende strömten in den folgenden Jahren in die Konzerte der neuen Liedermacher, vor allem von Mercedes Sosa. Viele Songs lateinamerikanischer Liedermacher wurden erst populär, weil Mercedes Sosa sie sang. Die Menschen nannten sie wegen ihrer schwarzen Haare »La Negra«. Sie spielte für die Tagelöhner im Hafen von Buenos Aires, für die Männer und Frauen in den Fabriken und Schlachthöfen, für die Menschen in den Arbeitervierteln. Als sie 1982 erstmals wieder für ein Konzert nach Argentinien zurückkehrt, ist die Diktatur angeschlagen. Argentinien erlebte die bis dahin größte Wirtschaftskrise seiner Geschichte. Die Menschen verlieren langsam die Angst vor dem Terrorapparat, immer häufiger gibt es Demonstrationen und Streiks. Tausende singen mit ihr »Sólo le pido a Dios«. Als Mercedes Sosa zwei Jahre später, im Dezember 1984, erneut im Stadion Vélez in Buenos Aires auftritt, kann sie das Lied gemeinsam mit León Gieco anstimmen. Die Menschen feiern, denn die Diktatur ist Geschichte. www.marx21.de | Winter 2009/10 | Nr. 13

Hintergrund Mercedes Sosa war eine der erfolgreichsten Sängerinnen südamerikanischer Folklore. Sie ist am 4. Oktober im Alter von 74 Jahren in Buenos Aires verstorben.

Geschichte Des Songs

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Lesen, Hören, Sehen

Wirtschaftswahnsinn

ark Whitacre geht es prächtig. Er hat einen gut bezahlten Job, eine attraktive Frau und ein riesiges Anwesen samt Stallungen und Pferden. Er könnte rundum zufrieden sein. Aber der leitende Mitarbeiter eines globalen Agrarkonzerns will mehr: Er will ganz nach oben und Vorstandsvorsitzender werden. Außerdem will er, scheinbar, die illegalen Machenschaften und verbotenen Preisabsprachen seines Arbeit-

dessen Geschichte größtenteils wirklich passiert ist. Der graumausige Biomechaniker setzt ab 1992 eine Kette verwirrender Ereignisse in Gang, als er der US-amerikanischen Bundespolizei FBI steckt, seine Firma sei in illegale Machenschaften mit japanischen Konkurrenten verstrickt. Das FBI wittert fette Beute und heuert den geltungssüchtigen Spießbürger als verkabelten Maulwurf im Big Business an. Doch die Kommissare sollen an Whitacre keine Freude haben. Er verspricht zwar viel und verkabelt eine Menge Büros, aber handfeste Beweise liefert er nie. Stattdessen verstrickt sich der moderne Münchhausen in Widersprüche und Lügengespinste, weil er mit den Beschuldigungen gegen andere Manager nur seine eigenen Verbrechen verdecken will. Bald wissen we-

gebers nicht mehr mitmachen. Um in der Welt des Finanzkapitals zu überleben, musst du lügen und betrügen. Und wenn es auffliegt, musst du neue Lügen erfinden, um die alten zu vertuschen. »Ocean’s«-Regisseur Steven Soderbergh packt seine Kapitalismuskritik in eine schrille Farce über den seelischen Zustand von Top-Managern und die ganz normalen Verbrechen im Big Business. In der Hauptrolle glänzt Matt Damon (»Das Bourne-Ultimatum«), der für den Film extra 15 Kilo zugenommen hat. Er spielt Mark Whitacre, den Manager des Lebensmittelkonzerns ADM,

der Informant noch Polizei und schon gar nicht die Zuschauer, was Wahrheit ist und was Lüge. Man begleitet Whitacre, wie er japanischen Managern haufenweise Märchen auftischt, den Polizisten danach eine komplett andere Geschichte erzählt und für seine Frau wiederum eine dritte Variante bereithält. Das ist überwiegend amüsant, macht den Film aber teilweise ein wenig geschwätzig und hätte langweilig werden können, wenn Matt Damon nicht in fast jeder Szene im Mittelpunkt stände. Er spielt überzeugend den Biedermann als Brandstifter, der durch seine zeitlos lächerliche Brille

Der Informant Regie: Steven Soderbergh USA 2009 108 Minuten Kinostart: 5. November 2009

