Glückliches Stuttgart, nimm freundlich den Fremdling mir auf!

Page 1

WO L F G A N G C H U R

»Glü�li�es Stu�gart, nimm freundli� den Fremdling mir auf!« Unterhaltsame literarische Spaziergänge durch die schwäbische Metropole

Stiftskirche Leonhardskirche

Altes Schloss Neues Schloss




Impressum: 1. Auflage, März 2016 © 2016 beim Verlag: J.G. Seume, Leipzig — Frankfurt Haus des Buches, Gerichtsweg 28, 04103 Leipzig Gestaltung & Konzept: Tim Klinger, Frankfurt, meandesign.com Herstellung: Dru�erei Friedri� Pöge e.K. , Leipzig Schrift: DTL Fleis�mann von Erhard Kaiser ISBN 978-3-9814045-8-6

Printed in Germany www.seume-verlag.de

Danke an Dana S�midt �r die grafis�e Unterstützung.

Titel: Holzstich von G. Theuerkauf aus »Über Land und Meer. Allgemeine Illustrirte Zeitung« um 1869


WO L F G A N G C H U R

»Glü�li�es Stuttgart, nimm freundli� den Fremdling mir auf!« Unterhaltsame literarische Spaziergänge durch die schwäbische Metropole


4


Inhaltsverzei�nis

VO RWO RT

S PA Z I E R G A N G I

6

12

Aus dem Herzen der Stadt zum Tisch der 13 und zu Hackländers Strahlendem Bergwerk S PA Z I E R G A N G I I

34

Von Schiller zu Rommel, Hauff, Hegel und Raff S PA Z I E R G A N G I I I

62

Fürstenwillkür, Mundart und blanke Po’s S PA Z I E R G A N G I V

82

Lyriker, das Universalgenie von Heslach und mit dem Erbschleicherbähnle nach oben S PA Z I E R G A N G V

102

Eine ungewöhnliche Frau und eine ungewöhnliche Reise S PA Z I E R G A N G V I

122

Von der Reichen Vorstadt zum Hoppenlau-Friedhof und zum Heuss-Häusle S PA Z I E R G A N G V I I

140

Von Geschäften und Politik zur großen Liebe S PA Z I E R G A N G V I I I

Ein Ausflug ins Grüne zu Christian Wagner

160


Vorwort von WOLFGANG CHUR

Johann Wolfgang von Goethe sagt nach seinem Besuch in Stuttgart im Jahre 1787: »Ich habe hier Tage verlebt wie in Rom.« Wilhelm Raabe schreibt: »Für mich als Schriftsteller wie als Mensch könnte ich jetzt in Deutschland keinen besseren Aufenthalt finden.« Carl Maria von Weber meint 1810: »Unstreitig haben wenige Städte in Deutschland sich so vieler vorzüglicher Köpfe und Talente in ihren Ringmauern zu erfreuen als Stuttgart, wo der stille bescheidene Geist in sich selbst fortwirkt und, zufrieden mit seiner Wissensfülle, wenig nach Prunk und Ruf von außen strebt.« Und der gefürchtete, einflussreiche Literaturkritiker seiner Zeit, Wolfgang Menzel, schreibt in seinen Denkwürdigkeiten: »Ich konnte mich in geselliger Beziehung nirgendwo wohler fühlen als in Stuttgart. Der Volksstamm im Neckartal ist nicht sehr anschmiegsam und gewandt, auch nicht sehr mitteilsam und redselig, aber solid von Charakter, gut geschult und daher reich an Kenntnissen.« Mit diesen Urteilen und Bewertungen können wir Hiesigen gut leben. Ein bissle überzogen mag es zwar sein, alle Aussagen stammen eben von Reingschmeckten. Wir Stuttgarter hätten wohl nicht so dick aufgetragen, aber wenn es andere sagen, hören wir es nicht ungern und erheben keinen Einspruch. Einen hohen Wohlfühlfaktor hatte Stuttgart damals wie heute. Weinberge, Wälder, Wohlstand und Weltfirmen – dafür ist Stuttgart bekannt und damit fühlen wir uns wohl. Bei bundesdeutschen

