mikSes 1|2007

Page 1


„Sind sie zu fremd, bist du zu deutsch.“

www.mikSes.de


Editorial |

Auch die Medienlandschaft braucht ein neues Gesicht!

A

llzu oft werden in der gegenwärtigen Medienlandschaft kĂźnstlich Gegensätze aufgebaut, weil man davon ausgeht, dass auf diese Weise die Welt fĂźr den Leser verständlicher gemacht werden kann. Um Probleme zu thematisieren, kommt es dabei zu ungewollten Zuspitzungen, die den Anschein erwecken, dass unser Kulturraum aus einer Mehrheitsgesellschaft und vielen Parallelgesellschaften besteht, die sich gegenseitig in Angst versetzen. Dabei existiert in Deutschland eine Kultur, die sich aus einer Vielzahl verschiedener Kulturen zusammensetzt. Deutschland ist facettenreicher als es meist in den Medien porträtiert wird. Wir leben in einer FĂźlle von interkulturellen Begegnungen. Neue Gesichter sind prägend fĂźr diese Gesellschaft, verändern gleichzeitig ihr Gesicht und sind auch ein Teil dieser Kultur. mikSes mĂśchte den Lesern das neue Gesicht von Deutschland vorstellen. Aus der Idee zu dem Magazin ist ebenso die Titelgeschichte Die jungen neuen Deutschen entstanden, die genau diese Vielfalt, Veränderung und Bereicherung in Deutschland zum Ausdruck bringen soll. Währenddessen bemĂźhen sich die Sprachgewandtesten unter uns die korrekte Beschreibung oder UmschreiEXQJ I U GLHMHQLJHQ ]X ÂżQGHQ GLH GHQ VR JHQDQQWHQ 0LJUDWLonshintergrund haben. FĂźr die jungen neuen Deutschen gibt es vielleicht keine passende Bezeichnung, aber dass sie zunehmend im Mittelpunkt des Interesses stehen, zeigen nicht nur die Medien, sondern auch die deutsche Wirtschaft, die nun nach Jahrzehnten die Verschiedenartigkeit in der Gesellschaft und damit eine neue Zielgruppe fĂźr sich entdeckt hat, so dass Ethno-MarNHWLQJ DOV HLQH GHU EHVWHQ (UÂżQGXQJHQ DQJHSULHVHQ ZLUG $XI GHU anderen Seite handelt es sich nicht nur um eine passive Gruppe, sondern um Akteure, die selbst BĂźcher schreiben und Filme produzieren, auf internationalen Wettbewerben musizieren und Fernsehsender grĂźnden. All das und vieles mehr ist neben gesellschaftlich-politischen wie kulturellen und bildungsrelevanten Themen Inhalt dieser ersten Ausgabe. Ein Jahr lang hat die Redaktion an dem Aufbau und den Themen des Magazins gearbeitet mit dem Ziel, fern vom vordergrĂźndig plakativen WohlfĂźhljournalismus das Thema Integration zeitgemäĂ&#x; und unterhaltsam aufzugreifen. Wir meinen, dass auch die Medienlandschaft ein neues Gesicht braucht‌ weshalb Sie nun mikSes in der Hand halten! ,NEDO .Ă•OĂ•o - Chefredakteurin

1|2007 | mikSes | 3


| Inhalt | Titel

| CampusKültür

| StreitKültür

6| Das mikSes-Ranking: Die 30 wichtigsten jungen „neuen Deutschen“ mikSes präsentiert Menschen, die bestimmend für Deutschland geworden sind und die das Gesicht von Deutschland geändert und mitgeprägt haben.

18 | Geld stinkt nicht nach Knoblauch Ethno-Marketing: Wie die Wirtschaft eine neue Zielgruppe entdeckt

34 | Hilfe, ich habe einen Migrationshintergrund Gedanken zu Migrationshintergrund und Political Correctness

20 | Ethno-Marketing – zur Nachahmung sehr empfohlen! Interview mit dem Geschäftsführer einer Ethno-Marketing-Agentur

36 | Netzwerk türkischstämmiger Mandatsträger Abgeordnete haben sich bundesweiten zusammengeschlossen

24 | Rettet die Orchideen! Zur Arterhaltung bedrohter Studienfächer – Folge 1: Gender-Studies / Geschlechterstudien

38 | Kinder, unter deutscher Flagge scharet euch... Die Dietzenbacher Integralrechnung

26 | Ohne Moos nix los! 'LH 0|JOLFKNHLWHQ ]XU 6WXGLHQ¿QDQzierung sind vielfältig 28 | Die türkische Anadolu Universität ist die zweitgrößte weltweit Interview mit dem Leiter der Westeuropa-Kontaktstelle in Köln 30 | Reichlich Akademisches Vorstellung einer Diplomarbeit. Diesmal: Die Antisemitismus-Kontroverse des Jahres 2002

4 | mikSes | 1|2007

40 | Friedliches Zusammenleben trotz „Generalverdachts“ In Zeiten des islamistischen Terrorismus haben es Muslime in Deutschland nicht einfach. 42 | Nur für kurz Eine kleine Migrationsgeschichte 44 | Mediales Ghetto bei Deutsch-Türken? Türkische Bevölkerung und Medien in Deutschland: Stand & Tendenzen 48 | Schwerin, Schwerin, wir fahren nach Schwerin! 2006 wurde die NPD in den Schweriner Landtag gewählt. Ein Nachtrag.


Inhalt | | LeitKültür

| LebensKültür

52 | Der lange Weg des Feridun =DLPR÷OX Ein Portrait über den deutschen Literaten

68 | „Ali mit leichtem Dressing“ Die Autorin von „Einmal Hans mit scharfer Soße“ Hatice Akyün über Vorurteile, über das Finden ihres ganz persönlichen Hans und über die Ideen für ihr nächstes Buch.

3| Editorial

71 | Out of the Miks „Irgendwo auf der Welt....“ ist das Thema des 1. „Out of the Miks“ Wettbewerbs

86 | Impressum

55 | Leyla 9RQ )HULGXQ =DLPR÷OX 56 | Türkisch für Anfänger Da traut sich einer was. Unser Kulturedakteur will Türkisch lernen 57 | Städtepartnerschaft Köln-Istanbul Interview mit dem Vorsitzenden des Vereins zur Förderung der Städtepartnerschaft Köln-Istanbul 58 | Berg Karabach Übersehener Krieg und vergessenes Leid: Das Drama des aserischen Volkes 62 | Aus dem öden Studentenwohnheim in ein erfolgreiches Istanbuler Modeunternehmen Interview mit der Mode-Designerin Zeynep Ezgimen

85 | .ROXPQH YRQ (UNDQ $UÕNDQ „Migrationshintergrund“ hört sich an wie eine Krankheit

72 | Die schwarze Eminenz In Istanbul und Deutschland kam er zum Schauspiel und Film. Heute ist er erfolgreicher Filmregisseur in den USA. Mevlüt Akkaya im Interview 76 | Sie spricht Musik Die junge Pianistin Meryem Natalie Akdenizli im Interview 82 | Istanbul, Istanbul... Mein erstes Mal. Eindrücke von einer Istanbul-Reise 84 | Der Heimatfernsehmacher Kanal Avrupa, konzipiert von Deutschtürken für Deutschtürken. Seran Sargur ist General-Koordinator und Mit-Initiator des Senders und ab der nächsten Ausgabe auch als Kolumnist für mikSes tätig 1|2007 | mikSes | 5



Titel | © Britta Rating

3ODW] )HULGXQ =DLPR÷OX (42), Schriftsteller Das Buch Kanak Sprak und sein Wille zur Provokation brachten ihm die Bezeichnung „Malcolm X der Türken“ ein und machte den ehemaligen Mannheimer Theaterdichter zum Kultautor. In seinen ersten Veröffentlichungen verschrieb sich der Sohn türkischer Eltern den soziokulturellen Problemen derjenigen, die in der Gesellschaft kein Gehör fanden und sich von dieser ausgegrenzt fühlten. Aufgrund seiner kulturkritischen Bücher wurde er lange Zeit als Autor der Migrantenliteratur bezeichnet und nicht als deutscher Schriftsteller wahrgenommen. Inzwischen hat er eine Reihe von Auszeichnungen erhalten: HebbelPreis (2002), Preis der Jury beim Bachmann-Wettbewerb (2003), Adelbert-von-Chamisso-Preis (2004), Hugo-BallPreis (2005). Heute ist die deutschsprachige Literatur des -DKUKXQGHUWV RKQH =DLPR÷OX QLFKW ]X GHQNHQ

Platz 3: Joy Denalane (33), Die aus dem multiethnischen Stadtteil BerlinKreuzberg stammende Afro-Deutsche erlebte ihren Durchbruch mit dem Duett Mit dir (1999). Während sie davor noch mit lokalen Soul- und Reggae-Bands spielte, entwickelte sie sich von diesem Zeitpunkt an zur Soul-Queen Deutschlands, die mit ihren sozialkritischen und provokanten Texten von sich Rede macht. Für ihre zwei Solo-Alben wurde sie mit zahlreichen Preisen wie VIVA-Comet, 1Live Krone, Neo-Award ausgezeichnet. Joy Denalane hat mit ihrer starken Stimme sehr schnell die Herzen der deutschen Soul-Begeisterten erobert. Mit Ihrem aktuellen, englischsprachigen Album Born & Raised möchte die deutsche Soul-Queen nun auch den Rest der Welt von ihrem Gesang überzeugen.

© Ingo Robin

Sängerin

1|2007 | mikSes | 7


| Titel

Platz 4: Fatih Akin (33), Regisseur und Produzent Ein Viertel Jahrhundert musste vergehen bis der Goldene Bär der Berlinale im Jahre 2004 wieder für eine deutsche Produktion, Akins Gegen die Wand, vergeben wurde. Mit 16 entschied sich der gebürtige Hamburger türkischer Herkunft Regisseur zu werden und schloss dafür ein Studium der Visuellen Kommunikation an der Hamburger Hochschule für bildende Künste ab, an die er 2005 als Gastprofessor zurückkehrte. Bereits mit seinem ersten Werk Kurz und Schmerzlos (1998) inszenierte er einen Film mit unbändiger Leidenschaft und ohne Rücksicht auf Konventionen und Verluste, was typisch für all seine Filme werden sollte. Akin ist unbestritten eines der größten deutschen Regie-Talente und wirkt inzwischen auf internationalen Filmfestspielen als Juror mit.

© Nadja Klier © Stefan Husch

Platz 5: Tarek Al-Wazir (36), Politiker Hatte jemand „geh zurück nach Sanaa“ gerufen? Al-Wazir, dessen Vater aus Jemen stammt, trat mit 18 Jahren den Grünen bei und war drei Jahre später bereits Landesvorsitzender der Grünen Jugend. Kurz darauf zog er in den Landtag ein und wurde auch gleich innenpolitischer Sprecher der Fraktion. Mit 29 wurde er zum Fraktionsvorsitzenden gewählt. Seit Dezember 2006 sitzt er im Bundesparteirat der Grünen. Damit redet der gebürtige Offenbacher jetzt auch bundespolitisch mit. 8 | mikSes | 1|2007


‹ & QH\W .DUDGDá

Titel | Platz 6: Lukas Podolski (21), FuĂ&#x;baller Von der KĂślner Lokalpresse einst liebevoll Prinz Poldi genannt, ist der in Schlesien geborene KĂślner inzwischen zu einem Star der Nationalmannschaft und des FC Bayern MĂźnchen avanciert. Schon mit sechs Jahren spielte er fĂźr den FC 07 Bergheim und vier Jahre später fĂźr die D-Jugend des 1. FC KĂśln. Vor gut drei -DKUHQ ZXUGH HU LQ GHQ 3URÂż .DGHU GHV )& EHUXIHQ war dort auĂ&#x;erordentlich erfolgreich und bestritt kurz darauf sein erstes Länderspiel. Nach der Weltmeisterschaft 2006, wo er zum Besten jungen Spieler gekĂźrt wurde, wechselte er zum FC Bayern MĂźnchen. Bereits acht Mal schoss er das Tor des Monats – so oft wie noch niemand vor ihm.

Platz 7: Jasmin Tabatabai (39), Auf den Internationalen Filmfestspielen in Berlin, dem zweitgrĂśĂ&#x;ten Filmfestival der Welt, haben die ErstauffĂźhrungen von Tabatabais Filmen fast schon Tradition. Die jĂźngste Tochter einer deutschen Mutter und eines persischen Vaters ist nicht nur eine erfolgreiche Schauspielerin, die seit 1992 in mehr als 20 Filmen mitgespielt hat. Gleichzeitig konnte sie sich auch als Sängerin einen Namen machen. Mit dem Film Bandits (1997), an dessen Soundtrack sie zum grĂśĂ&#x;ten Teil alleine komponierte, hatte sie groĂ&#x;en Erfolg. Ab Mai 2007 wird ihr neuer Film Fay Grim auch in den amerikanischen Kinos zu sehen sein. Sie gehĂśrt zu den GrĂźndern der 2006 ins Leben gerufenen Deutschen Filmakademie, die sich die :DKUXQJ 3Ă€HJH XQG )|UGHUXQJ GHU ZLUWVFKDIWOLFKHQ VR]LDOHQ EHUXĂ€LFKHQ XQG NXOWXUHOOHQ ,QWHUHVVHQ GHU LQ Deutschland tätigen Schauspieler im Bereich Film und Fernsehen zum Ziel gesetzt hat.

Š Mathias Bothor

Schauspielerin und Sängerin

1|2007 | mikSes | 9


© ÖGER Tours

| Titel

Platz 8: Nina Öger (32), Unternehmerin Spätestens, seitdem ihr Vater das Metier gewechselt hat und für die SPD im Europaparlament sitzt, geht bei Öger Tours, dem Marktführer für Türkeireisen in Europa, nichts mehr ohne die in Hamburg geborene Geschäftsführerin. Nina Öger hat Internationale BWL studiert und pendelt nun berufsbedingt regelmäßig zwischen Elbe und Bosporus. Nebenbei engagiert sie sich für das UNICEF-Projekt +D\GL .Õ]ODU Okula! zur Steigerung der Beschulungsrate von Mädchen in ländlich geprägten Provinzen der Türkei. Die allein erziehende Mutter beweist, dass auch türkischstämmige Frauen der zweiten Einwanderergeneration in der männerdominierten Wirtschaftswelt als Top-Manager erfolgreich sein können – damit fällt ihr europaweit eine Vorbildfunktion zu.