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Lesen, Hören, Sehen

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zwinkert und als sympathischer Psychopath endet: unsicher, durchtrieben und nach außen stets überzeugt, dass er am Schluss der strahlende Sieger sein wird. Obwohl die Figur des zwanghaften Lügners, der hoch fliegt und umso tiefer fällt, nicht wirklich neu ist, gelingt es Soderbergh, daraus eine Geschichte über die Funktionsweise der heutigen Marktwirtschaft zu machen. In seiner Wirtschaftsklamotte wirkt die Welt der Vorstände wie eine späte Folge der KapitalistenSoap »Dallas« mit rustikalem Rancher-Chic und pastellfarbenen Hotellobbys. Der Raubtierkapitalismus erscheint äußerlich wie ein Streichel-Zoo, wenn die speckige Hauptfigur als windiger Quasselkopf immer neue Sportwagen vor ihrem Kleinfamilienheim auffährt. (»Wir hatten acht Autos. Drei davon wurden niemals benutzt.«) Der Mann ist kein Bösewicht, kein Hai im Nadelstreifenanzug. Der Film handelt von einem Wirtschaftsverbrechen, bei dem Menschen auf der ganzen Welt um hunderte Millionen Euro betrogen werden. Doch für die Schuldigen ist es ihre tägliche Arbeit, die eben aus legalen und illegalen Geschäften besteht. Bis zum Schluss begreifen sie nicht, wie etwas falsch sein kann, dass ihnen mehrere Millionen aufs Konto gespült hat. Als einer der Polizisten das Ausmaß der Verbrechen der Lebensmittelkonzerne begreift, sagt er zu seinem Kollegen: »Jeder wird Opfer eines Wirtschaftsverbre-

chens, sobald er mit dem Frühstück fertig ist.« Selten hat einen diese bittere Wahrheit so zum Lachen gebracht. Hans Krause

Der R’n’B ist tot – es lebe der R’n’B

Message Soul. Politics & Soul in Black America 1998-2008 mit Anthony Hamilton, Me’Shell Ndegeocello, Amp Fiddler u.v.a. Trikont 2009

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as Foto zeigt eine farbige Frau und ein Auto. Welche Musik? Richtig: Rhythm and Blues, kurz R’n’B – der erfolgreiche Versuch der US-Musikindustrie, vermeintlich schwarze Musik an das vorwiegend weiße Massenpublikum zu verkaufen. Aber diese Frau steuert das Auto. Und sie ist angezogen. Kann das R’n’B sein? Die Münchener Plattenfirma Trikont hat ihrer Reihe interessanter Sampler ein neues Schmuckstück hinzugefügt: »Message Soul. Politics & Soul in Black America 1998-2008«. Die Zusammenstellung glänzt mit stilistischer Vielfalt und musikalischer Qualität. Sie bietet einen hervorragenden Einblick

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in zeitgenössische afroamerikanische Musik jenseits von Goldschmuck, operierten Brüsten und Luxusautos. Erykah Badu, die eingangs erwähnte Frau am Steuer, lässt in ihrem vom Hip Hop beeinflussten Stück »Twinkle« Pistolenschüsse knallen. Dazu erzählt sie, wie Gewalt durch Verschleppung, Sklaverei und Rassentrennung die afroamerikanische Geschichte von Anfang an geprägt hat. In »I am not my hair« begehrt India Arie im Duett mit R’n’B-Star Akon gegen Frauen erniedrigende Leitbilder in Musikindustrie und Gesellschaft auf. Jill Scott beschreibt in »Rasool« in realistischer Weise die Geschichte eines jugendlichen Dealers, ohne in Verherrlichung oder Anklage abzugleiten. Solche Stücke fanden sich in den sechziger und siebziger Jahren oft neben partytauglichen Titeln auf den Alben von Soulmusikern wie Marvin Gaye und Curtis Mayfield, die dem wachsenden schwarzen Selbstbewusstsein Ausdruck verliehen. Doch große Plattenfirmen erkannten in der neuen Musik schnell eine neue Geldquelle. Sie förderten schwarze Musiker, die sie an Weiße verkaufen konnten, sprich: die nicht über Rassismus sangen oder schwarzes Selbstbewusstsein feierten. Da der Genrebegriff »Soul« aber genau diese Inhalte verkörperte, verwendeten sie lieber ein anderes Etikett: »Rhythm and Blues«. Mit dem Niedergang der Bewegung ab Ende der siebziger Jahre verlor die Soulmusik an Resonanz. In den USA der achtziger Jahre lautete das Motto: »Greed is good« (Gier ist gut). Aus der Demonstration schwarzen Selbstbewusstseins wurde durch die Zurschaustellung grenzenlosen Reichtums im R’n’B immer öfter die symbolische Umarmung des Kapitalismus. Manche schwarze Musikproduzenten verdienten damit viel Geld und möchten ungern daran erinnert werden, dass die

Mehrheit der Afroamerikaner heute keinesfalls besser lebt als damals. Die legendäre Plattenfirma Motown beispielsweise kaufte 2002 die Rechte am gefeierten Debütalbum des Sängers Donnie, um es fünf Jahre lang in der Schublade liegen zu lassen. Dabei besingt er in seinem Stück »Classifieds« nichts anderes als Motown-Star Marvin Gaye 1971 in »Inner City Blues«: die zermürbende Perspektivlosigkeit vieler junger Schwarzer. Parallel zur Wiedergeburt des radikalen Amerika seit der erfolgreichen Blockade des WTO-Gipfels in Seattle 1999 hauchen junge afroamerikanische Soulmusiker dem scheintoten R’n’B neues Leben ein. Hinhören! Jan Maas