6


Glücksmessungen liegen wir regelmäßig weit vorne, nie ganz an der Spitze. Irgendetwas zu bruddeln finden wir immer, so ganz sind wir mit uns und den Umständen nie zufrieden. Schon Friedrich Hölderlin preist: »Glückliches Stuttgart, nimm freundlich den Fremdling mir auf!« Nicht mehr ganz so bekannt ist die Tatsache, dass unsere Stadt im 19. Jahrhundert und besonders in seiner ersten Hälfte eine Stadt der Bücher war. Das Buchgewerbe war der führende Wirtschaftszweig mit zahlreichen Verlagen, Druckereien, Buchbindereien und lithographischen Anstalten. Nirgends gab es pro Kopf der Bevölkerung so viele Buchhandlungen! Cotta, Franckh, Metzler und später die Deutsche Verlagsanstalt hatten hier ihren Sitz. Vor allem das mächtige Verlagsimperium von Johann Friedrich Cotta (»König der Verleger«) bot hiesigen Literaten die Möglichkeit zur freien Entfaltung und entwickelte sich zum Magnet für auswärtige Dichter und Schriftsteller. Das gebildete Bürgertum wiederum öffnete seine Salons den Künstlern und Literaten und bestimmte so den geistigen Rang der Stadt. Eduard Paulus reimte: »Der Schiller und der Hegel, der Uhland und der Hauff, das ist bei uns die Regel, das fällt hier gar nicht auf.« Woher kommt die hohe Dichte an Dichtern und Denkern? Hat es mit den uns nachgesagten Stammeseigenschaften zu tun, mit unserer Neigung auch zum geistigen Tüfteln, Grübeln, Reflektieren, Spintisieren, mit unserer eher nach innen- als nach außenGekehrtheit? Wortkarg, dafür gedankenschwer? Waren die zahlreichen Lateinschulen, die Klosterseminare als Vorbereitung zum Tübinger Stift mit seiner theologisch-

7


humanistischen Tradition ein idealer Nährboden für philosophische Talente und Genies? Hat der schwäbische Pietismus mit seiner Mystik dazu beigetragen? Die Antworten mag der geneigte Leser selbst finden, wenn er den vorgeschlagenen Spaziergängen auf den Spuren unserer Dichter und Denker folgt. Er wird ihnen und ihrem Leben nachspüren und manches Versteckte oder Vergessene wieder aufspüren. Er wird unser reichhaltiges literarisches Erbe neu entdecken und schätzen und wird die schwäbische Metropole auf verwunschenen Wegen, verschlungenen Pfaden, atemraubend steilen Stäffele und schönen Aussichtsplätzen mit anderen Augen sehen. Damals wie heute bietet unsere lebens- und liebenswerte Stadt eine Kultur- und Literaturlandschaft, die ihresgleichen sucht, von der Hochkultur bis zur kreativen vielfältigen Kleinkunst. Dieses Buch möchte Geschichten hinter der Geschichte Stuttgarts erzählen, Neugier und Entdeckerlust wecken und Sie anregen, mit Freude bisher Verborgenes aufzudecken.

Stuttgart um 1643 Illustration von Matthäus Merian (*1593–†1650)

8


9


ße t ra ns ha

s-S us ße ra

z lat rp

tra ra

ße

zs

tr

stra

I

ße

K

tra igs

tr

t r.

e

M

Olgaeck

e

Ol

ng sli Es

str

ar

ine

ße

Al

n exa

der

Da

ck ne

ei

gs

tr

e

eu

e

Dobe

e

lst

raß

ße

r st

e

Dobelstraße

Ol

raße

ga st

raß

e

Dann

eckerst

Al

ex

an

de

ra

st

str

ph

er

to

s tr aß

Bopser

Bo

pse

r

ld wa

aß s tr

e

eg e nw nn

Meter

t ta

500

Ro

ge

400

Z

eue Weinsteige

300

e

200 ra ß

100

Bopserweg

He

ße

u st

ß tra

st

ps

is

r Stra

50

ers

H

elm

Bo

hr

ilh

nhofe

e

e

e

n

aß s tr

Geroksruhe T Geroksruhe s tr aß

lan

r.

ra er

tra rS t te stä pt

th Ka

ra n st

Imme

e

ße

rs

W

s tr aß

rs

rst

sen

au

e

C

e i ße Gänsheide nbu rg s t O Heidehofstraße raß e e ß P BoschßeVilla a r t a s t r Q Bubenbad st ar ig oz ste M R Georg-Elser-Staffel eu HS Gedenkstein

e ig

ne

H

aß s tr

ße

ar

ne

St

ße

raße

ien

ger S t

ph

Tübi n

So

W

Bohnenviertel L Esslinger Straße M Esslinger Vorstadt N Eugensplatz

0

Uh

e

ei St

Pf

Karlshöhe H Karlsplatz I Institut für Auslandsbeziehungen Österreichischer Platz J Charlottenplatz K Kanalstraße

t ta

e

Hohenheimer Straße

Schlossplatz A Schlossplatz B Neues Schloss C Altes Schloss D Königsbau E Kunstmuseum F Marquardtbau G Königin-Olga-Bau