Mit Galileo prägte der TV-Moderator libanesischer Abstammung den Begriff „WissensTV“ in Deutschland. 2001 wurde er für sein Wissensmagazin mit dem Bayerischen Fernsehpreis ausgezeichnet. Für seine Zuschauer reist er durch die Weltgeschichte und führt Vor-Ort-Recherchen durch und moderiert zahlreiche der Galileo-Spezial-Sendungen. Im Mai 2006 präsentierte er die erste Große Galileo Show mit der Verleihung des ProSieben Wissenspreises. Der in Bad Kreuznach geborene studierte Informatiker und ehemalige deutsche Rugby-Nationalspieler Abdallah ist heute in Deutschland einer der wichtigsten Moderatoren in seinem Genre und eins DER ProSieben-Gesichter. 10 | mikSes | 1|2007

© ProSieben/Paul Schirnhofer

Platz 9: Aiman Abdallah (42), TV-Moderator


© Katja Kuhl

Titel | Platz 10: Moses Pelham (35), Rapper, Produzent und Geschäftsführer

steller Berühmt geworden mit dem Buch Russendisko und der gleichnamigen Veranstaltungsreihe, versuchte Kaminer dem Deutschen die deutsch-russische Kultur näher zu bringen. Der in Moskau geborene Schriftsteller fühlt sich in Berlin zu Hause, selbst wenn Freunde ihm sagen, dass er dieses Land doch überhaupt nicht kenne und Berlin nicht Deutschland ist. Mit seinem kreativen Multitalent ist der Berliner zu einem der beliebtesten und gefragtesten Jungautoren in Deutschland avanciert. Neuerdings soll er sich vorgenommen haben, 2010 Klaus Wowereit als Bürgermeister abzulösen.

Foto: © M. Fleitmann

Platz 11: Wladimir Kaminer (39), Schrift-

© Markus Nass / Schmidts Tivoli Theater

Gott liebt ihn! Bereits mit 17 veröffentlicht Moses Peter Pelham seine erste Solosingle. Aber erst mit dem Rödelheim Hartreim Projekt (1993) wird er zu Deutschlands Rapper schlechthin und dient heute vielen deutschen Rappern als Vorbild. Zu Beginn seiner Karriere hätte keiner vorausahnen können, dass der Sohn einer deutschen Mutter und eines amerikanischen Vaters so bedeutsam für die deutschsprachige Musik wird. Wo doch noch Rap- und Hip-HopMusik aus den USA importiert wurde, versuchte er zu beweisen, dass man in deutscher Sprache mindestens genauso gut rappen und singen kann. Mit seinem Label 3P förderte er viele Nachwuchskünstler wie Sabrina Setlur und Xavier Naidoo. Moses P. hat der heutigen deutschen Rap- und HipHop-Szene die Richtung gegeben.

Platz 12: Charlotte Roche (28), Moderatorin und Schauspielerin Zur „Queen of German Pop Television“ wurde Charlotte Elisabeth Grace Roche von Harald Schmidt gekürt. Die Fernsehmoderatorin mit britischen Wurzeln wurde mit ihrer Alternativsendung Fast Forward auf VIVA 2 bekannt. Als die musikjournalistische Sendung dem vorgegeben Quotendruck des Senders nicht standhielt und Roche kein fremdbestimmtes kommerzielles Sendeformat übernehmen wollte, wurde sie abgesetzt. Berüchtigt für ihre konsequente Einstellung zum Kommerz erhielt sie im Jahre 2002 den Bayrischen Filmpreis und 2004 den Adolf-Grimme-Preis. 2006 moderierte sie bei ARTE das Musikmagazin Tracks und produzierte mit Bela B. das Duett „1. 2. 3. ...“ 1|2007 | mikSes | 11


| Titel Platz 13: Xavier Naidoo (35), Sänger

© pro.media/weninger

Frei sein (1997) war sein erster großer Hit. Moses P. entdeckte den Mannheimer südafrikanischer Herkunft. Zunächst kannte man die soulige Stimme nur aus Werbejingels. Bereits seit seinem ersten Soloalbum gehört Naidoo zu den wichtigsten und erfolgreichsten deutschsprachigen Sängern. Neben seiner Solokarriere ist er Gründungsmitglied der Söhne Mannheims. Unzählige Auszeichnungen hat er bisher als bester nationaler Sänger erhalten. Neben seiner musikalischen Karriere engagiert er sich für ehrenamtliche Zwecke und gehört zu den Initiatoren und Dozenten der Mannheimer Popakademie, die neue deutsche Nachwuchskünstler fördert und ausbildet.

© VIVA

© Eugen Haller

Platz 14: Sibel Kekilli (26), Schauspielerin Als „Sündige Film-Diva“ wurde ihre Lebensgeschichte in der Boulevardpresse zerrissen und plötzlich stand die Heilbronner Schauspielerin im Mittelpunkt des Interesses. Bevor sie für den Film Gegen die Wand entdeckt wurde und damit ihren großen Durchbruch erfuhr, hatte Kekilli, Tochter türkischer Gastarbeiter, den Beruf der Verwaltungsfachangestellten erlernt. Sibel Kekilli ist bis heute mit vielen Preisen ausgezeichnet worden, darunter mit dem Bambi-Fernsehpreis als Shooting Star des Jahres 2004 und dem Deutschen Filmpreis als beste Darstellerin für ihre Rolle in Gegen die Wand.

Platz 15: Detlef Soost (36), Choreograf Der erfolgreichsten deutschen Girlgroup No Angels brachte er das Tanzen bei. Seitdem vergeht selten eine Casting-Show ohne den in Ostberlin geborenen Sohn einer Deutschen und eines Ghanaers. Soost, der nach eigener Aussage in Kauf nimmt, von seinen Schützlingen gehasst zu werden um deren Potenzial voll auszuschöpfen, machte eigentlich eine Ausbildung zum Werkzeugmechaniker, kam jedoch schon früh zum Tanzen. In den inzwischen fast 190 D!’s Dance Clubs in Deutschland, Österreich und der Schweiz kann man GLH &KRUHRJUD¿HQ 'HXWVFKODQGV SRSXOlUVWHQ 7lQ]HUV erlernen.


Als „SahnetĂśrtchen“ und „kleine Schwester“ wurde Moses Pelhams SchĂźtzling bekannt und ist seit ihrem DebĂźtalbum das Aushängeschild von 3P. Sie ist die erfolgreichste deutschsprachige Rapperin. Allein ihre Single Du liebst mich nicht verkaufte sich fast 500.000mal. Einerseits wurde sie wegen ihrer aggressiven und provokativen Texte kritisiert, anderseits räumte sie alle Preise, die in Deutschland an beste nationale KĂźnstlerinnen vergeben werden, ab. Seit Anfang 2004 engagiert sich die gebĂźrtige Frankfurterin indischer Herkunft als Botschafterin der UNO FlĂźchtlingshilfe e.V.

Was guckst du? wurde ein beispielloser Erfolg in der deutschen Comedy-Szene. Der 33-jährige gebĂźrtige Frankfurter studierte nach eigenen Angaben nach dem Abitur „vor sich hin“, und zwar Phonetik, Amerikanistik und Philosophie, währenddessen entdeckte er bei seiner Nebentätigkeit als Animateur sein Interesse fĂźr Stand-up-Comedy. Der Durchbruch kam beim KĂśln-Comedy-Cup 1999, sein Auftritt machte TV-Sender und Produzenten auf ihn aufmerksam. Mit seiner Ethno-Comedy gewann Yanar 2001 den Deutschen Fernsehpreis, den Deutschen Comedypreis und die Goldene Romy in Ă–sterreich. 2005 wurde ihm die GrĂźne Palme fĂźr seine Verdienste um die VĂślkerverständigung verliehen.

Platz 18: Ilija Trojanow (41), Schriftsteller (U LVW HLQ 0DQQ YRQ :HOW LQ 6RÂżD JHERUHQ OHEWH er in Paris, MĂźnchen, Kenia, Bombay und nun in SĂźdafrika. Mit In Afrika begann 1993 seine Karriere als Bestsellerautor. Seine Leser Ăźberzeugte er mit einer natĂźrlichen Ausdruckskraft und dem Charme eines Welterfahrenen. DafĂźr erhielt er 2006 auf der Leipziger Buchmesse den Preis in der Kategorie Belletristik. Zuletzt erhielt er den Berliner Literaturpreis, der an Autoren vergeben wird, die einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der zeitgenĂśssischen deutschsprachigen Literatur geleistet haben.

Š alpenrallye/ritsch

Platz 19: Erol Sander (38), Schauspieler Mit seiner Rolle als erster tĂźrkischer TVKommissar in Sinan Toprak ist der Unbestechliche wurde der gebĂźrtige Istanbuler 8UFXQ 6DOLKRáOX DOLDV (URO 6DQGHU EHU KPW Zuvor war er als Fotomodell tätig. Mit seiQHQ *DJHQ ÂżQDQ]LHUWH HU VLFK 6FKDXVSLHOXQWHUULFKW GHU VLFK VFKOLH‰OLFK LQ .LQRÂżOP en wie Oliver Stones Alexander der GroĂ&#x;e auszahlte. Obwohl der deutsche Schauspieler den Weg nach Hollywood eingeschlagen hat, spielt er ab 2007 den Winnetou bei den Karl-May-Festspielen in Bad Segeberg.

Platz 20: Miroslav Klose (28), FuĂ&#x;baller Er ist FuĂ&#x;baller des Jahres 2006. Klose stammt aus einer Sportlerfamilie: Sein Vater war FuĂ&#x;EDOOSURÂż XQG VHLQH 0XWWHU +DQGEDOOQDWLRQDOspielerin fĂźr Polen. Bei der Weltmeisterschaft 2006 bildete er mit seinem Landsmann Podolski ein gefährliches Duo in der deutschen Nationalelf. Nach Gerd MĂźller wurde Klose als zweiter Deutscher Ăźberhaupt mit dem Goldenen Schuh fĂźr den besten TorschĂźtzen ausgezeichnet. Bei der Wahl zu Europas FuĂ&#x;baller des Jahres 2006 wurde er als bester Deutscher Siebter. 1|2007 | mikSes | 13

Š Werder Bremen

Š Konzertbßro Emmert

Š Heiko Richard & Thorsten Klapsch

Platz 17: Kaya Yanar (33), Comedian

Š Peter-Andreas Hassiepen

Platz 16: Sabrina Setlur (33), Rapperin


Š Katja Kuhl

Š Armin Zedler / VIVA

| Titel

3ODW] * OFDQ .DUDKDQFĂ• (24), Moderatorin Die LĂźbeckerin hatte nach dem Abitur eigentlich vor, BWL zu studieren, nahm dann aber an der VIVA Casting Garage teil und gewann diesen Wettbewerb. Die sympathische Quasselstrippe moderierte zunächst die Formate Interaktiv und Was geht ab? Aufgrund der positiven Zuschauerresonanz vergeht inzwischen kein Tag mehr, ohne dass ein Format auf VIVA mit GĂźlcan ausgestrahlt wird. 2003 nahm sie zudem mit dem tĂźrkischen Superstar Mustafa Sandal den Top-10-Hit Aya benzer auf. 2005 wurde sie mit dem goldenen BRAVO-Otto fĂźr den besten weiblichen TV-Star ausgezeichnet.

Platz 25: David McAllister (36), Politiker Der gebßrtige Berliner war schon während seines Studiums Mitglied des Kreistages. 1998 zog der Sohn eines Schotten und einer Deutschen in den Landtag ein und wurde bereits 4 Jahre später CDU-Generalsekretär in Niedersachsen. Nach der Wahl von Christian Wulff zum Ministerpräsidenten 2003 ßbernahm er von diesem das Amt des Fraktionsvorsitzenden. Ein Wechsel zur Bundespolitik als auch der Antritt des Erbes von Christian Wulff ist eine Frage der Zeit. 14 | mikSes | 1|2007

Š CDU-Fraktion

Š MTV

Als Krazy Dazy Ăźbernahm die griechischstämmige Moderatorin 1996 ihre eigene Radioshow bei dem Sender Energy Berlin. Neben ihren Moderationen legte sie regelmäĂ&#x;ig in Berliner Clubs als Djane auf. Seit 1999 ist sie bei MTV und seit 2003 moderiert sie die Sendung TRL – Total Request LIVE. Ab 2001 war sie zwei Jahre lang samstags live bei den AuĂ&#x;enwetten-Reporterin der erfolgreichsten deutschen Fernsehshow „Wetten, dass‌?!“ zu sehen.

Š Django Asßl

Platz 24: Anastasia Zampounidis (38), Moderatorin

Platz 22: Samy Deluxe (29), Rapper Mit seinem DebĂźtalbum Deluxe Soundsystem (2000) schaffte Samy Deluxe, bĂźrgerlich Samuel Sorge, seinen Durchbruch. Der erste Erfolg des Hamburgers afrikanischer Herkunft kam 1997 mit seiner Rapgruppe Dynamite Deluxe. Von 2001 an arbeitete er als SolokĂźnstler und gewann nahezu alle Preise, die auf nationaler Ebene vergeben werden. Samy Deluxe konnte sich als eine feste GrĂśĂ&#x;e im deutschen Musikbusiness etablieren. Heute produziert er JungkĂźnstler aus seinem eigenen Label Deluxe Records und engagiert sich mit deutschlandweiten Kampagnen aktiv gegen Aids.

Platz 23: Django AsĂźl (35), Comedian 8áXU %DáĂ•ĂşOD\Ă•FĂ• DOLDV 'MDQJR $V O JHK|UW ]X GHQ Senkrechtstartern unter den Kabarettisten der jungen Generation. Neben seinen Soloprogrammen tritt der Niederbayerische Kabarettist tĂźrkischer Herkunft in diversen Fernsehshows auf und wurde bisher mit Preisen wie Kabarett Kaktus (1996), Obernburger MĂźhlstein (1997), Ravensburger Kupferle (1998) und Bayerische Kabarettpreis (2000) ausgezeichnet. %DáĂ•ĂşOD\Ă•FĂ• GHU VLFK VHOEVW DOV HLQ 3DUDGHEHLVSLHO eines integrierten TĂźrken sieht, nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es um politische Themen geht.


