Im türkisenblauen Garten

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Im t체rkisenblauen Garten Der Weg des Kapellmeisters A. S. von Leipzig in die Emigration, erz채hlt von ihm selbst Herausgegeben von Max Pommer


Alfred und Eugenie Szendrei während des 1. Weltkriegs zusammen mit der ungarischen-kaiserlich-königlichen Armee („The Dreaded Huns“)


Alfred Szendrei


Alfred Szendrei auf dem Gipfel des Kasiergebirges, 1924


Alfred Szendrei in Hamburg, 1911


Alfred, Eugenie Szendrei und Ernestine Schumann-Heink mit Albert als Baby, 1911


Alfred Szendrei in Leipzig, 1931


→→1. Auflage, März 2014 →→© 2014 beim Verlag: J.G. Seume  |  Leipzig ←→ Frankfurt Hainstraße 11  |  04109 Leipzig →→Gestaltung: Tim Klinger  |  MEAN DESIGN meandesign.com →→Reproduktionen: Steven Swanson, Dallas, USA →→Herstellung: Druckerei Friedrich Pöge e.K Handwerkerhof 15  |  04316 Leipzig www.poegedruck.de →→ISBN: 978-3-9814045-4-8 →→Printed in Germany www.seume-verlag.de


Passagen

Im t체rkisenblauen Garten Der Weg des Kapellmeisters A.S. von Leipzig in die Emigration, erz채hlt von ihm selbst Herausgegeben von Max Pommer




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Der Dank des Herausgebers gebührt posthum Herrn Albert Sendrey, der mir 1988 die Memoiren seines Vaters zukommen ließ. Für die Möglichkeit, diese auch zu veröffentlichen, danke ich seinen Enkeln Anita und Sylvia Sendrey, Charles Sendrey und Steven Swanson. Sie gaben die Zustimmung, und aus dem Archiv von Steven Swanson erhielten wir wichtige Dokumente zur Vita des Dirigenten. Ich bin meiner Frau, Dr. Gisela Pommer, sehr dankbar für ihre Hilfe bei der Bewältigung der umfangreichen Korrespondenz. In den USA vermittelte Hans-Henning Bunge die Verbindung zu den Enkeln und Dr. Ute Tellini verdanken wir Kontakte zu Freunden und Schülern. Dem Verlag: J. G. Seume, den Herren Tim Klinger und Prof. Dr. Peter Winterhoff-Spurk, danke ich für den Mut, Leipzigs Geschichte um einige vergessene Facetten zu bereichern und für stets anregendes Engagement.

Max Pommer

Bis auf offensichtliche Schreibfehler wurde das Originalmanuskript von Alfred Szendrei nicht verändert. Falsche historische Angaben wurden kommentiert.


September 1918 bis Dezember 1932

„ Meine Leipziger Jahre“ von Opernkapellmeister Dr. Alfred Szendrei (*1884–†1976) Gründer des Rundfunk-Sinfonieorchesters Leipzig


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Leipziger Oper Wieso kam ich überhaupt nach Leipzig? Nach einem Weltkrieg, nach Tätigkeit an den Chicago, St. Louis und New York Opernhäusern in den Vereinigten Staaten, schien mir die schöne Pleißestadt der allerletzte Ort, wohin das Schicksal mich verfrachten würde. Wieso also? Ich hatte eine Oper geschrieben. Ein persisch gefärbtes Libretto von einer netten Dame, Rose Silberer, mit dem schönen Titel »Der Türkisenblaue Garten« hat mich inspiriert. Ein Wiener Operettengastspiel in der Türkei ließ mir Zeit übrig, die Oper zu skizzieren, und dann in Wien, wo meine Familie lebte, zu orchestrieren. Von Wien schrieb ich einem Freund, dem Leipziger Opernchef Otto Lohse , dass ich eine Oper vollendet habe, und bot ihm die Uraufführung an. Wider Erwarten kam bald seine Antwort: er sei interessiert am Werk und würde sich freuen, mich im August in Leipzig zu sehen. Tage später kam von Lohse dieses Telegramm: 1

