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Ausgabe #5 erscheint im April 2009 » Niemand darf willkürlichen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, seine Wohnung und seinen Schriftverkehr oder Beeinträchtigungen seiner Ehre und seines Rufes ausgesetzt werden. Jeder hat Anspruch auf rechtlichen Schutz gegen solche Eingriffe oder Beeinträchtigungen.«*
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Das HOW TO magazine erscheint halbjährlich. Nächste Ausgabe HOW TO job, April 2009 HOW TO stalker Ausgabe #4 ISSN 1864-8614 Herausgeber: Tim Klinger Zschochersche Str. 79b, 04229 Leipzig Gestaltung und Satz: MEAN DESIGN, Leipzig, meandesign.com Transfer: flock-in GmbH, Wiesloch, flock-in.com Druck: Messedruck Leipzig GmbH, Leipzig, messedruck.de Auflage: 750 Stk. © 2008 bei den Autoren © 2008 beim Herausgeber, Leipzig www.howtomag.com Alle Rechte vorbehalten. Eine Verwertung der urheberrechtlich geschützten Beiträge, insbesondere durch Vervielfältigung, Verbreitung auch in elektronischer Form, sowie Speicherung in Datenbanksystemen bzw. Inter- oder Intranets ist ohne vorherige Zustim mung unzulässig und strafbar, soweit sich aus dem Urhebergesetz nichts anderes ergibt. * Artikel 12 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte Resolution 217 A (III) vom 10.12.1948
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U4: von Petra Mattheis „Paradies“, 2008, 24 x 33 cm, Papier www.petramattheis.de
HOW TO magazine # 4
Editorial oder: 17 jährige Gören Von Tim Klinger
Es war an einem lauen Sommertag. Ich saß hungrig vor einem kleinen Lokal in der Innenstadt meiner Wahlheimat und verspeiste einen Bagel. Die Uhr im gegenüberliegenden Schaufenster zeigte 14:34 Uhr. Für Frühstück recht spät, doch es war Sonntag und eine lange Nacht am Tag zuvor lag hinter mir. Ich bemerkte kaum die Gruppe quakender Mädchen, die an mir vorbeiliefen. Plötzlich zog eine dieser Gören ihre Fotokamera und knipste ein Bild, wie ich gerade genüsslich in meinen Bagel biss. Mit dieser persönlichen Momentaufnahme bin ich sicherlich bald fester Bestand irgendeiner Webgalerie. Dafür gab es kein D a n k e oder G r a z i e (die Mädels kamen eindeutig aus Italien). Meines Persönlichkeitsrechts beraubt, saß ich nun da mit meinen Bagel. Ich musste an Damien Hirsts Tigerhai denken, dem kurz vor seiner L a u f b a h n auch ein leckerer Happen in Form eines Köders aufgetischt worden war.
geschaffene Ve n u s v o n W i l l e n d o r f aus der Lust am Spannen geschaffen wurde. Sebastian Klug präsentiert uns ein Exklusiv-Interview mit dem Verursacher der ganzen Misere, der nebenbei der größte Spanner dieser Welt ist – er sieht alles. Der Frage, wie nah oder wie fern das S e h e n - W o l l e n vom S t a l k i n g entfernt liegt, kommt Aishah El Muntasser in U n e r h ö r t e M e n s c h e n ab Seite 74 näher. Insgesamt bietet das HOW TO stalker Arbeiten zum Thema Voyeurismus und Exhibitionismus von über 20 Autoren – und, ja, wir haben auch S t a l k i n g g e s c h i c h t e n . Das Foto der jungen Italienerin gibt es nicht zu sehen. Auch wenn es passen würde. Doch wahrscheinlich hat meine L a u f b a h n mittlerweile auf f l i c k r oder w e b s h o t s begonnen und es wird für mich gevoted. Oder noch schlimmer: es wird nicht gevoted!
