Metrolit magazin Nr. 3 / frßhjahr 2014
Menschen und Orte
Where are we now? In L. A. mit Katja Eichinger Auf Mallorca mit Thomas Bernhard In Tokyo mit Hello Kitty In der Bronx mit den B-Boys In Berlin mit den Proletarierkindern
editorial
Metrocit y-Poster zu m R austrennen und Aufhängen
Wo wir sind dass Sexualität auch in unseren vermeintlich liberalen Zeiten mit Tabus belegt ist. Pussy ist ein kühn konstruiertes Planspiel, bei dem alle möglichen Arten gesellschaftlicher Machtgefälle in eine erotische Beziehung eingespeist werden. Heraus kommt ein hochpolitischer, ebenso verstörender wie faszinierend-dunkler Roman. Auf Seite 10 erklären wir, wieso Berger die richtigen Fragen an die Sexualität im Jahr 2014 stellt – und wieso es darauf keine einfachen Antworten geben kann. Um eine noch existenziellere Frage geht es in dem Roman von Georg Fink, den METROLIT neu auflegt: »Wie kommen wir an etwas zu essen«? Bestätigt durch den gewaltigen Erfolg von Ernst Haffners Blutsbrüdern aus dem letzten Programm, wollen wir nun den von den Nazis verbrannten und danach vergessenen Roman Mich hungert, der zuerst 1929 im Bruno Cassirer Verlag erschien, bekannt machen. Mich hungert ist eine dichte Beschreibung des proletarischen Milieus der Jahre um den Ersten Weltkrieg, ein historisches Zeitdokument, das aus der Perspektive eines kleinen Angestellten ganz neue Sichtweisen auf die gesellschaftlichen Verwerfungen jener turbulenten Jahre eröffnet. Auf Seite 14 stellen wir den Roman vor – vor allem aber die ungewöhnliche Geschichte seiner Autorschaft.
Im Februar ist es so weit: Da jährt sich der Todestag von Thomas Bernhard, dem wichtigsten Miesepeter der Weltliteratur. Und während die Jünger schon in den Startlöchern sitzen und endlich mit der Huldigung beginnen wollen – lange Feuilletonartikel werden vorgeschrieben, BernhardTagungen organisiert –, kann METROLIT mit einer viel interessanteren Neuigkeit aufwarten. Thomas Bernhard lebt: geheilt, an der Seite einer hübschen jungen Frau, auf Mallorca. Unser Autor Alexander Schimmelbusch traf, nach langer und schwieriger Anbahnung, einen gepflegten, bestens gelaunten älteren Herren, der, nachdem er vor 25 Jahren mit viel Tücke seinen »Tod« inszenierte, nun in die Weltöffentlichkeit zurückkehrt. Wieso er das tut und was er der Welt heute zu sagen hat, ist in Schimmelbuschs Roman Die Murau Identität zu lesen. Auf Seite 4 dieses Magazins erklärt der Autor, wie er bei der Recherche vorgegangen ist und wieso Fiktion manchmal der bessere Weg der Wahrheitsfindung ist. Ähnliches gilt auch für Katja Eichinger, die bei METROLIT ihren Debütroman Amerikanisches Solo veröffentlicht. Die Geschichte hinter diesem Buch ist dramatisch. Das letzte Projekt, an dem sie mit ihrem Mann, dem Filmproduzenten Bernd Eichinger, zusammen arbeitete, war ein Film über Natascha Kampusch. Deren Geschichte begann, sie zu verfolgen. Der Filmemacher Michael Haneke brachte Eichinger auf die Idee, sich das Thema von der Seele zu schreiben – aber in Form einer ganz anderen Geschichte. Das tat Eichinger, heraus kam der fesselnde Thriller um den Jazzmusiker und Entführer Harry Cubs; eine literarische Studie über Paranoia, Freiheitsberaubung, die moderne Fassadenwelt und die Abgründe dahinter. Im Interview auf Seite 28 gibt Katja Eichinger Einblicke in das, was in diesem Buch steckt. Tamara Faith Berger ist ebenfalls an Abgründen interessiert. Das Thema der Kanadierin ist Sexualität. Im Gegensatz zu den allgegenwärtigen neuen Stars des erotischen Genres, Sasha Grey und E. L. James, nimmt Berger ihren Gegenstand ernst – und arbeitet sich an der Tatsache ab,
Was es sonst noch gibt: ein Feature über den kometenhaften Aufstieg eines kleinen japanischen Kätzchens (S. 22), die Familiengeschichte des frühen Hip Hop (S. 38), einen Überblick zum gegenwärtigen Zombie-Boom (S. 34), Séance-Protokolle von den Geisterbeschwörungen toter Rockstars (S. 42), fantastische Geschichten aus der Welt des Paranormalen (S. 18) und eine Gebrauchsanweisung für die digitale Welt, in der wir leben (S. 26). Langweilig wird es nicht. Dafür steht METROLIT. Viel Spaß beim Lesen! Ihr Metrolit-Team
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inhalt
S. 14 Kinder, die den Kalk von den Wänden kratzen Georg Fink führt in dunkle Berliner Hinterhöfe der Kriegs-, Nachkriegs- und Inflationszeit. 5. Auflage
S. 18 Jenseits des Möglichen Sven Amtsberg knüpft mit seinen Kurzgeschichten an die großen Momente fantastischer Literatur an.
S. 22 Kitty rules the world Andreas Neuenkirchen trifft ihre Hoheit, Miss Kitty, und erklärt ihren Aufstieg. »Ein Buch wie ein Handkantenschlag. Hart, direkt und wahr.« – Der Spiegel
S. 26
Ernst Haffner
Die alte Welt vergessen Martin Burckhardt will die digitale Welt verstehen und ihr neue Freiräume abringen.
Blutsbrüder —
S. 34
Ein Berliner Cliquenroman Geb. mit SU, 264 S. 19,99 EUR (D) / 20,20 EUR (A) ISBN 978-9493-0068-5
Zombie Nation David Wong lässt die Toten aus den Gräbern kriechen und giftige Spinnen in unsere Betten krabbeln.
S. 38 Familienalbum des Hip Hop Ed Piskor führt uns in die Bronx der 70er Jahre und erzählt, wie der Hip Hop geboren wurde.
Impressum HERAUSGEBER Metrolit Verlag GmbH & Co. KG Prinzenstraße 85, 10969 Berlin www.metrolit.de PROJEKTLEITUNG Lars Birken-Bertsch
»Ein wirklich tolles Coffeetable-Book zum Angeben.« – taz
REDAKTION Nansen & Piccard, München REDAKTIONSLEITUNG Paul-Philipp Hanske
Nachtleben Berlin 1974 bis heute — Herausgegeben von Wolfgang Farkas, Stefanie Seidl und Heiko Zwirner. Geb., 304 S., Bildband, durchgehend 4-farbig 36,00 EUR (D) / 37,00 EUR (A) ISBN 978-3-8493-0304-4
AUTOREN Vera Bachmann, Paul-Philipp Hanske, Marko Pfingsttag, Benedikt Sarreiter KONZEPT Meiré und Meiré, Köln GRAFIKDESIGN studio grau, Berlin
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BILDNACHWEISE Umschlag, Metrocity Poster © studio grau Seite 4, 6, 8, 11, 13, 25, 34, 36, 37 © studio grau Seite 15, 16 © Willy Römer / Edition Braus Seite 18, 20 © Kat Menschik Seite 29, 32 © Katja Eichinger Seite 30 © Wolfgang Stahr Seite 31 © Hadley Hudson Seite 38 © Jamel Shabazz / Getty Images Seite 40, 41 © Ed Piskor Seite 42 © Ian F. Svenonius DRUCK Druckhaus Berlin-Mitte STAND Dezember 2013
metrolit
Er lebt Viel besser als ihn zum 25. Todestag zu beweihräuchern: Alexander Schimmelbusch traf einen quietschvergnügten Thomas Bernhard auf Mallorca.
S. 04 Was will Porno von uns? Tamara Faith Berger erkundet weibliche Sexualität und begibt sich moralisch dabei auf dünnes Eis.
S. 10
Hinter der Fassade Katja Eichinger über Panic Rooms, die sonnige Abgründigkeit von L.A. und kaputte Autos.
Geisterstimmen Was tun, wenn lebende Rockstars nur dumme Antworten geben? Ganz einfach: Man befragt die Toten.
S. 28
S. 42 3
Thomas Bernhard ist tot ‌ 4
Die murau Identität
Am 12. Februar 1989 starb der legendenumwobene Schriftsteller Thomas Bernhard in Oberösterreich. Die Öffentlichkeit erfuhr erst drei Tage später von seinem Tod, nachdem er bereits auf dem Grinzinger Friedhof in Wien beerdigt worden war. So zumindest die offizielle Version.
… und lebt auf Mallorca! Ein Gespräch mit Alexander Schimmelbusch über Die Murau Identität
eher unseriöse Weise, als habe man Bernhard mit Julio Iglesias gekreuzt, oder sogar mit Zorro. Es gibt ein neues Manuskript von Bernhard. Ànima Negra, eine Art Autobiografie seines Nachlebens, aber ich möchte nicht zu viel verraten. Ich halte es da wie der Spiegel, der seine Titelgeschichte ja auch nicht vorab online stellt. Ihr Buch Die Murau Identität ist aber ein Roman. Warum? Alles ist Fiktion auf der Welt. Es gibt nur Schattierungen. Sie können Die Murau Identität als Roman oder als Reportage lesen. Wie kamen Sie Bernhard auf die Spur, Herr Schimmelbusch? Mir wurde ein Kuvert zugesandt, in dem sich die versiegelten Reiseberichte von Bernhards Verleger befanden. Schnell war klar, dass Bernhard seinen Tod 1989 nur vorgetäuscht hatte, mit Hilfe des Verlegers, und dass er auf Mallorca lebt, unter dem Alias Franz-Josef Murau. So hieß der Protagonist in seinem Roman Auslöschung. Ich las von einer Hacienda nahe Deià, von Ehefrau und Kind. Dann begann meine Recherche. Zuerst machte ich Bernhards Sohn Esteban ausfindig, der mit Anfang 20 in New York einen Hedgefonds leitet, Wolfsegg Capital. Esteban ist seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten, nur sieht er viel besser aus, wenn auch auf
Wie haben Sie recherchiert? Ich habe Bernhard gesucht, dann habe ich ihn gefunden und mich auf Mallorca mit ihm getroffen, vor einem Café an der Kirche in Sóller. Ich habe mit ihm gesprochen, oder ihm zugehört. Sie wissen schon, die Suada, Rainald Goetz würde wohl eher Laberflash sagen. Es gibt allerdings eine Sperrfrist bis zum 21. Januar 2014 bezüglich dieses Treffens, um nicht allzu viel vor Bernhards 25. »Todestag« am 12. Februar preiszugeben. Von all dem berichte ich in meinem Roman. Ich weiß nur nicht mehr, ob ich alles richtig in Erinnerung habe.
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Alexander Schimmelbusch
Wieso wollte Bernhard verschwinden? Zunächst war keineswegs sicher, ob Bernhard die experimentelle Antikörperbehandlung überleben würde, die ihn dann schließlich von seiner Autoimmunerkrankung geheilt hat. Bernhard wollte nicht im Krankenhaus sterben, genauer: Er wollte nicht, dass seine Figur »Thomas Bernhard« in einem Krankenhaus stirbt. Auch wenn das unter literarischen Aspekten sicher gut nutzbar gewesen wäre, war es doch das kosmopolitische NewYork-Presbyterian Hospital in Manhattan über der Stadtautobahn, direkt am East River, wo nachts in Bernhards Isolationszimmer der traurige Ruf der Nebelhörner zu hören war. Auch wenn das gut zu Bernhard gepasst hätte, wäre es doch ein zu bizarrer Abschluss der ersten, doch sehr österreichisch geprägten Phase von Bernhards Autorendasein gewesen. Und zu New York hatte Bernhard damals, anders als heute, noch keinen rechten Bezug. Andererseits war 1989 ein guter Zeitpunkt, um abzutreten, auf dem Höhepunkt, nach Auslöschung und Heldenplatz. Das hat funktioniert, Bernhard ist in Österreich heute ein Nationalheiligtum, der Zuckerbäcker Demel hat zum »Todestag« im Februar 2014 eine Bernhard-Torte in Planung.
Das Verschwinden ist also der Schlussstein der Selbstinszenierung Bernhards? Es war für Bernhard sicher attraktiv, zu verschwinden. Seine auratische Selbstdarstellung war ein solches Meisterwerk, dass es Erleichterung bedeutet haben muss, sie abzuschließen. Eine derart perfekte Einheit von Leben und Werk wie im Fall von Bernhard hat es in der deutschsprachigen Literatur noch nicht gegeben. Es ist ohnehin sehr selten, dass die Inszenierung einer Autorenfigur gelingt. Es fällt einem dazu nach längerem Nachdenken möglicherweise Peter Handke ein, bei den unter 70-Jährigen vielleicht noch Christian Kracht. Aber einen derart intensiven öffentlichen Performance-Druck wie Bernhard hat kein anderer Schriftsteller annähernd erlebt. Es war ja auch eine lange Spielzeit gewesen; Bernhard stand immer auf der Bühne, er war nicht nur der berühmteste Schriftsteller, sondern auch der größte Star Österreichs, noch vor Falco. Gleichzeitig das größte Hassobjekt. Der pure Stress also. Er konnte nicht einfach wie Handke nach Serbien oder wie Kracht nach Burundi verschwinden. Bernhard musste einen Schritt weiter gehen.
