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Vincent van Gogh

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Gustave Courbet

Gustave Courbet

1853–1890

Vincent van Gogh

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Selbstporträt mit verbundenem Ohr, 1889 Öl auf Leinwand, 60 x 49 cm Courtauld Gallery, London

Van Gogh dekorierte sein Haus in leuchtenden Farben und hängte zur Inspiration oft Bilder an die Wand. Im Hintergrund dieses Selbstporträts ist ein japanischer Holzschnitt zu sehen, der auf van Goghs Interesse an den fließenden Formen und bezaubernden Farben dieser einflussreichen Drucke aus dem 19. Jahrhundert hinweist.

1885 schrieb Vincent van Gogh: »Gemalte Porträts haben ein ganz eigenes Leben, das tief aus der Seele des Malers kommt und wohin die Maschine nicht gelangen kann.« Als die Fotografie immer mehr dazu in der Lage war, die äußere Erscheinung festzuhalten, begannen Künstler, das expressive Potenzial von Farbe auszuloten. Van Goghs schwermütige Selbstporträts gehören zu den berühmtesten Bildern der westlichen Kunst. Diese Werke – oft Kopf und Schultern im Hochformat – beweisen seine außerordentliche Originalität als Maler und Kolorist. Leuchtende Flecken kontrastierender Farben drängen sich nebeneinander und erzeugen ein allumfassendes Gefühl von emotionaler Intensität und Beklemmung. Gleichermaßen bekannt ist die traurige Geschichte seines gequälten Lebens: eine klassische Geschichte von Genie, Verwundbarkeit und Geisteskrankheit mit einem unausweichlichen tragischen Ende.

Van Gogh kämpfte sein Leben lang um Anerkennung. Er konnte es sich kaum leisten, Modelle zu bezahlen und wandte sich daher dem billigsten Modell zu, das er finden konnte: sich selbst. Zwischen 1886 und 1888 lebte er mit seinem Bruder Theo, einem Kunsthändler, am Montmartre in Paris. Hier entstanden in kurzer Zeit etwa 20 Selbstporträts. Trotz seines Elans verabscheute er Paris und sehnte sich nach einem ländlichen, spirituellen Leben. 1888 zog er nach Arles in Südfrankreich, um sich an Gottes Werk, der Natur, zu erfreuen und eine Künstlergemeinschaft zu begründen. Er träumte von einer Bruderschaft Gleichgesinnter, die den Realismus auf der Suche nach tieferen, spirituellen Visionen überwand.

Den postimpressionistischen Maler Paul Gauguin faszinierte die Vorstellung seines Freundes von einem »Studio des Südens« und er plante unverzüglich seine Abreise aus der Bretagne, um bei van Gogh in Arles zu wohnen. Eine Reihe frustrierender Verzögerungen veranlasste die beiden Künstler zu einer ungewöhnlichen Brieffreundschaft, bei der sie auch Selbstporträts austauschten, um ihren kreativen Schwung zu erhalten. Gauguin traf schließlich im November 1888 ein. Van Gogh hatte in Erwartung der Ankunft Veränderungen an seinem Haus vorgenommen, um den Komfort seines Freundes zu gewährleisten. Dieser häusliche Impuls zeigt sich in zwei Bildern, die er nach Gauguins Eintreffen begann und in denen die Stühle der beiden Künstler zu sehen sind. Stühle bieten dem Körper Raum. Obwohl auf den Bildern keine Figuren zu sehen sind, vermitteln sie eine starke individuelle Präsenz und verweisen auf die tiefere psychologische Verfassung. Gauguins gepolsterter Stuhl wirkt bedrohlich, geisterhaft, mit tentakelartigen Beinen, was schon auf den zunehmenden Zwist zwischen beiden hindeutet. Van Goghs aus Binsen geflochtener Sitz scheint genügsamer zu sein, schmerzlich isoliert und gehemmt. Die

Bruderschaft war leider nur kurzlebig. Am 23. Dezember 1888 erlitt van Gogh einen ernsten psychotischen Schub. Nachdem er Gauguin mit einem Rasiermesser bedroht hatte, raste er in das Zentrum von Arles, schnitt sich einen Teil seines Ohres ab und übergab ihn einer vorübergehenden Prostituierten mit der Aufforderung, »ihn gut aufzuheben«. Später fand die Polizei van Gogh allein in seinem Haus vor, geschwächt vom starken Blutverlust.