D i e p h y s i s c h e U n m ö g l i c h k e i t d e s To d e s i n d e r Vo r s t e l l u n g e i n e s L e b e n d e n heißt der übersetzte Titel des Kunstwerkes. Die Kunst-Leiche, die in einem Aquarium mit Formaldehyd dem gaffsüchtigen Publikum präsentiert wird. Mit Erfolg, denn auch der kann in der Kunst in Zahlen gemessen werden, für 8 Mio $ wurde es 2004 verkauft. Was reizt die Menschen am S p a n n e n ? Warum ist das Verlangen so stark und tiefgründig, dass sich die Kunst seit langem intensiv damit beschäftigt? Wie lange schon, weiß André Hille. Er geht ab Seite 10 darauf ein und und fragt sich unter anderem, ob schon die vor 25.000 Jahren
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HOW TO magazine # 4
In(ne)halt(en) 1
My seduction of a Pan Am stewardess`59 von Jan Rasmus Voss
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Editorial oder: 17 jährige Gören
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Von Tim Klinger
Ich sehe, also bin ich (Voyeur)
Von André Hille
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Fensterln von Petra Mattheis
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Daten auf Vorrat
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Von Annika Kremer
Oder einen Bilderrahmen kaufen
Von Anja Junghänel
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Beach von Rüdiger Glatz
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Saigon Tourist von Hendrik Haase
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Der Erfolg hat mich vollkommen überrannt!
Von Sebastian Klug
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Schulmädchenreport
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Die langen Schwänze der Nachbarschaft
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The Grand Tour von Kilian Krug
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Von Rolf B. Hortwig
Von Lars Reyer
Cyberstalkers: a personal approach
By Doreen Toutikian
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Suchbild von Kilian Krug
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Stalker. Versuch einer Typologie
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Rubber Duck
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Von Jasmin Sidki mit Illustrationen von Christian Orendt
By Alex Leask
Picknick am Wegesrand: Vom Stalking in der verbotenen Zone
Von Florian Mundhenke
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Google Mail an Anne Klint
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Unerhörte Menschen
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Walking stalking New York von Micha Ott
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WHO is HOW TO? und WHO is WHO bei uns
Von Aishah El Muntasser
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Ich sehe, also bin ich (Voyeur) Eine kleine Motivgeschichte des Voyeurismus Begann alles mit der Venus von Willendorf? Wer kennt sie nicht, diese wohlgenährte Dame mit den ausladenden Hüften, den sehr kräftigen Brüsten und der überdeutlich herausgearbeiteten Vulva, mit den schmalen Füßen und dem verhüllten Kopf, die, um 25.000 v. Chr. geschaffen, uns in der Schule als eines der frühesten Kunstwerke der Spezies Mensch präsentiert wurde? Fruchtbarkeitskult und so. Oder steckte noch mehr dahinter? Schuf der Künstler sie vielleicht nur, um das reale Vorbild betrachten zu können? Ging die etwa 15 cm große Steinfigur von Hand zu Hand und e r r e g t e die Gemüter? Kurz: Zeugt die Venus von Willendorf vielleicht von einer frühen Form des Voyeurismus?
Von André Hille
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HOW TO magazine # 4
Vermutlich nicht. Die ganze Anlage dieser Figur deutet allerdings auf ein primäres Merkmal des Voyeurismus voraus: die Isolierung der Geschlechtsmerkmale. Doch dazu später mehr. Voyeurismus ist ein sehr altes Phänomen, das sich durch die gesamte Menschheitsgeschichte zieht. Er resultiert aus der elementaren Neugier eines jeden Menschen, seinem Erkenntnisdrang und seinem Wunsch, alles mit eigenen Augen zu sehen. Und zwar nicht nur dort, wo es lustvoll geschieht, sei es heimlich oder legitim, sondern auch dort, wo es moralisch verwerflich, gesetzlich verboten oder gar lebensgefährlich ist. Eine gewisse voyeuristische Neigung besitzt jeder: Unfall auf der Autobahn? Wer schaut nicht über die Schulter, um den Toten oder Verletzten zu sehen? X und Y haben sich scheiden lassen? Warum? Gab es eine Affäre? Gefangen im Promi-Dschungel, im Next-TopModel-Camp, in der Hartz-IV-Falle? Millionen schalten täglich den Fernseher ein und schauen anderen einfach nur beim Leben zu. Je privater desto s p a n n e n der. Weit gefasst, bedeutet Voyeurismus nichts als eine mehr oder weniger gesunde Neugier. Und doch ist Voyeurismus in seiner engeren Form mehr als dies, eine sehr spezielle, aufs Sexuelle ausgerichtete Schaulust.