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Die murau Identität
VERSIEGELTE VERLEGERBERICHTE I. Wien – Palma – Sóller – Deià, Februar 1992 STRENG VERTRAULICH
In den Jahren nach seinem Tod hatten wir uns nicht gesprochen, das war Teil unseres Plans gewesen, und so konnte ich das Wiedersehen kaum erwarten, als ich in Palma von Bord ging. Ich war über Wien geflogen, um meine Spuren zu verwischen, was übertrieben klingen mag, aber es wäre töricht gewesen, ein Risiko einzugehen. Ich war dort frühmorgens gelandet, hatte im Sacher eingecheckt und mich dann von einem Taxi zum Zentralfriedhof fahren lassen. Über die verschneiten Wege waren in Schwarz gekleidete Greisinnen in die Stadt der Toten hinein gescharrt, um an den Gräbern ihrer verstorbenen Ehemänner zu beten. Ich war sofort in Richtung der jüdischen Sektion geeilt, in das Dickicht hinein, das in dieser die Gräber überwuchert, über meine Schulter blickend, hinter mit Haßparolen beschmierten Mausoleen verschwindend, bis ich überzeugt gewesen war, potentiellen Verfolgern endgültig entkommen zu sein. Im Totengräberbeisl am Weichseltalweg hatte ich mir zu den Klängen des Donauwalzers dann noch zwei schnelle Gespritzte genehmigt, bevor ich mit einem Taxi wieder zurück zum Flughafen gefahren war. Wir hatten uns keine Briefe geschrieben, bis auf ein Telegramm vor etwa achtzehn Monaten – »Esteban, *Palma, 14.09.1990« – hatte keine Kommunikation stattgefunden, obwohl ich sein neues Leben, etwa die Sanierungsarbeiten an seiner Hacienda über der Steilküste nahe Deià, die er Huevo del Lobo getauft hatte, nach Schloss Wolfsegg aus seinem Meisterwerk »Auslöschung«, anhand diverser Rechnungen zumindest in Umrissen nachvollziehen konnte. Im Son Vida beispielsweise, wo er die ersten Monate nach seinem Tod in einer Suite residiert hatte, unter Murau, Franz-Josef, hatte er sich, wie der entsprechende Posten auf seiner Kreditkartenabrechnung belegte, es offenbar an nichts fehlen lassen. Es war ein exorbitanter Betrag gewesen, der mich doch alarmiert hatte, da die Rechnung mir am selben Tag wie der Kaufvertrag für seine schloßartige Wipfelhacienda zugegangen war.
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Alexander Schimmelbusch
Ich hatte mich gefragt: Hatte er sich monatelang nur Langust
en und Champagner servieren lassen? Hatte er sich
im Son Vida möglicherweise die Gesellschaft fragwürdiger junger Damen gefallen lassen? Nach Sóller solle ich den Zug nehmen, hatte er mir über die Hoteldirektion ausrichten lassen, zwischen Palma und Sóller verkehre ein prachtvoller Zug mit Waggons
aus Mahagoni, dessen Trasse die Bürger des Oran-
gentales schon vor hundert Jahren durch die Felsmas sive der Tramuntana sprengen ließen, um ihr Heimatstädtchen mit der Hafenmetropole und ihren unkoscheren Vergnügungen zu verbinden. Den Bahnhof hatte ich schnell erreicht, die Straßen sind leer auf Mallorca im Februar, und so hatte ich Zeit, mich mit dem Ellenbogen auf den Tresen eines zum Bahnsteig hin offenen Ausschanks zu lehnen, mir eine Flasche Albariño zu bestellen und in frühlingshafter Meeresluft über das bevorstehende Treffen nachzudenken. Mit seinem undisziplinierten Finanzgebaren hatte mich mein interessantester Autor in ein unschönes Dilemma gebracht. Nichts lag mir ferner, als unser Wieders ehen nach so langer Zeit mit einer Diskussion über Finanzen zu überschatten, es gab so viel anderes zu besprechen, ich würde Esteban begutachten, auf die ja offenbar vorhandene Frau war ich besonders gespann t, aber wenn ich allein an die Kosten der experimentellen Antikörperbehandlung zurückdachte, mit der die New Yorker Ärzte ihn gerettet hatten, und die ich aus eigener Tasche bezahlt hatte, ich hätte sie ja kaum über den Verlag abrechnen können oder der Krankenkasse des Toten in Rechnung stellen, spürte ich Unbehagen in mir aufsteigen, was völlig irrational war, ich hatte mich bewußt dafür entschieden, die Kosten zu überneh men, obwohl er sich die Behandlung auch selber hätte finanzieren können, warum mir das ein Bedürfnis gewesen
war, eine Notwendigkeit sogar, dafür hatte ich keine
Erklärung. Aber was sollten diese Gedanken, der Winter war hart gewesen und hier am Mittelmeer schien er bereits Vergangenheit zu sein. Vor allem Weihnachten war deprimi erend gewesen, einsam, ich hatte versucht, meinen Sohn anzurufen, der vor unserem Konflikt nach Kalifor nien geflohen war, ich hatte am Telefon gestanden, im Wohnzimmer, am Fenster, ein Glas in der Hand und in den
Garten hinausgestarrt, in die Dunkelheit, das Nichts,
es dann aber doch sein lassen. Erst später war mir aufgefa
llen, daß ich noch nicht einmal seine Telefonnummer
hatte. Ein wenig beneide ich meinen Sohn dafür, daß er in Amerika lebt, da den Vereinigten Staaten Schicksalsjahre bevorstehen, da sich in den Fundamenten des amerika nischen Gemeinwesens schon heute die ersten Haarrisse nachzeichnen lassen. Auf dem Flug nach Palma hatte
ich in der Vanity Fair einen Essay von Norman Mailer
gelesen, über »American Psycho« von Bret Easton Ellis, einen offenbar extremistischen Roman – ich hatte die Debatte in der amerikanischen Presse verfolgt, den Roman aber nicht gelesen ...
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Die murau Identität
Was reden die Leute? Peter Handke Autor
Thomas Bernhard ist Sand. Mit Sand kann man Häuser bauen, wenn man ihn zu Zement mischt. Nur mit Thomas Bernhard kann man nichts bauen. Der ist Sand. Unnützer Treibsand. Tut mir leid, dass ich das sage. Nein. Es tut mir eigentlich nicht leid.
David Schalko Regisseur und Autor
Alexander Schimmelbusch, Österreicher, geboren 1975, wuchs in Frankfurt am Main und in New York auf und studierte an der Georgetown University in Washington. 2009 wurde sein Roman Blut im Wasser mit dem Preis der Hotlist ausgezeichnet. Er arbeitet als Journalist unter anderem für Die Welt, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Der Freitag, Cicero und Architectural Digest und lebt in Berlin.
Bernhard ist wahrscheinlich der einzige Schriftsteller, in dessen Werk es keine einzige sexualisierte Stelle gibt. Es besteht ausschließlich aus vergeistigten Menschen. Stellvertretend wird sich an Österreich gerieben, das war sein Masturbationsobjekt. Und je lauter es unter seiner Fuchtel gestöhnt hat, desto geiler wurde Bernhard. Er hat kein Viagra gebraucht. Er war ja in seinem Sinne nicht impotent.
Westbam DJ und Musiker
Wenn es landläufig heißt »Lange Sätze sind kein gutes Deutsch«, dann hat Thomas Bernhard gesagt: Ja. Dann machen wir jetzt gleich mal einen Satz über zwei Buchseiten. Wenn du dich in Rage geredet hast, wo willst du absetzen? Die atemlose Rede kennt keinen Absatz.
Peter Fabjan Halbbruder von Thomas Bernhard
Buch-Präsentationen Wien › 11.2. / Berlin › 12.2. / Leipzig › Buchmesse
Er hat sich stilisiert. Er hat einmal zu unserem Vater gesagt: ›Ich baue an meinem Denkmal.‹ In privaten Kreisen hat er solche Sachen ungeniert gesagt. Er hat ein künstlerisches, aber auch ein künstliches Leben geführt.
Alexander Schimmelbusch Die Murau Identität — Roman Ca. 208 Seiten, geb. 18,00 EUR (D) / 18,50 EUR (A) ISBN 978-3-8493-0338-9 Januar 2014
Claus Peymann Regisseur
Ich träume ständig von Bernhard. Und zwar träume ich, dass er lebt – und nur getarnt gestorben ist. Um der ganzen Welt, dem ganzen Rummel zu entkommen.
Robert Menasse Autor
Wie es dazu kommen konnte, dass der Autor, der zu Lebzeiten der Inbegriff des Nestbeschmutzers war, dass dieser Autor nach seinem Tod von genau denjenigen, die ihn zu Lebzeiten am liebsten deportiert hätten, dass genau diese Menschen Bernhard nach seinem Tod zum Nationalheiligtum erklärt haben, das ist unglaublich, das Phänomen ist einzigartig, ich kenne keinen vergleichbaren Fall.
In Die Murau Identität, einem ebenso leichtfüßigen wie unterhaltsamen Enthüllungsroman, macht sich der abgehalfterte Journalist Alexander Schimmelbusch auf die Suche nach dem weltbekannten Misanthropen Thomas Bernhard. Zuerst in Manhattan, wo er Bernhards Sohn Esteban trifft, und dann in den Küstenorten der mallorquinischen Tramuntana. Ausgestattet mit den versiegelten Protokollen des Verlegers, der Bernhard half, sein Verschwinden zu planen, findet Schimmelbusch schließlich einen eleganten alten Mann, der alles, was ihm jemals bedeutsam war, der Auslöschung preisgegeben hat.
Jörg Haider Politiker
Der Thomas Bernhard war schon gut. Der war der einzige kulturelle Politologe in Österreich.
Zitat-Quellen: Peter Handke: Kleine Zeitung am 6.8.2011; Westbam: Rolling Stone 4/2009; Claus Peymann: Süddeutsche Zeitung am 7.2.2004; Jörg Haider: Tagesspiegel am 11.6.2000; Peter Fabjan: Lettre International, Frühjahr 2011 (Nr. 92); David Schalko, Robert Menasse: Interviews von Alexander Schimmelbusch
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Tamara Faith Berger
Das alte Rätsel des Begehrens Sexualität war nie freier als heute. Aber wie ist das mit dem Geschlechterverhältnis? Welche Form des Verlangens ist Frauen eigentlich erlaubt – und welche immer noch tabu? Tamara Faith Berger schreibt einen Porno-Roman, der moralisch auf dünnes Eis führt und brennende Fragen stellt.
nicht nur das Verbrechen selbst, sondern vielmehr dessen Aufdeckung. Die jungen Männer waren sich derart wenig ihrer Schuld bewusst, dass sie Videos der Tat prahlerisch auf YouTube veröffentlichten. Noch irritierender war da nur die Reaktion einiger großer Medien, die in der Prozess-Berichterstattung nicht etwa das Opfer, sondern die Täter bedauerten, jene hoffnungsvollen jungen Männer, deren Leben nun zerstört sei. Zwei Szenarien, die in seltsamer Spannung zueinander stehen. Auf der einen Seite der erotische Aufbruch, das neue Selbstbewusstsein junger Frauen in den Metropolen des Westens (denn dass dieses Phänomen nur da und nicht etwa in der arabischen Welt gedeiht, muss nicht extra erklärt werden). Auf der anderen Seite das Steubenville-Ereignis, das notwendigerweise kulturkritische Fragen nach sich zieht: Wie kam es, dass die Jungen das, was sie taten, nicht als Vergewaltigung, also als Verbrechen erkannten? Hat es damit zu tun, dass sie das in Hunderten Pornos nicht anders gelernt haben? Und was bedeutet dann der unheimliche Boom der Pornografie, ihre mediale Omnipräsenz? Und woher rührt der Reflex der Öffentlichkeit, die Jungen in Schutz zu nehmen und dem Mädchen, indirekt oder direkt, die Schuld zu geben? Wurde da vielleicht eine Rechnung beglichen mit jenen Frauen, die selbstbewusst – auch in einer neuen Form von Pornografie – ihren Körper für sich reklamieren? Ist die Sexualität im Jahr 2013 nun freier, weniger zwanghaft als
Sexualität heute, die Erste: Auf einmal scheint es keine Scham mehr zu geben. Nun, endlich, über 30 Jahre nach der sexuellen Revolution, deren süße Früchte in erster Linie die Männer genossen, ist es auch für Frauen möglich, ihre Lüste auszuleben. In dem US-Bestseller von Daniel Bergner What do Women Want? berichten weibliche Sexualforscherinnen davon, dass das weibliche Begehren, entgegen der landläufigen Meinung, eigentlich viel stärker sei als das männliche und dass Frauen einfach nicht für Monogamie gemacht seien. Dazu passt nur allzu gut die plötzliche mediale Allgegenwärtigkeit von Frauen, die sich offensiv als sexuelle Wesen inszenieren: von der Ex-Disney-Schauspielerin Miley Cyrus bis zur notorischen Sasha Grey, die als Pornostar groß wurde, die Branche mit ihren herausfordernd masochistischen Filmen revolutionierte und nun für ihr Romandebüt gefeiert wird. Natürlich: Neu ist es nicht, dass weibliche Stars sich über Sex inszenieren. Neu aber ist das selbstbewusste Auftreten, ja der Stolz, mit dem ein nichtgenormtes, abseitiges Begehren zur Schau gestellt wird. Das durften bisher nur Männer. Sexualität heute, die Zweite: Eines der am meisten beachteten Verbrechen des Jahres fand in der amerikanischen Kleinstadt Steubenville statt. Zwei 16-jährige Schüler – da gute Footballspieler, der ganze Stolz ihrer Schule – fielen auf einer Party über eine betrunkene, bewusstlose 16-jährige Mitschülerin her und vergewaltigten sie. Verstörend war
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Pussy
»Die Pornografie rückt näher an uns heran«, sagt Tamara Faith Berger. Aber was bedeutet das für unser Leben?