„Können Sie für erkrankten Knappertsbusch Vertretung für zwei Monate übernehmen?“

Gehalt war angegeben, Erstattung der Reisekosten zugesichert. Erfreut telegrafierte ich zurück, dass ich dazu bereit sei. Umgehend erhielt ich vom Intendanten, Geheimrat Dr. Meyer‑Waldeck, folgendes Telegramm: „Erkläre hiesige Vertragsanstellung ab 18. August für vorläufig zwei Monate mit Verlängerungsrecht für dritten Monat für abgeschlossen. Honorar hundert Mark für jeden Abend Dirigententätigkeit zehnmal monatlich zugesichert, ausserdem Reisevergütung 2. Klasse Wien–Leipzig–Wien“

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Otto Lohse (*1858–†1925) neben G. Mahler Kapellmeister in Hamburg Operndirektor am Stadttheater in Leipzig (1912–1923)


Meine Leipziger Jahre – Leipziger Oper

Knappertsbusch war, ebenso wie ich, einer der ehemaligen »Zöglinge« von Lohse. Er diente als Korrepetitor unter ihm in Köln, und nach seinen Lehrjahren an kleineren Bühnen hat ihn Lohse als 1. Kapellmeister an die Leipziger Oper berufen. Kurz vor seinem Antritt in Leipzig ist Knapperts‑ busch an Diphterie erkrankt; er hat Seruminjektionen erhalten, die bei ihm vorübergehende Lähmungserscheinungen hervorgerufen haben. Dies war der Zeitpunkt, da mir Lohse die Vertretung angeboten hat. Man hoffte, dass Knappertsbusch bis Ende September wieder hergestellt sein würde, und deshalb war meine Anstellung nur auf eine kurze Zeit befristet. In Leipzig hatte ich beim Publikum und bei der Presse von An­fang an gros‑ sen Anklang gefunden. Bald fühlte ich mich im neuen Ensemble durchaus heimisch. Ich musste natürlich alle Opern ohne jede Probe übernehmen, da alles im Repertoire »stand« und zu Proben (ausser einigen Klavierproben) keine Gelegenheit war. Dennoch ging alles glatt vonstatten, was mir das Zutrauen und die Bewunderung der Sänger und des Orchesters verschaffte. Das Orchester war das der berühmten Gewandhauskonzerte, das auch den Theaterdienst in der Oper versah und an die besten Dirigenten gewöhnt war. Die Achtung dieser Körperschaft zu erringen, war nicht leicht, und dass es mir in kurzer Zeit geglückt ist, hat mich recht stolz gemacht. Ich habe im ersten Monat, in welchem ich lediglich »Vertreter« gewesen bin, mehrere kleinere und grössere Husarenstückchen vollbracht, indem ich

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Auch erhielt ich ein Schreiben von Lohse des Inhalts, dass, nachdem ich ohnehin bald in Leipzig sein werde, wir das Vorspielen der Oper auf die Zeit meines dortigen Aufenthaltes verschieben wollen.


die meisten Opern, darunter recht schwierige, kurzerhand übernahm . Das grösste Wagnis war das »Einspringen«, von Vormittag zum Abend, für die ganz moderne Oper »Mona Lisa« von Max von Schillings, deren Erstaufführung erst vor kurzem in Leipzig stattfand. Ich habe die Oper vorher nur ein einziges Mal unter Lohses Leitung gehört und habe von der Musik natürlich nur einen vagen Generaleindruck zurückbehalten. Als die Oper einige Wochen später wieder angesetzt wurde, war Lohse indisponiert und liess bei mir am Vormittag anfragen, ob ich die Oper für ihn am Abend übernehmen könnte. Ohne Bedenken habe ich mich dazu bereit erklärt. Der Nachmittag verging mit dem Studium der Parti‑ tur. Am Abend ging das Werk wie am Schnürchen. Niemand unter den Sängern wollte mir glauben, dass ich die Oper nicht schon vorher dirigiert habe. Ich musste erst darauf hinweisen, dass ich bis vor kurzem im »Hee‑ resdienst« war und ich die Novität erwiesenermaßen erst hier und ein einziges Mal gehört habe. Dieser Erfolg trug nicht wenig dazu bei, mein Ansehen beim Opernpersonal zu erhöhen. Der Monat September ging zu Ende, und Knappertsbusch war immer noch nicht hergestellt. Erst gegen Ende Oktober war er die Nachwirkungen seiner Krankheit los, so dass er den Dienst wieder aufnehmen konnte. Er wurde zunächst vorsichtig ins Repertoire eingesetzt, da immerhin zu befürchten war, dass ein Rückfall eintreten könnte. Um ganz sicher zu sein, hat mir Lohse einen weiteren