Wasserkrügen. Sorglos durch den Wald streifend, betrat Aktaion die Grotte und überraschte die Badende. Die Nymphen suchten die Blöße der Göttin mit ihren Leibern zu bedecken, die sie jedoch um Haupteslänge überragte und unter dem unkeuschen Blick des Sterblichen glühend errötete. Ihres Bogens beraubt, bespritzte sie Aktaion mit dem Wasser der Quelle und rief: «Nun sag, wenn Du kannst, du habest mich nackend gesehen!« Daraufhin wuchs Aktaion ein Geweih aus der Stirn, seine Ohren wurden länger und länger, Hände und Füße wandelten sich zu gespaltenen Hufen und ein geschecktes Fell bedeckte seinen Leib. Furcht ergriff ihn und er eilte von dannen, selbst erstaunt über seinen geschwinden Lauf. Als er schließlich sein Spiegelbild im Wasser erblickte, wollte er vor Erstaunen ausrufen, aber seine menschliche Stimme war geschwunden, und nur ein Stöhnen entrang sich seiner Kehle. Als Einziges blieb sein Verstand unverändert, und er überlegte, was er tun solle, während Tränen über sein pelziges Gesicht rannen. Scham hielt ihn vom Palast seines Vaters fern, Furcht von den dichten Wäldern der Umgebung. Noch während er überlegte, erspähten ihn seine eigenen Hunde und verfolgten ihn, angespornt von seinen Freunden, die nur bedauertenn, dass Aktaion selbst diese Jagd versäumte. Sie riefen nach ihm und bemerkten nicht, wie der Hirsch
Voyeur, der; -s, -e [frz. v o y e u r ‹ afrz. veor, véeur = Beobachter, Späher zu: voir ‹ lat. v i d e r e = sehen beobachten, spähen]
Sehen, urspr. mit den Augen verfolgen. wahrsch. liegt ein altes Wort der Jägersprache zugrunde, das sich auf den verfolgenden u. spürenden Hund bezog.
Wichtige, immer wieder neu ausgedeutete Geschichten von Voyeuren und ihren Opfern finden sich in den frühen europäischen Hochkulturen und mit ihnen immer wiederkehrende Motive: Der Mann als Späher, die Frau als Beobachtete, das Wasser als Element der Unschuld, das Dunkle (Wald, Raum, Versteck) als Element des Triebes und zugleich als Schutzraum des Voyeurs, in dem er allein mit seiner Lust ist. In der griechischen Sage von Aktaion und Diana (=Artemis) verschränken sich diese Motive und kommen der in der etymologischen Wurzel angelegten Ambivalenz des Wortes Voyeur (Jagen und Sehen) erstaunlich nahe: Nach erfolgreicher Jagd hatte Aktaion seine Freunde mit den Speeren und Netzen nach Hause geschickt. Diana hatte in einem heiligen Hain eine Quelle aufgesucht, in der sie nach erfolgreicher Jagd zu baden pflegte. Eine der Nymphen nahm ihr die Jagdwaffen ab, eine andere richtete ihr Haar, wieder andere benetzten die Göttin aus
noch auf den Namen lauschte, während ihn seine eigenen Hunde zerfleischten. Indem Diana ihres Bogens (ihrer Wehrhaftigkeit) beraubt Wasser schleudert, kehrt sie den b o h r e n d e n Blick des Aktaion gewissermaßen um. Diana wehrt sich gegen die passive Rolle der Beschauten, sie gibt sich nicht in die Rolle einer Exhibitionistin. Diana bzw. Artemis war in der römischen Mythologie die Göttin der Jagd und des Mondes, Beschützerin der Frauen und Mädchen. Sie blieb Jungfrau und vermählte sich nicht. Die Jagd und das Spähen kennzeichnen diese Geschichte so wie noch heute, tausende Jahre später, bei Paparazzi, Stalkern und Voyeuren. Schon hier wird deutlich, dass es in der Regel der Mann