Co

ra ß

raß

tr

Rathaus

en

ga st

e aß

W ag

ns

Rotebühlplatz

Ro

Br

Kö n

atz

vst

L

ße

inz pr on Kr

l ühlp

chi

J

e

str

M

ün

een

Ar

H

e

lst

e

hu

h stra ße

Sc

Stadtmitte

ro t h

Do

ße

str

ße

stra

C

lle

igs

ße

ich

ga

t ra

ra

Ulr

Ol

ns

ße

est

hi

se

en

Sc

ch

ße

St er lw

ße

Ki

Ki rc

tra

tra

B

Kö n

eS

ms

Ca

iu

Th

as

A E

eod

ße

He

ra

H

st

Ko nra d-A d

tra

ße

D

or-

ße ra st

ne

eu

ie

ena

Schlossplatz

K

Ur

uer -St

G

ba

raß e

ep St

F

Börsenplatz


lf

re

d-

nnst ßma

Hau

O

L

N

H e id

ße

stra

s t ra ß

eg

e

nsh

eid

e

str

t ra ß

e

e

l f-

r-S

A

ck s tr aß

do

e

Q

rg

ße

aß e

Rich

str

sehe a ße i d s tr

tr aß e

öni

Traubergstraße

ge r

Gän

G rö be rs

an e- St ra ße

Sand

g

ffle

B

di ar

l iw

- Sch äffl

e

eg

rt

nck

str

Ma rqu ard tstr aße

ok

stra

er

e aß S tr

ard-

a W

gn

er-

G

Pl a

llen che Im S

S ta

Bubenbad

ber

fflen

b e rg e r st

raß e

-

Im Schellen k

S ta

traße

k

be

eo

Elser-Staffel

g

Al

G

R

Sp Fa emannst ra rr ße en s tr aß e

S

i ön

Pl

eg ußw

aß e

Stra

e rstr

Ale

rg ra ße Sünderstaffel

nbe rg s tra ße

Son

Payerstraße

nen ber

Stälinweg

gst e raß

Ri

Gänswaldw e g

E n ge

lh o r n

weg

cha ag W rdne

Im

r-S

Ob in ge

s tr a ße

kl

le

den

aß e

ße

el

ien

hal

tra

ob

nK

D

e re

Pi sch ek str

I

Im Eulenrain

T

D

ey

hl

ew

eg

ger W eg

ders

be

xan

en

P fi z er st

Gablenber

traß

ne

a ffl

aße

K

ßw

We g

e n s tr a ße

S tr au

ro k

D. -

ße

P

ße

nz-

stra

e

St

str

ße

sstra

Ge

ehof

Fraa

F ra

iban

ra o n st

b u rg

B u ss

Heidehofstraße

Eugensplatz

nd

en Wag

Am

k

ra ß e

Gero

straße

Moserstraße

Ker nerstraße

ans

tra

eise

ße

nbe

rg s

tr.

A


S PA Z I E R G A N G I

Aus dem Herzen der Stadt zum Tis� der 13 und zu Ha�länders Strahlendem Bergwerk

SCHLOSSPLATZ

A

Als unser größter und schönster Platz gilt der Schlossplatz, das Herz der Stadt, lebendiger Treffpunkt mitten im Zentrum. Manche sagen, einer der schönsten Plätze Europas. Die barocke Gartenanlage mit Brunnen, Musik-Pavillon und Jubiläumssäule besticht zu jeder Jahreszeit durch ihre großzügige Weite. Schon im zeitigen Frühjahr liegen Jung und Alt auf dem Rasen und genießen die Sonne. Im Winter kann man auf einer Eisbahn Pirouetten drehen oder Glühwein inhalieren. Noch bis Mitte des 19. Jahrhunderts staubiger Exerzierplatz der hiesigen Garnison, verwandelte ihn der Hofgartendirektor, Schriftsteller und vielseitig begabte Friedrich Wilhelm Hackländer zu einem Blumengarten mit der Jubiläumssäule in seiner Mitte. Unsere Vorfahren, die Stände Württembergs, widmeten die 30 Meter hohe Säule 1841 zu Ehren des 25-jährigen Regierungsjubiläums und des 60. Geburtstags unserem König Wilhelm I., dem Vielgeliebten. Er schaffte es, dem 1806 von Napoleons Gnaden aus zahlreichen konfessionell unterschiedlichen Fürstentümern entstandenen Königreich Württemberg eine Verfassung zu geben, wichtige Reformen durchzuführen und identitätsstiftend zu wirken. In den 48 Jahren

12


seiner Regentschaft förderte er großzügig die Künste. Gekrönt ist die Jubiläumssäule von der hundert Zentner schweren römischen Göttin Concordia in Bronze. Zwei imposante Springbrunnen flankieren das Bauwerk.