© Mirjam Knickriem

© Ondro

3ODW] .RRO 6DYDú (32), Rapper

Platz 28: Nazan Eckes (30), Moderatorin Let’s dance ist eine der vielen erfolgreichen Fernsehshows, die Nazan Üngör moderiert hat. Die Kölnerin mit türkischer Herkunft kam gleich nach dem Abitur durch ein Praktikum bei VIVA mit der Medienwelt in Berührung. Nachdem sie als Vertretung für Frauke Ludowig mit der Sendung RTL Exclusiv bessere Einschaltquoten erzielt hatte, übernahm sie weitere Moderationen wie Life! – Die Lust zu leben und Formel Exklusiv. Heute gehört sie zu den wichtigsten RTL-Gesichtern.

Platz 27: Minh-Khai Phan-Thi (32),

Platz 29: Rick Kavanian (36), Schauspieler Der gebürtige Münchener armenischer Herkunft, erlernte die Schauspielkunst nach seinem Studium am Lee Strasberg Theatre Institute in New York und wurde später an der Seite von Michael „Bully“ Herbig durch die Bullyparade bekannt. Mit Bully schrieb er auch das Drehbuch für den erfolgreichsten deutschen Film aller Zeiten, Der Schuh des Manitu und spielte in weiteren Bully Kinoproduktionen mit. Seit 2006 steht er mit seinem ersten Soloprogramm Kosmopilot auf Deutschlands Comedy-Bühnen.

© Jim Rakete

Moderatorin und Schauspielerin Durch das erfolgreiche interaktive Jugendmagazin Hugo (1994) trat die Darmstädterin vietnamesischer Herkunft das erste Mal im TV auf. Wenig später war sie bei VIVA. Ihr Talent als Schauspielerin bewies VLH HUVWPDOV LQ GHP )HUQVHK¿OP Jagdsaison und 2003 verwirklichte sie ihren Herzenswunsch, HLQHQ 'RNXPHQWDU¿OP EHU LKUH +HLPDW ,P $XIWUDJ des ZDF und mit Unterstützung der Filmstiftung NRW und Zero Film drehte die Regisseurin und Drehbuchautorin Vietnam – Land und kein Krieg.

© Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen

© DHA

und Produzent 6DYDú KDWWH PLW Warum rappst du? (2000) alle deutschen Rapper in Frage gestellt und sich als den unanfechtbar besten Rapper bestimmt. Optik-Records ist der wahr gewordene Traum des $DFKHQHUV 6DYDú <XUGHUL W UNLVFKHU +HUNXQIW Mit seinen skandalösen Texten sorgte er für Aufsehen und gehört nun zu den bekanntesten 5DSSHUQ 6DYDú XQWHUVW W]WH GLH %HUWHOVmann-Social-Marketing-Kampagne Du bist Deutschland, die auf ein positives denken und auf ein neues deutsches Nationalgefühl zielte.

Platz 30: Omid Nouripour (31), Politiker Nouripour wurde von Roland Kochs Unterschriftenkampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft politisch aktiviert – seit 2002 ist er legaler deutschiranischer Doppelstaatler. Bereits kurz danach wurde er zum Sprecher der Grünen Jugend Hessen und vier Jahre später in den Vorstand der Grünen Bundespartei gewählt. Nouripour ist Sprecher der Bundesarbeitsgemeinschaft MigrantInnen und Flüchtlinge und übernahm schließlich 2006 das Bundestagsmandat von Joschka Fischer.


Š Maria Arndt / photocase.de


Campuskültür |

18 Geld stinkt nicht nach Knoblauch – Ethno-Marketing | 20 Ethno-Marketing – zur Nachahmung sehr empfohlen! | 24 Rettet die Orchideen! Folge 1: Gender-Studies | 26 Ohne Moos nix los | 28 Anadolu Universität | 30 Reichlich Akademisches

1|2007 | mikSes | 17


| CampuskĂźltĂźr

Geld stinkt nicht nach Knoblauch Ethno-Marketing: Wie die Wirtschaft eine neue Zielgruppe entdeckt PLQGHVW 7UHQG ZHQQ QLFKW 9HUSĂ€LFKWXQJ im Zwischenreich ständig wechselnder =LHOJUXSSHQGHÂżQLWLRQHQ XQG 6HOEVWYHUmarktungsstrategien ethno-marketingtauglich zu sein. Konkret sind allerdings die Absatzprobleme der KonsumgĂźterindustrie in Deutschland. Leichter ist die ErschlieĂ&#x;ung neuer Kundenpotenziale in einem gesättigten deutschen Markt nicht geworden – alle haben fast alles und meist mehrfach. Da kommt er (ca. 40 Jahre nach ersten Sichtungen in freier Konsumbahn) gerade recht: der TĂźrke! Finanzkräftig, konsumfreudig, familienorientiert! So zumindest stellen ihn professionell produzierte HochglanzbroschĂźren von Ethno-Marketingagenturen dar. Und deutsche Unternehmen, vielmehr Unternehmen mit Zielgruppen in Deutschland, beginnen, sich etwas ungelenk und naiv auf diesen Idealkunden wie aus guter alter Zeit einzustellen. Das Beste ist dabei, dass der TĂźrke frei von „German Angst“ konsumiert. Er ist also frei Da kommt er (ca. 40 Jahre nach ersten von der geradezu sprichwĂśrtlichen Angst Sichtungen in freier Konsumbahn) der Deutschen vor Zukunft, vor Arbeitsplatzverlust, vor Entscheidung, vor der gerade recht: der TĂźrke! Finanzkräftig, Schwiegermutter – obwohl letzteres nur konsumfreudig, familienorientiert! eingeschränkt... (National-)Stolz und Vorurteil prägen bis hierher das Bild von Ethno-Marketing, hervor; zwar gibt es eine ganze Reihe und zur Klärung bietet es sich an, zuerst jĂźngerer Unternehmen, die sich dieser den fassbareren der beiden Begriffe zu Kompetenz auf Firmenschildern und hinterfragen: Visitenkarten rĂźhmen, aber es bleibt in Was ist Marketing? vielen Fällen bei RĂźckfragen nur noch Man kann es studieren, und auch wenn gĂźnstiger Offset-Druck oder eine TĂźr- es sich um eine weiche wirtschaftswiskeireise als Produkt Ăźbrig. Unterneh- senschaftliche Disziplin handelt, geht PHULQQHQ XQG 8QWHUQHKPHU GLH KlXÂżJ es in der Lehre um handfeste EntscheitĂźrkischer Abstammung sind, bedienen dungshilfen fĂźr Unternehmen, die ihre nämlich (landes-)untypisch unbeschwert Produkte auf den Markt bringen woldieses schicken Begriffs mit akademisch len und dort mĂśglichst gut verkaufen. ZHOWOlXÂżJHP $URPD (V VFKHLQW DOVR ]X- Die Erkenntnisse des Marketings sollen

D

18 | mikSes | 1|2007

enk‘ ich an „Ethno“ in der Nacht ... erscheint vor meinem inneren Auge eine barfĂźĂ&#x;ige Frau im bewegungsfreundlichen Batikkleid, die ohne RĂźcksicht auf ästhetische Verluste afrikanische Tanztechniken in einer alternativen Disco – gern Schwoof oder Wackeltreff genannt – anwendet. Analog kann es auch ein nachlässig frisierter Mann in Jeans und ausgeleiertem „Frank-Zappa“-Shirt sein, der seine besockten, birkenbestockten Zehen im Rhythmus krĂźmmt. Viel angenehmer ist meine Assoziation zum Begriff „Marketing“ auch nicht. Ein verdächtig gebräunter MittdreiĂ&#x;iger mit modischem Brillengestell und MickyMaus-Krawatte referiert zu VerkaufsfĂśrderung – selbstredend mit hochgekrempelten Sakkoärmeln. Setzt man die beiden WĂśrter nun zu „Ethno-Marketing“ zusammen, ruft das bei mir keine konkreten Assoziationen


theoretische Grundlagen bieten fĂźr die Anteil der hispanischen BevĂślkerung Mittlerweile ist Ethno-Marketing als Be(QWZLFNOXQJ GHV 3URGXNWHV GLH 3UHLVÂżQ- erheblich an. Mexikanische Arbeits- griff auch in Deutschland gängig. Noch dung, die Kommunikation, die Bewer- migranten und Exilkubaner erĂśffneten bevor der politische Mainstream die bung und die Verteilung. Vertriebsstrategen die Perspektive, mit KLHVLJH (LQZDQGHUXQJVUHDOLWlW RIÂż]LHOO Der Produktionsprozess wird ausschlieĂ&#x;- spanischsprachigen Werbekampagnen anerkannte, waren es wieder die Unterlich unter dem Gesichtspunkt betrach- der Konkurrenz zu enteilen und sich auf nehmer, die sich fĂźr die Einwanderer und tet, das Endprodukt an Konsumenten diesem neuen Marktterrain Anteile zu si- natĂźrlich vor allem fĂźr ihre legendären abzusetzen. Somit tritt derjenige in den chern. Ersparnisse interessierten. Entsprechend Mittelpunkt des Interesses, der die Kauf- In der Gegenwart Ăźbersteigt der Anteil dem nicht immer aktuellen Bild des entscheidung zugunsten des Anbieters der hispanischen Einwanderer in Staaten tĂźrkischen Durchschnittskonsumenten treffen soll: der Kunde. wie Texas, Kalifornien und Florida sowie stammten die ersten Gehversuche in Rein wirtschaftlich betrachtet spielt es New York je nach urbanem Einzugsge- die Ethno-Marketing-Richtung aus der dabei keine Rolle, welNutzfahrzeugbranche. Zu cher Nationalität oder Beginn der 1990er-Jahre welcher Kultur der lieĂ&#x; ein sĂźddeutscher AuNoch bevor der politische mainstream die Kunde ist, solange er tomobilbauer einen WerKLHVLJH (LQZDQGHUXQJVUHDOLWlW RIÂż]LHOO in Euro bezahlt. Allerbespot inszenieren, dessen anerkannte, waren es wieder die dings liegt es wegen der +DXSWÂżJXU HLQ VFKQXUEDUbereits angesprochenen tragender dunkelhaariger Unternehmer, die sich fĂźr die KonsummĂźdigkeit nahe, Mann war, der weissbekitEinwanderer und natĂźrlich vor allem fĂźr die Kunden mĂśglichst telt dank des Transporters ihre legendären Ersparnisse speziell anzusprechen. seinen Obst- und GemĂźinteressierten. Marketing-Theorien versehandel reibungslos besprechen nämlich, dass wältigen konnte. Begleitet die mĂśglichst genaue wurde diese Kampagne Einstellung auf das Selbstverständnis des biet bereits 50 %. Verwaltung, Medien mit dem Einsatz tĂźrkischstämmiger AutoEinzelnen dem potenziellen Kunden die und eben auch die Industrie haben sich Verkäufer in Gebieten mit grĂśĂ&#x;erem tĂźrangebotene Ware auch als absolut not- auf ihre neuen Kunden derart eingestellt, kischstämmigem BevĂślkerungsanteil. wendig erscheinen lässt. dass wichtige Mitteilungen und Nach- Auch andere Unternehmen versuchten Hier kommt Ethno ins Spiel. richten immer auch in Spanisch erschei- sich auf diesem Gebiet, lieĂ&#x;en aber in Vom griechischen Begriff „ethnos“ fĂźr nen. Und die Marketingabteilungen der erster Linie bestehende deutsche Kam„Volk“ abgeleitet, deutet die Verwen- grĂśĂ&#x;eren Firmen verfĂźgen Ăźber hispa- pagnen holprig ins TĂźrkische Ăźbersetzen dung des Begriffs auf die Annahme hin, nischstämmige Spezialisten fĂźr diese und Ăźber den seinerzeit einzigen terredass verschiedene Volksgruppen in einer Zielgruppe. strischen tĂźrkischen TV Sender „TRT Gesellschaft existieren, die sich in ihren Wertesystemen unterscheiden, z.B. ein harmonisches Familienleben (VaterMutter-Kinder, GroĂ&#x;eltern, Onkel und Tanten, Cousin, Cousinen) der individuellen Entfaltung (Vater geschieden, Frau Single) vorziehen. Es wird klar das Unterscheidungsmerkmal der Herkunft gesetzt, um Aussagen Ăźber das KonsumverKDOWHQ GHUDUW GHÂżQLHUWHU *UXSSHQ PDFKHQ zu kĂśnnen. Fernab politischen KalkĂźls, ob herkunftsbezogene Besonderheiten denn nicht integrationshindernd sind, wird pragmatisch eher festgestellt denn analysiert, dass der TĂźrke anders ist und anderes isst. Die Verbindung beider Begriffe erfolgte erstmals – nicht ganz Ăźberraschend – in den USA. Anfang der 1970er wuchs in den sĂźdwestlichen Bundesstaaten der

Š nonuniform / photocase.de

CampuskĂźltĂźr |


| Campuskültür int“ ausstrahlen. Dabei wiederholten Der viel versprechende Beginn mit einem zer wurden täglich mehrere Anrufe von die türkischen Sprecher die deutschen türkischen Charakter als Held eines Wer- Call-Center-Mitarbeitern beschert, die Slogans, wobei der Originalton noch im bespots blieb zunächst Einzelfall, da sich einen zum Wechsel zur angepriesenen Hintergrund zu vernehmen war. „Quadra- Unternehmen, als auch sie beratende Gesellschaft motivieren sollten. Da im Ungestüm der zahlreichen tisch – Praktisch – Gut“ Neugründungen wie mit starkem türkischem oTelo kein VerkaufsanAkzent gesprochen wurde Bestehende deutsche Kampagnen satz zu abwegig erschien, ]XP JHÀ JHOWHQ :RUW wurden holprig ins Türkische übersetzt schlug die Stunde einer ,Q GLHVH =HLW ¿HO QHEHQ speziellen Form der Ethdem Ausbau der „Eurund über den einzigen terrestrischen no-Marketingagentur: opa-“, bzw. „Deutschtürkischen TV Sender ausgestrahlt. Call-Center mit türkischland-“Sparten auch in sprechenden Mitarbeitern Deutschland erhältlicher boten den neuen TelefonTageszeitungen aus der Türkei die Gründung von in der Regel Werbeagenturen wenig unter türkisch- gesellschaften an, türkische Telefonnutmonatlichen Werbeblättern für Türken stämmiger Klientel vorstellen konnten. zer zum Wechsel zu bewegen. Tatsächlich in Deutschland. Mit unterschiedlichem Entsprechend blieben die Investitionen war dieser Ansatz von erheblichem Erredaktionellen Gewicht und als in tür- in ein Ethno-Marketing vorerst gering. folg, und ironischerweise wurde z.B. die kischen Geschäften und Restaurants Das Vorurteil des ALDI-Ausländers auch Agentur „Ses“ (türkisch „Stimme“) von ausgelegte Gratisblätter sollten die Zei- in den Köpfen der Wirtschaftsentschei- der Telekom engagiert, um die durch Ses tungen Anzeigenkunden anziehen. Die der versprach abseits der Lebensmittel- zu oTelo abgeworbenen Kunden wieder zurückzugewinnen. oTelo war es auch, Hoffnungen auf Anzeigen von deutschen branche wenig Potenzial. Unternehmen wurden zunächst ent- Ende der 1990er löste die Privatisierung die über den Vertrieb hinaus mit spezitäuscht, und in erster Linie türkische Un- der Telefonnetze eine Direktmarketingor- ellen Angeboten für Anrufe in die Türkei ternehmer und Dienstleister in Deutsch- gie aus, die diese wählerische Einstellung und einer Werbekampagne, die das Anuntergrub. Jedem Telefonanschlussbesit- SÀDQ]HQ YRQ %lXPHQ LQ GHU 7 UNHL DE land nutzten die neue Plattform.