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von Alfred Szendrei dirigierte Vorstellungen 1918 August: 21. Tiefland 29. Rigoletto September: 1. Der fliegende Holländer 5. Aida 8. Martha 10. Der Freischütz 11. Lohengrin 12. La Traviata 17. Die Zauberflöte 28. Die Walküre 29. Der Wildschütz (Neueinstudierung)


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Monat Vertretung angeboten. Da ich sonst nichts zu verlieren hatte, habe ich angenommen. Solange Knappertsbusch als junger Korrepetitor unter Lohse diente, war es natürlich, dass er sich den Wünschen und Anordnungen seines Chefs zu fügen hatte. In seinen Stellungen bevor er nach Leipzig kam war er sein eigener Herr und konnte selbständig schalten und walten. Als nomineller 1. Kapellmeister in Leipzig fühlte er sich eingeengt, von Lohse überschattet, ja unterdrückt und – trotz seiner Anhänglichkeit zu seinem alten »Meister« – kam es bald zu kleineren und größeren Reibereien zwischen den beiden. Die Situation war bald für beide Teile unhaltbar, so dass Knappertsbusch sich bereits im Dezember für eine durch Todesfall freigewordene Stellung am Dessauer Hoftheater bewarb und von Lohse »wärmstens« wegemp‑ fohlen wurde. Er erhielt die Stellung, trat sie sofort an, und so wurde aus dem Provisorium meiner Vertretung ein Definitivum als 1. Kapellmeister der Leipziger Oper. Inzwischen rückte das geplante und wiederholt verschobene Vor­spielen meiner Oper heran. Es fand endlich im Spätherbst in Lohses Wohnung statt. Anwesend waren Lohse und seine Frau, die sich hauptsächlich in den Text vertiefte, und der Oberregisseur der Oper, Dr. Ernst Lert. Alle waren vom Werk beeindruckt, Lohse von der Musik, seine Frau vom psy‑ chologischen Problem der Handlung und Dr. Lert von den szeni­schen Möglichkeiten, die ihm der exotische Stoff darbot. Und so wurde die Oper sofort zur Uraufführung angenommen. Mittlerweile hatte ich mich mehr und mehr im Opernrepertoire heimisch gemacht. Lohse dirigierte hauptsächlich seinen Wagner, auch nicht alles davon, nur meistens Tristan, Meistersinger, den Ring, sowie einige No‑ vitäten, die er von Zeit zu Zeit herausbrachte. Mir fiel der Hauptteil des laufenden Repertoires zu – ich hatte vier- bis fünfmal die Woche zu diri‑ gieren. Für einige Spielopern, so für Lortzing usw., war noch ein anderer


Quelle: Museum für Stadtgeschichte Leipzig

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→→Neues Theater (Opernhaus) Leipzig in den 20er Jahren

