Kompass Mai | 2022

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Thema

Ihr seid das Salz der Erde Zur politischen Dimension des Christseins Es ist Aufgabe jeder Religion, ihr spezifisches Verhältnis zu Politik und öffentlichem Leben zu bestimmen. Der moderne Versuch, Religion zur Privatsache zu erklären und damit aus dem öffentlichen Leben zu verbannen, muss sich als untauglich erweisen und scheitern.

T E X T: M A R K U S S C H L A G N I T W E I T

Dieser Versuch verkennt nämlich ein zentrales Wesensmerkmal von Religion: Da Religion letztlich darauf abzielt, das Leben ihrer Gläubigen in irgendeiner Weise zu prägen, dieses Leben sich aber immer in sozialen Kontexten vollzieht, die den Raum des rein Privaten übersteigen, beeinflussen Religionen immer auch diese weiteren sozialen Kontexte und werden damit öffentlich. Allenfalls die freie Entscheidung, ob ein Mensch sich der einen oder anderen oder gar keiner Religion anschließt, ist dessen ureigene, persönliche Angelegenheit (und zugleich ein fundamentales Menschenrecht). Diese religiöse Option selbst aber setzt jeden Menschen bereits in ein spezifisches Verhältnis zu seiner Mitwelt und zu deren Öffentlichkeit – und ist insofern auch politisch, weil ein Mensch ja gar nicht nicht-politisch sein kann. Auf der Suche nach einer markanten Kurzformel, welche imstande ist, das politische Wesen des Christseins auszudrücken, bin ich auf das Bildwort aus der jesuanischen Bergpredigt gestoßen: „Ihr seid das Salz der Erde.“ – Dieses Wort beschreibt zunächst selbst schon ein Beziehungsverhältnis; es heißt ja nicht einfach: „Ihr seid Salz“, sondern „Salz der Erde“. Salz ist ein Gewürz – kein besonders raffiniertes und exotisches, sondern ein alltägliches, ein Grundgewürz. 6

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Gerade hierin liegt auch seine Besonderheit: Salz macht viele Speisen erst schmackhaft oder bringt den Eigengeschmack einer Speise oft erst zur Geltung. Wer – etwa aus gesundheitlichen Gründen – salzarm leben muss, weiß, wie schwer Salz zu ersetzen ist. Und wer beim Kochen schon einmal Salz vergisst, darf kaum mit dem Lob der Bekochten rechnen. Tatsächlich gibt es praktisch keine Speise, bei der Salz – und sei es nur eine feine Prise – fehl am Platz ist. Jedenfalls hält das Bibelwort daran fest: „Ihr seid das Salz der Erde.“ Salz der Erde sein meint also: es immer und überall sein.

„Salzsein“ hat stets eine Wirkung

Markus Schlagnitweit, Theologe, Sozial- und Wirtschaftsethiker und Direktor der Katholischen Sozialakademie Österreichs (KSÖ)

Heißt „immer und überall“ auch „ob gelegen oder ungelegen“? Ich möchte sagen: geradezu zwangsläufig. Salz ist eben salzig und nicht neutral. Wenn Christsein „Salzsein“ heißt in dieser Welt, dann sollte es einerseits wohl Würze sein für diejenigen, die mit der Suppe, die sie löffeln, keine rechte Freude haben können: Für viele reicht ihre „Lebenssuppe“ ja gerade zum Dahinvegetieren und oft nicht einmal das; ihre Suppe ist bitter geworden vor Sorge oder schal

vor Einsamkeit oder Eingespanntsein in eine Tretmühle, und die Einlage besteht aus würgenden Brocken der Angst. Vielen ist die Suppe auch fade geworden, wenn sie plötzlich merken, dass die glänzenden Fettaugen an der Oberfläche nur die Blasen täuschender Glücksverheißungen sind. Das Leben bietet vielen Menschen wenig, woran sie Geschmack und Freude finden können. Dafür zu sorgen, dass solches Leben schmackhafter wird, dass es gerne gelöffelt wird, könnte also „Salz der Erde sein“ bedeuten – und hat auf der anderen Seite einen unvermeidlichen Nebeneffekt: Es gibt immer auch Menschen und Gruppen, denen die bestehenden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse gerade so, wie sie sind, hervorragend passen, denen ihre „Lebenssuppe“ also herrlich mundet. Salz der Erde sein bedeutet auf dieser Seite dann aber unvermeidlich, bereits ausreichend und hervorragend gewürzte Suppen zu versalzen – nicht mutwillig: aus Missgunst, Bosheit oder moralinsaurer Besserwisserei! Aber das Salz, das die Geschmacksverhältnisse in dieser Welt zugunsten derjenigen verändert, deren Leben nach zu wenig schmeckt, wird für die Genießer ebendieser Welt unvermeidlich ein Zuviel an Salz bedeuten. Salz ist eben nie neutral, sondern salzig und des-


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