„Ethno-Marketing – zur Nachahmung sehr empfohlen!“ Gespräch mit Jörg Birkelbach, Geschäftsführender Gesellschafter der Ethno Factory GmbH über Ethno-Marketing in Deutschland mikSes: Herr Birkelbach, was verstehen Sie unter Ethno-Marketing? -|UJ %LUNHOEDFK Unter Ethno-Marketing verstehe ich ganz allgemein die speziellen Methoden und Maßnahmen zur (UVFKOLH XQJ NODU GH¿QLHUWHU =LHOJUXSpen, wie z. B. Türken oder Russen, um nur einige zu nennen. An einer Zielgruppe von 3 Millionen Türken – Tendenz steigend – kann man nicht einfach vorbeigehen, so die Erkenntnis einer immer größer werdenden Heerschar von Untenehmen. Aktuell entwickelt sich ein Markt für Anbieter im Ethno-Marketing. Die aktuellen Ansätze sind dabei durchaus viel versprechender, und das ist auch gut so. 20 | mikSes | 1|2007

Vor Jahren schon wurde diese Zielgruppe z. B. mit Versicherungspolicen überrannt und über die in Geldanlagen unerfahrene Zielgruppe „hergefallen“. Ergebnis: Jeder Türke hatte bald eine Vielzahl an Versicherungen, kann aber eigentlich nichts damit anfangen, geschweige denn, GLHVH ¿QDQ]LHUHQ 'LH %UDQFKH KDW VLFK LQ der Rückbetrachtung damit einen Bärendienst erwiesen, denn heute schlägt ihr Misstrauen aus der Zielgruppe entgegen. Und Geschäfte sind nur schwer zu realisieren. Und dabei wäre es so wichtig auch und gerade für die in Deutschland lebenden Türken, eine vernünftige Alters- und Gesundheitsvorsorge zu haben. Deshalb ist unser Ansatz differenzierter: Wir versuchen zu erklären. Wir beschrei-


CampuskĂźltĂźr | einem bestimmten Minutenaufkommen versprach, Ethno-Marketing erstmals in ganzer Breite einsetzte. Das Produkt wurde eigens fĂźr den ethnisch geprägten Kunden entwickelt, der Preis weit unterhalb der bis dahin gängigen Niveaus DQJHVHW]W ]LHOJUXSSHQVSH]LÂżVFK DQJHpriesen und Ăźber ein maĂ&#x;geschneidertes Verteilungssystem praktisch nach Hause geliefert. oTelo hatte zur Bewerbung des Produktes erstmals die in Deutschland LPPHU ZHLWĂ€lFKLJHU  EHU 6DWHOOLWHQDQtennen empfangbaren tĂźrkischen Privatsender aus der TĂźrkei als Plattform genutzt. Die oben JHQDQQWH %DXPSĂ€DQ]DNWLRQ wurde in Spots mit einem bekannten tĂźrkischen Schauspieler beworben, der zum Schutz der „heimatlichen“ Umwelt aufrief. Zwar existiert oTelo nicht mehr, aber die Telefon-Gesellschaft kann durchaus eine Vorreiterrolle fĂźr sich beanspruchen, denn im letzten wurde in Deutschland seitens einer eigens gegrĂźn-

ben z. B. die Notwendigkeit von Altersund Gesundheitsvorsorge und erklären die wichtigsten Details, sodass sie auch einfache und nicht speziell ausgebildete Menschen verstehen kÜnnen. Allgemein ist auch im Ethno-Marketing wichtig, dass grßndlich gearbeitet wird. Die Zielgruppe muss man sehr ernst nehmen, und es reicht nicht, einfach fßr die deutsche Zielgruppe entwickelte TV-Spots zu synchronisieren und im tßrkischen TV zu platzieren. Natßrlich sollte man auch die vielen Fettnäpfchen kennen, in die man hineintreten kann. Und das kann ein Deutscher nicht wirklich leisten, dazu benÜtigt man das Knowhow direkt aus der Zielgruppe. Hier kann ich beispielsweise auf die Expertise meiner tßrkischen Geschäftspartnerin Dilek Cucu und ihres kompetenten Teams zurßckgreifen. mikSes: Sie sehen also die Aufklärung des Konsumenten im Mittelpunkt? Das ist doch etwas ungewÜhnlich fßr Marketing-Treibende.

deten e-plus Tochter ein Mobilfunkpaket entwickelt, das besonders gĂźnstige Tarife fĂźr Gespräche in die TĂźrkei enthält. Die Unternehmung wurde „ayyildiz“ (tĂźrkisch fĂźr Mond und Stern, aber auch Be]HLFKQXQJ GHU 1DWLRQDOĂ€DJJH JHWDXIW ,P Zentrum der im tĂźrkischen Fernsehen geschalteten Werbespots stand einer der bekanntesten Showmaster der TĂźrkei, und in Mobilfunkshops, den legendären „Import-Export“-Läden, sowie in ReisebĂźros besteht auch jetzt noch die MĂśglichkeit zum Vertragsschluss. Im Unterschied zur

dersamen Deutschländern. Was aber nach Weiterentwicklung aussieht, ist letztlich nur Variation; beide Angebote basieren auf einer vorausgesetzten Verbundenheit mit einer fernen Heimat, die man mithilfe des Telefons nahe zu sich holen kann. Auch die Werbung läuft Ăźber ausschlieĂ&#x;lich tĂźrkische Fernsehsender aus der TĂźrkei, die neuerdings „europäische Fenster“ einrichteten, um innerhalb dieser Werbezeit den Unternehmen aus Deutschland anzubieten. Daraus kĂśnnte man ableiten, dass zurzeit Ethno-Marketing nur mit Verweisen auf Bezugspunkte auĂ&#x;erhalb Deutschlands Ende der 1990er lĂśste die funktioniert. SatellitenschĂźsseln machen es mĂśglich. Privatisierung der Telefonnetze Die etwas naive Vorsteleine Direktmarketingorgie aus. lung, dass also Unternehmer – wenn auch nicht ganz uneigennĂźtzig – tĂźrkischstämoTelo-Werbung, die ganz auf die Verbun- mige Menschen in Deutschland Ăźber die denheit mit der TĂźrkei spekulierte, reist Ladentheke in die Mitte der Gesellschaft der Protagonist der ayyildiz-Spots nach befĂśrdern, weicht der Erkenntnis, dass Deutschland und begegnet dort den wun- der TĂźrke im deutschen Markt unsicht-

-|UJ %LUNHOEDFK Unsere Ausrichtung ist ganz klar kommerziell, daraus machen wir keinen Hehl. Und natßrlich haben wir einen speziellen Ansatz. Und bevor wir einen Kunden in den Markt der Deutschtßrken fßhren, analysieren wir zunächst grßndlich, ob es ßberhaupt eine geeignete Produktpalette gibt usw. Allerdings streben wir Langfristigkeit an in unseren Kundenbeziehungen und setzen auf Qualität. Fßr unsere werbungtreibende Kundschaft muss es spßrbar sein, dass es sich lohnt, diese Zielgruppe speziell anzusprechen. Und wenn wir nicht gut arbeiten, gewinnen unsere Auftraggeber keine Kunden oder setzen keine Produkte ab. Der Endverbraucher soll fßr sich den Mehrwert erkennen, sich nicht belästigt fßhlen. So gelingt es, die Botschaften unserer Kunden erfolgreich im Markt zu platzieren. Nur wenn alle Beteiligten einen Vorteil verspßren, hat der Werbungtreibende gut gearbeitet und langfristig eine Existenzberechtigung am Markt.

mikSes: Reicht im Ethno-Marketing einfach eine andere Ansprache des Verbrauchers aus, oder muss gleich auch eine neue Marke entwickelt werden? -|UJ %LUNHOEDFK Eine gute und berechtigte Frage. Ich kann hier allerdings nur fĂźr uns sprechen: Bislang adaptieren wir die vorhandene Strategie unserer Kunden auf die Zielgruppe. Da wir bisher ausnahmslos Topmarken betreut haben, war die Adaptionsstrategie bislang vĂśllig ausreichend. Wir konzentrieren uns darauf, dem Verbraucher zu erklären, was er machen kann und darf. Das ist gerade im Bereich Energie, Telekommunikation, Finanzdienstleistung oder Krankenversicherung von elementarer Bedeutung. Der Zielgruppe soll bewusst gemacht werden: Du kannst, darfst und solltest wechseln, denn meist macht es sogar Sinn, um beim Beispiel Stromtarif oder Krankenkasse zu bleiben. Eine sympathische Marke ist da zweitrangig, aber nicht hinderlich. mikSes: Also ist ein groĂ&#x;er Mobilfunkan1|2007 | mikSes | 21


| CampuskĂźltĂźr bar bleibt. Er hat ja, wie eine Studie des WDR zum Medienverhalten tĂźrkischer Jugendlicher in Deutschland ergab, seine eigenen TV Sender und entfernt sich – so will das Institut fĂźr TĂźrkeistudien herausgefunden haben – innerlich weiter von Deutschland. Die Hoffnung, dass eine wirtschaftsvermittelte Annäherung GHU JHVHOOVFKDIWOLFKHQ *UXSSHQ VWDWWÂżQdet und infolgedessen eine gleichberechtigte Auseinandersetzung, schwindet (... und Booker T. Washington dreht sich im Grab). Zumal auch der Unternehmer nicht so vorurteilsfrei ist, wie oben beschrieben. Viele halten die Ethno-Zielgruppe fĂźr wenig gewinnträchtig und äuĂ&#x;ern gern am Rande des Chauvinismus, dass die „Ausländer gleich behandelt werden wollen, also bekommen sie auch die gleiche Werbung“. Dementsprechend betragen die ProKopf-Werbe-Investitionen fĂźr einen potenziellen „deutschen“ Kunden etwa 300 Euro, der TĂźrke ist gerade mal 30 Euro wert. Allerdings beruht dieser Umstand nicht nur auf unternehmerischen Vorur-

teilen, sondern es fehlt schlicht der DĂźnger fĂźr die Ethno-Marketing-Saat: Es gibt keine gesicherten Marktforschungsergebnisse hinsichtlich tĂźrkischstämmiger Konsumenten, ohne die wiederum keine Ethno-MarketingmaĂ&#x;nahmen ergriffen werden. Solche Marktforschung kostet Geld, und das hat Angst vor dem Unbekannten. Dieser kleine Teufelskreis wird noch einmal angestoĂ&#x;en – im mächtigsten Kommunikationsmedium, dem Fernsehen, wird die geheiligte Einschaltquote ermittelt, ohne dass die „repräsentativ“ verteilten Aufzeichnungsgeräte auch nur in einem tĂźrkischen Haushalt stĂźnden. Der Erfolg von Sendungen und den entsprechenden Sendern wird ohne tĂźrkisches Votum gemessen, die neuen Fernsehformate werden ohne BerĂźcksichtigung der tĂźrkischen Zuschauer entwickelt und die Werbung, die nach grĂśĂ&#x;ter Aufmerksamkeit strebt, ebenfalls zielsicher an den tĂźrkischen Konsumenten vorbei. Womit wir wieder bei dem Medienverhalten tĂźrkischer Jugendlicher wären...

Mit diesen fatalistischen Betrachtungen soll dieser Artikel in der ersten Ausgabe der „mikSes“ nicht enden. Erst kĂźrzlich hat der groĂ&#x;e ALDI-Konkurrent eine TĂźrkische Woche mit tĂźrkischen Lebensmitteln veranstaltet. Alles wieder auf Anfang? Nein! Diesmal sind wir vorbereitet....

bieter mit der vor kurzem neu kreierten Marke „Ay Yildiz“ auf dem Holzweg?

-|UJ %LUNHOEDFK Es ist eine hochinteressante Nische, die aber eigentlich zu klein ist fĂźr groĂ&#x;e Agenturen. Die beauftragen dann meistens eine kleine Firma mit der Ethnosparte.

mikSes: Halten Sie es fĂźr sinnvoll, dass tĂźrkische Prominente in der Werbung fĂźr DeutschtĂźrken auftreten?

-|UJ %LUNHOEDFK Die Werbung ist sehr professionell gemacht, handwerklich sehr sauber. Aber ob das Ziel erreicht ist, muss das Management am Ende des Tages selbst verantworten. Nutzen und Aufwand einer Kampagne mĂźssen stets in einem vernĂźnftigen Verhältnis zueinander stehen. Eine Kampagne muss nicht nur gut gemacht sein, sie muss sich auch betriebswirtschaftlich rechnen. Ob ein hoher Markenwert das geeignete Indiz ist, hängt von den gesteckten Zielen ab. Die von Ihnen zitierte Kampagne appelliert sehr an das tĂźrkische Herz, mit dem Produktnamen, der Farbwelt und dem GefĂźhl. Das wird die entscheidende Frage: Wird das Produkt tatsächlich von der Zielgruppe angenommen? Ich weiĂ&#x; es nicht, aber die Zukunft wird das zeigen. mikSes: Beschäftigen sich die groĂ&#x;en PR- und Werbeagenturen deshalb noch nicht mit Ethno-Marketing? 22 | mikSes | 1|2007

mikSes: Ist denn dann innerhalb des Ethno-Marketings ßberhaupt noch eine weitere Differenzierung mÜglich, etwa nach dem Alter? -|UJ %LUNHOEDFK Ich denke schon, hier gelten ähnliche Regeln, wie in der deutschen Zielgruppe. Soziodemographische Merkmale sind hier sehr hilfreich. Der tßrkische Werbemarkt ist nach meiner Einschätzung sehr einfach strukturiert. Die allermeisten Kampagnen kann man auf das Medium TV beschränken, in ausgesuchten Regionen funktioniert auch das Radio sehr gut. Im tßrkischsprachigen Fernsehen und Radio gibt es kaum Streuverluste. Die Widererkennung ist extrem hoch, und Fernseh- bzw. Radiospots werGHQ KlX¿J QLFKW DOV %HOlVWLJXQJ VRQGHUQ als Information empfunden.