Dirigent vorhanden, ein harmloser, gutmütiger Routinier, Albert Conrad (mit dem richtigen Namen »Mäusezahl«), ein gebürtiger Leipziger, der mehr aus lokalpatriotischen Gründen von Jahr zu Jahr gehalten wurde. Ein geflügeltes Wort unter den Opernmitgliedern war, dass unter Conrads Leitung »nie etwas passiert«, weder positiv noch negativ. Mit der am 9. November 1918 erfolgten Kapitulation der deut­schen Armee war der Krieg zu Ende, womit meine Befürchtungen, in letzter Stunde doch noch zum Militärdienst einberufen zu worden, hin­fällig geworden sind. Nachdem meine Stellung an der Oper sich immer mehr gefestigt hatte, war es allmählich Zeit daran zu denken, meine Fa­milie nach Leipzig nachkommen zu lassen. Meine Frau und die Kinder lebten in Wien in ei‑ ner möblierten Wohnung, und es war notwendig geworden, die zerrissene Familie wieder zu vereinigen. Bis dazu aber die Möglichkeit gegeben war, verging noch allerhand Zeit, denn zuerst musste die Wohnungsfrage ge‑ 3

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9. November 1918 Abdankung Wilhelm II. Waffenstillstand von Compiègne 11. November 1918


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löst werden. Nach dem Krieg, mit all den heimkehrenden demobilisierten Soldaten, gab es eine unge­heure Wohnungsnot. Um Missbräuchen vorzu‑ beugen, hatten die Behörden ein Wohnungsamt ins Leben gerufen, das die Funktion hatte, die ver­fügbaren Wohnungen den dazu Berechtigten zuzu‑ weisen. Normalerweise konnte man keine Wohnung erhalten; diejenigen aber, die bereits eine Wohnung besassen, konnten sie tauschen. Da ich ohne Wohnung war, kam für mich ein Tausch nicht in Frage. Mittlerweile war ich aber ein fest angestelltes Mitglied der städtischen Oper geworden und hatte damit ein Anrecht auf eine Wohnung erworben. Wie mir im Amte gesagt wurde, mochte die erforderliche Wartezeit von sechs Monaten bis zu zwei Jahren dauern, kein sehr tröstlicher Ausblick. Wie so oft in meinem Leben kam mir auch bei der Wohnungssache ein Zufall zu Hilfe. Durch Freunde hatte ich die Bekanntschaft von Frau Lina Rühle gemacht. Sie war eine ältere Dame, verwitwet, grosse Musik­ liebhaberin, noch grössere Theaternärrin, gutherzig, hilfsbereit, deren grösstes Vergnügen es war, ihren Mitmenschen helfen zu können. Sie hieß in Leipzig allgemein »Tante Rühle«, und selbst Personen, die sie nicht persön‑ lich kannten, schwärmten von ihrer Gutmütigkeit und Philanthropie. Da ich »Jemand« an der Oper war, überhäufte sie mich mit Aufmerksamkei­ten, ich war oft bei ihr zu Gast geladen und wir wurden bald gute Freunde. Sie hatte eine grosse Wohnung, die sie ganz allein bewohnte. Sobald sie von meinem Wohnungsproblem erfuhr, bot sie spontan an, mir einige Zimmer für meine Familie zu überlassen und bestand darauf, dass ich sofort meine Leute kommen lasse. Die Vorbereitungen dazu (Aufgabe der Wiener Woh‑ nung, Packen, Transport unserer Habe, usw.) nahmen eine geraume Zeit in Anspruch, so dass es Mai 1919 wurde, bevor meine Familie in Leipzig ankam. Tante Rühle empfing und behandelte meine Frau und Kinder wie ihre eigenen Familienmitglieder, war die Güte und Hilfsbereitschaft selbst