Für beide Künstler war die Erholung von dieser traumatischen Episode mit der Schaffung neuer Selbstporträts verbunden. Van Goghs Selbstporträt mit verbundenem Ohr (1889) versucht, den Vorfall zu verharmlosen. Er sitzt aufrecht und trägt eine weiche Wintermütze, die unter dem Kinn geschlossen ist. Nur bei näherem Hinsehen erkennt man den Verband am Ohr zum Schutz der Wunde. Van Gogh wirkt bemerkenswert gefasst, stoisch, unerschütterlich. Sein Können als Künstler bleibt unberührt – dies ist ein Meisterwerk in Farbe mit leuchtendem Zinnoberrot, Giftgrün, Himmelblau. Gauguin verfolgte eine ganz andere Richtung und verarbeitete den Vorfall in dreidimensionaler Form. Krug in Form eines Kopfes, Selbstporträt (1889) zeigt ihn quasi enthauptet, mit zurückgelegtem Kopf und geschlossenen Augen. Das ist posttraumatische Stresstöpferei. Es fehlen die Ohren, und die blutrote Glasur fließt in alle Richtungen.

Vincent van Gogh

Van Goghs Stuhl, 1888 Öl auf Leinwand, 91,8 x 73 cm National Gallery, London

Van Gogh sehnte sich nach einem einfachen, ländlichen Leben, wie die Wahl der einfachen, rustikalen Möbel (wie dieses Stuhls mit dem binsengeflochtenen Sitz), der blanke Kachelfußboden und die einfache Kiste mit Zwiebeln in der Ecke beweisen. Die Prägnanz dieses Werks liegt in dem alles umfassenden Gefühl von Isolation und Einsamkeit. Die einzigen treuen Freunde, die van Gogh bereitwillig zur Seite stehen, sind seine Pfeife und sein Tabak.

WEITERE WICHTIGE WERKE

■ Selbstporträt, Gauguin gewidmet, 1888, Harvard Art Museums,

Harvard, USA ■ Paul Gauguin, Selbstporträt mit Porträt von Émile Bernard (Les misérables), 1888, Van Gogh Museum, Amsterdam, Niederlande ■ Gauguins Stuhl, November 1888, 1888, Van Gogh Museum,

Amsterdam, Niederlande

MERKMALE

■ Wiederholter Einsatz von Selbstporträts zum Erkunden psychologischer Zustände ■ Phasen großer Kreativität, in denen er oft an mehreren Selbstporträts gleichzeitig arbeitete ■ Expressiver Einsatz von Farbe und Pinselführung ■ Projektion individueller Identitäten auf Alltagsobjekte ■ Austausch von Selbstporträts zum Vertiefen von Freundschaften und Erweisen von Ehrerbietung ■ Darstellung des Künstlers als Außenseiter ■ Therapeutische Nutzung von Selbstporträts zum Verarbeiten eines Traumas

Paul Gauguin

Krug in Form eines Kopfes, Selbstporträt, 1889 Glasiertes Steingut, Höhe 19,3 cm Kunstindustrimuseet, Kopenhagen, Dänemark

Als Ergebnis seiner Freundschaft mit van Gogh stieg Gauguins Interesse an Selbstporträts. Seine Entscheidung, sich als Haushaltsgegenstand darzustellen, war vielleicht eine Reaktion auf van Goghs Gemälde der Stühle. Der abgetrennte Kopf kann auch ein Verweis auf Caravaggios einflussreiches Bild David mit dem Haupt des Goliath, 1609–10, sein (siehe S. 30).

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