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Tamara Faith Berger
Arten gesellschaftlicher Machtgefälle werden in eine sexu elle Beziehung eingespeist: arm vs. (halbwegs) wohlhabend, schwarz vs. weiß, Mann vs. Frau, alt vs. jung. Der Roman arbeitet mit einem zunächst einfachen Trick: Er überträgt einen typischen Porno-Plot in das reale Leben. Ein Planspiel, bei dem schnell Tabus gebrochen werden. Die 17-jährige Myra, die bis dahin ein recht behütetes Leben in Toronto geführt hat, lernt den doppelt so alten Elijah kennen. Der ist schwarz, kommt aus Tansania – und dreht mit seiner Frau, einer gewalttätigen, unangenehmen Person, Pornofilme. Myra kann sich ihrer Faszination für Elijah nicht erwehren – und begibt sich freiwillig in eine unheimliche Welt, die von Sex, Demütigung und Pornografie geprägt ist. Gesellschaftliche, politische und sexuelle Machtgefüge verwirren sich zu einem dichten Gespinst, in dessen Zentrum das rätselhafte Begehren Myras steht, die als modernes, aufgeklärtes Mädchen alles andere als eine devote Gender-Rolle spielen möchte, ihre Gefühle aber ehrlich und nüchtern zur Kenntnis nimmt. Was Bergers Studie auszeichnet: Sie gibt keine einfachen Antworten, sie kartografiert das sexuelle Feld. Weder kann sie beantworten, was der allgemeine Boom der Pornografie, die pornografische Durchdringung der öffentlichen Sphäre denn nun zu bedeuten habe, noch kann sie mit Verhaltensregeln für die Frauen von heute dienen. Sie stellt eher deren Probleme aus. Eine feministische Theoretikerin lässt sie im Roman erklären: »Manche Typen haben nicht die Größe, überhaupt jemals zu erkennen, dass die Frau, mit der sie zusammen sind, auch Sex ohne Erlaubnis hat. Männer wissen einfach nicht, wie sie mit der Tatsache umgehen sollen, dass eine Frau frei ist, dass sie ein unabhängiges Leben lebt und eine unabhängige Vergangenheit hat und dass ihre aktuellen Probleme gar nicht unbedingt gelöst werden müssen. Männer sind Problemlöser, und Frauenprobleme sind nicht lösbar. Frauen leben für ihre Probleme.« Das alles ist schockierend, ein dunkles Gegenstück zu den modernen Sex-Märchen wie Shades of Grey. Dass Berger auch eine Meisterin der erotischen Beschreibung ist, dass ihr Roman also nicht nur von Pornos handelt, sondern selbst pornografisch ist, macht die Sache nur noch brisanter. Vor allem aber zeigt Bergers Buch eines, und das bringt die Autorin knapp auf den Punkt: »Auch wenn Sexualität in den letzten Jahren liberalisiert wurde, wenn wir alle ein ziemlich abgeklärtes Verhältnis dazu haben – im Grunde beschämt und verängstigt sie die Menschen genauso, wie sie es immer getan hat.«
vor 20 Jahren? Oder spielen sich die sexuellen Liberalisierungen nur im Überbau der Medien ab, während die sexuelle Realität völlig anders aussieht? Das sind Fragen, die nicht leicht beantwortet werden können. Eine Sache kann man auf jeden Fall sagen: Angesichts ihrer Widersprüchlichkeit ist Sexualität auch im Jahr 2014 genau das, als was sie Freud vor über hundert Jahren beschrieben hat: ein Rätsel, ein erklärungsbedürftiges Problem. Genau unter dieser Perspektive schreibt Tamara Faith Berger über Sex. Auf den ersten Blick reiht sie sich ein in die Riege der neuen Sex-Autorinnen wie Sasha Grey oder E. L. James (Shades of Grey). Die Kanadierin Berger kommt aus der »Branche«, schrieb moderne Klassiker der Pornografie, über die etwa das Vice-Magazin frohlockte: »Diese fantastischen Fremdgeh-, Gang-Bang- und Blowjob-Märchen sind in einem Stream-of-Conciousness-Style geschrieben, der einen alle zwanzig Seiten zur Selbstbefriedigung nötigt ...« Während die »sexpositiven« Autorinnen aber ein durchaus erfreuliches Bild der neuen Libertinage zeichnen – Shades of Grey ist eine moderne Love-Story, der durch die bittersüßen SM-Spielchen eine gewisse Würze verliehen werden soll, und Sasha Greys Credo ist: Starke Frauen (also sie) lassen sich durch nichts unterkriegen, erst recht nicht durch GangBang-Pornografie –, betrachtet Berger das Phänomen analytisch. Auf der einen Seite gesteht sie zu: »Natürlich, die neue Pornografie stellt Frauen heute ein sehr viel weiteres Spektrum an sexuellen Rollenmodellen zur Verfügung als noch vor 10 Jahren.« In der alten Pornografie waren Frauen devot und dumm: ein Sextoy. Nun sind sie, zumindest in manchen Porno-Spielarten, Subjekte, dürfen eine aktive Rolle spielen, unterlaufen zum Teil offensiv die (optischen und inhaltlichen) Vorgaben der Branche. Auch die Möglichkeit, dass eine halbwegs bekannte Künstlerin wie Peaches sich sexuell derart nonkonform in Szene setzt, begrüßt Berger natürlich. Auf der anderen Seite geht ihr eines nicht aus dem Kopf: »Unsere Gesellschaft braucht Gleichheit, das ist klar. Aber im Bett herrschen andere Regeln als auf der Straße. Auf sexuellem Gebiet fasziniert uns die Idee des Machtgefälles, des Ausgeliefertseins.« Sie bezieht sich dabei auf eine der Klassikerinnen des amerikanischen Feminismus, auf Susan Brownmiller, die 1971 eine Studie zum Thema Rape-Culture schrieb. Brownmiller verurteilte als Radikalfeministin natürlich jede Form sexueller Machtausübung, schrieb aber auch, dass viele Frauen nun mal masochistische Sexfantasien hätten. Werden diese – aus verständlichen Gründen – zurückgewiesen, laufen die Frauen Gefahr, gar keine sexuellen Fantasien mehr zu haben. Und damit auch kein Sexualleben. All diese Überlegungen fließen in Bergers neues Buch Pussy ein: ihr bisher theoretischstes, aber auch radikalstes. Es ist eine Modellkonstellation, die hier durchdekliniert wird: Alle
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Pussy
Tamara Faith Berger Pussy — Roman Aus dem Amerikanischen von Kirsten Riesselmann Ca. 208 Seiten, Broschur 15,00 EUR (D) / 15,50 EUR (A) ISBN 978-3-8493-0346-4 Februar 2014
Während eines verunglückten Familienurlaubs in einem schäbigen Party-Strandbad in Key West lernt die 17-jährige Myra Elijah kennen. Elijah ist schwarz, doppelt so alt wie sie und übt eine ungekannte sexuelle Anziehungskraft auf sie aus. Myra sehnt sich danach, ihre Unschuld an ihn zu verlieren, und lässt sich auf ein Spiel ein, dessen Regeln sie nicht kennt.
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georg fink
Eine andere Berliner Kindheit um 1900 Mit Mich hungert gilt es einen grandiosen, lange vergessenen Roman zu entdecken, der die turbulente Zeit um den Ersten Weltkrieg aus den Augen eines kleinen Berliner Proletariers schildert.
Als 1929 beim Verlag Bruno Cassirer das Buch Mich hungert von Georg Fink erschien, war die Literaturkritik mehr als erstaunt: Niemand hatte je von diesem Autor gehört, der das proletarische Elend der Zeit um den Ersten Weltkrieg so drastisch beschrieb. Man wunderte sich über die »merkwürdige Begabung« dieses neuen Autors und lobte die »bezwingende Stärke« seines Buchs, seine »dichterische Kraft« und die »unheimliche Greifbarkeit« der dargestellten Armut. Nur der Unterhaltungsschriftsteller Kurt Münzer, der das Buch für die Bayerische Israelitische Gemeindezeitung euphorisch besprochen hatte, schien Näheres über den Autor zu wissen. Am 26. Oktober 1929 notierte Münzer in sein Tagebuch: »Vor über einem halben Jahr erschien bei einem Schriftsteller ein junger Mann. Er nannte sich Georg Fink und brachte das Manuskript eines Romans: seine Lebensgeschichte. Der Schriftsteller sollte damit machen, was er will, am besten, meinte Fink, wäre es, wenn er ihn unter seinem, des Schriftstellers eigenem Namen veröffentlichen würde. Er selbst wollte nichts mehr von ihm wissen und wollte nach Hollywood gehen, um ein Filmengagement anzunehmen. Seitdem hat man nichts von ihm gehört, doch ist anzunehmen, dass er tatsächlich in Hollywood unter fremdem Namen Kino spielt.«
Mich hungert ist so etwas wie ein Gegenstück zu Walter Benjamins Kindheit um 1900: Statt im reichen Westen Berlins spielt Finks Roman im proletarischen Milieu rund um den Schlesischen Bahnhof. Dort, wo die Gentrifizierung heute so weit ist, dass aus Langeweile am Überfluss Bäckereien Brot mit extra wenig Zutaten verkaufen oder Geschäfte selbst eingewecktes Obst und Gemüse und, wie in der »guten alten Zeit«, Salzheringe aus dem Fass verkaufen, kratzten vor gerade mal 100 Jahren die Kinder vor Hunger den Kalk von den Wänden der überfüllten Mietskasernen. Theodor (Teddy) König, ein Buchhalter Mitte 20, erzählt die Geschichte seiner Kindheit und Jugend von der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bis über diesen hinaus. Seine Erinnerung setzt ein an dem Tag, wo der Vater den Vierjährigen aus den Armen der Mutter reißt und ihn für sich betteln lässt. »Mich hungert«, soll er sagen, und sagt es von da an viele hundert Mal. Eigentlich aber beginnt seine Geschichte viel früher, mit der Jugend der Mutter, der höheren jüdischen Tochter aus Schlesien, die mit einem wunderschönen Müllersburschen, einem Knecht der elterlichen Mühle, nach Berlin durchgebrannt war und dafür von ihren Eltern enterbt wurde. Als der Vater Theodor zum ersten Mal betteln schickt, hat sich der schöne Müllersbursche bereits in einen versoffenen und
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mich hungert
Anlaufstelle der Armen: das Arbeitsamt Berlin-Neukölln in der Zwischenkriegszeit.
zahlte zehn Mark. Und für zehn Mark – für zehn Mark gaben Knolls im vierten Stock ihre Fünfzehnjährige her. Es war ein offenes Geheimnis, dass Luischen in der Kneipe in der Oderbergerstraße, wo sie Gläser wusch, auch andere Obliegenheiten hatte. Aber sie brachte das Geld heim. Die Kutscherwitwe Gabeltau, die ihre Küche tagsüber an einen Mann vermietet hatte, der da ein Schwindelbüro betrieb und fortwährend Briefe mit Marken darin bekam – er inserierte irgendeine Lockgeschichte –, vermietete auch ihr Bett an einen Arbeiter aus den Elektrizitätswerken in der Voltastraße, der Nachtschicht hatte und morgens um halb sieben kam. Dann stieg sie aus dem Bett und er ins warme.« Die Kindheit, die sich vor dieser Kulisse abspielt, ist getaktet von den Schlägen des betrunkenen Vaters, der dann und wann nach Hause kommt, um nach Geld zu suchen oder seinen Frust auszulassen, gleichzeitig aber grundiert von der mütterlichen Liebe. Um die Beziehung zur Mutter, um die Versuche, sie zu verstehen und ihr Leben einfacher zu machen, geht es in großen Teilen des Romans. »Wenn ein Jude von der Mutter spricht«, hat Münzer in seiner Rezension geschrieben, »wird es Choral.« Der Ich-Erzähler ist ein doppelt Fremder in dem Viertel zwischen Schlesischem Bahnhof und Gesundbrunnen: durch seine jüdische Herkunft, die weniger ihm als den ihn neckenden anderen Kindern bewusst ist, so-
prügelnden Ehemann verwandelt; hat sich das romantische Märchen als bittere Sozialreportage entzaubert. Der Hunger der Armen ist das Leitmotiv dieses Romans, er ist die Kon stante in einer Zeit rasanter politischer Umbrüche im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts. Egal unter wem und unter welchen Umständen, die Armen hungerten. »Nein, es gibt kein soziales Problem«, heißt es einmal, »sonst wäre es ja zu lösen.« Und wenn Benjamin die Erfahrungslosigkeit dieser Zeit beklagt und die durch die rasanten technischen und medialen Veränderungen bedingte Unfähigkeit der Menschen bedauert, Erlebnisse weiterzugeben und Geschichten zu erzählen, so ist im Hinterhof der Jasmunder Straße nichts davon zu spüren. Dort, wo die Menschen aufgrund ihrer Armut von allem technischen Fortschritt ausgeschlossen sind, gehen die Geschichten niemals aus: »Wir waren nicht mehr die Ärmsten hier in dem Hause der einunddreißig Parteien. Im Keller, unter uns, wohnte der Tischler Hinze, Witwer mit fünf Kindern, von zwei bis zehn. Er liebte alle und hätte keins fortgegeben, und alle hungerten, denn er hatte nicht viel und dann schlecht bezahlte Arbeit. Alle schliefen auf Kartoffelsäcken, in die Zeitungen gestopft waren. Er hatte ein Bett, aber das war an den Schlafburschen vermietet, der sich Mädchen mitbrachte. Nun, er
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georg fink
Wenn Zeit zum Spielen ist, war es ein guter Tag: Berliner Kinder durchsuchen den M端ll.
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mich hungert
gut. Ihre Männer fielen: umso besser: es gab die Rente. Und die kam ins Haus und wurde nicht vertrunken und mit Straßenmädchen durchgebracht, die Gattinnen hatten bloß zu lachen, aber die Mütter zu weinen.« Georg Fink ist übrigens doch nicht nach Hollywood gegangen. Viele Jahre später, als er bereits vor dem Nationalsozialismus ins Schweizer Exil geflüchtet war, hat Kurt Münzer das Geheimnis um die Autorschaft des Romans gelüftet: Georg Fink war ein Pseudonym, hinter dem niemand anderes steckte als er selbst. Mich hungert wurde mit 40.000 verkauften Exemplaren in zwei Jahren und Übersetzungen in 13 Sprachen sein größter Erfolg. Münzer selbst kam aus gehobenen jüdischen Verhältnissen, hat für sein Buch aber gründlich im proletarischen Milieu recherchiert. Und war nicht »das Volk« schon immer ein Stück weit eine Erfindung der oberen Klassen, von den Volksliedsammlungen der Romantiker über die Märchen der Gebrüder Grimm bis hin zu den Reality-Shows im heutigen Fernsehen? Im Roman heißt es einmal über die wohlhabende Familie der Mutter: »Damals gab es sozusagen kein Proletariat für die besitzende Klasse, man übersah es. Arbeiter waren Werkzeuge. Wer kennt den Hammer, mit dem er den Nagel einschlägt? Man kannte seinen Schuh, aber kaum noch den Schuster, dem man ihn verdankte.« Kurt Münzer hingegen hat sehr genau hingesehen, in die Kochtöpfe und Betten, die Hinterhöfe und Kellerwohnungen des Proletariats, an das im zunehmend luxussanierten Viertel um den Schlesischen Bahnhof bald nichts mehr erinnern wird.
wie durch die bürgerliche Herkunft seiner Mutter hat er genug Distanz zum Leben der Proletarier, um es lieben und beschreiben zu können – und um sich frei für dieses Leben zu entscheiden. Denn als sein Lehrer dem begabten Schüler den Kontakt zu einem reichen Fabrikanten vermittelt, der ihm den Besuch des Gymnasiums finanzieren will, schlägt Teddy das Angebot aus. Er fürchtet, die Liebe seiner Geschwister und die Zugehörigkeit zu seiner Mutter zu verlieren. »So ein Kind aus dem Volk«, heißt es, »hat früh soziales Bewusstsein, es weiß genau, wohin es gehört, was ihm gebührt. Es hat ein Standesgefühl.« Es ist klar, wieso Mich hungert eines der ersten Bücher war, das von den Nazis verbrannt wurde: Beides, die jüdischen Protagonisten und die linke Sympathie mit dem Proletariat, hätte schon für sich gereicht, um das Buch auf die schwarze Liste zu setzen. Mich hungert ist aber viel mehr als nur Milieuschilderung, denn in den Geschichten der kleinen Leute aus dem Norden Berlins spiegelt sich die große Politik und Zeitgeschichte. Der heraufziehende Erste Weltkrieg, die Kriegsjahre und die Nachkriegszeit, die revolutionäre Stimmung in Berlin, die Inflation: all das wird aus der Perspektive und in Rückwirkung auf ein proletarisches Berliner Hinterhaus dargestellt. Der Roman ist Geschichte von unten. Einiges, was man über die Zeit zu wissen meinte, erscheint da plötzlich in einem ganz anderem Licht. Etwa der Topos von der »vaterlosen Gesellschaft« nach dem Ersten Weltkrieg. Was Soziologen als Verlusterfahrung einer ganzen Generation beschrieben haben, wird im Roman anders erzählt. Abwesend waren die Väter, die das Geld der Familie in den Kneipen versoffen, auch schon vor dem Krieg. Und als die Nachricht kommt, dass der Vater gefallen ist, spricht die Mutter nachts ein Dankgebet: »Was der lebende Vater uns Böses getan, machte der tote ein wenig wieder gut: Mutter bekam eine Unterstützung, eine feste Rente. Die Armen hatten es
Georg Fink Mich hungert — Roman Ca. 368 Seiten, geb. mit SU 19,99 EUR (D) / 20,60 EUR (A) ISBN 978-3-8493-0093-7 Februar 2014
Finks Mich hungert erzählt von der Kriegs-, Nachkriegs- und Inflationszeit, von Hunger und Elend, der Gier nach Leben, der Suche nach Liebe und moralischer Integrität. Dieses Buch ist Familien roman und Epochenroman und gleichzeitig eine Chronik deutscher Geschichte.
