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Versöhnen, kein Gewöhnen Barışamadık, alışamadık Kein
Agos ist die erste türkisch-armenische Wochenzeitung der Türkei. Sie erscheint zweisprachig auf Armenisch und Türkisch in Istanbul. Luiz Bakar, Hrant Dink, Harutyun Şeşetyan und Anna Turay gründeten Agos am 5. April 1996. Wir haben das Cover und den Leitartikel der Ausgabe vom 19. Januar 2018 im Rahmen von Hrant Dink (Ge)denken vorab für diesen Druck bekommen.
BRÜDERLICH
WIE SOLL ICH DIR DAS ALLES ERZÄHLEN, BRUDER … Seit Tagen überlege ich, wie ich die Geschehnisse des letzten Jahres erzählen kann. Selahattin Demirtaş, mit dem Du meiner Ansicht nach sicherlich gut befreundet gewesen wärst, und andere Politiker*innen der HDP sind immer noch in Haft. Demirtaş wurde letzte Woche nach sage und schreibe 14 Monaten das erste Mal dem Haftrichter vorgeführt. Stell Dir das mal vor. Die sind in einer Art politischen Geiselhaft. Auch Osman Kavala, den Du kanntest und mit dem Du wahrscheinlich Träume und Visionen geteilt hast, ist in Haft. Unter absurden Anschuldigungen. Diese Woche hat auch er aus seiner Zelle, es sei ihm gedankt, einige Zeilen geschrieben, um Deiner zu gedenken. Zwar wurden Özlem Dalkıran und andere Menschenrechtler*innen, die sich in der Stiftung in der Gruppe der »Freunde Hrants« engagierten und sich auf Grund absurdester Anschuldigungen in der Untersuchungshaft befanden, diese Woche entlassen, aber das Verfahren dauert immer noch an. Was würdest Du wohl sagen, wenn Du wüsstest, was die »regierungstreuen Medien« dieser Tage über Dich schreiben? Der Ausnahmezustand dauert an. Sie haben ihn gerade wieder verlängert. Weil er immer alle drei Monate verlängert wird, beginnt er jedes Mal kurz vor dem 19. Januar, was die ganze Situation noch absurder erscheinen lässt. Leute wie Mehmet Altan, Ahmet Altan, Şahin Alpay, Ali Bulaç, Ahmet Turan Alkan, sind auch in Haft. Letzte Woche hat das Verfassungsgericht im Falle Mehmet Altans und Şahin Alpays einen Rechtsverstoß festgestellt und deren Freilassung angeordnet, aber zwei regionale Strafgerichte weigern sich seither, den Urteilen Folge zu leisten. So steht’s mit der Justiz heutzutage, stell Dir vor. Ahmet Şık, Murat Sabuncu und Akın Atalay sind immer noch in Haft. Die Plädoyers der Verteidigung wurden gehalten, die Anklage entbehrt jeglicher Logik und hätte schon längst fallengelassen werden müssen, aber dem ist nicht so. Turan Günay, Kadri Gürsel, Güray Öz und und weitere Cumhuriyet Mitarbeiter wurden entlassen, sind mit Ihren Gedanken aber bei ihren inhaftierten Freunden. Das Verfahren läuft ja auch noch. Unzählige Fernsehsender und Zeitungen wurden geschlossen. Ihr Eigentum wird für einen Ramschwert verkauft. Die kurdischen Medien sind mit einem unbeschreiblichen Druck konfrontiert und müssen sich tagtäglich mit neuen Gerichtsverfahren herumschlagen. Diejenigen Kolleg*innen, die sich mit der geschlossenen Zeitung »Özgür Gündem« solidarisiert und für einen Tag die Redaktionsleitung übernommen haben, werden systematisch mit Strafen überzogen. Die Situation der »Akademiker für Frieden« ist ähnlich. Fast alle haben ihre Lehraufträge verloren und wurden aus Ihren Universitäten »entfernt«, versuchen jedoch nichtsdestotrotz mit ihren Studenten in Kontakt zu bleiben und irgendwie sich und ihre Familien zu ernähren. Andere sind ins Ausland geflohen, wie damals die Exilanten des 12. September. Diese Woche passierten auch viele seltsame Dinge. Die Schwiegertochter von Ümit Kaftancıoğlu, Canan Kaftancıoğlu, wurde an die Spitze der Istanbuler CHP gewählt. Es gab einen unvorstellbaren Sturm der Entrüstung. Weil sie in einem Tweet bezüglich eines Gedenkmarsches zum 24. April vom »Völkermord gegen die Armenier« gesprochen hatte, erstattete zuerst der, normalerweise CHP-nahe, Sender Halk TV eine Anzeige und im Anschluss daran stürzten sich in «guter Tradition« in den sozialen Medien die unzähligen regierungstreuen »Trolle« und »digitalen Lynchmörder« auf die Geschichte.