Meine Revolution

Hari Kunzru Revolution Karl Blessing Verlag, München 2008 415 Seiten, 19,95 Euro

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s ist mutig einem Roman den großen Titel »Revolution« zu geben. Das weckt Erwartungen. Der Autor, Hari Kunzru, wollte es eigentlich eine Nummer kleiner, der englische Originaltitel lautet »My Revolutions«. Erschienen ist das Buch pünktlich zum 40. Geburtstag der Studentenbewegung von 1968. Chris Carver wächst in einer Kleinstadt auf, im muffigen

England der 1950er und 1960er Jahre. Als Schüler schließt er sich der Friedensbewegung an, wird aktiv in der Campaign for Nuclear Disarmament (CND). In seinem Heimatort geht er von Tür zu Tür, verteilt Flugblätter gegen die atomare Bedrohung. Als er sich eines Tages am Mittagstisch zum Kommunismus bekennt, kommt es zum Bruch mit seiner kleinbürgerlich spießigen Familie. Doch bald zweifelt Chris an den Aktivitäten seiner Gruppe: »Die Bewegung hatte etwas Altertümliches an sich, etwas hoffnungslos Kultiviertes. In dem Jahr, als die Mods und die Rocker sich am Strand von Margate prügelten, hatten die CNDJugendgruppen oben auf dem Pier Eselreiten und ›gewaltfreies Kasperletheater‹ zu bieten. ›Brüllt keine Parolen während der Demonstration‹, lautete ein Ratschlag in einem unserer Flugblätter. ›Das hört sich hässlich an. Singt einfach, das klingt schön, und ihr fühlt Euch besser dabei.‹ Die Kriegsherren versuchten uns umzubringen, aber wir hatten fröhlich zu sein und unseren Abfall mit nach Hause zu nehmen: gute kleine Bürger, die nett darum bitten, nicht verstrahlt zu werden.« Voller Tatendrang zieht Chris zum Studium nach London, wo er sich der Vietnam Action Group anschließt: »Meine Freunde liebten Diskussionen. Sie redeten gern, und obwohl ich ein Regalbrett voll Marcuse und Marx hatte und den Jargon genauso beherrschte wie sie, kam mir ihr Gerede zunehmend uneffektiv vor, masturbatorisch. Bei Treffen und Teach-ins war ich der Erste, der aufstand und Aktionen forderte.« Auf Demonstrationen gegen den Krieg wird er von der Polizei verprügelt. Sogar im Gefängnis verbringt er einige Wochen. Diese Erfahrungen mit staatlicher Repression radikalisieren Chris. In der Hausbesetzerszene, in der er mittlerweile aktiv ist, kommt die Idee der Stadtguerilla auf.

Schnell verselbständigt sich der Prozess, der Höhepunkt ist ein Bombenanschlag auf den Post Office Tower. Zwei Jahrzehnte später ist aus Chris Carver Michael Frame geworden. Verheiratet mit Miranda, die erfolgreich Naturkosmetik vertreibt. Er hat sich eine bürgerliche Existenz geschaffen, samt BMW vor der Tür. Niemand weiß, dass er früher der militanten Linken angehört hat, nicht einmal Miranda. Doch dann holt ihn seine Vergangenheit ein... Mit vielen Zeitsprüngen erzählt Kunzru die Geschichte der Politisierung und Radikalisierung eines jungen Mannes durch die Schrecken des Vietnam-Krieges und die Reaktionen des britischen Staates auf die Proteste. Die Ungeduld seiner Hauptfigur wird zur Militanz, Chris will nicht auf die Arbeiterklasse warten, er will handeln. Kunzru schildert das nachvollziehbar und ohne moralischen Zeigefinger. Hari Kunzru ist erst 1969 geboren, aber die Darstellung der Demonstrationen, der Organisationen und des Lebensgefühls der ’68er-Bewergung sind so authentisch und exakt recherchiert und niedergeschrieben als sei er selbst dabei gewesen. Auch wenn einige Passagen zum Schmunzeln sind, macht sich Kunzru nie über die Bewegung lustig und schon gar nicht über ihre Anliegen – anders als viele andere zeitgenössische Autoren, die heute überheblich auf 1968 herabschauen. Zugleich verklärt Kunzru die Bewegung nicht, sondern schildert nachvollziehbar ihre Motive und ihre Widersprüche. Ein hochpolitisches Buch, spannend wie ein Thriller und in einer brillanten Sprache geschrieben. »Revolution« ist ein gutes Geschenk sowohl für Alt68er als auch für alle, die nicht dabei waren – eine Möglichkeit, in eine spannende Zeit einzutauchen. Janine Wissler

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Sozialismus, aber wie?