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Sven Amtsberg
Der Riss in der Realität Sven Amtsberg erkundet mit seinen Kurzgeschichten die Grauzonen des Möglichen. Dabei entsteht fantastische Literatur im wahrsten Sinne des Wortes.
Kaum ein Literatur-Genre boomt so wie Fantasy – und kaum eines ist so ermüdend. Zauberer, Gnome, Drachenkrieger und sexy Elfen: In den allermeisten Fällen fragt man sich, was dieses aufgeblasene Paralleluniversum nun mit einem selbst zu tun haben soll. Aber es gibt auch eine andere Form des Fantastischen, eine, die der französisch-bulgarische Literaturwissenschaftler Tzvetan Todorov so bestimmte, dass übernatürliche Ereignisse nicht einfach passieren, sondern durch einen Riss in der Erzähl-Realität gekennzeichnet sind: Die Protagonisten sind sich selbst nicht einig, womit sie es zu tun haben, sie zweifeln, zögern, zaudern – und genau das setzt die Geschichte in Gang. Diese Literatur wälzt ihren Stoff nicht platt, sondern kreist um dessen Geheimnis. Todorov bezieht sich auf E. T. A. Hoffmann, zu denken wäre natürlich auch an H. P. Lovecraft, den dunklen Meister der schrecklichen Möglichkeiten. Und auch die Geschichten von Sven Amtsberg spielen in diesem Zwielicht. Amtsberg ist mit der drögen Alltagsrealität sowieso auf Kriegsfuß, was man schon daran erkennt, dass er in Hamburg Stadtführungen mit erfundenen Ereignissen garniert. In seinen »paranormalen« Geschichten – von der F.A.S.H.Zeichnerin Kat Menschik mit souveränem Strich kongenial illustriert – berichtet er von Dingen, die eigentlich nicht sein können, bettet das aber in einen Rahmen ein, dass sich die Frage aufdrängt: »Und was wäre, wenn es nun doch stimmt?«
Was dabei herauskommt, ist übergriffige Poesie: kleine, beunruhigende Gedankenspiele, die eines Nachts in unseren Träumen auftauchen werden. Wie dieses Stück hier: Meer und Mutter »Meeresepiphanie« Meine Geschichte klingt seltsam. Das weiß selbst ich. Und ich würde sie für mich behalten, wäre ich nicht so verzweifelt. Ich bin in den Bergen groß geworden. Meine Knie sind braun und schartig von der ständigen Sonne, denn die Kuppel unseres Berges ragt über die Wolkendecke hinaus. Hier scheint immer die Sonne. Nur zu Weihnachten tragen wir lange Hosen. Wir sprechen langsam, weil jedes Wort ein Echo gibt, das erst verklingen muss, bevor wir das nächste Wort sagen können, sonst würde es vom Echo des vorherigen geschluckt werden, und man verstünde uns nicht. Man versteht uns ohnehin oft genug nicht. Wir sprechen insgesamt langsam, jedes Wort an sich aber hastig und kantig, so dass es kaum von den Talwänden abprallen kann. Meine Mutter stammt aus Norddeutschland. Mein Stiefvater hat sie in die Berge gelockt, da war ich acht. Meine Mutter hatte es mit den Lungen und gehofft, auf einem Berg würde es besser werden. Mit einem kleinen Pappkoffer, in
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Paranormale Phänomene
einem Frauenleiden, über Bergkoller bis hin zu einer Angina Maris, einer seltenen Krankheit, die sich eben genauso äußere wie bei Mutter, so die Ärzte. Immer wieder erbrach Mutter. Mir war aufgefallen, dass das, was dann aus ihr kam, salzig roch. Und war es anfangs nur ein Verdacht, so stutzten wir beide, als sie mir eines Tages einen kleinen Fisch präsentierte, den sie am frühen Morgen erbrochen haben wollte und der sich trotz allem bester Gesundheit erfreute. Sie nannte ihn Sabine. Wie ihre beste Freundin, die sie am Meer hatte zurücklassen müssen. Sabine war ein kleiner fröhlicher Guppy, den sie in einem Marmeladenglas unter dem Bett aufbewahrte, und der tagsüber, wenn mein Stiefvater in den Bergen war, um Ziegen zu hüten, auf der Fensterbank stand und lustig umherschwamm. Manchmal hörte ich Mutter mit ihm reden. Auch wenn sie noch immer sehr schwach war, so schien die Gesellschaft des Fisches sie doch ein wenig aufzumuntern. Und noch andere Fische wurden aus meiner Mutter gespült, sowie kleine Quallen, Muscheln, ein Seestern, den ich in das kleine Meer setzte, wie wir unser verstecktes Meer nannten. Wenn wir uns nie ernsthaft um Hilfe bemühten, dann wohl auch, weil Mutters Heimweh ein wenig gelindert wurde. Wann immer ich sagte, so könne es doch nicht weitergehen, bat Mutter mich, noch ein paar Tage zu warten, denn so unheimlich dieser Umstand auch war, so wirkte sie doch glücklicher als in all den Jahren davor. Irgendwie war das Meer zu ihr gekommen. Niemand wusste, wie, und ich grub ein neues Loch, größer als das alte, für Mutters Meer, das sie jeden Tag in Eimern auffing. Sie hatte mich gebeten, eine Probe ihres Wassers an ein Meeresinstitut in Norddeutschland zu schicken, was ich getan hatte, und kurz darauf kam die Bestätigung: »Sehr geehrter Herr Mulching, bei diesem Wasser handelt es sich zu 99,9 % um Meerwasser. Hochachtungsvoll, Ihr Peter Prüssen.« Mutter weinte, und hatte ich sie auch unzählige Male weinen sehen, so war es diesmal anders. Sie lachte dabei, während sie den Kopf schüttelte, sodass ihre Tränen glitzernd durch das Zimmer flogen. Als ich wie sonst auch ein Einmachglas holen wollte, um die Tränen zu sammeln, sagte Mutter: »Nee, nee, lass ma. Die nicht.« Mein Stiefvater merkte nichts von alledem. War er bei den Ziegen, dann trank er, um auf dem Berg nicht seinen Gleichgewichtssinn zu verlieren: »Hatts mittem Drummelfälle zu tun«, erklärte er, »mittes Memmbramm und dorer Dinger.« Erst am Abend im Tal überkam ihn das Schwanken, und er verlor das Gleichgewicht, dann kehrte er heim. Er trug eine große Glocke mit sich, die er mit letzter Kraft läutete, kaum war er am Fuße des Berges angelangt. Woraufhin ich mit Boschi, dem Bernhardiner, loslief, um den Stiefvater zurück zur Hütte zu schleifen, wo ich ihn wusch und ins Bett legte, sodass er sich am nächsten Morgen wieder aufmachen konnte auf den Berg. Manchmal ließ ich den Bernhardiner
dem sich das Matrosenhemd ihres Vaters und das zerknickte Bild des Meeres befanden, war sie mit mir hierhergekommen und musste bald schon feststellen, dass sie nicht für die Berge gemacht war. Sie vermisste das Meer derart, dass sie heimlich weinte und ihre Tränen aufbewahrte. »Tränen und Meerwasser sind gar nicht so verschieden«, erklärte sie mir, und als ich alt genug zum Weinen war, bat sie auch mich, zu weinen, damit sie noch mehr Meerwasser zusammenbekam. Sie hatte heimlich hinter dem Haus ein tiefes Loch gegraben, es mit einer Plastiktüte aus einem Angelbedarfsladen ausgekleidet und mit Brettern abgedeckt. Dort versteckte sie ihr Meer vor meinem Stiefvater. Nachts, wenn er schlief, gingen wir mit den Einmachgläsern, in denen wir ihre und später auch meine Tränen sammelten, dorthin und leerten sie darin aus. Manchmal setzte sich Mutter in ihrem Badeanzug hinein, und ich musste das kalte Meerwasser schöpfen und über sie schütten. Musste Rauschen und Möwen nachahmen, Brandung und Gischt. Tatsächlich sah ich meine Mutter selten so glücklich wie in diesen Momenten. Oft machte ich Fotos von ihr, die ich vor meinem Stiefvater versteckte. Er kam aus den Bergen und sagte: »Wennst vonnem Berg kümmen tost, dann konnst gor ni anders als wie dorrer Meeren hasse due.« Zu Mutter hatte er damals gesagt: »Mi nodder dess Meer.« Mutter musste ihn einmal sehr geliebt haben. Sie hatte gedacht, sie könne leichter auf das Meer verzichten als auf diesen Mann. Doch nun fehlte ihr das Meer, und mit jedem Tag wurde es schlimmer. War mein Stiefvater auf der Arbeit, las sie Bücher über das Meer und malte blaue Aquarellbilder. Manchmal ließ sie das Wasser im Badezimmer laufen und lauschte mit geschlossenen Augen dem Rauschen. War es ganz schlimm, erklomm sie den höchsten Gipfel und versuchte von dort aus mit einem Fernglas das Meer zu sehen. Mutter hatte Heimweh, doch alles, was mein Stiefvater dagegen unternahm, war, ihr immer größere Ferngläser zu schenken, durch die sich das Meer aber trotzdem nicht sehen ließ. Unser Berg war zwar hoch, aber das Meer zu weit weg, und Mutters Unmut wuchs. An ihren Geburtstagen lief mein Stiefvater im Matrosenhemd herum. Es war das einzige Zugeständnis, und immer häufiger hörte ich die beiden miteinander streiten. Mutter, die schrie: »Ich hab’ das Meer für dich aufgegeben, und was hast du getan?« Alois, der etwas antwortete, was ich nicht verstand. Nicht sehr viel später begann es dann, Mutter wurde krank. Bleich lag sie im Bett und sah aus dem Fenster. Sie hatte mich gebeten, die Beine des Betts abzusägen, damit sie tiefer läge, denn von dort unten sähe der Himmel über den Bergen an manchen Tagen wie das Meer aus. Manche Vögel seien sogar fischähnlich, und jeden Freitag ging ich runter ins Tal auf den Markt, um dort Matjes zu kaufen, die ich an einer Wäscheleine quer durchs Zimmer aufhängte, um ihr Heimweh zu lindern. Doch es wurde nicht besser. Doktoren kamen. Dralle Männer in kurzen Lederhosen. Sie diagnostizierten alles Mögliche bei ihr. Angefangen von
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Sven Amtsberg
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Paranormale Phänomene
Mutter hockte auf der Bettkante, die Hände auf die Knie gestützt. Den Mund so weit aufgerissen, wie es ging. »Was ist es?«, fragte ich noch, doch da sah ich sie schon, die spitze Schnauze eines Delphins, der immer wieder hervorstieß, um sich aus Mutters Mundhöhle zu quetschen. Mutter versuchte ihren Mund mit den Händen weiter aufzureißen. Ihr Gesicht war rot. Die Augäpfel traten hervor. Ihr Oberkörper bäumte sich auf. Die Bewegungen des Delphins wurden zu den Bewegungen meiner Mutter. Bis es plötzlich ein lautes Knacken gab, und der Delphin schob sich fiepend nach draußen ins Zimmer. Mutter schrie auf. So laut, dass mein Stiefvater betrunken und tumb ins Zimmer wankte. Erst Mutter, dann mich, dann den Delphin ansah. »Wos sull dess nu bitte son? A Tümmli? Nuffe a Berg?«
bei ihm schlafen, damit er ihm Mutter vorgaukelte. Der Stiefvater war glücklich. Mutter nicht. Mutter schluckte Tabletten gegen Seekrankheit. Sie bat mich, in ihr zu angeln, um das, was da in ihr war, herauszuholen. Sie hockte auf dem Boden, den Kopf in den Nacken gelegt, den Mund weit aufgerissen. Ich stand auf einem Stuhl und ließ mit meiner Angel den Haken samt Wurm in sie hinabgleiten. Wartete, kurbelte ihn dann wieder hoch. Ein Hering hatte gebissen, und ich zog noch mehr aus ihr. Stint und Schlei, Krabben und Krebse. Nachts, wenn mein Stiefvater schlief, schlich ich zu Mutter, um bei ihr zu wachen. Sie hatte mich darum gebeten. Denn immer würden sich nachts, wenn sie vom Meer und offener See träume, Meerestiere aus ihr zwängen, und je größer ihre Sehnsucht werden würde, um so größer würden auch diese Tiere, so sagte sie. Sie hatte Angst, daran zu ersticken. Erst neulich hatte sie mir einen kleinen Hecht präsentiert. So saß ich also in den Nächten bei ihr. Meine Mutter schlief auf dem Bauch, ein Arm und der Kopf über der Bettkante, der Mund weit geöffnet, und tatsächlich fielen immer wieder glitzernde Fische mit einem Platschen aus ihr heraus. Sie zappelten auf dem Schlafzimmerboden und schnappten nach Luft. Ich nahm sie und schmiss sie in den Eimer. Ein paar Nächte ging es so. Wir wussten schon nicht mehr, wohin mit all dem Meer und dem Fisch. Nachts wachte ich, am Tage grub ich. Sah bleich und erschöpft aus. Selbst mein Stiefvater merkte es und rief: »Moi, siekst bloi oas.« Er schlug mir ein paarmal auf die Wangen, sodass sie sich rot verfärbten. Damit war das Problem für ihn gelöst. Manchmal war ich so erschöpft, dass ich auf dem Hocker, auf dem ich vor meiner schlafenden Mutter saß und ihr in die dunkle Mundhöhle starrte, einschlief und erst durch das Klatschen und Zappeln des Fischs geweckt wurde. Oder durch Mutter, die mit der flachen Hand gegen das Bett schlug und mich aus großen, weißen Fischaugen anzusehen schien, wenn wieder einmal ein Fisch in ihr steckte, der so groß war, dass sie ihn allein kaum rausbekam. Ich trug Haushaltshandschuhe aus Gummi. Mit denen packte ich die Fische und zog sie mit einem Ruck heraus. Ein paar Wochen ging es ganz gut so. Helfen konnte uns niemand. Mein Stiefvater hätte es einfach nicht begriffen. Wir begriffen es ja selbst nicht. In jener Nacht hörten wir von ferne ein Fiepen. Erst wussten wir gar nicht, was es war, und dachten, es wären die Berge, die nachts manchmal knackten und pfiffen und sich auszuschütteln schienen, bevor sie dann am nächsten Tag wieder steif und stumm dastanden und unverrückbar taten. Doch als ich mein Ohr auf Mutters Bauch legte, war es noch deutlicher zu hören. Es kam aus ihr. Es wurde lauter.