.HQDQ =|QJ|U

.HQDQ =|QJ|U LVW *DVWDXWRU bei mikSes: Born in the BRD / Studium der Wirtschaftswissenschaften / Schwäche fßr Bitterschokolade und Arabesk / Zu Hause bei nAn-coeur.de & cArt-al.de (Zweitwohnung)

-|UJ %LUNHOEDFK Grundsätzlich ja, denn die TĂźrken verehren ihre Stars aus der Heimat. Man kĂśnnte hĂśchstens die Frage stellen, ob Prominente in der Werbung generell etwas bringen. Eine neue Studie des Fachmagazins W&V hat hier vor kurzem sehr ernĂźchternde Ergebnisse präsentiert. Ob dies auf die tĂźrkische Community Ăźbertragbar ist, wäre sicher eine spannende Untersuchung. mikSes: ,Q ZHOFKHU 6SUDFKH ÂżQGHW (WKno-Marketing zurzeit statt? -|UJ %LUNHOEDFK Die Fernsehspots und auch andere WerbemaĂ&#x;nahmen werden auf TĂźrkisch produziert. Allerdings sieht man noch sehr oft deutsche Spots, die mehr schlecht als recht synchronisiert sind. Das erinnert mich an die amerikanischen Infomercials, die mit deutscher Synchronstimme ausgestattet sind


Campuskültür | – meist eine Zumutung.

mikSes: Wie steht es um die Bedeutung des Internets im Bereich Ethno-Marketing?

auf, und die Nationalität und Sprache spielt dann nur eine Nebenrolle. Zu Not mikSes: Könnte es in Zukunft Ethnoverständigt man sich mit Händen und Marketing auch in deutscher Sprache Füßen. Ich erinnere mich noch gerne mit geben? -|UJ %LUNHOEDFK Die Plattform Internet einem Schmunzeln, als ich mit einem ist in diesem Bereich noch sehr unterent- ausschließlich türkischsprachigen Team -|UJ %LUNHOEDFK Teilweise gibt es heu- wickelt, deshalb gibt es dort noch erheb- produziert habe: Das Ergebnis hat sich te schon eine Schnittstelle. In Deutsch- liches Potenzial zu erschließen. Es gibt Gott sei Dank versendet, aber wir hatten land hat sich ein ganz eigenes Türkisch vereinzelte Portale, die sich speziell der einen lustigen Tag. herausgebildet, das sich um einiges vom Zielgruppe der in Deutschland lebenden Im Übrigen: Die bisherigen türkischen Istanbuler Türkisch unterscheidet, wenn Türken widmen. Im Printbereich sieht es Projekte haben mir persönlich sehr viel ich den immer wieder aufkeimenden ähnlich überschaubar aus. Dort gibt es Freude gemacht. Ich habe angenehme Diskussionen glauben darf. Deshalb be- überregionale, kostenlose Anzeigenblät- und überaus freundliche Geschäftskonkommt man vereinzelt auch kritische ter und einige wenige Tageszeitungen, takte, vor allem in den türkischen Medien, Töne zu hören, das Türkisch in den darunter die führenden und internatio- aufbauen können. Türkische Geschäftsin Deutschland mit deutschtürkischen nal bekannten türkischen Gazetten, wie leute habe ich bislang als kompetent und Protagonisten produzierten Spots sei Hüyriet, Sabah und Milliyet. In Berlin engagiert erlebt, allerdings mit sehr viel schlechtes Türkisch. Ich gebe zu, dass ich JLEW HV DXFK HLQ JXWHV DXÀDJHQVWDUNHV Zeit und Herz und viel Muße für gute die Diskussion als Deutscher nicht immer Stadtmagazin. Für weitere seriöse und Gespräche – so erlebe ich meinen Teil nachvollziehen kann und auch über die intellektuell anspruchsvolle Printformate der Integration. Zur Nachahmung sehr zu mitunter hohe Emotionalität überrascht (Wirtschaft, Lifestyle usw.) gibt es also empfehlen. bin, mit der diese geführt wird. Wir aber noch Platz. glauben, dass auch noch die zweite und mikSes: Herr Birkelbach, vielen Dank dritte Generation hier in Deutschland auf mikSes: Ist Ihnen schon einmal der Vor- für das Interview. Türkisch anzusprechen ist. Und genau wurf begegnet, Ethnomarketing sei intefür diese Zielgruppe machen wir ja Wer- grationsfeindlich? Aus der IntegrationsDas Gespräch führten ,NEDO .ÕOÕo EXQJ 'D LVW HV HLQH )UDJH GHU +|ÀLFKNHLW perspektive müssten die Kunden doch und -DQ .UDZLW]. und des Respekts in türkischer Sprache eher auf Deutsch angezu produzieren. Im langfristigen Trend sprochen werden... will ich aber gar nicht ausschließen, dass sich das einmal ändert. -|UJ %LUNHOEDFK Meiner Meinung nach ist mikSes: Wird denn dann überhaupt noch zwar das Erlernen der eine Differenzierung nötig sein? Sprache des Landes in dem man lebt, Grund-|UJ %LUNHOEDFK Die Spots werden voraussetzung für eine zwar primär für Deutschland produziert, gelungene Integratiaber diese türkischen Fernsehsender wer- on, daran führt kein den auch in anderen europäischen Län- Weg vorbei. Trotzdern gesehen. Allein deswegen werden dem glaube ich nicht, die Spots erst einmal in türkischer Spra- dass türkische Spots che bleiben. im deutsch-türkischen Fernsehen integratimikSes: Gibt es in Deutschland noch onshemmend wirken. eine andere nennenswerte nichttürkische Dieser Vorwurf ist mir Zielgruppe für Ethno-Marketing? auch noch nicht begegnet, im Gegenteil: -|UJ %LUNHOEDFK Ja, einmal die soge- Unsere Projekte sind nannten Russland-Deutschen und die in stets mit deutschen und Deutschland lebenden Polen. Auch hier türkischen Protagogibt es eine entsprechende Medienland- nisten und Mitarbeitern schaft in Deutschland für diese Zielgrup- besetzt. Da kommt zupe. meist richtig viel Spaß 1|2007 | mikSes | 23


| CampuskĂźltĂźr

Rettet die Orchideen: Zur Arterhaltung bedrohter Studienfächer stellen wir an dieser Stelle regelmäĂ&#x;ig wissenschaftliche Disziplinen vor, die auf der „roten Liste“ stehen und mĂśglicherweise vom Aussterben bedroht sind. Wir wollen dennoch hervorheben, warum sie unter Artenschutz gestellt werden sollten.

Folge 1

Gender Studies – Geschlechterstudien / Geschlechterforschung Worum geht es in der Geschlechterfor- Rolle der Frau in der Gesellschaft spezischung? Etwa um Geschlechter im Sinne ell im 21. Jahrhundert“ beschäftigt und von Herrscherhäusern wie z.B. die Ho- mit Sicherheit wichtige Kompetenzen henzollern oder Osmanen oder um das durch Diskussionen mit ihren KommiliGeschlecht Frau bzw. Mann an sich? Fra- tonen im HĂśrsaal erlangt, wenn es z.B. gen, die ich mir stelle, als ich mich ent- darum ging, warum Frauen heute noch scheide, Euch dieses Fach vorzustellen. WURW] JOHLFKHU 4XDOLÂżNDWLRQ ZLH LKUH Wenn man Internetrecherchen Ăźber männlichen Arbeitskollegen schlechter Gender Studies anstellt, wird man mit bezahlt werden. Auch da hat das Inter'HÂżQLWLRQHQ GLH GHU IROJHQGHQ VHKU QDKH net zufrieden stellende Antworten parat: sind, konfrontiert: In der Geschlechter- Mit einem Abschluss in Gender Studies forschung bzw. Gender Studies werden HU|IIQHQ VLFK LQVEHVRQGHUH EHUXĂ€LFKH primär Fragestellungen rund um die 3HUVSHNWLYHQ LQ GHQHQ HLQH 4XDOLÂżNDWLRQ Bedeutung von Geschlecht und das Ver- im Bereich der Geschlechterforschung hältnis der Geschlechter untereinander in eine Rolle spielen kann, wie bspw. im allen kulturellen und gesellschaftlichen Personalwesen und der FrauenfĂśrderung Bereichen sowie Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern interdisziplinär Weitere Quellen zum LĂśschen behandelt. Eine doch sehr des Wissensdurst: ZLVVHQVFKDIWOLFKH 'HÂżQLWLon ‌ NatĂźrlich kommt insbesondere die Frage auf, was denn www.hochschulkompass.de ein Student respektive eine Studentin – der Einfachheit www.studium.uni-freiburg.de/ halber und der Besonderheit des Faches wegen verwenwww.gender.hu-berlin.de de ich im Folgenden nur noch die weibliche Form www.geschlechterforschung.uni-goettingen.de/ – mit ihrem Abschluss in der freien Wirtschaft oder www.bmbf.de Wissenschaft verwirklichen kann. Sie hat sich Ăźber 6 www.ruhr-uni-bochum.de/genderstudies bis 9 Semester hinweg mit Themen wie bspw. „Die

24 | mikSes | 1|2007


Campuskültür | in Gender Studies sind diese Abschlüsse möglich. Ein Bachelor-Studium sieht i. d. R. eine Regelstudienzeit von 6 Semestern vor, sodass die Studierenden nach dieser vergleichbar kurzen Zeit schon, eiQHQ HUVWHQ EHUXIVTXDOL¿]LHUHQGHQ DNDGHmischen Grad erreichen. Ferner besteht immer noch die Möglichkeit, ein „Magister Artium“ mit einer Regelstudienzeit von 9 Semestern zu erlangen. Noch lässt sich Gender Studies mit etwas unterschiedlichen Titeln an einer kleinen Zahl von Hochschulen auf dem Bundesgebiet studieren, die sich wie folgt ergeben: Geschlechterforschung (Bachelor) Georg-August-Universität Göttingen, Gender Studies (Bachelor) Humboldt-

Universität zu Berlin, Gender Studies (Magister) Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau, Gender Studies (Master of Arts) Ruhr-Universität Bochum. Was interessierte Abiturienten beachten sollten ist aber, dass Gender Studies nur als Nebenfach studiert werden kann. An der Universität Göttingen bspw. handelt es sich bei dem Studiengang „Geschlechterforschung“ um ein 2-Fach-BachelorProgramm, d. h. das Fach kann nur in Verbindung mit einem anderen studiert werden. Selbiges gilt auch für das Master-Studium an der Ruhr-Universität. (VUD *HQo

© bebasta / photocase.de

von öffentlichen und privaten Institutionen im nationalen und internationalen Rahmen, Öffentlichkeitsarbeit von Organisationen, Medienunternehmen, der Kulturpolitik und Beratungstätigkeiten, um einen Auszug einer längeren Liste vorzustellen. Wir sehen: Eine breite Palette an Einsatzmöglichkeiten. Doch welchen Abschluss kann man nach dem Studium dieses Faches erlangen? Dieser kann je nach Hochschule unterschiedlich sein. Im Zuge des BolognaProzesses wurden, um die Abschlüsse und Studienzeiten innerhalb Europas und weltweit vergleichbarer zu machen, in Deutschland die Abschlüsse „Bachelor of Arts“ sowie der weiterführende Abschluss „Master of Arts“ eingeführt. Auch

1|2007 | mikSes | 25


| Campuskültür

„Ohne Moos nix los“ 'LH 0|JOLFKNHLWHQ ]XU 6WXGLHQ¿QDQ]LHUXQJ VLQG YLHOIlOWLJ

ine der zentralen Fragen des StudienanIlQJHUV ODXWHW :LH ¿QDQ]LHUH LFK PHLQ Studium? Die Finanzierung über eine Bafög-Förderung ist eine von mehreren Möglichkeiten. Eine andere Möglichkeit stellt das Stipendium dar. Hierbei stellt sich die Frage: Wie und wo bekomme ich ein Stipendium? Bei einer Bewerbung um ein Stipendium gibt es keine goldene Regel. Oft sind

Außerdem gibt es noch das CasanusWerk, welches der katholischen Kirche angehört, sowie das evangelische Studienwerk Villigst. Einige Begabtenförderungswerke zahlen eine monatliche Grundförderung, dessen Höhe sich jedoch wie beim normalen Bafög-Satz nach der Höhe des Einkommens der Eltern richtet. Oft gibt es zusätzliche =DKOXQJHQ I U .UDQNHQ XQG 3ÀHJHYHUsicherung und Büchergeld. Haben Studierende keinen Anspruch auf Bafög, dann erhalten sie von der Stiftung auch nur Bei einer Bewerbung auf ein Büchergeld. Stipendium gibt es keine goldene Es gibt auch Institutionen, Regel. Oft sind überdurchschnittliche bei denen man sich für eine publizistische Förderung Leistungen alleine nicht ausreichend, bewerben kann, doch auch ebenso gefragt sind politisches und hier gibt es bestimmte Vosoziales Engagement. raussetzungen, die die Bewerber mitbringen müssen. Die Konrad-Adenauer-Stiftung hat neben der normaüberdurchschnittliche Leistungen alleine len Begabtenförderung auch eine Fördenicht ausreichend, ebenso gefragt sind rung für den publizistischen Nachwuchs. politisches und soziales Engagement. Au- Voraussetzungen hierfür sind praktische ßerdem wird der Weg zu einem Stipendi- journalistische Erfahrungen. um durch die Vielzahl der Stiftungen, die Ein anderer Weg geht über das „Institut meist auf unterschiedliche Begabungen zur Förderung des publizistischen NachAmbitionen der Bewerber ein Augen- wuchses e.V.“ in München. Neben dem merk legen, erschwert. Studium erfolgt in den Semesterferien Hier nur die bekanntesten und größten eine Journalistenausbildung, außerdem deutschen Begabtenförderungen: werden berufsvorbereitende Praktika bei Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen - Studienstiftung des deutschen Volkes vermittelt. Jedoch ist dieses Institut, ge- Konrad-Adenauer-Stiftung (CDU-nah) gründet von der deutschen Bischofskon- Friedrich-Ebert-Stiftung (SPD-nah) ferenz, nur für Studenten zugänglich die - Friedrich-Naumann-Stiftung(FDP-nah) eine christliche Grundhaltung haben und - Hanns-Seidel-Stiftung (CSU-nah) der katholischen Kirche aktiv zugehörig - Heinrich-Böll-Stiftung (Bündnis 90/ sind. Grüne-nah) Zahlreiche Auslandsstipendien werden - Hans-Böckler-Stiftung (DGB-nah) für alle Studiengänge vom „Deutschen - Rosa-Luxemburg-Stiftung (PDS-nah) Akademischen Austauschdienst“ ver-