Prokla. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft Themenheft: »Sozialismus« Nr. 155, Juni 2009 172 Seiten, 12,00 Euro

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ozialismus ist die Alternative zum Kapitalismus. Das ist keine Verkündung und keine Offenbarung. Die Vorstellung, mit dem Fall der Mauer sei das Projekt des Sozialismus zu Ende, ist kurzsichtig und unhistorisch«, schreiben die Herausgeber im Editorial der vorliegenden Ausgabe der Zeitschrift Prokla. Diese widmet sich der Frage, wie eine sozialistische Alternative zum Kapitalismus aussehen könnte. Um einer Antwort näher zu kommen, setzen sich gleich mehrere Aufsätze mit den gescheiterten Modellen des »real existierenden Sozialismus« der ehemaligen Ostblockstaaten auseinander. Renate Hürtgen legt in einem spannenden Beitrag dar, wie die Arbeiter in den DDR-Betrieben der Linie der regierenden Partei unterworfen wurden. Am Beispiel des »Volkseigenen Betriebs« (VEB) macht sie deutlich, dass die Verstaatlichung der Wirtschaft keineswegs gleichzusetzen ist mit einer »Vergesellschaftung«, sprich Demokratisierung, der Produktion. Der Historiker Marcel van der Linden stellt marxistische Kritiker der Sowjetgesellschaft vor. Er teilt zwar nicht die Bezeichnung »Staatskapitalismus«, folgt aber ansonsten

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der Argumentation Tony Cliffs, dass die Rüstungs- und Weltmarktkonkurrenz mit den kapitalistischen Staaten wesentlich den Charakter der Sowjetunion als »Quasi-Klassengesellschaft« prägten. Raul Zelik vertritt in seinem Beitrag die These, dass die Planwirtschaft der ehemaligen Ostblockstaaten weniger effektiv war als der Markt. Ein zukunftsfähiger Sozialismus bräuchte demnach weniger zentrale Planung und die Ergänzung einiger Marktelemente. Dem widerspricht Katharina Götsch, die sich kritisch mit Konzeptionen des »Marktsozialismus« auseinandersetzt. Diese wurden theoretisch von vielen westlichen Linken nach dem Zusammenbruch des Ostblocks vertreten und praktisch bereits zuvor zum Beispiel im ehemaligen Jugoslawien erprobt. Götsch legt dar, warum Markt und Sozialismus im Kern unvereinbar sind. Ein weiterer Beitrag zeigt auf, wie wenig der Sozialismusbegriff von Karl Marx selbst mit Staatsfixierung, Bevormundung der Arbeiterklasse oder »Gleichmacherei« gemeinsam hat. Der Historiker Ralf Hoffrogge illustriert anhand der deutschen Arbeiterbewegung von 1848 bis 1920, inwiefern die Marxschen Vorstellungen dort praktisch zum Tragen kamen. Spannend wird es, wenn Hoffrogge beschreibt, wie der Reformismus der SPD zur Unterstützung des Ersten Weltkrieges führte und sich mit der revolutionären Bewegung von Arbeiter- und Soldatenräten zur Beendigung des Krieges eine neue Strömung Bahn brach. Alex Demirovic greift die Erfahrungen der Rätebewegung auf und untersucht, inwiefern deren Modelle anderen Demokratiekonzeptionen überlegen sind. Die historischen Rätemodelle seien oft zentriert auf die betrieblichen, bzw. Produktionsebenen. Daneben müssten auch direkt-demokratische Entscheidungsformen für die kommuna-

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le oder regionale Ebene geschaffen werden, um eine umfassende kollektive Selbstverwaltung herzustellen. Zusammenfassend ist diese Ausgabe der Prokla sehr zu empfehlen. Zwar verortet sich das Journal nicht in den strategischen Debatten der LINKEN, aber es bietet diesmal eine wahre Fundgrube an grundsätzlichen theoretischen Argumenten für einen kämpferischemanzipatorischen Sozialismus von unten. Michael Ferschke

Mehr Mut zum Detail

Luxemburg – Gesellschaftsanalyse und linke Praxis

lich rauszuholen ist, zeigt der Beitrag von Michael Brie (»Sind wir Auto?«). Flott geschrieben nimmt der Autor den Leser mit auf die Reise – von der Abwrackprämie über Entfremdung und Klimakatastrophe hin zur Vision einer autofreien Welt. Brie hat Spaß und gibt Gas, das merkt man dem vergnüglich zu lesenden Artikel an. Nett auch die nebenstehenden Werbeslogans diverser großer Autofirmen, die in diesem Kontext besonders blöd klingen. Vorangestellt ist dem Artikel eine Arbeit der Fotografin Rabea Eipperle: Elf Männer posieren nackt vor ihren Autos. Eine Spitzenidee, die Fotostrecke öffnet den Kopf für den folgenden Artikel und bringt den Leser zum Nachdenken über das Verhältnis Mensch-Auto. Ebenfalls sehr gelungen ist der letzte Text des Heftes, ein Nachruf auf Helmut Steiner, seines Zeichens Soziologe und Gründer der Utopie kreativ. Wenn jemand (wie der Rezensent), der von Helmut Steiner noch nie etwas gehört hat, nach Lektüre des Nachrufs ein Gefühl Anzeige