Als hätte sie nichts anderes zu tun, schießt sich die AKP auf Kaftancıoğlu ein. Mit Falschinformationen und Fotomontagen versucht man, die Öffentlichkeit zu manipulieren. Weißt Du, was Präsident R.T.Erdoğan bei einer Rede neulich gesagt hat? »Jetzt mal im Ernst, was ist nur aus der Partei geworden, die Gazi Mustafa Kemal Atatürk gegründet hat? Mit dem Vorwurf des Völkermords an den Armeniern, beleidigt sie unser Volk und unsere Geschichte. Mit dem Vorwurf, der Staat sei nicht nur ein Mörder, sondern ein Serienmörder, versucht sie die Schuld an den gestorbenen Polizisten, dem Staat in die Schuhe zu schieben. Selbst wenn das Foto der vermummten und mit einem Stein bewaffneten Frau, das während der Gezi Park Aufstände entstand, nicht sie sein sollte, haben sie doch gezeigt, wo sie stehen.« Das heißt, es wird zugegeben, dass es sich hier um eine Fotomontage handelt, aber die Balken werden so lange gebogen, bis sie wieder passen. Wozu sie passen sollen, brauche ich Dir nicht zu erzählen. Du hast mich verstanden. Vielleicht passt es jetzt nicht so richtig, aber dennoch ist es sehr beunruhigend. Es gibt ein Projekt, dass sich »Kanal Istanbul« nennt. Die Regierung plant ohne Rücksicht auf die hohen Kosten das Schwarze und das Marmara Meer mit einer neuen Wasserstraße westlich des Bosporus zu verbinden. Grob gesprochen entlang der Sazlıdere Verbindung. Umweltaktivisten und Wissenschaftler warnen die ganze Zeit, dass dieser Eingriff zu einer Umweltkatastrophe führen wird. Vorgestern wurde die Strecke veröffentlicht. Du hättest die Schlagzeilen in den Zeitungen und die TV Sendungen sehen sollen. Sie haben sich überschlagen mit Superlativen. Die Immobilienpreise werden soundsoviel steigen, es werden soundsoviel Kubikmeter und Tonnen an Erde rausgeschaufelt werden etc … Ich untertreibe nicht, wenn ich sage, dass niemand über die Folgen für die Umwelt gesprochen hat. Ich springe von Thema zu Thema. Was das Gerichtsverfahren angeht, gibt’s dieses Jahr nichts Neues zu berichten. Sie haben mit der Vernehmung der Geheimdienst-Mitarbeiter der Militärpolizei begonnen, die sich am Tag des Mordes oder davor in der Nähe von Agos oder deiner Wohnung aufgehalten haben sollen. Einige wurden inzwischen freigelassen, bei anderen hat man noch nicht mit der Vernehmung begonnen. Einige Hauptangeklagte behaupten, sie würden sich nicht mehr erinnern, andere Beteiligte schieben sich gegenseitig die Verantwortung zu. Wie ein »brennender Ball« wie Karin es beschrieben hatte. Zu den Verhandlungen erscheinen nicht mehr so viele Menschen wie früher, aber wem kann ich etwas vorwerfen? Es gibt so viele Gerichtsverhandlungen, Massaker und Morde. Wir haben die letzten fünf Jahre mit angehaltenem Atem an uns vorbeirauschen sehen. Womit soll ich anfangen? Mit Ali Ismail? Mit Berkin Elvan? Mit dem Massaker in Suruç? Oder dem Massaker am 10. Oktober in Ankara? Sie ermordeten eine andere Taube, vielleicht hatte ich schon darüber gesprochen: Tahir Elçi, den Vorsitzenden der Rechtsanwaltskammer von Diyarbakır. Vielleicht wart ihr gute Freunde. Seit dem Mord sind zwei ganze Jahre vergangen und trotzdem wurde bis jetzt niemand verhaftet. Auf die Wahl des Patriarchen will ich erst gar nicht eingehen. Da werden so krumme Dinger gedreht. Das erzähl’ ich Dir mal bei Gelegenheit im Detail. Kurz und gut, es sieht nicht gut aus. Aber wir versuchen die Hoffnung nicht zu verlieren. Es ist wie es ist. yetvartd@ttmail.com Yetvart Danzikyan Chefredakteur der Agos, 19. Januar 2018