E

26 | mikSes | 1|2007


Campuskültür | geben. Voraussetzungen für ein solches Abschluss schnell einen gut bezahlten Man sollte also den vorher fest vereinAuslandsstipendium sind gute Kennt- -RE ¿QGHQ $X HUGHP ZROOHQ VLH GLH 6WX- barten Höchstsatz im Auge behalten. nisse der jeweiligen Landessprache so- denten auf Dauer als Kunden gewinnen. Bei der Laufzeit sollte man sich an der wie mindestens drei Fachsemester in Wer diese Sicherheiten und Vorraus- Regelstudienzeit orientieren, aber besser Deutschland. Wer sich individueller und setzungen nicht mitbringen kann oder etwas Spielraum nach oben offen lasumfassender informieren möchte über möchte, der sollte sich an eine Landes- sen. Dies ist wichtig, denn während des die verschiedene Stipendien, kann dies bank wenden, denn diese sind dazu ver- Studiums können auch unvorhersehbare unter der Internetadresse: www.daad.de SÀLFKWHW GHP EHG UIWLJHQ 6WXGHQWHQ HL- Ereignisse eintreten, wie z. B. Krankheit, tun. nen Studienkredit zu ermöglichen. Schwangerschaft oder Ähnliches. Für diFür wen ein Stipendium nicht infrage Bei einer Kreditaufnahme sollte man aber ese Fälle sollte man im Voraus mit dem kommt und wer die klassischen Mög- ungedingt auf die Kredithöhe, den Zins- Darlehensgeber einen Verfahrensmodus lichkeiten wie Elternunterhalt, Bafög satz, die Zinsfälligkeit sowie die Laufzeit vereinbaren. und Jobben für sich ausgeschlossen hat, des Darlehens und die Rückzahlungsmo- Die Rückzahlung eines Studienkredits ist für den gibt es inzwischen in der Regel nach der Beendidie Möglichkeit, einen Stugung des Studiums fällig, selbst dienkredit aufzunehmen. wenn dieses nicht erfolgreich Für wen ein Stipendium nicht in Dafür sollte man sich aber abgeschlossen wurde. ÜblicherFrage kommt, und wer die nur dann entscheiden, wenn weise gibt es eine Karenzzeit klassischen Möglichkeiten wie man alle anderen Finanzievon bis zu zwei Jahren für die Elternunterhalt, Bafög und Jobben rungsmöglichkeiten für sein Rückzahlung des StudienkreStudium ausgeschlossen dits. Allerdings laufen die Zinfür sich ausgeschlossen hat, gibt es hat. Ein Kredit ist insofern sen während dieser Zeit weiter. inzwischen die Möglichkeit einen interessant, als dass er unEin weiterer wichtiger Aspekt Studienkredit aufzunehmen. abhängig von der Höhe des ist die Dauer der Rückzahlung Einkommens der Eltern vereines Studienkredits. Hierbei geben wird. Sicherheiten im fordern einige Banken ihr Geld Sinne von Vermögensnachweisen, wer- dalitäten achten. Die Höhe des Kredits schnell zurück, der monatliche Rückzahden nicht verlangt, jedoch wollen einige ist von Anbieter zu Anbieter unterschied- lungsbetrag ist dann höher, die Zinslast Banken Sicherheiten in Form von guten lich. Sie reicht von 100 bis 1000 Euro. ist aber insgesamt niedriger. Umgekehrt Noten, Gutachten von Professoren oder Hierbei ist es schwer, einen Zinssatz von erhöht sich die Zinslast bei einer langen bestandene Zwischenprüfungen haben. unter 5% zu bekommen. Zu beachten ist Tilgungsphase. Bei einigen Banken muss man sogar ei- auch, dass der Zinssatz variabel ist und nen Eignungstest bestehen, um einen üblicherweise halbjährlich neu festge/LQD :RHON Studienkredit zu bekommen. Die Banken legt wird. Steigen die Zinsen am Kapihoffen, dass die Studenten nach ihrem talmarkt, wird auch das Darlehen teurer.

1|2007 | mikSes | 27


| CampuskĂźltĂźr

Die tĂźrkische Anadolu Universität ist die zweitgrĂśĂ&#x;te weltweit Interview mit Dr. GĂźrsel GĂźr, Leiter der KĂślner Westeuropa-Stelle der Anadolu Universität

S

eit dem Wintersemester 2002/2003 bietet die Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät der Universität zu KĂśln in Kooperation mit der Anadolu UniversiWlW (VNLĂşHKLU 7 UNHL GDV 3URJUDPP Ă„0DQDJHPHQW LQ GHU 7 UNHLÂł +DXSWVWXGLXPVstudenten der WiSo-Fakultät an. Um dieses hervorragende Programm, das auch in =XNXQIW .|OQHU 6WXGLHUHQGHQ GLH LQ LKUHU EHUXĂ€LFKHQ /DXIEDKQ HLQH 3RVLWLRQ PLW deutsch-tĂźrkischer „BrĂźckenfunktion“ in Deutschland oder auch in der TĂźrkei anstreben, vorzustellen, habe ich Herrn Dr. GĂźrsel GĂźr, den Leiter der Kontaktstelle fĂźr Westeuropa der Anadolu Universität in seinem KĂślner BĂźro besucht.

mikSes: Herr Dr. GĂźrsel GĂźr, kĂśnnten Sie unseren Lesern generelle Informationen Ăźber die Anadolu Universität und ihre Kontaktstelle fĂźr Westeuropa geben? 'U * UVHO * U Zunächst mĂśchte ich Ihnen fĂźr Ihr Interesse danken. Die Kontaktstelle fĂźr Westeuropa wurde vor 20 Jahren gegrĂźndet. Die Motivation fĂźr die GrĂźndung lag darin, den hier lebenden tĂźrkischen BĂźrgern eine Chancengleichheit in der Bildung gewährleisten zu kĂśnnen. Seit nun 7 Jahren bieten wir mit Genehmigung des TĂźrkischen Bildungsministeriums FernstudiumsproFĂźr weitere Informationen kĂśnnen sich Ingramme fĂźr tĂźrteressierte gerne an die Kontaktstelle fĂźr kische BĂźrger in Westeuropa der Anadolu Universität richDeutschland und ten: Europa an, durch die sie die Mittel$QDGROX 8QLYHUVLWlW (VNLĂşHKLU 7 UNHL schule, das Gymnasium oder ein StuKontaktstelle fĂźr Westeuropa dium abschlieĂ&#x;en Friesenplatz 13 kĂśnnen. D-50572 KĂśln Die Anadolu Universität hat im akaTel.: 0221 511044 demischen Jahr Fax: 0221 521149 2006/2007 mit E-Mail: bap@anadolu-uni.de 1.100.000 eingeInternet: www.anadolu-uni.de schriebenen Studiewww.anadolu.edu.tr renden einen wichtigen Titel erlangt, 28 | mikSes | 1|2007

nämlich den der weltweit 2. grĂśĂ&#x;ten Universität. Bei 2.250.000 Studierenden in der gesamten TĂźrkei beherbergt die Anadolu Universität nahezu die Hälfte aller Studierenden der TĂźrkei. mikSes: Seit wann kooperieren Sie mit der Universität zu KĂśln, und was sind die Inhalte der Kooperation? 'U * UVHO * U Seit dem Wintersemester 2002/2003 bieten wir das Programm „Management in der TĂźrkei“ an, das sich an KĂślner Hauptstudiumsstudierende der WiSo-Fakultät richtet. AuĂ&#x;erdem bieten wir Aufbaustudiengänge fĂźr diejenigen an, die ein erstes grundständiges Studium abgeschlossen haben. mikSes: Ăœber wie viele Semester erstreckt sich das Programm „Management in der TĂźrkei“? 'U * UVHO * U Es handelt sich um ein dreisemestriges Programm, wobei die Lehrveranstaltungen in der vorlesungsIUHLHQ =HLW VWDWWÂżQGHQ 'LH 3URJUDPPVWXdierenden besuchen gemeinsam mit den Studierenden der Aufbaustudiengänge die Lehrveranstaltungen. mikSes: KĂśnnten Sie uns einige der Lehrveranstaltungen nennen?


CampuskĂźltĂźr | 'U * UVHO * U Die Studierenden belegen Kurse wie bspw. „TĂźrkisches Steuersystem“, „Komparatives Marketing“, „Management in der TĂźrkei“, „TĂźrkisches Wirtschaftssystem“, „Personalwirtschaft“. Insgesamt handelt es sich um 10 Kurse, von denen 6 absolviert werden mĂźssen. Nach Abschluss der 6 Lehrveranstaltungen und der Abgabe einer wissenschaftlichen Hausarbeit erhalten erIROJUHLFKH 7HLOQHKPHU HLQ =HUWLÂżNDW mikSes: Die Kurse zeichnen sich natĂźrlich insbesondere durch ihren TĂźrkeibezug aus. Woher kommen die Dozenten? 'U * UVHO * U Die Erfahrungen unserer Dozenten rĂźhren daher, dass sie in KĂśln die gleichen Fächer lehren wie auch DQ GHU $QDGROX 8QLYHUVLWlW LQ (VNLĂşHKLU D.h. die Dozenten kommen in den SemeVWHUIHULHQ DXV (VNLĂşHKLU QDFK .|OQ XP die Kurse hier zu leiten. mikSes: Wichtig fĂźr unsere interessierten Leser ist jetzt natĂźrlich, wie sie an diesem Programm teilnehmen kĂśnnen. Wir wĂźrden uns freuen, wenn Sie uns Ăźber die Voraussetzungen informieren kĂśnnten.

rend der Lehrveranstaltungen mit den Programminteressierten und -teilnehmern gemacht? 'U * UVHO * U Ich kann fßr mich und meine anderen Kollegen von der Anadolu Universität sprechen, wenn ich sage, dass wir immer einen sehr positiven Eindruck von den KÜlner Studierenden hatten. Sie haben sich bisher stets schnell auf die fßr sie sehr neuen Veranstaltungen einstellen und mit herausragenden Leistungen glänzen kÜnnen. Zudem sind die Programmstudierenden den Anforderungen im Hinblick auf die tßrkische Sprache bisher stets gerecht geworden. Wir kÜnnen von einer gegenseitigen Zufriedenheit sprechen. mikSes: Solch ein positiver Eindruck, den Sie von den Studierenden gewinnen konnten, freut uns. Welche Vorteile hat PDQ ZHQQ PDQ GDV =HUWL¿NDW QDFK 6Hmestern in der Tasche hat?

'U * UVHO * U Innerhalb dieser anderthalb Jahre entstehen natĂźrlich wichtige Kontakte und Freundschaften zwischen unserer Kontaktstelle fĂźr Westeuropa, den Dozenten und den Studierenden, die VLFK LP )DOOH HLQHU EHUXĂ€LFKHQ /DXIEDKQ 'U * UVHO * U Zunächst einmal mĂźs- in der TĂźrkei, aber auch hier positiv aussen Studierende, die sich fĂźr das Pro- wirken kĂśnnen. Ein Student der Anadolu gramm „Management in der TĂźrkei“ Universität gewesen zu sein, wird sich bewerben mĂśchten, an der Universität innerhalb der späteren sozialen Beziezu KĂśln, speziell an der Wirtschafts- und hungen immer als Vorteil äuĂ&#x;ern. Sozialwissenschaftlichen Fakultät im- Die Studierenden eignen sich durch das matrikuliert sein. AuĂ&#x;erdem mĂźssen sie Programm auĂ&#x;erdem akademisches WisVLFK LP +DXSWVWXGLXP EHÂżQGHQ G K GDV sen Ăźber das Wirtschaftssystem in der Grundstudium erfolgreich abgeschlossen TĂźrkei an, entwickeln aber auch ihre Perhaben. Die Bewerbungen sind an das sĂśnlichkeit und Sprachkenntnisse weiter. Zentrum fĂźr Internationale Beziehungen All diese GrĂźnde waren auch die Motider WiSo-Fakultät zu richten, wobei die vation fĂźr die GrĂźndung des Programms. Auswahlen Ăźber einen mĂźndlichen sowie AuĂ&#x;erdem besteht die MĂśglichkeit ein schriftlichen Test erfolgen. Bewerber Gastsemester an der Anadolu Universität mĂźssen vor allem TĂźrkischkenntnisse zu absolvieren, wobei die dort erbrachten nachweisen, die ein Verständnis des Un- Leistungen fĂźr das Programm „Manageterrichts und der Kursinhalte gewährlei- ment in der TĂźrkei“ angerechnet werden VWHQ %HZHUEXQJVYHUIDKUHQ ÂżQGHQ MHGHV kĂśnnen. Ein Praktikum in der TĂźrkei Semester erneut statt. gehĂśrt ebenso zu den bestehenden MĂśglichkeiten. mikSes: RĂźckblickend auf die vergangenen Semester: Welche Erfahrungen mikSes: UnterstĂźtzen Sie die Studenten haben Sie bei den Auswahlen oder wäh- bei der Praktikumssuche?