Schlossplatz Stuttgart um 1899

Ringsum prägen kulturhistorische Bauten den Platz, unser Schmuckstück. Das spätbarocke Neue Schloss mit seinem Ehrenhof begrenzt den Platz nach Südosten. Als Herzog Carl Eugen 1744 im Alter von 16 Jahren nach Stuttgart kam, hatte er klare Vorstellungen von einer angemessenen Residenz. Das Alte Schloss genügte seinen Anforderungen nicht. Er verlangte die Errichtung einer »standesgemäßen, seiner fürstlichen Dignität convenablen und dem Umfang dero Hofstaats hinlänglichen Wohnung« und drohte, andernfalls die Hofhaltung nach Ludwigsburg zu verlegen. Einst Schauplatz glanzvoller Feste, im Zweiten Weltkrieg ausgebrannt, fast abgerissen und nach hitzigen Diskussionen

13

B

C


D

E

F

wieder aufgebaut, beherbergt es heute das Ministerium für Finanzen und Wirtschaft. Kaum jemand weiß, dass in einem Seitenflügel in einer Mansardenwohnung am 15. April 1920 unser verstorbener Alt-Bundespräsident Richard von Weizsäcker das Licht der Welt erblickte. Sein Großvater hatte dort als langjähriger letzter Ministerpräsident von König Wilhelm II. von Württemberg seine Dienstwohnung. Gegenüber, nach Nordwesten, prägt der Königsbau das Erscheinungsbild des Schlossplatzes. Im spätklassizistischen Stil Mitte des 19. Jahrhunderts von Hofbaudirektor Christian Leins errichtet, zeigt er eine beeindruckende Kolonnade aus 34 Säulen, unterbrochen durch zwei giebelgekrönte Portiken. Früher fanden prunkvolle Hoffeiern im Königsbau statt, heute laden Cafés zum Verweilen und das dahinter liegende Einkaufszentrum zum Shoppen ein. Neben dem Königsbau zieht ein architektonisch gelungener Glaskubus die Blicke auf sich, unser 2005 eröffnetes Kunstmuseum. Kunst aus der Region und die größte Sammlung an Werken von Otto Dix zieht die Besucher an. Wenn wir Stuttgarter bei unseren auswärtigen Gästen Eindruck schinden wollen, laden wir sie ins feine Restaurant Cube im obersten Stockwerk ein – der Ausblick auf den Schlossplatz und die Hänge dahinter ist schon ganz schön und beeindruckt immer. An der Südseite des Platzes liegt das burgartige Alte Schloss und die Alte Kanzlei mit der Merkursäule. → SPAZIERGANG 2 Zur unteren Königstraße hin, unserer für Fußgänger reservierten Haupteinkaufsmeile, steht der Marquardtbau. Als Nobelhotel geplant, entwickelte es sich am Ende des 19. Jahrhunderts rasch zu einem der führenden Herbergen Europas. Robert Bosch persönlich baute die Klingelanlage ein! Graf Zeppelin stellte hier sein erstes

14


S PA Z I E R G A N G

Luftschiff-Modell vor, Reichskanzler Bismarck war Gast und Richard Wagner logierte standesgemäß im Haus, obschon bedrängt von seinen Gläubigern. Auch Generalfeldmarschall Helmut Graf Moltke rühmt das Hotel Marquardt in seinen Reiseerinnerungen. Das Haus profitierte von seiner verkehrsgünstigen Lage neben dem alten Stuttgarter Hauptbahnhof, der von 1847 bis nach dem Ersten Weltkrieg dort im Dienst stand. Nur die korinthischen Säulen an der Fassade hin zur Bolzstraße erinnern noch an ihn. Wer’s gerne lustig mag, dem sei ein Besuch in der Komödie im Marquardt empfohlen. Sie ist, der Name sagt’s, auf Lustspiele spezialisiert, von schwäbischen Dialektstücken bis zur Klassik. An der Nordostecke des Schlossplatzes steht neben dem schlichten Königin-Olga-Bau mit Carls Brauhaus das Kunstgebäude mit seiner Kuppel, von einem goldenen Hirsch gekrönt. An Stelle des früheren Lusthauses und Königlichen Hoftheaters wurde es 1912 erbaut. Im Parterre sitzt man gut im Café Künstlerbund und hat einen schönen Blick über den Platz. Zwischen dem Kunstgebäude und dem Neuen Schloss sehen wir hinüber zum Schlossgarten mit dem eckigen Anlagensee, zum Staatstheater und dem neuen Landtagsgebäude. Wenden wir uns vom Schlossplatz zwischen Altem und Neuem Schloss auf der Planie Richtung Südosten, vorbei am Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus aus vier schwarzen Granitblöcken, so stossen wir rechter Hand auf den Karlsplatz. Er trägt seinen Namen zum Gedenken an Herzog Carl Eugen, der 1793 starb und zu seinen Lebzeiten Herzog Karl genannt wurde. Der erfreulich stille Platz versteckt sich gut hinter hohen Kastanienbäumen, die ihn ringsum säumen und kommt dadurch kaum noch zur Geltung. In der Mitte thront auf