Themenschwerpunkt: In der Krise Nr. 1, September 2009 192 Seiten, 10,00 Euro

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eine Angst vor großen Namen: Luxemburg heißt sie, die neue Zeitschrift der RosaLuxemburg-Stiftung, Nachfolgerin der letztes Jahr beerdigten Utopie kreativ. Schwer liegt der Band in der Hand, auf fast 200 Seiten will die Redaktion »Gesellschaftsanalysen und linke Praxis zusammenbringen«. Der erste Eindruck beim Durchblättern ist gut: Ein luftiges Layout mit viel Platz zwischen und neben den Zeilen, ab und an aufgepeppt mit Zwischenüberschriften, Bildern und schönen Infografiken. Das Blatt signalisiert: Lies mich, ich bin nicht zum Staubfangen da. Was aus diesem Format inhalt-

Portal für linke Wissenschaft und Politik ak - analyse & kritik | alaska | an.schläge | Ansprüche | arranca! | AUSDRUCK | Bildpunkt | Blätter für deutsche und internationale Politik | Das Argument | Das Blättchen | express | Fantômas | Forum Recht | FORUM Wissenschaft | GID - Der Gen-ethische Informationsdienst | Graswurzelrevolution | grundrisse | Initial Berliner Debatte | isw - sozial-ökologische wirtschaftsforschung | iz3w - Info.zentrum 3. Welt | Kurswechsel | marx21 | Marxistische Blätter | Ossietzky | PERIPHERIE | prager frühling | PROKLA | SoZ - Sozialistische Zeitung | Sozialismus | spw - sozialistische Politik und Wirtschaft | sul serio | tendenz | utopia | UTOPIEkreativ | ver.di Perspektiven | W&F Wissenschaft & Frieden | Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung

http://www.linksnet.de Eine menschliche, nachhaltige und soziale Politik verwirklichen.

Eine andere Politik ist machbar!


von Verlust hat, dann hat der Autor alles richtig gemacht. Der Nachruf schlägt Brücken: Er stellt dar, wie Leute, die in der DDR eine linke Kritik am System gehabt haben, nach der Wende auch vom westlichen Wissenschaftsbetrieb ignoriert wurden. Eingestreute Anekdoten bringen einem den Menschen und Sozialisten Steiner näher. Solche Texte, ganz hinten im Heft versteckt, zeigen, wie linke Analyse und Publizistik aussehen kann: Scharf, überraschend, tief und doch zugänglich. Leider ist nicht sicher, dass jeder Leser bei diesen Texten ankommt. Denn davor liegen die Mühen der Ebene – in Form des HeftSchwerpunktes: »In der Krise«. Das Thema macht Sinn und es ist auch sicherlich vertretbar, drei Viertel des Heftes darum kreisen zu lassen. Doch dann muss die Redaktion dafür Sorge tragen, dass immer wieder ein neuer Blickwinkel gefunden wird, eine andere überraschende Perspektive. Dem ist leider nicht so. Spätestens nach dem fünften Beitrag stellt sich das Gefühl ein, ähnliches im Heft schon vorher gelesen zu haben, zumal die Textanfänge oftmals fast wortgleich sind. Zudem sind die Artikel fast immer aus der Vogelperspektive geschrieben, als Draufsicht auf »das System« und »die Linke«. Die Menschen – als Betroffene der Krise, als sich gegen die Krisenfolgen Auflehnende – bleiben blass hinter dem Schleier struktureller Systemkritik. Das ist schade, denn einige Beiträge wie das Interview mit dem kürzlich verstorbenen Giovanni Arrighi zu China sind durchaus anregend, auch, wenn man seine Thesen nicht teilt. Hätte die Redaktion dem Interview noch eine Reportage beigestellt, zum Beispiel über Proteste oder die soziale Lage der chinesischen Arbeiter, dann hätte sich ein runderes Bild ergeben. Mehr Mut zum Detail; das Große auch mal aus dem Kleinen entwickeln; weniger, zugespitztere Beiträge, dafür

eine größere Themenvielfalt – das würde der großen Namensgeberin des Magazins sicherlich gefallen. Nichtsdestotrotz: Luxemburg ist ein vielversprechendes Projekt mit großem Potential. Die Redaktion marx21 wünscht alles Gute auf dem weiteren Weg und hofft auf eine fruchtbare Zusammenarbeit. Stefan Bornost

Besser als die Hölle

Jonathan Neale Der Afghanistankrieg. Eine Kritik der Besatzung und Perspektiven für den Frieden Edition Aurora, Frankfurt 2008 40 Seiten, 3,00 Euro