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und machte unseren Aufenthalt in ihrer Behausung in jeder Hinsicht so angenehm, dass wir uns ganz wie im eigenen Heim fühlten. Da meine Lily infolge der Kriegswanderungen noch nicht getauft war, benutzten wir die erste ruhige Periode in Leipzig dazu, das Ver­säumte nachzuholen. Die Taufe fand in Tante Rühles Wohnung statt, mit unserer Gastgeberin als Taufpatin. So glücklich diese Lösung auch einstweilen war, sie hat mich dem eigent‑ lichen Problem, der eigenen Wohnung, nicht näher gebracht. Auch hier hat mir wieder der Zufall geholfen. Unser Oberregisseur, Dr. Lert, wurde zum Direktor des Basler Stadttheaters gewählt. Seine neue Stellung sollte im Herbst 1919 beginnen. Infolgedessen gab er seine Leipziger Wohnung auf. Ich habe darauf beim Wohnungsamt sofort meinen Anspruch an‑ gemeldet und die Wohnung kurz darauf zugewiesen erhalten. So wurde Dufourstraße 38 für lange Jahre unser Heim. Der Auszug des Lert’schen und der Einzug unseres Mobiliars fand am selben Tage statt. Dabei passierte es, dass die Möbelpacker aus Versehen unsere Kinderbetten mit im Möbelwagen verstauten, der nach Basel ging. Der Irrtum wurde erst entdeckt, als der Transport Leipzig schon verlassen hatte. Es dauerte Monate, bis wir die Kinderbetten zurück erhielten, und wir haben noch für die Spesen aufkommen müssen. Mit der Lösung der Wohnungsfrage habe ich meiner Erzählung vorgegrif‑ fen, denn über den vergangenen Winter ist noch manches zu berichten. Da war zunächst ein Grippeanfall, der mich einige Tage ans Bett fesselte. Ich musste einen Arzt holen lassen, und meine Wirtsleute, bei denen ich als »möblierter Herr« wohnte, empfahlen mir einen guten Arzt, nicht weit von mir. Dr. Georg Greif war ein freundlicher älterer Herr, Homöopath und verschrieb mir unzählige kleine Pillen und Kügelchen, von denen ich nicht wusste, ob sie mir halfen – sie schadeten mir jedenfalls nicht. Bei einem seiner Besuche erwähnte ich, dass ich in Amerika gewesen sei, worauf er


mir mitteilte, dass er in Amerika Verwandte habe. Er fragte mich, ob ich zufällig Frau Schumann‑Heink kenne. Als ich ihm sagte, dass wir mit Frau Schumann‑Heink eng befreundet sind und dass sie sogar die Taufpatin meines Jungen ist, war er höchst überrascht und erfreut, denn es traf sich, dass er der Schwiegersohn von Frau Schumann‑Heink war. Ich lernte bald seine Frau Charlotte, die älteste Tochter von Frau Schumann‑Heink, ken‑ nen, eine charmante, äusserst kluge Dame, die ihrer Mutter sehr ähnlich sah. Bald entwickelte sich zwischen unseren Familien eine enge Freund‑ schaft, die noch heute, als ich diese Zeilen schreibe (1958), fortbesteht. Wir korrespondieren fleissig miteinander, und Frau Lotte versäumt es nie, meine Frau und mich zu unseren Geburtstagen mit einem schönen Glückwunschbrief zu erfreuen. Manche drollige Einzelheit meines Junggesellendaseins in Leipzig wäre noch wert, erwähnt zu werden. Ich will aber meine Erzählung nicht allzu‑ sehr in die Länge ziehen und führe nur einige bezeichnende Episoden an. Im ersten Kriegswinter, als die Lebensmittel in Deutschland sehr knapp waren, erhielt jeder monatlich zwei Pfund Kartoffeln auf Kartoffel‑Karten zugewiesen. Ich löste meine Karten ebenfalls ein, und die so erhaltenen Kartoffeln ergaben für mich zwei Mahlzeiten. Meine Wirtsleute kochten die Kartoffeln für mich und sie schmeckten mit Topfen ganz gut. Ich lieh mir dazu den Salzstreuer meiner Wirtsleute aus, mit dem Re‑ sultat, dass mir am Monatsende zu meiner Miete »50 Pfennig für Salz« aufgerechnet wurden. Damals kostete ein Pfund Salz nur wenige Pfennige und noch heute muss ich lächeln, wenn ich an diese »gesalzene« Rechnung zurückdenke. »Nikisch macht Gegenbesuch« könnte der Titel eines kleinen witzigen Artikels heissen, der – um die Gegebenheit mit dem nötigen Humor dar‑

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Ernestine Schumann-Heink (*1861–†1936 in Hollywood), bedeutende Altistin, ab 1896 „Erda“ in Bayreuth; 1932 Metropolitan Opera NY. Abschied von der Bühne