15

I

G

KARLSHÖHE

H


Herzog Carl Eugen von Württemberg. Portrait von Pompeo Batoni, Rom, 1753

hohem Sockel das Standbild von Kaiser Wilhelm I. Hoch zu Ross blickt der Reichsgründer mit über der Brust offenem Uniformmantel in die Ferne, bewacht von ziemlich müde blickenden Löwen. Samstags belebt ein bunter Flohmarkt den Platz.

16


S PA Z I E R G A N G

Das Alte Waisenhaus mit dem Institut für Auslandsbeziehungen begrenzt den Karlsplatz nach Südosten. Ursprünglich geplant für die fürstliche Leibgarde zu Pferd, wurde es 1712 als Waisenhaus eröffnet, weil der Herzog seine Residenz nach Ludwigsburg verlegte. Wenn wir durch das gewölbte Tor in den Innenhof gehen, kommen wir in eine Oase der Ruhe. Im Sommer stehen dort sogar Liegestühle für den müden Spaziergänger. Oder wir setzen uns auf die große Terrasse des Grand Café Planie. Die Kuchentheke ist beeindruckend, Frühstück gibt’s schon ab 7 Uhr morgens. Die zweite Gemahlin unseres hochverehrten Bürgerkönigs Wilhelm II., die wohltätige Königin Charlotte (1864–1946), würde sich im Grab umdrehen, oder sich zumindest pikiert abwenden, angesichts der Scheußlichkeit des nach ihr benannten Platzes. Eigentlich ist er gar kein Platz mehr, sondern eine gigantische Asphalt- und Betonfläche, ein Verkehrsbauwerk als oberirdische Kreuzung der Bundesstraße 27 mit der unterirdisch verlaufenden Bundesstraße 14. Auch für die Stuttgarter Stadtbahn ist der Charlottenplatz ein wichtiger Knotenpunkt. Beherrscht wird die Szene vom kantigen SchwabenbräuHochhaus, an dessen Fassade allerdings die Konkurrenz Stuttgarter Hofbräu für sich wirbt. Genau an dieser Stelle stand einst das Äussere Esslinger Tor, durch das Friedrich Schiller mit seinem Jugendfreund, dem Musiker Andreas Streicher, kleinem Gepäck – zwei Koffer, aber immerhin auch ein kleines Klavier hinten auf dem Wagen – und wenig Geld in der Nacht vom 22. auf den 23. September 1782 vor dem despotischen Herzog Carl Eugen und seiner unberechenbaren Willkür ins weniger strenge kurpfälzische Ausland nach Mannheim entfloh und damit fahnenflüchtig wurde. Die Wachen waren durch ein prunkvolles Hoffest mit

17

I

I

J


Feuerwerk zu Ehren des russischen Großfürsten Paul, dem späteren Zaren, abgelenkt. »Halt, wer da?« »Doktor Ritter und Doktor Wolf, auf dem Weg nach Eßlingen!« Sie konnten ungehindert passieren. Zudem hatte Schillers Freund Scharffenstein in jener Nacht Turmwache. Das Lied von der Glocke Fest gemauert in der Erden Steht die Form, aus Lehm gebrannt. Heute muß die Glocke werden! Frisch, Gesellen, seid zur Hand! Von der Stirne heiß Rinnen muß der Schweiß, Soll das Werk den Meister loben; Doch der Segen kommt von oben. K

Versteckt dahinter liegt die Kanalstraße, eigentlich keine Straße, ein Gässle nur für ein paar Häuser. Gleich das erste mit der Hausnummer 2 ist mehr als der Erwähnung wert. Restauration zur Kiste steht an der Hauswand, ein geschmiedetes Schild zeigt einen Lastträger mit einer goldenen Kiste. Manche meinen, der Name käme von einer Hafertruhe, die zum Füttern der Pferde vor dem Haus stand, als die Wirtschaft noch vor der Stadtmauer lag. Eingeweihte wissen, dass man in der vergangenheitsgetränkten Kiste in der holzgetäfelten Stube mit von zahlreichen Hosenböden und Ärmeln blankpolierten Bänken und Tischen urgemütlich sitzen und in diesem Hort schwäbischer Gemütlichkeit vespern kann wie früher. Die Fleischküchle mit Kartoffelsalat schmecken wie daheim, auch Maultaschen, Rostbraten oder Gaisburger Marsch sind die Renner. Kenner bestellen Einsundeins, eine Maultasche und ein Fleischküchle mit herrlichen