Später saßen wir zu viert im Wagen. Mutter und mein Stiefvater vorne. Ich und der Delphin hinten. Niemand sagte etwas. Stunden fuhren wir, bis wir am Meer waren. Dort hielt mein Stiefvater kurz an, ließ den Motor laufen und wartete, bis Mutter, der Delphin und ich ausgestiegen waren. Dann fuhr er wieder zurück. Wir hievten den Delphin ins Wasser. Der Delphin fiepte. Mutter lächelte.
Sven Amtsberg / Kat Menschik (Ill.) Paranormale Phänomene 20 fast wahre Geschichten — Erzählungen Ca. 256 Seiten, geb. 20,00 EUR (D) / 20,60 EUR (A) ISBN 978-3-8493-0343-3 März 2013
»Dieses Buch versammelt verschiedene Schilderungen von Augenzeugen, die über paranormale Phänomene berichten. Dieses Werk bemüht sich um Aufklärung dieser Phänomene. Außerdem bestrebt es, die Parapsychologie aus ihrer Schmuddel-Ecke zu holen.« So beschreibt Sven Amtsberg seine Sammlung skurriler, fantasievoller und komischer Erzählungen zwischen Fiktion und Wirklichkeit.
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Andreas Autor Neuenkirchen
Das Komfort-Kätzchen Hello Kitty ist überall: nicht nur in Zimmern kleiner Mädchen, auf Bettdecken, Kissen und Hemdchen. Das Kätzchen ziert Teenager in Tokyo, New York und Hanau und steht im Zentrum eines internationalen MarketingImperiums. Der Autor Andreas Neuenkirchen hat sich in das Reich der Grande Dame Kitty begeben – und berichtet hier, was er dort erlebt hat.
Der Autor mit seinem Idol.
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hello Kitty – ein phänomen erobert die welt
Kitty schlüpft aus dem Ei
Pink macht glücklich
Am 1. November 2014 wird Hello Kitty 40 Jahre alt. Dass es so weit kommen würde, konnte am 14. November 1974 niemand ahnen. Sie war kein Kind der Liebe. Als Shintaro Tsuji, Gründer der japanischen Firma S anrio, sie zum ersten Mal sah, war sein erster G edanke: Ich hätte lieber einen Hund gehabt. Seine ersten Worte immerhin: »Ja, nicht allzu schlecht.« Zuvor hatte er die Designer seiner Firma angehalten, niedliche Tier-Figuren zu entwerfen, die Geschenkartikel schmücken könnten. Yuko Shimizu, eine junge Künstlerin, die bei ihm in Lohn und Brot stand, entwarf daraufhin eine weiße Katze mit Knopfaugen, gelber Nase, sechs Schnurrhaaren und einem Kopf, der doppelt so groß war wie ihr Körper. Über ihrem Kopf stand das Wort »Hello« geschrieben. Der Rest ist Geschichte. Aber keine geradlinige. Insbesondere von Geschichte nämlich wollte Tsuji nichts wissen. Dabei hatte Shimizu sich große Mühe gegeben, ihre Kreation mit einer auszustatten: Hello Kitty heißt eigentlich Kitty White, lebt in einem Vorort von London, hat Eltern, Großeltern, Freunde, Hausaufgaben, Vorlieben und Abneigungen. Sie ist sogar ein Tier, das selbst Haustiere hält. Beflügelt von ihren Lieblingsbüchern Alice im Wunderland und Alice hinter den Spiegeln, hatte sich die Erfinderin Kitty als Mittelpunkt einer komplexen Erzählung gedacht. Ihr Auftraggeber wollte aber nur einen Stichwortgeber, und so sagte Kitty einfach nur: »Hello.«
Mit dem globalen Erfolg des Kätzchens hatten nicht nur Shintaro Tsuji und Yuko Shimizu nicht so recht rechnen wollen (Shimizu verließ Sanrio und Kitty nur ein Jahr nach der Geburt), auch anderen ist das Phänomen ein einziges Rätsel. Eine Katze ohne Geschichte und Sinn – was soll das alles? Was will uns das sagen? Die Antworten werden von Kitty selbst nicht zu bekommen sein, und genau das ist einer der Haupt-Kritikpunkte an ihr: Sie hat keinen Mund. Nach feministischem Verständnis ist ein Mund aber zwingend zur Kommunikation und Willensdurchsetzung notwendig. Kitty gäbe also gerade denen ein schlechtes Beispiel ab, die ihr besonders verfallen sind: jungen Mädchen. Yuko Yamaguchi, seit 1980 Chefdesignerin der Kitty-Welt, kontert: Kitty habe keinen Mund, weil jeder die eigenen Gedanken und Gemütszustände auf sie projizieren solle. Kitty sei obendrein eine Zuhörerin, keine Schnackerin. Yamaguchi ist auch dafür verantwortlich, dass Kitty pink wurde, nachdem ihre Welt ursprünglich kräftigere Farben dominiert hatten. Kritik daran mag die Designerin ebenso wenig hören wie Kritik an der Mundlosigkeit. Sie findet nicht, dass Pink unterdrückt. Sie sagt: »Pink macht glücklich.« Sie muss es wissen. Sie sitzt heute im Vorstand von Sanrio, meist in pinken Kleidern. Wenn es ruhiger schlafen lässt: Yamaguchi ist außerdem die Erfinderin der schwarzen Kitty, die eher erwachsene Frauen als kleine Mädchen anspricht. Unter Yuko Yamaguchi konnte Kitty erst zum bleibenden internationalen Phänomen werden, denn sie machte die Figur nicht nur empfänglich für modische Strömungen, sondern auch für kulturelle Differenzen. Muss beispielsweise Micky Maus per Firmengesetz überall gleich aussehen, so darf Hello Kitty in arabischen Ländern Burka und Henna tragen und in Frankreich mit Schönheitsfleck und langen Wimpern verführen. Und doch bleibt sie immer und überall Kitty-chan: unsere beste Zuhörerin und niedlichste Begleiterin, auf weltweit rund 50.000 Artikeln von der Briefmarke bis zum Jumbojet. Sie hat prominente Freunde wie Lady Gaga und die Rockgruppe Kiss, für die Kitty sich sogar trotz fehlenden Mundes vorübergehend eine Zunge ins Gesicht stecken ließ. Zuletzt ging sie Kooperationen mit den Superhelden von Marvel und den Simpsons aus dem Fernsehen ein. Hello Kitty ist nach 40 Jahren Überzeugungsarbeit die Pop-Ikone, zu der andere Pop-Ikonen aufschauen.
Das tat sie zum ersten Mal auf einer Geldbörse für junge Mädchen, die zunächst ausschließlich in Tokyo vertrieben wurde. Sie verkaufte sich gar nicht schlecht und so begann ein schleichender Siegeszug durch ganz Japan. In den Siebzigern begannen die Schülerinnen des Landes, ihre handschriftlichen Arbeiten und Mitteilungen mit verniedlichter Schrift und drolligen Symbolen zu individualisieren. Da kam es gerade recht, dass Kitty-chan, wie sie nach der japanischen Anrede für Freundinnen und kleine Mädchen noch heute von ihren Anhängern genannt wird, verstärkt auf Schreibwaren platziert wurde. Bald schon war Japan nicht genug. Shintaro Tsujis großes Vorbild war Walt Disney, deshalb musste Kitty-chan hinaus in die Welt, insbesondere nach Amerika. Bereits 1969 gab es in San Francisco den Strawberry Shop, der ausschließlich Sanrio-Produkte verkaufte. 1976 kam Kitty nach. Anfangs wurden ihre Produkte nur in einem einzigen Laden in einem kalifornischen Einkaufszentrum verkauft, doch das so erfolgreich, dass die anderen Läden sie dort auch verkaufen wollten. Die Saat war gesät. Ab 1980 wurde von Hamburg aus Europa erobert, 1987 war Südamerika dran, für die asiatische Ausbreitung machte die Tokyoter Mutterfirma Niederlassungen in Hongkong und Taiwan auf.
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Andreas Autor Neuenkirchen
fünf gute Gründe, Hello Kitty zu
fünf gute Gründe, Hello Kitty zu
hassen
lieben
1.
1.
Sie hat keinen Mund! Sie kann sich also nicht artikulieren und verdammt somit sich selbst und die, die ihr nacheifern, zur stummen Unterwürfigkeit.
Sie hat keinen Mund! Deshalb bedrängt sie uns nicht mit ihren Befindlichkeiten, sondern wird zum therapeutischen Spiegel unserer eigenen.
2.
2.
Ihre Welt ist pink! Pink ist Gehirnwäsche für alle kleinen Mädchen, aus denen mal selbstbewusste Frauen werden sollen!
Ihre Welt ist pink! Pink macht alle glücklich, die sich auf Pink einlassen.
3.
Sie ist einfach überall! Auch in der Fremde bietet sie uns Momente von Gewohnheit und Geborgenheit. Trotzdem ist sie überall anders. Kitty lässt sich immer wieder neu entdecken.
3.
Sie ist einfach überall! Ob man will oder nicht, man kann nicht mehr ohne Kitty leben. 4.
Sie saugt Eltern Geld für überteuerten Plastikplunder aus dem Portemonnaie!
4.
Sie garantiert Eltern, dass ihr Geld gut angelegt ist! Denn Kitty-Produkte unterliegen strengen Qualitätskontrollen und sind im Zweifelsfalle eher überraschend preiswerter Plastikplunder.
5.
Sie hat keine Botschaft!
5.
Sie ist eine Botschafterin! Sie ist nicht nur Cartoonund Tourismusbotschafterin ihres Landes, sondern repräsentiert auch im Namen von UNICEF und Krebsvorsorge.
fünf Herausforderungen für Kitty-Fans, die schon alles versucht haben 1.
Ein Kind im Kitty-Krankenhaus gebären. Kein Problem im Hau Sheng Hospital in Taiwan, in dem die Schwestern pinke Uniformen mit Kitty-Emblem tragen. 2.
Vorher oder nachher in Kittys Vergnügungspark heiraten. Das Sanrio Puroland in Tokyo hilft gerne weiter. 3.
In die Flitterwochen im Kitty-Flieger. Die taiwanische Fluglinie EVA Air fliegt Passagiere in fünf verschiedenen Kitty-Themen-Jets durch die vornehmlich asiatische Welt. 4.
In Singapur oder Taiwan eine limitierte Kitty ergattern. Dort kam es in der jüngeren Vergangenheit häufiger zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, wenn Fast-Food-Restaurants ihren Menüs Hello-Kitty-Figuren beilegten. 5.
Weitere Höhepunkte genießen. Der Hello-Kitty-Schultermassagestab lässt sich nicht nur für die Schulterpartie verwenden, wie findige Autoerotik-Enthusiastinnen herausgefunden haben.
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hello Kitty – ein phänomen erobert die welt
lillifee
hello kitty
miffy
micky maus
Diddl
Sollte mal ein Känguru werden.
Superheld ohne Superkräfte.
Zündet nachts die Sterne an und küsst morgens die Blumen wach.
Als mundloses Wesen Meisterin der wortlosen Kommunikation.
Formell derart reduziert, dass jeder Mensch jeder Kultur ihr verfallen kann.
Kann alles besser und weiß alles besser als alle anderen Bewohner von Entenhausen.
Bekämpft Verbrechen, weil Verbrecher seine Eltern ermordet haben.
Geht zur Zauberschule und hilft den Tieren und Pflanzen in ihrem Feenreich.
Lebt in einem Vorort von London, backt Kekse, spielt Klavier, geht in die dritte Klasse.
Erlebt mit anderen Tieren Abenteuer, die Menschen zwischen 0 – 4 nachvollziehen können.
Ist immer gut drauf und freundlich zu allen.
coolness
geschlecht
spezies
story
batman
not sure
Kitty ist immer so cool wie der, der sie trägt.
Ziemlich cool. So lange man nicht älter als 4 ist.
Prinzipiell ja, übertreibt es aber manchmal etwas.
Die einzige uncoolere Maus ist Diddl.
Für Tiere und Pflanzen sicherlich.
HAHA. Nein.
Andreas Neuenkirchen
Hello Kitty – ein Phänomen erobert die Welt — Ca. 256 Seiten, geb., mit farbigen Abb. 20,00 EUR (D) / 20,60 EUR (A) ISBN 978-3-8493-0328-0 April 2014
Hello Kitty hat es geschafft, von der Illustration eines japanischen Kinderportemonnaies zu einer internationalen Stilikone heranzuwachsen, die fast vier Milliarden Euro pro Jahr umsetzt. Wie konnte das passieren? Der Japan-Experte Andreas Neuenkirchen erzählt erstmals die Geschichte des Weltstars und erklärt den Kult um Hello Kitty und ihre Fans.