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evor es besser werden kann, muss es erst einmal schlimmer werden. Nach diesem grausamen Motto handeln derzeit die NATO-Kräfte in Afghanistan. Mit militärischen Offensiven sollen die Taliban geschlagen werden. Das hoffen zumindest die Besatzer. Auch die neue Bundesregierung sieht dazu keine Alternative. Dennoch ist es Irrsinn, der einer Menge Afghanen das Leben kosten wird. Eine Eskalation des Krieges zu verhindern und Frieden, Wohlstand und Freiheit für alle Afghanen zu erreichen, ist nicht leicht. Dennoch ist es möglich. Das meint der in London lebende Sozialist und Friedensaktivist Jonathan Neale. In seiner Broschüre »Der Afghanistankrieg« liefert er die Argumente. Neale hat zwischen 1971 und

1973 als Anthropologe in AfghaAfghanistan ist die große Stärke nistan gelebt und geforscht. Sein seiner Broschüre. Zu knapp Blick auf das Land am Hindufällt jedoch der letzte Teil aus, kusch ist geprägt von der Begegin dem es um »Perspektiven nung mit den einfachen Bauern, für den Frieden« geht – wie der die er kennengelernt hat. Deren deutsche Untertitel des Textes Leben ist in den letzten 30 Jahverspricht. Das ist allerdings den ren vor allem von verschiedenen Übersetzern anzulasten, denn Kriegen bestimmt worden, die im englischen Originalaufsatz die ohnehin bittere Armut noch existiert dieser Untertitel nicht. verschärft haben. Es »gibt kaum Neale hatte hier wohl eher einen jemanden, der nicht einen naallgemeinen Ausblick im Sinn. hen Verwandten oder Freund Er schreibt, dass sich den Afghaverloren hat«, so der Autor. nen »kein einfacher Ausweg« Neale spannt einen weiten anbiete. Der beste sei allerdings Bogen von den Anfängen des »ein Sieg des Widerstandes« »dreißigjährigen Krieges« bis zur – das heißt: ein vollständiger aktuellen Besatzung, beschreibt Abzug der Besatzungstruppen. die treibenden gesellschaftli»Eine Koalitionsregierung (der chen und politischen Kräfte und in Afghanistan vertretenen poderen Motive. Daraus entwickelt litischen Kräfte, Anm. d. Red.) er ein Bild der Sackgasse, in der wäre keine gute Lösung«, so die Besatzer derzeit stecken. Neale, da alle an einer solchen Doch warum profitieren gerade Regierung beteiligten Kräfte die Taliban vom Hass auf die rechts wären. »Es wäre aber imausländischen Truppen? Neales mer noch eine bessere Lösung Antwort: Sie sind die einzige als die Hölle, die Afghanistan organisierte Kraft, die die Besaterwartet«, falls die Besatzer im zung von Anfang an abgelehnt Land bleiben. haben – im Gegensatz zur MehrUm einen »Ausweg aus diesem zahl der Linken und liberalen Teufelskreis« von Krieg und Kräfte im Land. Dies habe eine Unterdrückung zu finden, müsunselige Tradition. se man nach Pakistan schauen. Vor dem sowjetischen Anzeige Einmarsch 1979 hatten Linke bereits das Vertrauen durch ihr diktatorisch-gewalttätiges Vorgehen vor allem gegen die LandbevölkeJenseits der Volksparteien? rung gründlich verspielt, Sloterdijks Manifest der bürgerlichen Leistungsträger Privatisierung der Alterssicherung nachdem sich die KomOrganizing & Betriebsverfassung Tagträume der Revolution (Ernest Mandel 1923-1995) Afghanistan im Brennglas munisten 1978 an die Macht putschten. Nach dem Einmarsch stellten sie sich auf die Seite der Besatzer. Neales Fazit: »Afghanistan ist einer der wenigen Orte der Welt, in dem sich Progressive und die Linke durchweg auf die Seite des brutalen imperialisHeinz Bierbaum: Das Schurkenstück tischen Massenmords von der Saar | Ch. Lieber/F. Steingeschlagen haben. Das feld: Sloterdijks Manifest für eine ist der Grund für die heruntergekommene Bourgeoisie Stärke der Rechten in Probeabo (3 Hefte): � 10,-; Redaktion Afghanistan.« Sozialismus, St. Georgs Kirchhof 6 Neales kenntnisreiche 20099 Hamburg, Fax 040/28 09 52 Schilderung der Lage in 77-50; redaktion@sozialismus.de

www.Sozialismus.de www.sozialismus.de 36. Jahrgang Heft 11/2009 � 6,20 C 12232 E

Sozialismus

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Dort hat der Widerstand ein riesiges Rückzugsgebiet, was die USA dazu treibt, den Krieg auf Pakistan auszudehnen. Dagegen gibt es massenhaften Unmut, von dem Neale erwartet, dass er in einen Aufstand umschlagen wird. »Wenn es so weit ist und die Linke stark, leidenschaftlich und wütend auf die Straße geht, könnte das auch die politische Landschaft in Afghanistan verändern«. Als weiteren Punkt nennt Neale eine Friedensbewegung im Westen, »die für Frieden, nicht für eine abgewandelte Besatzung eintritt.« Um eine solche aufzubauen und stark zu machen, sind Argumente nötig. Neale liefert wichtige in leicht lesbarer Form. Trotz des schwächeren letzten Teils also: Daumen hoch. Frank Eßers

Wiederentdecktes Erbe

Gregor Kritidis Linkssozialistische Opposition in der Ära Adenauer. Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Bundesrepublik Deutschland Offizin, Hannover 2008 582 Seiten, 34,80 Euro

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ußerparlamentarischer Protest wurde im Nachkriegsdeutschland nicht erst 1968 erfunden. Doch während es Berge an Literatur zu den 68ern und den Neuen Sozialen Bewegungen gibt, sind die Protestbewegungen der ersten Jahre nach 1945 weitgehend in Vergessenheit geraten.