18


S PA Z I E R G A N G

Bratkartoffeln. Hier ist gut sein, besonders mit einem Viertele Wein, oder zwei oder drei. Im ersten Stock tagte viele Jahre der Tisch der 13, ein Intellektuellen-Stammtisch mit hohem Anspruch. Künstler, Politiker, Juristen und Literaten trafen sich jeden Montag zum vertraulichen, gelegentlich auch erregten Gespräch und philosophischen Diskussionen. Die Themen ergaben sich weitgehend spontan. Ironisch-humoristische Wortspiele prägten die Debatte. Zur illustren Runde gehörten in den 1950er- und 1960er-Jahren der Historiker Professor Jäckel, der Generalintendant der Württembergischen Staatstheater Erich Schäfer, der Verlagschef der Deutschen Verlagsanstalt Frank-Ulrich Planitz, Staatsanwälte und Architekten. Es durften jedoch nicht mehr als 13 Mitglieder sein. Ab und zu behalf man sich dann mit den Nummern 13 a, b oder c. Die Anwesenheit wurde fein säuberlich in einer Kladde vermerkt und gelegentlich mit ironischen Bemerkungen ergänzt. Später tagte der Tisch der 13 in der feinen Alten Post in der Friedrichstraße, später im urigen Rössle in Botnang. Seit einiger Zeit trifft man sich in aller Stille im Hotel Royal. Mitgründer und tragende Säule des Tisch der 13 war Thaddäus Troll, alias Dr. Hans Bayer. Sein »Wo kommet denn die kleine Kinder her« und sein »Deutschland, Deine Schwaben« sind unvergessen. Das letztere Werk sei besonders den Reingschmeckten, also unseren lieben zugezogenen Neubürgern, sehr ans Herz gelegt. Seine tiefgründige schwäbische Lyrik geht meisterhaft auf die vielfältigen Zwischentöne unseres Dialekts und unserer Stammeseigenschaften ein, das, was uns ausmacht, und zeigt schonungslos unsere (Un-)Tugenden. Mit dem Fazit Mehr Sein als Scheinen können wir gut leben.

19

I


TH ADDÄUS TROLL in

Deutschland – Deine Schwaben Der schwäbische Dialekt ist so widersprüchlich wie der Schwabe. Der Sachse Peter von Zahn fragt, warum eigentlich das Sächsische schlimmer klinge als das Schwäbische. Er legt damit den Finger auf das Trauma der Schwaben, den seine Mundart und sein Ruf jahrhundertelang zum deutschen Nationaldeppen gemacht haben. […] Für den, der das Schwäbische beherrscht, ist diese Sprache ein feineres Instrument, um die Näherungswerte an das Gemeinte zu erreichen, als das Hochdeutsche. […] Der Schwabe, der sich seine Mundart abgewöhnt, verarmt. Er ist jedoch selten, denn wollte er es schon, er könnte es nicht. […] So sitzt der gebildete Schwabe sprachlich zwischen zwei Stühlen. Spricht er ein unzulängliches Hochdeutsch, so leidet er dem Fremden gegenüber unter dem Gefühl sprachlicher Unvollkommenheit, dem Landsmann gegenüber unter der Furcht, daß er als geschwollen gilt, daß ihm ein vornehmer Krattel nachgesagt wird. In Thaddäus Trolls Schwäbischem Schimpfkalender finden sich für alle 365 Tage im Jahr wunderschöne anerkennende wie abfällige Bezeichnungen für männliche (Diftele, Wuahler, Schlaule, Dagdiab, Grasdackel, Entaklemmr) wie weibliche (goldige Dock, Lompadierle, Schpinatwachtel, Habergois) Mitmenschen, eine sehr empfehlenswerte Lektüre. Troll war jedoch keineswegs nur harmloser Humorist, sondern zeigte immer wieder eine bissige gesellschaftskritische Seite. In seinen Versen O Heimatland hält er uns den Spiegel vor, entlarvt Scheinheiligkeit und Kleingeisterei und macht Architekten und Stadtplaner für die Verschandelung unseres Städtles ver-