'U * UVHO * U Wir stehen den Programmstudierenden bei der Suche nach einem Praktikum in der TĂźrkei unterstĂźtzend zur Seite und sprechen fĂźr sie als Institution eine Empfehlung aus. mikSes: Uns interessiert auch die Reaktion von deutschen Kommilitonen. Gab es in der Vergangenheit Deutsche, die sich fĂźr das Programm interessiert haben? 'U * UVHO * U Da kann ich Ihnen als Ausnahme nur einen Kommilitonen nennen, der auf uns zukam. Es kommt relativ selten vor, dass sich deutsche Studierende fĂźr das Programm interessieren. Wir wĂźrden aber ein Interesse von deutscher Seite begrĂźĂ&#x;en und uns freuen auch deutsche Studierende mit TĂźrkischkenntnissen, die ihnen das Verfolgen der Lehrveranstaltungen ermĂśglichen, in das Programm aufzunehmen. mikSes: Wer sollte Ihrer Meinung nach an diesem Programm teilnehmen? 'U * UVHO * U Das Programm ist fĂźr jeden Studenten der KĂślner WiSo-Fakultät, der die sprachlichen Anforderungen erfĂźllt und ein Interesse an der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Struktur der TĂźrkei hat, von Bedeutung. mikSes: Was wĂźrden Sie abschlieĂ&#x;end unseren Lesern empfehlen? 'U * UVHO * U Als jemand, der in Deutschland studiert hat, kenne ich das deutsche Bildungssystem sehr gut. Wichtig ist, dass man sich die Frage „Wo will ich später arbeiten?“ so frĂźh wie mĂśglich VWHOOW XQG HLQH $QWZRUW ÂżQGHW (QJOLVFKkenntnisse allein reichen heute z. T. nicht mehr aus, sodass Kenntnisse von Sprachen wie bspw. Russisch oder auch Chinesisch zunehmend wichtig werden. mikSes: Herr Dr. GĂźrsel GĂźr, ich danke Ihnen fĂźr das interessante und sehr aufschlussreiche Interview. Das Interview fĂźhrte (VUD *HQo

1|2007 | mikSes | 29


| Campuskültür

Reichlich Akademisches An dieser Stelle wird mikSes in jeder Ausgabe jungen Akademikern die Möglichkeit geben ihre Diplom-, Magister-, Master- oder Doktorarbeit, die sich im weitesten Sinne mit interkulturellen Themen auseinandersetzt, vorzustellen.

Diesmal:

Die Antisemitismus-Kontroverse des Jahres 2002 Die Absicht von Jamal Karsli, damals Abgeordneter der Fraktion Bündnis90/ Die Grünen im Landtag NRW und bekannt geworden durch die Aussage, die israelische Armee bediene sich „NaziMethoden“, im April 2002 in die FDP einzutreten, wurde zum Auftakt eines politischen Eklats. Als er am 03. Mai 2002 in einem Interview mit der rechten Zeitschrift „Junge Freiheit“ mit antijüdischen Klischees die Weltpolitik zu erklären versuchte, bediente er die tradierten antisemitischen Vorurteile von der jüdischen Weltverschwörung und dem MedieneinÀXVV GHU -XGHQ An Brisanz gewannen diese Aussagen, da Jürgen Möllemann, damals bundesweit bekannter Spitzenpolitiker der FDP, trotz öffentlichen und parteiinternen Drucks an der Aufnahme Karslis in die FDPFraktion festhalten wollte. Karsli kam einer drohenden Ablehnung schließlich durch den Rückzug seines Aufnahmeantrages zuvor. Der Fall Karsli wurde unter anderem zu einem Fall Möllemann, weil dieser es sich nicht nehmen ließ, die Verzichtserklärung Karslis selbst vorzutragen. Er betonte, Karslis Kritik an Israel habe zu einer Intervention des Zentralrats der Juden in Deutschland und schließlich zu seiner Rücktrittsentscheidung geführt - so effektvoll inszeniert, dass der Eindruck der Umkehrung der Täter-OpferRelation entstehen konnte. Im Laufe des Frühjahrs betonte Möllemann nicht nur immer wieder, dass Kritik an Israel in Deutschland tabuisiert sei, sondern auch, dass jüdische Funktionäre, beispielsweise Michel Friedman (damals

30 | mikSes | 1|2007

Zentralrats-Vize), dessen Art und Auftreten angeblich Antisemitismus erzeugten, diese unterdrückten. AntisemitismusVorwürfen hielt er entgegen, er sei zum Opfer einer Diffamierungskampagne des Zentralrats geworden. Mit seinem Angriff auf Friedman bediente er gleich mehrere Klischees: • zum einen seien Juden selbst Verursacher des Antisemitismus, • zum anderen schränkten sie zusätzlich noch die Meinungsfreiheit ihrer Kritiker ein. • Zudem werden Juden als homogenes Kollektiv und • als „Handlanger“ eines fremden Staates (Israels) dargestellt. • Der Jude als Fremder im deutschen Staat ergänzt dieses Bild. Möllemanns Logik folgte dem Grundsatz: Nur ein unauffälliger Jude ist ein guter Jude. Der hohe Assimilierungsgrad der deutschen Juden in der Weimarer Republik hat aber gezeigt, dass Anpassung keine Aggression gegen Juden verhindert. Denn Antisemitismus als irrationales Konstrukt mit dem Ziel der Diskriminierung von Juden unterliegt einem ständigen Wandel und wird fortlaufend an aktuelle Ereignisse angepasst. Michel Friedmann warf Möllemann zu Recht Antisemitismus vor und der Zentralrat forderte eine Entschuldigung. Nach einer Antisemitismus-Debatte im Düsseldorfer Landtag am 6. Juni 2002 entschuldigte sich Möllemann bei allen „jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern“, die sich verletzt gefühlt hätten.


CampuskĂźltĂźr | Eine Ausnahme machte er jedoch: Michel Friedman. Diesem wurde hier die VerkĂśrperung des antisemitischen Stereotyps vom „unversĂśhnlichen Juden“ angeheftet. Der FDP-Bundesvorstand erklärte am 31. Mai 2002, dass weder Antisemitismus noch Antizionismus Platz in der FDP hätten, es gab verschiedene Schlichtungsgespräche sowie Warnungen von Altliberalen wie der ehemaligen Bundestagsvizepräsidentin Hildegard HammBrĂźcher (die letztendlich ihr Parteibuch nach Jahrzehnten zurĂźck gab). Dennoch lieĂ&#x; sich MĂśllemann von seiner Strategie nicht abbringen und verteilte wenige Tage vor der Bundestagswahl 2002 an viele Haushalte in NRW ein Flugblatt, auf dem Bilder von ihm, dem damaligen israelischen Ministerpräsidenten Sharon und Friedman zu sehen waren. Die einseitige Darstellung des 1DKRVWNRQĂ€LNWV ]HLFKQHWH VLFK GXUFK einen antisemitischen Unterton aus und so wertete ihn auch die FDP. In diesem Flugblatt wurden nämlich antisemitische Klischees in das Gewand von „Israelkritik“ verpackt. Nach der verlorenen Bundestagswahl wurden die Stimmen gegen MĂśllemann lauter, vor allem weil die Finanzierung des Flugblattes dubios erschien. Konsequenterweise strebte die FĂźhrungsriege der FDP nunmehr ein Parteiausschlussverfahren gegen ihn an, dem dieser zunächst durch seinen RĂźcktritt als stellver-

tretender Vorsitzender der Bundespartei, und im März 2003 durch seinen Parteiaustritt zuvor kam. Im RĂźckblick kann die Wirkung der Antisemitismuskontroverse des Jahres 2002 nur mit Hilfe von Langzeituntersuchungen bewertet werden. MĂśllemann hat durch sein Verhalten den antisemitischen Klischees, die er propagierte, erhebliche VerbreitungsmĂśglichkeiten und eine gewisse politische Salonfähigkeit dadurch verliehen, dass sie von einem bundesweit bekannten Spitzenpolitiker getätigt wurden. Auch die damals in den Medien diskutierte Frage, ob MĂśllemann tatsächlich aus antisemitischen BeweggrĂźnden handelte oder lediglich aus wahltaktischen GrĂźnden antisemitische Ressentiments nutzte, ist prinzipiell unerheblich. Denn er wusste, dass seine Worte „richtig missverstanden“ werden wĂźrden von denjenigen, die ihre AusfĂźhrungen gerne mit der Beteuerung ‚Nichts gegen die Juden’ beginnen und hinter dem nachgeschobenen ‚aber’ ihre Vorurteile anfĂźhren. Bei einem BevĂślkerungsanteil von 36%, der antijĂźdische GefĂźhle hegt, ist es nicht verwunderlich, dass MĂśllemann mit seinen Aussagen Anklang in der BevĂślkerung fand. Seine Strategie, Meinungsmonopole zu ÂżQJLHUHQ XP GLHVH VHOEVW HUIXQGHQHQ Konstrukte dann zu brechen und sich anschlieĂ&#x;end als Märtyrer darzustellen, fĂźhrte dazu, dass 35% der BevĂślkerung Friedman die Schuld am Anstieg des Antisemitismus, der während und nach

der dargestellten Debatte messbar wurde, zusprachen und ganze 11% weniger MĂśllemann verantwortlich sahen. Dieser leistete also auch insofern einen Beitrag zur Herabsetzung der Hemmschwelle fĂźr antisemitische Ă„uĂ&#x;erungen. 5HQpH 5|VNH

5HQpH 5|VNH LVW *DVWDXWRULQ fßr mikSes: RenÊe RÜske, Jahrgang 1978, Politikwissenschaftlerin in KÜln lebend; war u.a. tätig als Referentin der SPD-Fraktion im Landtag NRW; langjähriges Engagement in der Jugendarbeit der jßdischen Gemeinden von KÜln und Aachen und fßr die ZWST; seit Dezember 2006 jßngstes Mitglied der Gemeindevertretung (Gemeindeparlament) der Synagogen-Gemeinde KÜln. %HL ,QWHUHVVH DQ GHU JHVDPWHQ 0DJLVWHUDUEHLW ELHWH HLQH HQWVSUHFKHQGH $QIUDJH DQ GLH PLN6HV 5HGDNWLRQ VWHOOHQ UHGDNWLRQ#PLNVHV GH

1|2007 | mikSes | 31


Š bbeltman / iStockphoto


Streitkültür |

Hilfe, ich habe einen Migrationshintergrund | 36 Netzwerk türkischstämmiger Mandatsträger | 38 Kinder, unter deutscher Flagge scharet euch... | 40 Friedliches Zusammenleben trotz „Generalverdachts“ | 42 Nur für kurz | 44 Mediales Ghetto | 48 Schwerin, Schwerin, wir fahren nach Schwerin! 34

1|2007 | mikSes | 33


| StreitkĂźltĂźr

Hilfe, ich habe einen Migrationshintergrund! Gedanken zu Migrationshintergrund und Political Correctness as ist der Ali. Der Ali hat einen Migrantionshintergrund. Wie bekommt man einen Migrationshintergrund? Ganz einfach. Man muss einen Vorfahren haben, und der oder die mĂźssen aus ihrem Heimatland emigriert sein. Also ausgewandert. Oder aber, sie mĂźssen in ein anderes Land immigriert sein. Also eingewandert. Und weil das keinen Unterschied macht, sagt man einfach nur migriert. HeiĂ&#x;t zwar

Ruhrpott, der Kalle etwa, deutsche Eiche VDJW (LVFKH 8QG ZHLO GLH $\ĂşH QLFKW QXU so klingt, sondern auch in Deutschland geboren ist, kann man sie nun gar nicht mehr als Ausländerin bezeichnen. Die hat nämlich jetzt die deutsche StaatsbĂźrgerschaft. Ist demnach die deutsche $\ĂşH 'D GHU 3DSD DEHU HLQ 0LJUDQW ZDU kam man nach vielen, vielen Jahren mĂźhsamen Ăœberlegens auf die Idee zu sagen, GLH $\ĂşH KDEH HLQHQ 0LJUDtionshintergrund. Da war zwar der Ali schon geboDa der Papa aber ein Migrant war, ren, macht aber nichts, hat kam man nach vielen, vielen Jahren er trotzdem geerbt. Und mĂźhsamen Ăœberlegens auf die Idee zu diesen Migrationshintergrund gibt er dann an seisagen, die Ayse habe einen ne Kinder weiter und die Migrationshintergrund. wiederum an ihre und so weiter. Der Freund vom Ali, der Ăźbersetzt bloĂ&#x; Wandern, meint aber mehr. John, der ist Amerikaner. Und die AmeriĂœber eine Grenze wandern etwa. Beim kaner, sagt der John, die haben alle einen Ali ist der Vorfahre der Opa. Mustafa. Migrationshintergrund. Bis auf die UrDer Mustafa kam nämlich als Gastarbei- einwohner, deshalb heiĂ&#x;en die so. Ureinter nach Deutschland. Und da arbeitete wohner. Da hat er Recht, der John. Aber er, und arbeitete er, und arbeitete er. Bis John, sagt der Andreas, der Autor dieses man sich irgendwann gedacht hat: Nanu, Artikels, das ist nichts Besonderes. Der der Mustafa, der geht ja gar nicht mehr Andreas nämlich, der hat einen Papa, den weg. Da kann man doch nicht Gast sa- Hans. Und der Hans ist Geneologe. Also gen. Also nannte man den Mustafa jetzt Ahnenforscher. Und daher weiĂ&#x; der Anerst einmal wieder bloĂ&#x; Ausländer, weil dreas, dass er auch einen Migrationshinder ja immerhin aus dem Ausland kam. tergrund hat. Eigentlich hat so ziemlich Aus der TĂźrkei nämlich. Und als der jeder Deutsche einen MigrationshinterMustafa schon mehr als die Hälfte seines grund. Zumindest kennt der Andreas keiLebens in Deutschland verbrachte und nen deutschen Ureinwohner. somit mehr In- als Ausländer war und Ob das Wort Ureinwohner noch politisch sich auch so richtig integriert hatte, da korrekt ist, das weiĂ&#x; der Andreas nicht. nannte man ihn dann den ausländischen Deshalb sagt er jetzt stattdessen Mensch MitbĂźrger. Weil, das klingt auch schon ohne Migrationshintergrund. Das geht so integrativ: MitbĂźrger. Nun bekam der bestimmt. 0XVWDID DEHU HLQH 7RFKWHU GLH $\ĂşH 'DV klingt so, als wenn ein Deutscher aus dem $QGUHDV )XKULFK