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Martin Burckhardt
Goodbye, old world Wer beim Thema »Digitaler Wandel« nur technische Gadgets im Blick hat, versteht den radikalen Umbruch nicht, in dem wir uns befinden. Der »elektrische Autor« Martin Burckhardt erklärt ihn uns. Es war der Sampler, der Burckhardt Anfang der 1980er-Jahre in Berlin einen Erweckungsmoment bescherte und ganz neue Fragen aufwarf: Was bedeutet dieser Apparat für die Musik, wenn nun jeder Klang zum Instrument, jedermann zum Virtuosen werden kann? Was bedeutet die Möglichkeit der Reproduktion und Manipulation von Klängen dafür, wie wir leben und die Welt denken? Als Audiokünstler findet sich Burckhardt wenige Jahre später inmitten der boomenden Techno-Szene wieder und philosophiert über das neue Phänomen, das heute längst Mainstream geworden ist: denn ganze kulturelle Praktiken werden – unter anderem unter dem Stichwort »Retro« – gesamplet, zitiert, geremixt. Und lange bevor Filesharing und Urheberrechte Gegenstand von Gerichtsverhandlungen wurden, verwirft Burckhardt traditionelle Autorentheorien, spricht vom »sich mit-teilenden Dividuum«, von »Verflüssigung« und »Elektrisierung«. Es geht ihm um nicht weniger als darum die Gegenwart, die sich in einem radikalen Umbruch befindet, zu verstehen, ihre Möglichkeiten zu kartografieren. Die Entdeckung der Elektrizität stellt für Burckhardt einen historischen »Zeitriss« da: Strom fließt so schnell, dass man eigentlich nicht mehr von einem Zeitfluss sprechen kann, nur von Gleichzeitigkeit, von Echtzeit. Ein ähnlich vehementer Bruch wie die Erfindung der mechanischen Uhr, mit der sich Zeit auf einmal takten und »abrechnen« ließ.
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Digitale Renaissance
=====+=====~===~====~============~~======++==++++++ »Ich wusste nicht, über was ich noch schreiben könnte«, stellt Burckhardt im Jahr ===========~===~====~=============~~=========++++++ ==+========~===~====~=============~~=========++++++ 2000 nach zahlreichen Buchveröffentlichungen, Aufsätzen, Lehraufträgen fest. Er ===========~===~+===~==========+==~~=========++++++ ===========~===~====~=============~~=========++++++ wendet sich einem nichtliterarischen Schreiben zu, dem Programmieren. Auch hier ===========~===~====~=============~~=========++++++ ======+++=~=========~========~~~~===========++=++++ die brennenden Fragen: Wie bringe ich eine Welt zum Funktionieren, und welche =======================~~~~=============+======+++= Gesetze muss ich hierfür formulieren? Inspiriert von seinem Sohn, vertieft er sich ========~~~==~=======~~~=========================== ==========~~~~===~=~~~~~=========================== ins Thema »Social Gaming« und gründet die Firma Ludic Philosophy. 2011 präsen=======~~~~~~~~=~~~~~~~~=====================~~~~~~ =======~=======~~~~~~~~~===============~==~~~~::,,. tiert dieser interdisziplinäre Think Tank das vielbeachtete Browser-Game »Twin ===============~=~~~~~~:~=======~~~~~~~~~~~::,..... =~====~=======~~~~~~~~~~:~==~~~~~~~~~~~~:::::::::~~ Komplex«. Als Agent einer ominösen »De-Centralized Information Agency« gilt es, :,~~~~~~~~~~=~~~~~~~~~~~:~~~~~~::::::::::~~~~~::~~: ,,,::~~~~~~~~~~~:::::::,,:::::::::::::::::::::::::, im Moloch Berlin Kriminalfälle zu lösen. Filmsequenzen bilden das Grundgerüst ....,~:~~~~::::::::::::,:,::::::::::::::::::::::,.. ..,..,::::::::::,,,,,,,,,:::::::::~:::::::::::,.... dieser »Living Novel«, Beweisstücke liefert das Spiel – oder die eigene Recherche im .......,,::::,::,,,,,,,,,,,,,:::::~:::~:::::,,..... World Wide Web. Die Grenzen zwischen Fiktion und Realität sind fließend. .....,.,,,,,,,,,,,,.,,,,,,..,:::~~~::~~~~::,....... .......,,,,,,,,,,....,.,.....,:::::~~~~~::......... Digitale Renaissance, Burckhardts neues Buch, will ein »Manifest für die digi..,...,.,,,,,,:,,..,...........:::~~~~::,.......... ...,,..,.,.,,:,,,,:.............:::~~:,............ tale Welt« sein: Im Vorwort verrät der Autor seine Absicht: »Wir wissen bereits, wo....,,.,,.,,::::,:,,.............::~:.............. ...,:.:,,,,::~:~=~,,,,,,,........,,,............... hin die Reise geht, es gelingt uns nur nicht, das Alte zu vergessen. Die Losung des ,,,,,,,:,,,:=~:+:::,:,::,,,.,.,.................... ,,,,,,,:::,~:==~:~::,:~:=::,:,,,................... Buches heißt also: Schiffe versenken!« Anders: Wer Neuland erkunden will, muss ,,,,,::~~~:=~+=::::~,~~~~=:::,,,,.................. ~:::=+~~~I~=I++=,,:,,,:==::~:~:,,,,................ das Alte radikal hinter sich lassen und das Vergessen erlernen. Burckhardt will in ~=~==~+I+I?~?+==,:,,,::::~+++~~::,,,............... :====~++?7??====:~,,,,:++?I??~~::,,,,.............: Digitale Renaissance »eine Psychopathologie unserer Gemeinwesen vornehmen. ?+~?+?+??7I?++~~~===~~~=~+I?I?=+=::,..,............ Denn nur dort, wo wir die Abgründigkeit unserer Gegenwart sehen, werden wir die ++++?+I?II?I?++===+++?I777I?++++=~,:..,............ ?+?==7?7?7?I+???????77I??I=~:~==~~:,:..,........... Freiräume erkennen, die uns eine neue Welt denken lassen.« ?III?+??II?II???IIIIIIIII?=~=+===~~:,,.,........... I?????IIIIIIIIII77I777777I?~======:,:,:,........... Jenes Alte, Überkommene, das sind »Zwangsvorstellungen« wie der Irr-Glaube ??II?II7II7777777777777777I?=++++=~~,,,,........... ??IIIII77777777777777777777I+=?I?==::,:,........... an Geld, Konsumismus, dass es auf unsere Unterschrift und unsere persönliche ???IIII777777777777777777777I???I+=~,,:............ ???IIII7777777777777777777777??II+=~:,............. Leistung ankomme. Ebenso irr-sinnig ist es, alles, »was wir kennen, in digitaler ?IIIIII7777777777777777777777IIII?=~:,............. ?IIIII777777777777777777777777I7I?+~:,............. Form wiederauferstehen zu lassen«. Die Zukunft muss mehr sein als die Paraphrase ?IIIII77777777777777777777777777I??=:,,............ des Vergangenen. IIIIII77777777777777777777777777II++~,,............ IIII7I77777777777777777777777777III+=:............. Martin Burckhardt hat ein interaktives Interface programmiert, das den SchreibIIIIII777777777777/77777777777I7II?+~:............. IIIIII7777777777777//777777777IIII?+=:,............ prozess sichtbar macht: Jedes Wort, jede Zeile, jede Änderung des Autors wird IIIIII777777777777777777777777IIII?+=:............. IIIIII77777777777777777777777I7II?++=,............. transparent. Seine Gäste kommentieren, diskutieren, redigieren. Auch nach der VerIIIIIII7777777777777777777777III???=~,............. I7IIII77777777777777777777777II???+~,.............. öffentlichung wird das Buch weitergeschrieben und nimmt neue Ideen und Kritik II7III77777777777777777777777I?I+++~............... II77II777777777777777777777777???++:............... auf. Die Zukunft des Schreibens – sie hat schon begonnen: Social Writing – live in 7777II7I777777777777/777777777???=+:............... III77IIII777777777777777777777???=+~............... 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Sein »Manifest für ................................................... .........................Der Autor als ASCII-Code.. eine neue Welt« legt Thesen für eine Neuordnung unserer ................................................... Gesellschaft vor. ...................................................
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»Warum L. A., Frau Eichinger?« Weil in dieser Stadt hinter den polierten Fassaden dunkle Abgründe lauern. Katja Eichingers D ebütroman ist vieles: eine Ode an die Einsamkeit, eine Studie über Paranoia und ein packender T hriller. Im Gespräch erklärt sie, wieso sie das Buch schreiben musste.
tischen Fassade, die paranoides Verhalten entstehen lässt. Denn man vermutet ja ständig, dass die anderen genauso wie man selbst eine Fassade aufrechterhalten. Fatal am Verbergen und am Lügen sind ja nur zum Teil die Gewissensbisse. Schlimmer ist, dass man denkt, die anderen lügen genauso. Das ist die Vorhölle. Ausdruck des Ganzen sind die vielen Häuser in L.A., die oft wie Festungen aussehen, mit hohen Mauern, Kameras usw.
Die Hauptfigur Ihres Romans ist ein berühmter Jazzmusiker und lebt in Los Angeles. Warum L.A.? Zunächst einmal habe ich einen Großteil des Buches in L.A. geschrieben. Ich wohnte zu der Zeit in einem Haus in West Hollywood in der Nähe des Chateau Marmonts, kannte L.A. aber auch schon vorher, weil ich immer mal wieder dort gelebt habe. Eine der faszinierendsten Seiten dieser Stadt ist, dass dort immer die Sonne scheint, alle glücklich sein sollten und trotzdem das Grundwasser voll von Stimmungsaufhellern ist. Jeder lebt in seiner Blase, fährt alleine mit seinem Auto durch die Gegend und ist in dem gefangen, was er gerne darstellen würde. Yoga, Therapie, Sport – alle sind permanent mit der Selbstverwirklichung beschäftigt und dabei doch bei allem einsam. Das Buch ist eine Ballade an die Einsamkeit. Und dafür ist L.A. ein guter Handlungsort.
Und in so einem Haus wohnt der Jazzmusiker Harry Cubs. Ja, und sein Haus hat einen Panic Room. Auf die Idee dazu kam ich durch eine Freundin, die nach einem Haus suchte und dabei eine Villa in Beverly Hills besichtigt hatte. »Ein wunderschönes Haus, aber stell dir vor, die haben einen Panic Room«, erzählte sie mir, und wir beide waren sehr irritiert von der Vorstellung. Wie viel Angst muss man haben, um sich einen solchen Raum zu bauen? Wie sehr muss man sich vom Leben terrorisiert fühlen? Der letzte Rückzugsort, der aber auch zum Gefängnis werden kann. In einem solchen Haus könnte ich nicht leben.
Wie macht sich diese Einsamkeit in der Stadt bemerkbar? Ich denke, die Einsamkeit rührt von der Paranoia her, die in dieser Stadt herrscht. Viele Leute leben hinter einer narziss-
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Reichtum, Luxus – und hinter der Fassade Einsamkeit. Katja Eichinger fotografierte in den guten Vierteln von L.A.
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Katja Eichinger studierte am British Film Institute und arbeitete als Filmjournalistin für (u. a.) die Vogue, Dazed & Confused, Esquire und die Financial Times. Von Dezember 2006 bis zu seinem Tod war sie mit dem Filmproduzenten Bernd Eichinger verheiratet. 2008 veröffentlichte sie das Film-Buch Der Baader Meinhof Komplex und im September 2012 die Biografie BE. Amerikanisches Solo ist ihr erster Roman. Sie lebt in München und L.A.
Katja Eichinger mit ihrem Porsche, der oft kaputt ist.
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»Den ganzen Tag scheint die Sonne – und trotzdem lastet etwas Unsichtbares auf den Menschen in L.A.«, sagt Eichinger.
te von Narzissus und Echo sowie dem Märchen von Pygmalion. Diese Themen ließen mich nicht los, wohl auch deswegen nicht, weil davon auch die letzten Unterhaltungen handelten, die ich mit meinem Mann geführt hatte. Dann traf ich auf der Premiere von Amour den Filmemacher Michael Haneke, der die Kampuschgeschichte gut kannte. Ich erzählte ihm, was mich so beschäftigt, und er meinte, dass man sich ganz von der eigentlichen Geschichte befreien, etwas ganz anderes erzählen, den inneren Kern aber beibehalten solle. Das war für mich wie eine Erlösung: Plötzlich hatte ich quasi die Erlaubnis, die Realität einfach zu vergessen und das zu erzählen, was mich wirklich interessiert. Danach setzte ich mich hin und begann zu schreiben.
Harry Cubs ist ja nicht nur einsam und lebt in einer Trutzburg, er wird auch zum Entführer. Mich trieb schon länger die Geschichte von Natascha Kampusch um. Mein Mann hatte zum Zeitpunkt seines Todes an der Verfilmung des Falls gearbeitet, und wie alle seine Projekte bestimmte auch dieses unser Leben komplett. Es verfolgte uns bis in unsere Träume. Der Fall verstörte mich zutiefst. Und ich hatte es mit einer Frau zu tun, die eine absolute Heldin ist und gleichzeitig schwer traumatisiert. Ich war komplett überfordert. Einem so schrecklichen Verbrechen so unmittelbar ins Auge zu schauen, dem war ich nicht gewachsen. Um mit der Situation klarzukommen und sie auch, wenn überhaupt möglich, zu verstehen, begann ich, Erfahrungsberichte von Entführungen zu lesen, die von Reemtsma zum Beispiel. Ich habe mich darüber informiert, wie Geist und Körper mit Traumata umgehen. Gleichzeitig merkte ich, dass das, was mich an der Geschichte interessierte, nicht der Kriminalfall war, sondern ihr mythologischer Kern. Ihre mythologische Überhöhung. Denn nur so war für mich erklärbar, warum gerade diese Entführung weltweit die Menschen berührt hat. Natürlich ist es eine Frage der Interpretation, aber ich sah darin eine Mischung der Geschich-
Wie hat sich Ihre Situation auf den Inhalt des Romans ausgewirkt? Ich war nach dem Tod meines Mannes ähnlich einsam wie Harry Cubs. Mit Harry Cubs habe ich der Einsamkeit und all ihren hässlichen Geschwistern, wie z. B. dem Misstrauen und der Zwanghaftigkeit, eine Gestalt gegeben. Eine der ersten Szenen, die ich geschrieben habe, war die, in der sich eine Krabbe auflöst, während Harry Cubs in einem Sushi-Res-
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Luxus seit 1929: Blick vom Chateau Marmont.