20


S PA Z I E R G A N G

I

antwortlich. Als unermüdlicher Kämpfer für die Freiheit des Wortes engagierte er sich in zahlreichen Ehrenämtern und setzte sich mit Nachdruck für seine Kollegen von der schreibenden Zunft ein, auch als Vizepräsident der Schriftstellervereinigung PEN. Ein ausgeprägter Altruismus gehörte zu seinen besonderen Eigenschaften. Am Ende schied er 1980 mit 66 Jahren freiwillig aus dem Leben, geplagt von Depressionen. Seinen kurzen Nachruf verfasste er selbst, im Anschluss an die Trauerfeier wurde auf seinen Wunsch hin Trollinger (Kenner trinken Württemberger war sein Wahlspruch) ausgeschenkt. Zu seinen Ehren wird jährlich der Thaddäus-Troll-Literaturpreis an begabte Nachwuchsautoren verliehen. Gleich neben der Kiste steht ein schmales, gerade drei Fenster breites viergeschossiges Häusle aus dem 17. Jahrhundert. Zu Beginn der 1980er-Jahre sollte es eigentlich der Abrissbirne übereignet werden. Der Architekt Johannes Wetzel und der Lyriker Johannes Poethen konnten den damaligen Oberbürgermeister Manfred Rommel von einer neuen Nutzung des Gebäudes überzeugen. Seither kommen im Stuttgarter Schriftstellerhaus Autoren aus der Region zu Lesungen, Tagungen und Schreibwerkstätten zusammen. Im 3. Stock leben und arbeiten pro Jahr drei bis vier Stipendiaten und können ihrer Kreativität freien Lauf lassen. Gehen wir in der Esslinger Straße an der alteingesessenen Bäckerei und Konditorei Nast mit ihrem herrlich altmodischen Café vorbei oder hinein – mit der winterlichen Hausspezialität Schneebergle (»in verschiedenen Geschmacksrichtungen«) und noch von Hand vor Ort geschlungenen Brezeln, nicht als tiefgefrorene Teiglinge importiert – die Rosenstraße hinauf. Wir sind im Bohnenviertel, das so heißt, weil die Wengerter und kleinen

21

BOHNENVIERTEL

L


M

Leute hier in alten Zeiten in ihren Gärten vor der Stadtmauer die anspruchslosen und doch nahrhaften Bohnen als ihr Grundnahrungsmittel anpflanzten. Das Bohnenviertelfest jeden Sommer im Juli gilt bei uns als älteste und schönste Altstadt-Hocketse. Als Esslinger Vorstadt entstand das Viertel um die Leonhardskirche um das Jahr 1400 als erste Stadterweiterung. Wir kommen am Weinhaus Stetter mit seiner unglaublichen Weinauswahl vorbei, eine gute Adresse für gemütliche Einkehr bei einem Viertele, lassen das Hotel-Restaurant Zauberlehrling rechts am Wegesrand liegen und treffen an der Ecke zur Olgastraße auf das Café Hüftengold. Vorsicht, nomen est omen! Ein Kuchenparadies, ein gefragtes Wohlfühlplätzchen … Friedrich Wilhelm Hackländer (1816–1877) ist weitgehend in Vergessenheit geraten. Mitte des 19. Jahrhunderts war er einer der meistgelesenen deutschen Schriftsteller! Das Schicksal trug ihn in den 40er-Jahren des vorletzten Jahrhunderts vom Niederrhein zu uns nach Stuttgart. Zunächst arbeitete er am Morgenblatt für gebildete Stände von Cotta mit. Als geschickter Alleskönner schrieb er bald Romane, Reisebücher und Theaterstücke mit leichter Hand und machte eine geradezu märchenhaft steile Karriere, nachdem er im Jahr 1842 mit dem Freiherrn von Taubenheim eine gefahrvolle Reise ins gelobte Land nach Jerusalem und bis Ägypten unternommen hatte. Als Privatsekretär und Maître de Plaisir begleitete er unseren Kronprinzen Karl ab 1843 mehrfach auf dessen Reisen durch ganz Europa. Vom Vater Wilhelm I. waren sie als Bildungsreisen und vor allem zur Brautschau gedacht. Der Sohn nutzte sie jedoch lustvoll zum Ausleben seiner Neigungen: »Mein Vater kann mich nur mit Polizeigewalt zu einer Ehe zwingen«. Von einer gemeinsamen Reise nach Rom schrieb Hackländer begeistert nach Hause: »Während unserer Fahrt durch Rom wurden wir von

22


S PA Z I E R G A N G

Friedrich Wilhelm Hackländer; um 1863

Fackelträgern zu Pferde begleitet und von päpstlichen Dragonern eskortiert«. Nach seiner Entlassung aus dem Dienst als Sekretär 1849 bewilligte Kronprinz Karl »demselben auf seine Lebenszeit eine jährliche Pension von Achtzehnhundert Gulden«. Durch die Gunst des alten Königs Wilhelm I. brachte es Hackländer schließlich zum Hofgartendirektor, schuf die Gartenanlagen am Schlossplatz und den Park, der die von Christian Leins erbaute Villa Berg umgibt. Den stinkenden Nesenbach, damals wie heute unser Hauptabwasserkanal, ließ er innerhalb des Stadtgebiets unterirdisch verlegen. Dafür sind wir ihm noch heute dankbar. Die Hackländerstraße finden wir, indem wir vom Charlottenplatz mit der Straßenbahn U 15 am Eugensplatz