Meine Leipziger Jahre – Leipziger Oper

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→→Alfred Szendrei 1913 in New York als Musical Director der Century Opera Co.

zustellen – die Feder eines Roda‑Roda oder Hans Reimann erfordern würde. Da mir dieses Talent nicht gegeben ist, verzeichne ich einfach die Tatsachen und überlasse es dem Leser dieser Erinnerungen, die feine Komik der Situation sich selbst auszumalen. Als neu angestelltem Kapellmeister der Oper war es meine gesell­schaftliche Pflicht, dem Doyen des Leipziger Musiklebens, dem gefeierten Leiter der Gewandhauskonzerte, dem weltberühmten und von mir hochverehr­ten Dirigenten Arthur Nikisch meinen Respektsbesuch abzustatten. Ich ging also zu ihm, da ich ihn aber zu Hause nicht antraf, hinterliess ich meine Karte und hoffte auf eine andere Gelegenheit, den berühmten Mann ken‑ nenzulernen. Ich hatte den Vorfall bereits vergessen. Was ich aber hätte wissen müssen war, dass – nach den ungeschriebenen Gesetzen des Gesellschafts‑Kodexes – ein »offizieller« Besuch unweigerlich einen ebensolchen Gegenbesuch


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nach sich zieht. Ein solcher findet gewöhnlich an einem Sonntag um die Mittagsstunde herum statt. Leute, denen solch ein Gegen­besuch »droht«, bleiben daher an Sonntagen gewöhnlich zu Hause und trachten, sich und ihr Heim von der vorteilhaftesten Seite her zu präsentieren. Eines Sonn‑ tag vormittags sass ich nun in meiner Junggesellenbude in Hemdsärmeln, an der Orchestration meiner Oper arbeitend. Gegen Mittag klingelte es draussen, und als meine Wirtin öffnete, hörte ich eine weiche, melodiöse Stimme fragen: »Ist Kapellmeister Szendrei zu Hause?« Besonders wie der unerwartete Besucher den Namen Szendrei aussprach, machte mir im Augenblick klar, dass es kein anderer als Nikisch sein könne (Nikisch war selbst ungarischer Abstammung). In aller Eile schlüpf­te ich in meinen Hausrock, Kragen und Krawatte umzubinden war aber keine Zeit mehr, denn schon öffnete sich die Zimmertür und ein trat Nikisch im vollen Glanze seiner soignierten Persönlichkeit. Er war sprichwörtlich der bestangezogene Mann in Deutschland, und da stand er nun in den Regalien seines »offiziellen« Gegenbesuches, wie es sich für einen Minister oder einen Gesandten geziemt hätte. Sein Cutaway war ein Meisterwerk der Schneiderkunst, seine graue Seidenkrawatte, mit einer Perlennadel zusammengehalten, war in vollendeter Harmonie mit seinen taubengrauen Handschuhen und dem grauen hirschledernen Einsatz seiner Lackstiefel. Mit dem Zylinderhut in der Hand war er ein vollendetes Bild aus einem Modejournal. In meiner ersten Verblüffung war ich sprachlos, denn die Situa­tion war von einer bezwingenden Komik: hier der gefeierte, berühmteste Dirigent der Zeit, angetan mit all dem Prunk einer wichtigen Staatsvi­site; dort der junge, noch unbekannte Dirigent in nachlässiger Hausklei­dung, ohne Kragen und Halsbinde, umgeben von der Unordnung eines Junggesellen‑ heims, wortlos‑verlegen, fast erdrückt von so viel Ehre.