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ist, der schaut und der mehr oder weniger bewusst in das unschuldige Reich der Frau (die Quelle im Wald) eindringt. Er muss, im Falle des Aktaion, dafür mit dem Tode bezahlen. Das Motiv der badenden und beobachteten Frau (das Wasser steht auch hier für die Reinheit und Unschuld) findet sich ebenfalls in der Geschichte der S u s a n n a i m B a d e , die sich etwa 600 v. Chr. in Babylon zugetragen haben soll. Nach Daniel 13, 1 – 64 EU lebte in Babylon ein reicher Mann namens Jojakim, der mit einer schönen, frommen Frau namens Susanna verheiratet war. In seinem Haus verkehrten auch zwei hoch angesehene Richter, die sich in die schöne Susanna verliebten. In den Apokryphen der Bibel heißt es: »Da regte sich in ihnen die Begierde nach ihr. Ihre Gedanken gerieten auf Abwege und ihre Augen gingen in die Irre.« Die beiden Alten lauerten der Frau heimlich im Garten auf, als diese ein Bad nehmen wollte. Sie bedrängten sie und versuchten sie dazu bringen, mit ihnen zu schlafen. Sollte sie diesen Liebesdienst verweigern, würden sie sie des Ehebruchs beschuldigen. Für die fromme Frau ein Dilemma: Sollte sie den Herren nachgeben und gegen Gott sündigen, oder sollte sie standhaft bleiben und dafür den sicheren Tod in Kauf nehmen, denn wem würde man mehr glauben: zwei ehrbaren Richtern oder einer jungen Frau? Susanna blieb standhaft, weigerte sich und schrie. Die beiden Alten riefen ebenfalls lautstark, ließen Susanna verhaften und erklärten, sie beim Ehebruch überrascht zu haben. Daraufhin hielten sie öffentlich über die Frau Gericht und verurteilten sie zum Tode. Als das Urteil vollstreckt werden sollte, hatte Daniel eine göttliche Eingebung und stellte ein Verhör der beiden Zeugen an. Er fragte sie, unabhängig voneinander, unter welchem Baum wohl Susanna ihren Mann betrogen haben solle. Während der eine meinte, sie hätten es unter einer Zeder getan, sagte der andere, eine Eiche sei der Tatort gewesen. Da erkannten auch die jüdischen Autoritäten und das zuhörende Volk die beiden Lügner, und Susanna kam frei. Die beiden Richter wurden getötet. Diese Geschichte erfreute sich durch die Jahrhunderte nicht nur in Italien, sondern auch in Deutschland großer Beliebtheit und wurde immer wieder gelesen und aufgeführt (1532 etwa als D i e H i s t o r y v o n d e r f r o m e n g o t t s f ö r c h t i g e n F r o u w e n S u s a n n a oder 1533 als
unter die Apokryphen eingereiht, unter jene Texte, die nicht den gleichen Wahrheitsgehalt besitzen wie die anderen des Alten Testaments. Im europäischen Mittelalter war die Szene der S u s a n n a i m B a d e als bildnerisches Motiv außerordentlich beliebt, bot sie doch den Malern einen Vorwand, Nackte abzubilden und somit wiederum den Voyeurismus des einfachen Volkes zu befriedigen. Zu dieser Zeit war die Kirche eine Art U m s c h l a g p l a t z des Voyeurismus: Der Priester lauschte den gebeichteten Geschichten, das einfache Volk ergötzte sich an den gewaltigen Bildern ebenso wie an öffentlichen Hinrichtungen oder Verbrennungen. Die Kirche besaß die Deutungshoheit über die Bilder und forderte, jenseits des von ihr Autorisierten, Keuschheit. Keusch sein musste der Christ beispielsweise von donnerstags bis sonntags, an Festtagen und auch drei Tage und Nächte nach der Hochzeit. Bei Nichtbefolgung drohten harte Strafen – theoretisch. In der Praxis setzte sich oft genug eine gewisse Nachlässigkeit gegenüber den Sündern durch; vielleicht auch deshalb, weil viele Priester, Mönche und Nonnen selbst dazu gehörten.