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taurant sitzt. Ich habe so etwas Ähnliches einmal erlebt. Es war während der Filmfestspiele in Cannes vor langer Zeit. Ich war Pressebetreuerin, hatte totalen Stress und starrte in ein Aquarium im Eingang eines Fischrestaurants. Auf einmal löste sich vor mir eine Krabbe auf, und ich fühlte diesen unerklärlichen, existenziellen Horror. Das war die Schlüsselszene, anhand derer ich die Figur von Harry Cubs entwickelt habe.
Nochmal zurück zum Panic Room. Was hat es damit auf sich? Was interessiert Sie daran so sehr? Nun ja. Die Idee des Panic Rooms ist das Haus als Widerspiegelung der Seele. Es ist der Ort der Sicherheit, nach dem wir uns alle sehnen, der aber nicht wirklich existiert. Und wenn wir ihn uns schaffen, dann wird er schnell zum Gefängnis. Harrys Untergang besteht darin, dass er Verwundbarkeit nicht akzeptieren kann. Ständig will er sich und die Welt in Sicherheit bringen. Das ist unmöglich, es gibt keine Sicherheit. Sobald man etwas für immer festhalten will, zerstört man es. Der Grund, warum ich meine alten Autos so mag, obwohl sie ständig kaputtgehen, ist, dass man sie reparieren kann. Maschinen sind da anders als Menschen. Ein ausführliches Gespräch mit dem Mann vom ADAC oder mit meinem Vater oder dem Automechaniker hat für mich etwas Beruhigendes. Meinen alten Porsche in der Garage einzusperren, ist für mich keine Option.
Endete mit dem Roman das Gefühl der Auflösung? Ja, das Schreiben war für mich eine Befreiung. Ein Schritt nach vorne in ein neues Leben, jenseits des Witwendaseins. Wieso wollten Sie sich in die Rolle des Täters hineindenken? Dadurch, dass ich aus der Sicht des Täters geschrieben habe, sind die Handlungen des vermeintlichen Opfers überraschender. Ich wollte eine Heldin schaffen, von der der Leser auf den ersten Blick denkt, sie sei das ultimative Opfer, denn wir identifizieren uns ja am Anfang noch mit dem Täter. Erst nach einer Weile erkennen wir das Grauen seines vermeintlichen Gutmenschentums. Ich wollte einfach wissen: Was geht in diesem Menschen vor? Einem Menschen, der mit seiner Prominenz nicht umgehen kann, der ein privates und ein öffentliches Ich besitzt und beide nicht in Einklang bringen kann, was ihn zerreißt. Bei Harry Cubs sind die drei Ebenen, die des Ichs, des Es und des Über-Ichs, im permanenten Konflikt. Ich glaube, das ist eine Eigenart des Konzepts »Star« – und damit eines Typus Mensch, der enorm wichtig ist für die Gegenwart. Weil im Star allgemeine Tendenzen – etwa die Inszenierung des Lebens – auf die Spitze getrieben sind. Sie sind durch die Ehe mit Bernd Eichinger selbst prominent geworden. Wie war für Sie der Übergang von privater zu öffentlicher Person?
Katja Eichinger Amerikanisches Solo — Roman Ca. 288 Seiten, geb. mit SU 19,99 EUR (D) / 20,60 EUR (A) ISBN 978-3-8493-0336-5 März 2014
Ich bin nach dem Abitur nach London gezogen, um zu studieren. Mein Leben dort war sehr anonym. Ich bin erst wegen Bernd wieder nach Deutschland zurückgekehrt. Plötzlich stand ich mehr im Mittelpunkt. Es ist schon ein seltsames Gefühl, wenn man einen Raum betritt und alle wissen, wer man ist, man selbst kennt aber kaum jemanden. Ich hatte das Gefühl, ich lebe wieder auf dem Dorf bei Kassel, in dem ich aufgewachsen bin. Alle kennen einander, es wird wahnsinnig viel geredet und getratscht. All diese Negativstimmen, all die Vorurteile, die man dabei zu hören bekommt, habe ich übrigens dem psychotischen Jazzmusiker Harry Cubs, der sehr selbstgerecht ist, in den Mund gelegt. Das hat großen Spaß gemacht – und war meine Art, das zu verarbeiten.
Katja Eichinger legt ihren Debütroman vor: ein spannendes Wechselspiel zwischen Macht und Unterwerfung und zugleich eine Studie über Narzissmus und Einsamkeit. Angesiedelt in Los Angeles, entführt Amerikanisches Solo in eine Welt zwischen Glamour und Abgrund.
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Das infernalische Zombie-Spinnen-Massaker
Fremdgesteuert Traue niemandem, denn er könnte besessen sein. Wenn die Zombies kommen, steht die Welt am Abgrund. Das ist in David Wongs Romanen nicht anders. Es wimmelt von Geistern, Dämonen und Untoten, die dem Menschen nach dem Leben trachten. Das ist gruselig, unheimlich lustig und steht in der Tradition eines Horrorgenres, das gerade mal wieder einen seiner Höhepunkte erlebt.
So wie sich Zombies gerne in ihre Opfer verbeißen und schwer abzuschütteln sind, so haben sich die Untoten auch in der Populärkultur eingenistet. Der Claim des ersten ZombieFilms White Zombie (1932) »She was not alive nor dead... just a White Zombie« gab die Richtung für die nächsten Jahrzehnte vor. Der in einer Zwischenwelt gefangene, von einer fremden Macht gesteuerte Organismus war Hauptoder Nebenfigur vieler hundert Filme bis in die Gegenwart, wo er Teil des Mainstreams wurde. Das zeigt sich an einer erfolgreichen Serie wie The Walking Dead, am Vampirepos True Blood, das sich in seiner nächsten Staffel dem Reiz des entstellten lebenden Toten nicht entziehen kann, an Kinohits wie 28 Days Later, 28 Weeks Later oder zuletzt am Blockbuster World War Z. World War Z war als düstere Trilogie angelegt und wurde zu einer beinahe kindgerechten, sündhaft teuren Farce mit Happy End. Zombies verkommen hier zur Staffage für Effekthaschereien. Mit der Vorlage World War Z: An Oral History of the Zombie War von Max Brooks, hatte der Film nur noch wenig zu tun. Brooks’ Bestseller untersucht die Folgen eines weltweiten Kampfes gegen eine Zombieseuche und was er für den Zusammenhalt der Nationen, die globale Machtbalance, Gesellschaften und Politik bedeutet. Von diesem analytischen, tiefgreifenden Ansatz blieb in World War Z nichts mehr übrig. Anders ist das bei David Wong, der eigentlich Jason Pargin heißt und Redakteur bei der sehr erfolgreichen SatireWebsite »cracked.com« ist. Wong nimmt die Geschichte und Feinheiten des Zombie-Genres durchaus ernst und gilt
auch deswegen als neuer Liebling der Horrorfans. Sein erstes Buch, die Horror-Komödie John Dies at the End, startete als Online-Serie und war so erfolgreich, dass sie danach als Hardcover veröffentlicht wurde und sich über 60000 Mal verkaufte. 2012 wurde das Buch mit Paul G iamatti verfilmt. David Wong erzählt die Geschichte von David Wong, also seine eigene, der in einem Kaff im Mittleren Westen lebt und mit einem Freund die psychoaktive Droge »Soja Soße« ausprobiert. High haben sie Zugang zu einer verborgenen Welt, und was sie sehen, finden sie weniger gut. Denn Monster und Dämonen bedrohen ihre Heimatstadt, nur auf »Soja Soße« kann man sie wahrnehmen. Und das Böse steht kurz vor dem Angriff auf die Menschheit. Der Kampf beginnt und wird nun in Das infernalische ZombieSpinnen-Massaker fortgesetzt. Dieses Mal sind es bedrohliche Spinnen, die vom Menschen Besitz ergreifen und ihn zur willenlosen Marionette machen. David Wong und mit ihm die ganze Menschheit wird von Monstern verfolgt, die, wie schon vor 80 Jahren die »White Zombies«, dem Menschen ans Fleisch wollen. Vor den Untoten gibt es kein Entrinnen, plötzlich sind sie überall, und trotzdem kann man sich gegen sie wehren, wie die folgende Typologie über die verschiedenen Arten von Zombies zeigt.
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Voodoo-Zombie
Spinnen-Zombie
Nazi-Zombie
Warum Zombie? Der Zombie wurde durch einen Bokor (Voodoo-Priester) zum Leben erweckt. Seine Seele gehört dem Bokor, er kontrolliert ihn. Der Zombie ist willenlos, auf Töten programmiert.
Warum Zombie? Eine Alien-Spinne injiziert dem ahnungslosen Menschen ein Gift und nistet sich dann in seinem Kopf ein. Von nun an sitzt sie im »Driver’s seat« und steuert ihr Opfer.
Wie schnell? Sie humpeln in Schrittgeschwindigkeit.
Wie schnell? Recht schnell, deswegen ein unangenehmer Gegner.
Warum Zombie? Nazi-Wissenschaftler entwickeln während des Zweiten Weltkriegs eine untote, unzerstörbare Super-SSEinheit. Sie existiert auch nach dem Krieg weiter und wartet oft unter Wasser auf Opfer, um sie in die Tiefe zu reißen und zu fressen.
Wie töten? Am besten man bringt den Bokor um, Kugeln und Messer halten den Untoten kaum auf.
Wie töten? Der Kopf muss vom Körper getrennt werden. Also ist eine Kettensäge die Waffe der Wahl. Kopfschuss hilft nur, wenn man durch das Einschussloch einen Chemiecocktail schüttet.
Was sagt uns der Zombie? Der Voodoo-Zombie ist der Ur-Vater aller Zombies. Er kommt aus der Karibik und inspiriert bis heute viele Zombies, die ihm in Look und Haltung folgten. Taucht auf in: Victor Halperins White Zombie (1932)
Was sagt uns der Zombie? Der Spinnen-Zombie ist eine Abwandlung des Voodoo-Zombies, nur radikaler, direkter. Man könnte ihn auch als Synonym für schwere psychische Störungen lesen. Tritt auf in: David Wongs Das infernalische Zombie-Spinnen-Massaker (2012)
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Wie schnell? Langsam, aber sehr ausdauernd. Wie töten? Es hilft nur Flucht, die SS-Zombies sind sehr zäh. Es sei denn, man nimmt ihnen die Sonnenbrille ab. Dann sind sie erledigt. Was sagt uns der Zombie? Gibt es bessere Vorbilder für Zombies als ideologiegesteuerte Massenmörder? Eben. Tritt auf in: Ken Wiederhorns Shock Waves (1977)
Das infernalische Zombie-Spinnen-Massaker
David Wong Das infernalische ZombieSpinnen-Massaker — Roman Aus dem Amerikanischen von Marion Hertle Ca. 600 Seiten, Broschur 18,00 EUR (D) /18,60 EUR (A) ISBN 978-3-8493-0076-0 Februar 2014
Nicht mehr tun als nötig, wann immer es geht abhängen, trinken, ein paar Drogen einwerfen – Dave und John haben keine großen Pläne. Doch ihr Leben nimmt eine jähe Wendung, als auf dem nahegelegenen Highway ein Militär-Truck von der Straße abkommt und verunglückt. Als sie den LKW inspizieren, finden sie eine geheimnisvolle Kiste. Natürlich öffnen sie diese und setzen damit unbeabsichtigt eine Zombie-Spinnen-Apokalypse in Gang.
Virus-Zombie
Gift-Zombie
Cyber-Zombie
Warum Zombie? Ein Virus hat den armen Menschen erwischt und ihn im Gegensatz zu allen anderen Zombies nicht getötet und zum Untoten erweckt, sondern er lebt weiter und stirbt ein paar Wochen nach der Kontamination. Bis dahin ist er natürlich eine entfesselte Tötungsmaschine.
Warum Zombie? Das Herbizid Trioxin, das eigentlich Marihuana-Plantagen zerstören sollte, kann auch Menschen töten und zu Zombies mutieren lassen oder Leichen- und Tierkadaver zu Untoten erwecken.
Warum Zombie? Tote werden durch Mikroprozessoren und Nano-Robotik wieder zum Leben erweckt. Sie sind ähnlich wie die Nazi-Zombies Ergebnis militärwissenschaftlicher Forschung.
Wie schnell? Verdammt schnell, sehr stark und beweglich. Wie töten? So wie man einen Menschen töten würde, ein gezielter Schuss oder Stich reicht. Was sagt uns der Zombie? Vorsicht vor zu riskanten Experimenten mit Viren. Denn wenn sie aus dem Labor entweichen, naht die Apokalypse. Taucht auf in: Danny Boyles 28 Days Later (2002)
Wie schnell? So schnell wie ein Mensch und immer hungrig auf Gehirn.
Wie schnell? Kommt auf den Stand der Technik an, also von lahm bis schnell.
Wie töten? Geht nicht. Das Einzige, was hilft, ist, sie in eine versiegelte Tonne zu sperren.
Wie töten? Sehr schwierig, weil sie meist gut gerüstet sind. Am besten wirkt noch ein starker elektromagnetischer Impuls oder Sprengstoff.
Was sagt uns der Zombie? Trioxin wird vom Chemiekonzern Darrow Chemical hergestellt, dessen reales Vorbild wohl Dow Chemical ist. Man kann die »Living Dead«Serie also durchaus als Kritik am weltweiten, ausufernden Pestizideinsatz seit den 60er Jahren lesen.
Was sagt uns der Zombie? Die Cyber-Art ist die moderne, zeitgemäße Form des Zombies. Wie die meisten anderen Zombies ist er eine Warnung vor einer fehlgeleiteten Wissenschaft, die an den Bedürfnissen von Mensch und Globus vorbei experimentiert.
Tritt auf in: Dan O’Bannons The Return of the Living Dead (1985)
Taucht auf in: Paul Verhoevens RoboCop (1987)
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Ed Piskor
Von der Bronx in die Welt Ed Piskor erzählt die Familiengeschichte des frühen Hip Hop.
Die B-Boys der ersten Stunde: Jugendliche in der Lower East Side, 1982, fotografiert von Jamel Shabazz.