23

I


N

GÄNSHEIDE

O

mit dem Galateabrunnen vorbei bis zur Wagenburgstraße fahren und dann von der Gerokstraße links die Heidehofstraße hinauf spazieren. Zu Fuß ist der Weg etwas anstrengender. Er führt über die Olgastraße die allmählich steil ansteigende Gaisburgstraße hinauf zum Eugensplatz. Dort haben wir uns dann ein paar Bollen Eis beim ziemlich besten Eismacher der Stadt, dem Pinguin, und die Aussicht vom Galatea-Denkmal über die Stadt redlich verdient. Oder wir kehren weiter oben in der Gerokstraße 12 im Kunst- und Kulturcafé Gant ein. Auf der Gänsheide, wie die Gegend zwischen Gerok-, Heidehof- und Hackländerstraße nach ihrer früheren Nutzung heißt, stehen vornehme Bürgerhäuser und Jugendstilvillen in gepflegten Gärten mit großen Bäumen, gut bewacht und gesichert. Die Gänsheidevereinigung hat es sich schon seit 1901 zur Aufgabe gemacht, den Charakter eines noblen Villenquartiers zu erhalten. Sommer- und Künstlerhäuser prägten früher den Hügel. Hackländer hatte dort oben auf dem damals noch unbebauten Gelände im Jahr 1846 mehrere Grundstücke erworben (»zu sehr annehmbaren Bedingungen«) und sich einen herrlichen Park an- und zugelegt. »Und doch ergriff mich gleich die wunderbare Schönheit dieses einsamen Platzes, zugleich aber der unvergleichlich schöne Blick auf die sanft geschwungenen Berge jenseits des Neckars und auf dunkle Tannenwälder, die sich östlich an den Abhängen der Esslinger Berge zeigten. Von Stuttgart selbst sah und hörte man so wenig, daß man hätte glauben können, meilenweit von der Stadt entfernt zu sein.« So schwärmte Hackländer von seinem neuen Besitz, ließ sich ein Sommerhaus erbauen und feierte dort fröhlich-frivole Feste. Sein Roman meines Lebens, 1878 posthum erschienen, erzählt von dieser »Sturm- und Drangperiode« und

24


S PA Z I E R G A N G

I

Villa Bosch von 1915 (Quelle: Bosch Archiv)

von »übermütigen Streichen«. Allerdings musste er sich auch als »emporgekommener Ausländer« beschimpfen und in anonymen Briefen als »elender Hofspeichellecker« anfeinden lassen. Vor allem wegen des schönen und exotischen Baumbestandes erwarb später der Unternehmer und Naturliebhaber Robert Bosch dieses Grundstück und ließ sich dort 1910 seine repräsentative Villa als Familiendomizil im Stil der italienischen Früh-Renaissance errichten. Hinter einer hohen Mauer verbirgt sich heute der Sitz der Robert Bosch Stiftung. Der wunderschöne Park mit dem Ausblick auf die Weinberge des Neckartals ist unversehrt erhalten. Auf der Hügelkuppe der Gänsheide am Franz-Dingelstedt-Weg (1814–1881, Schriftsteller und Dramaturg am württembergischen Hoftheater) finden wir das Kanonenhäusle von 1702, Idylle pur. Der Feld- und Feuerwächter sollte von dort mit zwei Lärmkanonen Brände melden (auch im benachbarten Gablenberg!). Die nahe Straßenbahnhaltestelle Bubenbad erinnert an einen Tümpel, in dem die Hütebuben in alten Zeiten gerne badeten. Als

25

P

Q




Der gebürtige Stuttgarter Wolfgang Chur führt kenntnisreich und mit schwäbischem Wortwitz durch seine Heimatstadt, die sich literarisch überraschend attraktiv zeigt. Auf unterhaltsamen Spaziergängen durch die süddeutsche Metropole begegnet man geschichtsträchtigen Gebäuden, kulinarischen Geheimtipps und beeindruckenden Literaturgrößen wie Friedrich Schiller, Gustav Schwab, Wilhelm Hauff, Friedrich Hölderlin, Eduard Mörike oder dem Verleger Johann Friedrich Cotta. Dichter und Denker kommen dabei in zahlreichen Gedichten und Zitaten zu Wort.

Verlag: J.G.Seume € 16,90 [D], € 17,40 [A]

I S B N 978-3-9814045-8-6

seume-verlag.de

Bahnhof


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.