weil in ihr der Grundsatz der unabhängigen Zeugenbefragung begründet liegt. Die Theologen allerdings hatten mit dieser Geschichte ihre Schwierigkeiten. Luther hat auch nur Teile des Buches Daniel übersetzt und diese lediglich
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Ein geistlich Spiel von der gotfürchtigen und keuschen Frawen Susannen, gantz lust i g u n d f r u c h t b a r l i c h z u l e s e n ), nicht zuletzt,
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„In der Lunigiana, einer nicht weit von hier gelegenen Landschaft, ist ein Kloster, wo einst mehr Frömmigkeit und mehr Mönche anzutreffen waren als heute; dort war unter anderem auch ein junger Mönch, dessen strotzender Jugendkraft weder die Kälte noch das Fasten etwas anhaben konnten. Als der eines Tages um die Mittagsstunde, wo die anderen Mönche alle schliefen, von ungefähr ganz allein bei ihrer Kirche, die an einem gar einsamen Orte lag, umherging, bekam er ein sehr hübsches junges Mädchen zu Gesicht und kaum hatte er sie gesehen, so überfiel ihn auch schon heftig die fleischliche Begierde. Er trat zu ihr und fing mit ihr zu sprechen an, und ein Wort ergab das andere, bis er mit ihr einig war und sie, von jedermann ungesehn, mit sich in seine Zelle nahm. Während er nun, von übergroßem Verlangen entflammt, wenig vorsichtig mit ihr scherzte, geschah es, dass der Abt, der sich vom Schlafe erhoben hatte und leise bei der Zelle vorbeikam, das Geräusch vernahm, das sie miteinander machten; und um die Stimmen besser unterscheiden zu können, trat er an die Tür der Zelle und lauschte.“ Boccaccio, Dekameron (um 1350) Der Adel und der Hofstaat hingegen lebten, insbesondere im ausklingenden Mittelalter, nicht selten dekadent und orgiastisch. Dies steigerte sich bis zur Zeit des Rokoko, in der die Lust am Zeigen und Schauen in der adligen Oberschicht exzessiv betrieben wurde. Ludwig XIV. etwa, so heißt es in Knaurs Sittengeschichte der Welt, feierte seine Feste in voller Gala – oder nackt. Nie wusste der Adel, ob er zu einem formellen Souper gebeten wurde oder zu einer Orgie, ob in die Salons mit den schweren Vorhängen oder in improvisierte Garderoben geleitet wurde. War letzteres der Fall, erschien der Hofstaat in hohen Stöckelschuhen, die Damen präsentierten ihre grazile Weiblichkeit, die Herren ihre stramme Männlichkeit dem Regenten Frankreichs, der seine geschulten Lakaien (die wiederum weder sehen noch hören noch reden durften) anwies, den P a r a d i e s v ö g e l n , wie er seine erlauchten Gäste nannte, Erfrischungen zu reichen. Man aß und trank, bevor man sich auf den bequemen Liegebetten der Wollust ergab. »Schon das Zusehen verschaffte dem Regenten wollüstige Empfindungen: Wenn er nicht Akteur war, wollte er Voyeur sein.«
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Wohin diese Exzessivität führte, ist hinlänglich bekannt: Frankreich war Ende des 18. Jahrhunderts vollkommen überschuldet, und schließlich setzte die Französische Revolution dem dekadenten Absolutismus ein brutales Ende. Wurden noch im 18. Jahrhundert unter Galans und Mätressen kleine Aquarelle mit anzüglichen Bildern und Stellungen herumgereicht, änderte die Erfindung optischer Geräte die Möglichkeiten des Voyeuristen grundlegend. Nicht nur, dass es durch die Daguerreotypie nun möglich war, reale Situationen festzuhalten und als Fotos zu präsentieren, sondern das Fernrohr bot für den auf seine Verborgenheit angewiesenen Voyeur ein neues, nahezu perfektes Instrument – ein Instrument, das schon allein in seiner phallischen Form ein Hinweis auf das (männliche) Eindringen in die (weibliche) Privatsphäre ist.