Geschichte beginnt meistens mit einem Schlüsselmoment, dessen Bedeutung man erst im Rückblick versteht. In der Geschichte des Hip Hop ist dieser Moment eine Erkenntnis. DJ Kool Herc, ein damals bekannter Funk- und Soul-DJ aus der Bronx, wollte, um die Party mehr zum Kochen zu bringen, die Instrumental-Parts bekannter Funk-Platten länger spielen als sie während eines Songs liefen. Zu schnell setzte der Gesang ein. Er fand einen Weg, das zu verhindern. Herc nahm zweimal die gleiche Platte und mischte immer wieder deren Drum-Breaks ineinander. Währenddessen sprach er in ein Mikrofon oder beauftragte jemanden, es zu tun, um die Tänzer anzuheizen. Diese Art des Plattenauflegens wurde in der Bronx und später auch in anderen Boroughs New Yorks stilprägend. Eine Szene entstand, Crews konkurrierten um die besten Partys, Hip Hop war da. Von diesen Anfängen
erzählt die wundervoll gezeichnete und beeindruckend detaillierte Graphic Novel Hip Hop Family Tree von Ed Piskor. Sie stellt im ersten Band (Mitte der 70er bis 1981) alle für die Entwicklung des Hip Hop wichtigen Personen und deren Geschichte vor (ein paar von ihnen sehen Sie rechts), sie erklärt, welchen Einfluss Hip Hop auf Sprache, Gesten und Alltag in den Ghettos hatte, sie zeigt, wie sich die Szene durch die allmähliche Kommerzialisierung veränderte und wie aus Geschichten Mythen und aus Songs unvergessliche Hits wurden. Hip Hop ist heute wahrscheinlich das erfolgreichste Genre der Popmusik. Auch durch Graffiti und Breakdance, beide Teil des Hip-Hop-Geistes, hatte er enormen Einfluss auf die Kultur der Gegenwart. Man vergisst leicht, dass er aus Rebellion und Außenseitertum entstand, Hip Hop Family Tree erinnert daran.
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AN EINEM FEHLT ES IHM … * THE ALPS: BIlLIGES MOTEL IN DER BRONX, WO MAN SICH FÜR SEX TRAF.
Hip Hop Family Tree
CA BAMBaATaA WIRD AUF DIE CREW AUFMERKSAM UND LÄDT SIE ZUM BAtTLE EIN. VON DER ZULU ON WAHRGENOmMEN ZU WERDEN, IST EIN ADELsSCHLAG FÜR DIE DISCO-BRÜDER. AUCH WEnN, DAS sST SICH NICHT VERHEIMLICHEN, SIE FÜR DIESEN BAtTLE ABSOLUT NICHT GERÜSTET SIND. DJ kool herc Hip-Hop-Pionier, der sich, nachdem er 1978 auf einer Party durch einen Messerstich verletzt wurde, aus der Szene zurückzog. Er war der erste, der den Apache Break benutzte, einen Percussion-Beat aus dem Song »Apache« der Band The Incredible Bongo Band. Dieser Beat wurde und wird immer noch häufig in Hip-Hop-Songs verwendet.
afrika bambaataa Discjockey, der neben DJ Kool Herc und Grandmaster Flash das bekannteste Soundsystem betrieb und die besten Partys in den 70er Jahren veranstaltete. Er ist Gründer der Zulu Nation, in der Anhänger aller Spielarten des Hip Hop, also Sprayer, Breakdancer, Discjockeys und MCs, vereinigt sind. Aufgabe der Zulu Nation ist bis heute die Pflege der Hip-Hop-Kultur und der von Bambaataa aufgestellten Werte, wie Umwandlung des Negativen ins Positive, Liebe und Respekt.
ER IST SO MIT DREHEN UND MIXEN BESCHÄFTIGT, DAsS ER KEIN WORT INS MIKROFON SAGT.
MEHR UND MEHR DRÄNGEN SICH IHM AUFSTREBENDE B-BOYS AUF.
BE IH CH
YEAH, ROCK SIE FLASH! UH UH …
grandmaster flash
Er galt damals als der beste DJ und erfand viele Techniken des Plattenmischens und den Crossfader am Mischpult, der es erlaubt, schneller zwischen den laufenden Platten hin- und herRUNTER zuwechseln. Flash arbeitete lange mit der Rapcrew Furious Five zusammen. Sie veranstalteten legendäre VON NERPartys und machten Hip Hop über die Grenzen der Bronx hinaus bekannt.
kurtis blow Sehr wichtiger Rapper in der Entwicklung des Hip Hop. Sein Hit »The Breaks«, der mit den Zeilen: »Clap your hands eve-
KOUTS BRUDER JAzZY DeE IST ZEUGE, WIE TONY TONE, DJ UND KUMPEL DER BRÜDER, rybody, if you got what it takes, ’cause I’m Kurtis Blow and I RÜDER FERTIG GEMACHT WERDEN. ER SOlL IHNENgehört DIE SOUNDANLAGE AUFZUMÖBELN – want you to know, that these are the HILFT breaks« beginnt, MANAGER AUSHELFEN. MIT . zu den großen Klassikern des Hip Hop. SeinSCHROtT Song »Christmas
BÜHNE!
* O-
Rappin’« machte neben »Rapper’s Delight« von der Sugarhill Gang 1979 Hip Hop im weißen Mainstream bekannt.
HAB’N TOP MIXER FÜR EUCH …
KRIEG ICH 500 FÜR VON EUCH.
Sylvia Robinson
ZWEI B-BOY-BRÜDER, KID CREOLE & MElLE MEL, FAHREN VOlL AUF DIE FLASH‘N‘COWBOY-SHOW AB. VOR AlLEM KID CREOLE. WART’S AB. WAS WIRD’N DAS MIT DEN OlLEN FÄsSERN, TONE? DJ Hollywood WIR SOlLTEN UNS GEHT‘S AUCH DA OBEN HIER UNTEN DJ und MC und Mitbegründer des Hip Hop, der in den 70er STEHEN, MEL. DOCH PRIMA.
FL UN SA
Jahren beliebte Partys veranstaltete und später der Haus-DJ des Apollo Theaters wurde. Heute ist DJ Hollywood in Vergessenheit geraten. Ein Grund ist, dass er Anfang der 80er Jahre, als Hip Hop kommerzieller wurde und die ersten Platten veröffentlicht wurden, keinen Hit landen konnte.
R&B Sängerin, die mit »Pillow Talk« Anfang der 70er Jahre einen Hit hatte, der heute als Vorstufe zu Disco gilt. Robinson gründete Ende der 70er Jahre Sugar Hill Records und schuf mit dem Label einen Zugang zum Mainstream. Sie produzierte »Rapper’s Delight« und »The Message« von Grandmaster Flash & The Furious Five. Robinson blieb bis zu ihrem Tod vor zwei Jahren eine wichtige Figur der Hip-Hop-Kultur.
Russell Simmons
Promoter zuerst Kurtis unterstützte, DIE REIME NUR …derWOBEI IHMBlow EIGENTLICH PARTYMEISTER SEIN IST EINE und Produzent, später dann Run-D.M.C., die Crew seines Bruders Joseph. Er WIEDERUM DAS SELBSTVERTRAUEN GIBT, IMPROVISATION WIE JAzZ. MElLE gründete in den 80er Jahren mit Rick Rubin das Label Def Jam CREW AUF BÜHNE MEL VERSTEHT DAS, GEHT ABER Recordings, auf dem unter anderem die DIE Beastie Boys und ZU LL GEHEN. SEIN T Cool J ihre… Platten veröffentlichen. SimmonsWIE gilt heute als der FÄHIGKEITEN A VERFEINERT FLASHS LIEBER AUF NUmMER SICHER reichste Mann im Hip-Hop-Business.
ITALIAN, CAUCASIAN, JAPANESE, SPANISH, INDIAN, NEGRO AND VIETNAMESE, MCs, DISK JOCKEYS …
Ed Piskor Hip Hop Family Tree Die frühen Jahre des Hip Hop — Graphic Novel Aus dem Amerikanischen von Stefan Pannor Ca. 120 Seiten, geb., 4-farbig 22,99 EUR (D) / 23,70 EUR (A) ISBN 978-3-8493-0090-6 Mai 2014
DJ Kool Herc, Grandmaster Flash und die Furious Five, oder Afrika Bambaataa und RUN-D.M.C.: Sie waren die Taktgeber beim beispiellosen Siegeszug eines Musik- und Lebensstils, der im New York der späten 1970er Jahre in den Parks, Aufnahmestudios, Radiostationen und Clubs der South Bronx seinen Anfang nahm. Text und Bild dieser kenntnisreich erzählten Kulturgeschichte aus der Frühzeit des Hip Hop stammen vom talentierten Mr. Piskor.
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Hip Hop Family Tree
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Ian F. Svenonius
Die Gespenster des Rock ’n’ Roll Was tun, wenn die lebenden Rockstars zu selbstverliebt sind, um nützliche Tipps zu geben, wie man berühmt wird? Ganz einfach: Man veranstaltet eine Séance und bittet die toten Rockgrößen um Antwort. So machte es der Autor Ian S. Svenonius. Es klappte prächtig, aber bevor die Märtyrer des Rock ’n’ Roll die entscheidenden Antworten gaben, musste das Thema erst eimal grundsätzlich durchgesprochen werden.
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22 Strategien für die erfolgreiche Gründung einer Rockband
Jim Morrison: Erst als energiegeladene Instrumentalgruppen wie The Bel-Airs, The Chantays und die Del-Tones in Südkalifornien vor einem größeren, begeisterten Publikum auftraten, erkannte sich diese Ansammlung von Herumtreibern und Nonkonformisten an ihren Gemeinsamkeiten und sah, dass ihnen eine ganze Kultur des Surfens mit eigenen Gewohnheiten, einem eigenen Bekleidungsstil, eigenen Sitten und einer eigenen Weltanschauung eigen war. Die allgemeine Entdeckung dieser Surfsubkultur durch Schallplatten fiel also mit dem Zeitpunkt zusammen, als die Surfer sich selbst als Subkultur erkannten. Die Surfmusik, die am Anfang eine frenetische, gitarrendominierte Tanz- und später adrette Postpopmusik à la Beach Boys und Jan & Dean war, schweißte diese hochgradig individualistischen Nichtsnutze zusammen, indem sie in die Imagination der Öffentlichkeit eingeschleust und danach über die Artikulation ihrer ihnen eigenen Wunschträume, Ängste und ihres Gedankenguts romantisch verklärt wurden. Man kann sicher sagen, dass die Surfer an ihrer Kodierung und Kommodifizierung fast gar nicht beteiligt waren. Tatsächlich war es so, dass die Surfgruppen richtige Surfer ausbeuteten und sie als Fetischpuppen instrumentalisierten, um den orientierungs- und hoffnungslosen postindustriellen Teenyboppern Südkaliforniens – und damit der ganzen Teenagernation – eine Identität zu verleihen.
Jimi Hendrix sprach zu uns, wofür wir besonders dankbar waren. Da er in berühmten R&B-Revuen gespielt hatte, bevor er seine Gruppe »Experience« gründete, hatte er bestimmt spezielle Ansichten zur Bildung einer Gruppe beizusteuern. Zwar erschien er uns nur als eine leichte Brise in den Vorhängen, aber er war sehr gesprächig. Warum Rock ’n’ Roll? Jimi Hendrix: Der Rock ’n’ Roll ist eine amerikanische Kunst, die aus der Industriellen Revolution, der Nutzbarmachung von Elektrizität und der ethnischen Vermischung verschiedener armer, ausgebeuteter und in Knechtschaft gehaltener Kulturen in den USA entstand. Der Rock ’n’ Roll ist sowohl eine Feier als auch eine Verurteilung der Trash-Kultur, des Klassenkampfes und von Herrschaftsprivilegien. Aber warum sollte man eine Band gründen? Die Frage ist allerdings berechtigt: Wozu noch eine Rock-’n’Roll-Gruppe? Die abfälligen Anzüglichkeiten, die Grimassenschneiderei, die Kunstlosigkeit, die Sinnlosigkeit, der Stumpfsinn, das Überangebot an Gruppen, die Vertragsbetrügereien, die offensichtliche Selbstherrlichkeit der Gruppen, gleichzeitig dazu der Selbstekel, die reaktionären politischen Ansichten, die Objektivierung des Performers durch den Zuschauer, die Objektivierung des Zuschauers durch den Performer, die Augenwischerei, das Plagiieren und der Narzissmus sind für den denkenden Betrachter Anlass genug, um vor jeglichem Flirt mit dem Zeitvertreib des »Gruppentums« davonzulaufen. Diesem Weg muss die Gruppe aber nicht folgen. Die Surfer waren zum Beispiel existenzialistische »Abartige«, denen vor Intellektualismus, Konsumdenken und normativen Vorstellungen von Hierarchie und Erfolg graute. Diese Verachtung zeigten sie (oder entwickelten sie) mit dem Surfen, eine Aktivität (inzwischen völlig in die Welt des Sports integriert), die zuerst von Hawaiianern ausgeübt wurde und der von ihren Anhängern eine besondere spirituelle Qualität zugeschrieben wird. Der Surfer kommuniziert mit Gott in der temporären Form der Welle. Typisch für die Surfer war zwar ein gemeinsamer Widerwillen gegen die Gesellschaft, ein sinnlicher Antiintellektualismus und draufgängerische Waghalsigkeit, aber trotz dieser gemeinsamen Werte betrachteten sie sich nicht als »Surfer«, außer in der Art, in der Leute, die Autos fahren, sich als »Autofahrer« oder Leute, die essen, sich als »Esser« betrachten würden.
Ian F. Svenonius 22 Strategien für die erfolgreiche Gründung einer Rockband Mit Ratschlägen aus dem Jenseits von Brian Jones, Jimi Hendrix, Jim Morrison u. v. a. — Aus dem Amerikanischen von Egbert Hörmann und Uta Goridis Ca. 224 Seiten, geb. 18,00 EUR (D) / 18,50 EUR (A) ISBN 978-3-8493-0091-3 Mai 2014
Die Surfer wussten also nicht, dass sie Surfer waren? In diesem Augenblick meldete sich der Geist von Jim Morrison, der Frontmann der Doors, der selbst einmal in Südkalifornien gelebt hatte, zu Wort. Jims Aneignung von Elementen des Avantgardetheaters, die die Doors von anderen Gruppen dezidiert unterschieden hatte, zeigte sich auch in der Art seiner Kommunikation. Er sprach, indem er Buchstaben mit dem Dampf bildete, der aus der Teekanne kam, die auf dem Tisch stand.
Ian F. Svenonius – Frontman der Band Chain & The Gang – verrät in seinem Buch 22 Strategien für die erfolgreiche Gründung einer Rockband nicht weniger als die Erfolgsgeheimnisse des Rock ’n’ Roll.
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