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Viele neuere Darstellungen zur Geschichte der Bundesrepublik bis 1989 sprechen vom »Erfolgsmodell« einer »geglückten Demokratie« – und meinen insbesondere den ökonomischen Aufschwung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Doch auch im »Wirtschaftswunder« gab es genügend Gründe für Protest: Die Karrieren ehemaliger Nazis im neuen Staat, die Kontinuität der wirtschaftliche Eliten und die Stigmatisierung alternativer Gesellschaftskonzepte als »kommunistisch« – dies alles prägte die Ära Adenauer ebenfalls. Gregor Kritidis erinnert nun endlich in einer Gesamtdarstellung an das vielfältige Wirken oppositioneller Strömungen in Westdeutschland in der Phase bis 1963. Nach Auswertung von Nachlässen und Zeitschriften rekonstruiert er die Arbeit der linkssozialistischen Gruppen, die sich am Rande der SPD und innerhalb der Gewerkschaften organisierten und sich vor allem über kleinere Zeitschriftenprojekte vernetzten. Periodika wie der »Funke«, die »Sozialistische Politik« oder die »Andere Zeitung« hatten zwar oft nur einen kleinen Leserkreis, spiegelten aber in ihren Auseinandersetzungen ein hohes Maß an theoretischer Reflexion wider. Intellektuelle wie Viktor Agartz, Wolfgang Abendroth, Fritz Lamm oder Jürgen Seifert schrieben teilweise in mehreren Zeitschriften und waren so wichtige Impulsgeber für den linken SPD-Flügel, kritische Gewerkschafter, den SDS und die Protestbewegungen gegen die Wiederbewaffnung und den »Atomtod«. Kritidis Geschichte dieser Gruppen zeigt so die bisher nur wenig bekannte Bandbreite des linkssozialistischen Lagers und die Facetten der politischen Strategien und Theorien, deren Einfluss auf die Bewegung von 1968 meist unterschätzt wird. Deutlich wird durch die detaillierte Beschreibung aber auch

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die Zerrissenheit und oft auch das Scheitern von Projekten, Hoffnungen und Personen: Zeitschriften erleben sinkende Auflagen und werden eingestellt. Agartz, der Vordenker von Wirtschaftsdemokratie und »expansiver Lohnpolitik« im DGB, wird entmachtet. Die Linke in der SPD kann sich nicht auf eine Alternative zum Godesberger Programm einigen, der SDS wird aus der SPD gedrängt. All diese Ereignisse

schwächten die Opposition in der Ära Adenauer. Kritidis zeigt, dass sich die Auseinandersetzung mit diesen Strömungen lohnt. Leider kommt die Analyse der Schwächen des Linkssozialismus etwas zu kurz. Dennoch liefert das Buch einen hervorragenden Einstieg, um Debatten wie etwa zur Wirtschaftsdemokratie (wieder) zu entdecken und auf ihre Aktualität hin zu überprüfen. Philipp Kufferath

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WW IDERSPRUCH IDERSPRUCH Beiträge zu Beiträge zu sozialistischer Politik

sozialistischer Politik

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Krankheit / Gesundheit Krankheit / Gesundheit Krise und Reform des Gesundheitssystems;

Krise und Reform des Gesundheitssystems; Invalidenversicherung, Kranksein in der Illegalität; Invalidenversicherung, Kranksein in der der Illegalität; Zweiklassen-Medizin; Genetifizierung Medizin; Zweiklassen-Medizin; Genetifizierung der Medizin; Depression, Arbeitssuizid und Widerstand; Care-Arbeit und Geschlechterregime; Depression, Arbeitssuizid und Widerstand; Arbeitsmarktintegration; Leistung, Markt, Moral Care-Arbeit und Geschlechterregime; Arbeitsmarktintegration; Leistung, Markt, Moral C. Goll, P.-Y. Maillard, T. Gerlinger, A. Schwank, D. Winizki, T. Lemke, A. Rau, K. Becker, T. Engel,

C. Goll,U.P.-Y. Maillard, T. Gerlinger, A. Schwank, Brinkmann, S. Schilliger, K. Wyss, I. Sedlak, D. Winizki, T. Lemke, H. A. Schatz Rau, K. Becker, T. Engel, H. Lindenmeyer, U. Brinkmann, S. Schilliger, K. Wyss, I. Sedlak, H. Lindenmeyer, H. Schatz Arbeitspolitik und Krise M. Massarrat: Vollbeschäftigungskapitalismus