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Der »Weltmann« Nikisch fand auch hier das erlösende Wort. Die auf dem Arbeitstisch und auf dem Fussboden herumliegenden riesigen Partitur­ blätter (ich benutzte für meine Oper das grösste Format von Partitur­papier, das erhältlich war) erregten sofort seine Aufmerksamkeit, und in­teressiert fragte er, woran ich arbeite. Dadurch war das Eis gebrochen, und im nächs‑ ten Moment waren im Raume nicht mehr der gefeierte Mann und ein junger Aspirant auf zukünftigen Ruhm, sondern zwei Fachmusiker, die sich angeregt über berufliche Dinge unterhielten. Nikisch vertiefte sich in meine Orchestrationstechnik, die sogar ihm, dem erfahrenen Meister, neuartig und anziehend erschien. Besonders war er sehr erbaut von der Art und Weise, wie mein Orchester die Singstimmen begleitet hat. Ich erzählte ihm, dass ich als Theaterkapellmeister es häufig als einen Misstand empfand, dass – besonders in modernen Opern – das zu dick aufgetragene Orchester die Sänger übertönte; daher wollte ich in meiner eigenen Orchestration denselben Fehler verhüten. Dies habe ich dadurch zu erreichen versucht, dass ich das Streichorchester fast durchweg geteilt habe: die eine Hälfte spielte mit Dämpfern, die andere ohne Dämp‑ fer. Wenn die Sänger zu singen hatten, wurden sie stets vom gedämpften Streicherteil begleitet, wodurch sie nie gedeckt waren. Er war davon sehr beeindruckt, lobte meine Idee und wunderte sich, das niemand schon frü‑ her darauf gekommen sei. Mit weiteren musik‑technischen Diskussionen verging eine angenehme halbe Stunde, nach welcher er sich förmlich ver‑ abschiedete und mir eine baldige Fortsetzung der Unterhaltung versprach. Ich war nachher wiederholt bei ihm zum Tee geladen, und wir wurden gute Freunde. Noch vor Ablauf meines ersten Jahres erhielt ich von der Opernleitung einen dreijährigen Vertrag mit steigendem Gehalt, und so war für unsere nächste Zukunft gesorgt.


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Was aber niemand voraussehen konnte und was unsere materielle Existenz fast illusorisch gemacht hat, war die zuerst schleichende, dann galoppierende und zuletzt alles überschwemmende, mitreissende, verheerende Inflation. Eine Generation, die das nicht miterlebt hat, kann sich davon keine Vor‑ stellung machen, trotz der Flut von Zeitungsartikeln und Büchern, die darüber damals und nachher in der ganzen Welt berichtet haben. Wollte man vor 10 Uhr vormittags ein Pfund Butter kaufen, musste man mit dem Bezahlen bis 10 Uhr warten, bis die ersten Dollar‑Kurse des Ta‑ ges von den Banken veröffentlicht wurden, denn danach richtete sich der Preis, den der Händler für seine Ware verlangen musste. Auf der Höhe der Inflation wurde unser Gehalt am Theater jeden Monat, dann aller zwei Wochen, dann jede Woche, und zum Schluss wöchentlich zweimal erhöht. Im Moment, in dem man das Geld erhielt, musste es ausgegeben werden, denn am selben Nachmittag war es meistens schon weniger wert. Durch diese galoppierende Entwertung sind oft die bizarrsten Situatio‑ nen entstanden. Ich habe z.B. einmal zu viel Einkommenssteuer bezahlt und wurde vom Steueramt aufgefordert, eine Rückzahlung in Empfang zu nehmen. Der Betrag, den ich überzahlt hatte, war damals für meine Einkommensverhältnisse recht beträchtlich. Als ich die Rückzahlung behob, war die Summe gerade für eine Strassenbahnfahrt ausreichend. Frau Schumann‑Heink hat uns als Geburtstagsgeschenk für meinen Jun‑ gen zur Anschaffung einen Fahrrades 10 Dollar geschickt. Ich habe diese 10 Dollar bei der Anzahlung für das Fahrrad als Pfand für die restliche Summe deponiert, mit der Bedingung, die amerikanische Banknote etwa eine Woche später, wenn der Rest bezahlt werden sollte, wieder auszulösen. Ich habe diesen Trick viermal angewendet mit dem Resultat, dass wir in wenigen Monaten nicht nur vier Fahrräder besassen, sondern zum Schluss noch unseren 10 Dollarschein intakt behalten haben.


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