„Sobald diese Entdeckung gemacht war, sah sich der Entdecker natürlich die Frauen an; und da enthüllte sich ihm die ganze unverwüstliche Bedeutung menschlichen Kuppelbaus. Was rund ist an der Frau, und damals nach dem Willen der Mode noch sorgfältiger verheimlicht wurde als heute, so daß es bloß als kleine rhythmische Unebenheit im knabenhaften Fluß der Bewegungen erschien, wölbte sich unter dem unbestechlichen Blick des [Fernrohres] wieder zu den ureinfachen Hügeln, aus denen die ewige Landschaft der Liebe besteht. […] Das beste Mittel gegen einen anzüglichen Mißbrauch dieses weltanschaulichen Werkzeugs ist es, an seine Theorie zu denken. Sie heißt Isolierung. Man sieht Dinge immer mitsamt ihrer Umgebung an und hält sie gewohnheitsmäßig für das, was sie darin bedeuten. Treten sie aber einmal heraus, so sind sie unverständlich und schrecklich, wie es der erste Tag nach der Weltschöpfung gewesen sein mag, ehe sich die Erscheinungen aneinander und an uns gewöhnt hatten.“ Musil spricht von der Isolation des beobachteten Objekts, der Herauslösung aus seiner Umwelt, von u r e i n f a c h e n H ü g e l n . Die primären und sekundären Geschlechtsmerkmale sind es, wie bei der Venus von Willendorf, die herausgelöst, isoliert werden, unabhängig vom Charakter oder Gesicht des Menschen. Isolation des Objekts auf der einen und Verbergen der Voyeur-Existenz auf der ande-
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Robert Musil. Nachlass zu Lebzeiten (1936)
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ren Seite kennzeichnen die grundlegende voyeuristische Situation. Voyeurismus heißt Abstraktion: Der Voyeur abstrahiert vom Menschen, und das Fernglas hilft ihm, die Distanz zu seinem Objekt zu vergrößern. Die schauende Instanz kann ihr Schauen, ja ihre eigene Existenz gegenüber der betrachteten Instanz weitgehend unsichtbar machen. Dies war und ist wohl immer der große Reiz des Voyeurismus gewesen: Selbst unsichtbar zu sein und am Leben des/der Anderen teilzuhaben. Der Voyeur versucht, dem alten Traum von der Tarnkappe so nahe wie möglich zu kommen, er möchte im beobachteten Gegenüber aufgehen. Wer kennt sie nicht, die plötzliche Erregung, wenn am Strand ein nackter Körper ins Sichtfeld des Feldstechers gerät oder ein offenes Fenster Einblicke ins fremde Privatleben erlaubt, vielleicht ein Streit, vielleicht eine zärtliche Geste, ein Bohren in der Nase, wobei die Erregung weitestgehend aus der Tatsache rührt, dass das Fernglas die Existenz des Betrachters vor dem Betrachteten verbirgt. Die Distanz schafft Kontrolle, Macht. Der Voyeur hat die Situation immer im Griff. Doch im Gegensatz zur normalen Erregung, die nach kurzer Zeit wieder abebbt, braucht der Voyeur diese Situation, er führt sie immer wieder herbei, weil ihm das Schauen zur Ersatzlust geworden ist: »Zur Perversion wird die Schaulust, wenn sie sich a ) ausschließlich auf die Genitalien einschränkt, b) wenn sie sich mit der Überwindung des Ekels verbindet, c) wenn sie das normale Sexualziel, statt es vorzubereiten, verdrängt« (S. Freud). Das Schauen des Voyeurs bereitet also nicht die Lust vor, wie noch bei den alten Richtern der Susanne im Bade, es erzeugt die Lust erst. Das Objekt
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muss dabei unerreichbar sein, ja, seine Unerreichbarkeit ist eine wesentliche Voraussetzung der Lust, auch wenn sich der Voyeur in seiner Phantasie nichts sehnlicher wünscht, als dem Objekt nahe zu sein. Das Entdecktwerden durch das Objekt gleicht dabei einer Entzauberung und löst einen tiefen Schock aus.