Arbeitspolitik und Erwerbsarbeit Krise F. Segbers: Weniger ist mehr K. Pickshaus / H.-J. Urban: Gute Arbeit

A. RiegerVollbeschäftigungskapitalismus / H. Baumann: Gesamtarbeitsverträge M. Massarrat: A. Frick: SichertErwerbsarbeit Kurzarbeit Arbeitsplätze? F. Segbers: Weniger ist mehr K. Pickshaus / H.-J. Urban: Gute Arbeit A. Rieger / H. Baumann: Gesamtarbeitsverträge Marginalien / Rezensionen / Zeitschriftenschau A. Frick: Sichert Kurzarbeit Arbeitsplätze?

Marginalien Rezensionen / Zeitschriftenschau 29. Jg./1. Halbjahr 2009 Fr. 25.– / & & 16.– 240/ Seiten, & 16.– (Abonnement 27.–)

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Nr. 6, Juni 2008 // Spende: 3,50  ISSN 1865-2557 // www.marx21.de

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fragt, ob Geld die Welt regiert

Christine Buchholz & Janine Wissler werten den Parteitag der LINKEN aus

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berichtet über den Widerstand von Arbeitern in China

Wie rot ist China?

40 Jahre 1968

Die Panthers – Aufstand im Ghetto

Israel-Debatte

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Der Weg zum Frieden in Nahost

Der aufhaltsame Aufstieg des Silvio B.

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Wie rot ist China? 15 Seiten Schwerpunkt zu China | Israel und der Frieden in Nahost | Hungerkrise | Berlusconis Wahlerfolg | Proteste gegen Sarkozy | Black Panther Party | Rudi Dutschke | Olympia | u.v.m. Nr. 7, September 2008

Islam, Rassismus und die Linke 14 Seiten Schwerpunkt zu Islam und Rassismus | DIE LINKE in Hessen | Krieg im Kaukasus | Sturz von Beck: Ein Putsch mit Tradition | Organizing | Film: Baader-Meinhof-Komplex | u.v.m. Nr. 8, November 2008

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Noam Chomsky über Obamas Pläne für Afghanistan, Irak und Nahost.

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Die neue F-Klasse

Wirtschaftspolitik

Löste der „New Deal“ die Krise?

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Die Linke, Macht & Gegenmacht 18 Seiten Schwerpunkt Kampf um jeden Arbeitsplatz | 60 Jahre Grundgesetz | Gregor Gysi und andere über 20 Jahre 1989 | Elmar Altvater Marx neu entdecken | Obamas Offensive | u.v.m. Nr. 11, Juni 2009

Stellt Rot sich tot? 18 Seiten Schwerpunkt Krise und Chancen der Linken | Anti-Nazi-Kampf | Hochschulpolitik | Pakistan | 20 Jahre Mauerfall | Ursachen der Piraterie | u.v.m. Nr. 12, September 2009

Antikapitalismus Debatte zum Sozialismus im 21. Jahrhundert | Anti-Nazi-Kampf | Ausbildung | Bookwatch: Erziehung | Ende der DDR | Deutsche Soldaten in Afghanistan | 2. Weltkrieg | u.v.m.

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DEIN ABO. DEIN BUCH. Für marx21 haben u.a. geschrieben: Tariq Ali, Elmar Altvater, Walden Bello, Christine Buchholz, Alex Callinicos, Wolfgang Gehrke, Naomi Klein, Gisela Kessler, Arno Klönne, Ulla Plener, Werner Sauerborn, Michael Schlecht, Lucia Schnell, Sahra Wagenknecht, Janine Wissler und viele mehr.

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1968 Eine Welt in Aufruhr

Die Revolte in den USA, in Frankreich, Portugal, England, Deutschland, Spanien, Italien, Griechenland

1968 - Eine Welt im Aufruhr von Chris Harman / mit einem Beitrag von Yaak Pabst. Frankfurt/M. 2008, 490 Seiten

Die verlorene Revolution Deutschland von 1918 - 1923 von Chris Harman Frankfurt/M. 1998, 401 Seiten

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DRESDEN CALLING!

Erneut planen Nazis aus ganz Deutschland und Europa im Februar 2010 zum Jahrestag der Bombardierung Dresdens aufzumarschieren.

13. FEBRUAR 2010

Die Erfahrung zeigt, dass breite Mobilisierungen ein Mittel sind, um wirksam gegen Nazis vorzugehen. Du kannst mithelfen, sie zu stoppen. Komm mit nach Dresden!

NAZIS STOPPEN. www.no-pasaran.mobi www.marx21.de

Literatur zum Thema bestellen unter: edition.aurora@yahoo.de Stoppt die Nazis. Argumente gegen Rassismus und Faschismus

Hitlers aufhaltsamer Aufstieg zur Macht. Texte 端ber den Faschismus

Ausloten der Abgr端nde. Marxismus und der Holocaust


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