„Zihal schwenkte sacht den Tubus, dessen Nachgiebigkeit und Fixiertheit in jeder Richtung allein schon tiefgehenden Genuß bot. Bald trat es wie nahes fließendes Feuer in Schlieren leuchtend vor’s Auge, mit äußerster Beherrschung der zitternden Hand änderte Julius sacht die Einstellung des Oculars, und nun plötzlich zerriß dieser Vorhang von Gelatine und herein durch die ganze Breite des Gesichtsfeldes in’s Zimmer stürzte eine seifenglänzende Schulter und noch mehr, das weißlackierte Badeschaff, darin die drallen Waden standen und dahinter und gleichzeitig viele Einzelheiten der Einrichtung eines fremden Raumes, der jetzt unmittelbar an Zihals Observatorium grenzte, nur durch eine Glaswand davon getrennt. Der Amtsrat fuhr mit dem Kopfe zurück, kniff die Augen zusammen und zog seine Schultern ein, er bückte sich ein wenig nach seitwärts, kurz: er nahm Deckung. Das Mädchen hatte ihm geradezu in’s Gesicht geschaut.“ Allen diesen Geschichten vom Voyeurismus liegt eines zugrunde: das Sehen. Das Sehen ist der Leitsinn des Menschlichen. Circa 90 Prozent aller Wahrnehmungen geschehen über die Augen. Und im Vergleich zu den anderen menschlichen Sinnen durchläuft das Sehen die komplexesten Verarbeitungsstufen im Gehirn. Der Geruchssinn des Menschen ist direkt an Gefühle gekoppelt. Man geht eine Sommerwiese entlang und plötzlich steht einem ein Tag in der Kindheit vor Augen. Man nimmt aus der Küche einen bestimmten Geruch wahr und denkt an die längst verstorbene Großmutter. Gerüche sind distanzlos. Das liegt an der Abspeicherung von Gerüchen im Hippocampus, einem der evolutionär ältesten Teile des Gehirns. Ähnlich, wenn auch nicht so stark wie beim Riechen, verhält es sich beim Hören. Eng angeschlossen an die akustische Reizaufnahme ist die fortlaufende Bewertung durch das Limbische System, in dem alle auditiven
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Heimito von Doderer: Die erleuchteten Fenster. (1951)
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Reize noch vor der bewussten Wahrnehmung emotional bewertet werden und Gefühle auslösen. Akustische Informationen steuern die Gefühlslage und die Stimmung sehr direkt. Anders beim Sehen: Das Bild der Welt, so wie es auf dem Foto zu sehen ist, existiert nur bis zur Netzhaut. Danach geht es in elektrische Impulse über und nur diese Nervenimpulse kann das Gehirn verarbeiten. Die primäre Sehrinde etwa reagiert besonders stark auf Kanten und Konturen und arbeitet als eine Art Verteiler für die höheren Hirnregionen, die das Bild nach verschiedenen Inhalten analysieren. Für unterschiedliche Aspekte des Bildes gibt es teilweise spezialisierte Gebiete, doch diese Areale sind nicht streng voneinander abgegrenzt. Unser Gehirn ist vielmehr ein kompliziertes Netzwerk, in dem unzählige Verarbeitungsschritte gleichzeitig ablaufen und in dem die Bereiche pausenlos miteinander Informationen austauschen. Gleichzeitig vergleicht das Gehirn die gefundenen Strukturen mit gespeicherten Bildern aus seinem Langzeitgedächtnis. Wurde ein Gegenstand schon einmal gesehen, reichen schon wenige Hinweise, damit es ihn wiedererkennt. Bei einem neuen Objekt müssen dagegen mehr Einzelheiten entschlüsselt werden, und der Erkennungsprozess dauert länger. Innerhalb von rund einer viertel Sekunde hat das Gehirn alle relevanten Informationen über das Was und Wo aus dem Bild gewonnen. Bis heute ist allerdings nicht bekannt, wie es diese verschiedenen Aspekte zu einem Gesamteindruck kombiniert. Fazit dieses kleinen Exkurses: Es erfolgt also schon auf der tiefsten Ebene des Sehens eine Sortierung, Filterung und Einordnung. Sehen bedeutet a priori Analyse, das Se-
hen ist der distanzierteste unserer Sinne. Dass wir eine v i s u e l l e G e s e l l s c h a f t sind, heißt auch, dass wir eine analytische, distanzierte Gesellschaft sind. Das Sehen hat im Lauf der Zeit alle anderen Sinnesorgane so gut wie verdrängt. Das gilt auch für das Sexuelle: Das Sehen des Sexuellen, die ständige Präsenz in den Medien, hat das eigentliche Sexuelle verdrängt. »Die Neigung, das Geschlechtsbesondere entblößt zu schauen, ist eine der ursprünglichen Komponenten unserer Libido. Sie ist selbst vielleicht bereits eine Ersetzung, geht auf die primär zu supponierende Lust, das Sexuelle zu berühren zurück. Wie so häufig, hat das Schauen das Tasten auch hier abgelöst«, schreibt Sigmund Freud und liefert damit schon Anfang des 20. Jahrhunderts eine treffende Beschreibung unserer voyeuristischen Gesellschaft. Das Internet ist die aktuelle Spitze dieser Entwicklung. Es revolutioniert das Sehen und die Anonymität und ist daher der perfekte Nährboden für Voyeure, ja vielleicht ist es sogar umgekehrt: Die voyeuristische Gesellschaft hat das Internet erst hervorgebracht. Böse Zungen behaupten, ohne Pornografie wäre das Internet noch heute eine 56-KAngelegenheit. Das Internet ist das Fernrohr der Moderne. Die Anonymität des Netzes ist vollkommen, die Möglichkeiten des Beobachtens durch Hidden Cams oder Webcams sind nahezu unbegrenzt. Das Lesen als basale Kulturtechnik, das Fernsehen und die Computerarbeit machen den Sehsinn heute unabdingbarer als jemals zuvor. Diese einseitige Vermittlung über Buchstaben, Zeichen und Bilder (iconic turn) stellt eine zusätzliche Abstraktionsleistung dar: Wir entfernen uns immer weiter von u r s p r ü n g l i c h e n , mit allen Sinnen erlebten Erfahrungen. Kinder müssen im Kindergarten wieder fühlen lernen, wir stürzen uns mit einem Seil von Kränen oder kraxeln Achttausender hinauf, um die Distanz zwischen uns und der Welt wieder einmal aufzuheben. Um nicht nur Seh-Sinn zu sein. Der Erschaffer der Venus von Willendorf hat die Nackte noch mit den Händen geformt, es ist eher unwahrscheinlich, dass sie für das Sehen geschaffen wurde. Das Sehen hat, wie der stärkste Vogel im Nest, den Kampf um das F u t t e r A u f m e r k s a m k e i t gewonnen. Der Voyeurismus ist keine Krankheit der Moderne, die Moderne eher eine Krankheit des Voyeurismus.
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Petra Mattheis „Ausmalen“, 2008, 24 x 33 cm, Papier
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