D

34 | mikSes | 1|2007


Streitk端lt端r |

1|2007 | mikSes | 35




| StreitkĂźltĂźr

de profundis

Kinder, unter deutscher Flagge scharet euch‌ Oder: Die Dietzenbacher Integralrechnung Q 'LHW]HQEDFKHU .LQGHUJlUWHQ KlQJW VHLW YHUJDQJHQHP -DKU GLH GHXWVFKH )ODJJH XQG HV SUDQJW GDV %LOG GHV %XQGHVSUlVLGHQWHQ 'LH 6\PEROH GHV 5HFKWVVWDDWHV VROOHQ HLQH JU|‰HUH $QELQGXQJ GHU +HUDQZDFKVHQGHQ EHVRQGHUV GHU DXVOlQGLVFKHQ DQ GDV /DQG LQ GHP VLH OHEHQ KHUVWHOOHQ 6LQG )ODJJH XQG %XQGHVSUlVLGHQW VROFKHUOHL +HUDXVIRUGHUXQJHQ GHQQ  EHUKDXSW JHZDFKVHQ"

mĂśgen sich die Dietzenbacher gesagt haben, den Kindern Illusionen zu rauben, bzw. diese am besten gar nicht erst aufkommen zu lassen. Die Flagge eignet sich da hervorragend, deren fahles Gelb, das nur Euphemisten und Farbenblinde zu der Bezeichnung Gold verleitet, dem anämischen Rot darĂźber, welches die Symbolik von Leidenschaft und Liebe schĂźchtern anderen Rotschattierungen Ăźberlässt, und einem Schwarz ‌ na ja ... das eben schwarz ist. Der Verfasser erEinmal davon abgesehen, ob nun die ODXEW VLFK DQ GLHVHU 6WHOOH GLH RIÂż]LHOOH Dietzenbacher Ideen wirklich den neuen, Bezeichnung der Flaggenfarben anzufĂźverbesserten StaatsbĂźrger produzieren gen: Tiefschwarz, Verkehrsrot und RapskĂśnnen, ist es eigentlich keine schlech- gelb ... dem ist kaum etwas hinzuzufĂźgen. te Idee, den Kindern frĂźh genug Flagge AuĂ&#x;er vielleicht dieses: Die Farbzusamund Bundespräsident zu präsentieren. menstellung ergibt sich, unter anderem, SchlieĂ&#x;lich sollen die Kleinsten ruhig aus einem historischen Ausspruch in den Befreiungskriegen gegen die napoleonische Besatzung: Es lässt sich also bedenkenlos konstatieren: „Aus der Schwärze (Tiefschwarz) der Durch solche Symbolik in der Kita wird auch Knechtschaft durch Landeskunde und Geschichte im späteren blutige (Verkehrsrot) /HEHQ  EHUĂ€ VVLJ Schlachten ans goldene (Rapsgelb) Licht der Freiheit.“ wissen (mit Migrationhintergrund oder Solche Dramatik gefällt Kindern beohne), was später auf sie zukommt hier- stimmt, und die Erwachsenen, besonders zulande. Das eine oder andere frĂźhreife die konservativen, sind dankbar fĂźr die .LQG ZLUG GLH Q FKWHUQ VDXHUW|SÂżVFKH KĂźrze jenes romantischen Schlachtrufs, Miene Herrn KĂśhlers – die nun Ăźber den denn wäre er es nicht – es hätte sich vielSpielecken hängend, an den Ernst des leicht noch am Ende die peinliche NotLebens gemahnt – schon richtig zu inter- wendigkeit ergeben, den Schwulen und pretieren wissen. /HVEHQ LKUH 5HJHQERJHQĂ€DJJH VWUHLWLJ Man sollte eben nicht zu spät anfangen, zu machen.

I

38 | mikSes | 1|2007


StreitkĂźltĂźr | halten, kann davon ausgegangen werden, dass Angstzustände, Schlafmangel und Brandnarben zum Berufsbild gehĂśrten.“ Da weiĂ&#x; man doch, wo man dran ist! Der Name Horst wiederum, es ist beinahe schon beängstigend passend und lehrreich, stammt aus dem althochdeutschen, und hat die Bedeutung „Mann aus dem Wald“, „GehĂślz“, „niedriges GestrĂźpp“. Aha! Es lässt sich also bedenkenlos konstatieren: Durch solche Symbolik in der Kita wird auch Landeskunde und Geschichte LP VSlWHUHQ /HEHQ  EHUĂ€ VVLJ )ODJJH und Bundespräsident klären in ausreichendem MaĂ&#x;e durch ihr bloĂ&#x;es Rumhängen Ăźber Wesen und Vergangenheit des Landes auf. Man sieht, es wĂźrde dem Stadtrat bitteres Unrecht geschehen, wenn man dessen feine Imago-Pädagogik als plumpen Mummenschanz abtäte. Wie bewerkstelligt man denn bitte sonst Integration. Wo fängt man an, wo hĂśrt man auf? Da gibt es die Halb-Integrierten, die Dreiviertel-Integrierten, die Garnicht-Integrierten, und Leute, die keine Integration mĂśgen. Dann noch Leute, die zwar integriert sind, aber es nicht wissen. Vielleicht gibt es auch Integrationsallergiker. Und was ist mit den Leuten, die sich Ăźberintegriert haben? FĂźr diese ganzen Bewusstseinszustände ein Heilmittel zu ÂżQGHQ LVW MD IDVW unmĂśglich. Da soll jemand erstmal mit besseren Vorschlägen kommen, um die Dietzenbacher aus dem Feld zu schlagen, in deren stadträtlichen Entscheidungen, sich Poesie und Pädago-

gik so brĂźderlich die Hand reichen. Leider, mĂśgen sich die Dietzenbacher in ihrer Symbolwut gesagt haben, sind die Zeiten unwiederbringlich vorbei, in denen man noch das strenge Gesicht eines Kaisers (wahlweise Friedrich oder Wilhelm) mit Helm, Paradeuniform und Backenbart in die Schulräume hängen konnte. Unter dem Strich mĂśchte man also den Dietzenbachern zwei Dinge von ganzem Herzen wĂźnschen. Erstens, dass den Kindern niemand das alte Lied beibringt „Wir wollen unseren alten Kaiser Wilhelm wiederhaben ... aber den mit dem Bart, aber den mit dem Bart“. Zum zweiten aber, dass die Kinder nicht allzu viele Fragen Ăźber Flagge, Horst KĂśhler und Bundespräsident stellen. Die Antworten kĂśnnten vielleicht doch ein bisschen peinlich ausfallen. 0DUNROI 1DXMRNV

Š c.sign / photocase.de

In der Weimarer Republik lieferte man sich sogar StraĂ&#x;enschlachten fĂźr und wider diese biederen Dreifaltigkeit der Farben (wobei zu ergänzen ist, das die Anti-TiefschwarzVerkehrsrotRapsgelbFraktion auch keine hĂźbscheren Vorschläge hatte). Man nimmt es halt ernst hierzulande, besser, wenn die JĂźngsten das auch gleich begreifen! Um es deutlich zu sagen: Fantasie, Begeisterung und Lebensfreude und solche Dinge gehĂśren bitte sehr nicht in die Farbsymbolik einer Flagge, das Ăźberlassen wir hier lieber naserĂźmpfend der albern bunten Trikolore eines ohnehin dauernd im Verdacht der fehlenden Ernsthaftigkeit stehenden Nachbarlandes. Sicherlich wĂźrde es eine interessante Forschungsarbeit abgeben, einmal zu ĂźberprĂźfen, ob diese Farben die Entwicklung der Kinder beeinträchtigen oder zumindest einschläfern kĂśnnten. Der Verfasser gibt freimĂźtig zu, während der FuĂ&#x;ballWeltmeisterschaft 06 äuĂ&#x;erst schläfrig und durstig gewesen zu sein und wagt dieses auf die Flut von Tiefschwarz, Verkehrsrot und Rapsgelb zu beziehen. Man sieht, die Dietzenbacher haben Recht, die Flagge ist durchaus in der Lage, den Kindern Deutschland näher zu bringen. Dann wäre da noch Herr KĂśhler, der bilGXQJVEHĂ€LVVHQH %XQGHVSUlVLGHQW GHVsen etwas mĂźdes Lächeln nun zwischen Blättern mit Kartoffeldruck und Selbstgemaltem hängt. Auch dessen Konterfei kann die wissenshungrige Jugend einiges lehren. KĂśhler heiĂ&#x;t der Mann, ein ordentlicher Wink mit dem didaktischen Zaunpfahl, als hätte man es sich fĂźr die Kinder ausgedacht! Der Name, ohne jeglichen Bezug auf die bundespräsidiale Person, spricht fĂźr sich und trieft ja geradezu vor Symbolik, die das Bundesdeutsche in elementarer Weise fĂźr die Kinder zu dokumentieren weiĂ&#x;. Der Beruf des KĂśhlers, Gott sei Dank ausgestorben, ist fast schon sprichwĂśrtlich hart und mit Sicherheit vĂśllig humorlos gewesen. Ein kurzer lexikalischer Auszug sei gestattet: „KĂśhler fĂźhrten ein karges, einsames /HEHQ :HJHQ GHU VWlQGLJHQ 3Ă€LFKW GHQ Meiler auf der richtigen Temperatur zu


| StreitkĂźltĂźr

Friedliches Zusammenleben trotz „Generalverdacht“ In Zeiten des islamistischen Terrorismus haben es Muslime in Deutschland nicht einfach. Trotzdem bleibt eine Radikalisierung hierzulande aus. Ein Erklärungsversuch in vier Thesen.

N

40 | mikSes | 1|2007

ach den Anschlägen vom 11. September, 11. März (Madrid), 7. Juli (London), nach der Geiselnahme in Beslan, dem Mord an dem islamkritischen Filmemacher van Gogh, nach dem „Karikaturstreit“, nach der Diskussion Ăźber „Tal der WĂślfe“, nach der EinfĂźhrung des „Muslim-Tests“ fĂźr einbĂźrgerungswillige Ausländer aus islamischen Staaten, nach den versuchten „Bahn-Attentaten“ in Deutschland und der Debatten Ăźber „Zwangsehen“, „Hassprediger“ sowie „Ehrenmorde“ unterliegen alle Muslime einem gesellschaftlichen und medialen sowie durch Politiker geschĂźrten Generalverdacht. Pauschal werden sie als Gefahr fĂźr die innere Sicherheit der Bundesrepublik betrachtet. Dies legitimiert einerseits, einen gewissen „Sicherheitsabstand“ zu wahren, und ist mĂśglicherweise andererseits Ursache fĂźr weitere Spannungen zwischen muslimischen Migranten und AngehĂśrigen der westeuropäischen Aufnahmegesellschaften oder gar gewalttätige Ausschreitungen. DafĂźr, dass dies in Bezug auf die Beziehung zwischen der tĂźrkischstämmigen Minderheit und der deutschen Aufnahmegesellschaft nicht unbedingt der Fall sein muss, sprechen vier Thesen. In der Bundesrepublik Deutschland ist das bisherige Ausbleiben gewalttätiger Ausschreitungen auf die tĂźrkisch-islamische WohnbevĂślkerung und ihre Einrichtungen, auf die beidseitige Abwesenheit von Radikalisierungen zwischen der (west-)deutschen Aufnahme- und der tĂźrkischstämmigen Migrantengesellschaft zurĂźckzufĂźhren, wofĂźr es auf deutscher wie tĂźrkischer Seite substanzielle GrĂźnde gibt.

1) Folgen der Schoah: Der seit den Erfahrungen des Dritten Reiches jahrzehntelang EHVRQGHUV LQ :HVWGHXWVFKODQG VWDWWÂżQdende Prozess der Vergangenheitsbewältigung, die historische Aufklärung der Schoah, ein wachsamer „Alarmismus“ in vielen gesellschaftlichen Bereichen und GLH YLHOIDFK VRIRUW VWDWWÂżQGHQGH VR]LDOH politische und rechtliche Sanktionierung von den zwischen den BevĂślkerungsschichten und Eliten Ăźber alle Parteigrenzen als „abweichend“ bezeichneten fremdenfeindlichen und antisemitischen Personen, Bewegungen und Parteien in Deutschland halten ein grundsätzlich antitĂźrkisches Bedrohungspotential niedrig. Im westlichen Nachkriegsdeutschland sind antinazistisch sozialisierte Deutsche gegen Fremdenfeindlichkeit besonders sensibilisiert. Die oft sofortige und einhellige Bezeichnung und Verurteilung von eindeutigen oder missverständlichen bzw. unglĂźcklich ausgedrĂźckten Ă„uĂ&#x;erungen und Verhaltensweisen als fremdenfeindlich oder antisemitisch weist neben der Sanktionierung ihrer Urheber auf diese in der westdeutschen BevĂślkerung vorhandene Sensibilität hin, die Rassismus gefährlichen AusmaĂ&#x;es unmĂśglich erscheinen lässt. Allerdings haben die unterlassene Vergangenheitsbewältigung und Täterdiskurs neben der sozialistischen Gewaltherrschaft eine antinazistische Sensibilisierung verhindert, sodass Fremdfeindlichkeit im Osten wahrscheinlicher geworden ist. Der daGXUFK JHSĂ€HJWH Ă„$ODUPLVPXVÂł KDW HLQH „unbestreitbare moralische Grundlage“, mit der fremdenfeindliches Verhalten als DEZHLFKHQG GHÂżQLHUW XQG JHVHOOVFKDIWOLFK legitim sanktioniert werden kann. Gera-


Streitkültür | de wegen den negativen Erfahrungen mit dem Dritten Reich ist neben der sensibilisierten westdeutschen und auch gesamtdeutschen Gesellschaft das institutionelle Arrangement der staatlichen Verfasstheit der Bundesrepublik Deutschland mit seiner freiheitlich-demokratischen Grundordnung ein strukturelles Hindernis staatlicher Gewalt gegen Migranten.

und Geschäften als „Zwischenwelt“ weist auch darauf hin, dass die Türken Deutschland als ihre Heimat und ihren Lebensmittelpunkt betrachten und begonnen haben, sich auf ein dauerhaftes Leben in der Bundesrepublik auszurichten. Des Weiteren ist im kollektiven Gedächtnis der sich vor und nach Atatürk an Europa ausrichtenden Türken im Gegensatz zu den Arabern kein antisemitisches und antiwestliches „Palästinensertrauma“ enthalten, der vor dem Hintergrund der Anschläge vom 11. September und 11. März (New York, Madrid) keine nationale, ethnische, politische und religiöse Legitimitätsbasis für Terrorismus bietet.

negativ geprägt. Da es bisher kaum KonÀLNWH ]ZLVFKHQ 7 UNHQ XQG 'HXWVFKHQ in Geschichte und Gegenwart gegeben hat, können potenzielle Feindbildszenerien nicht auf entsprechende traumatisierende historische Ereignisse mit bestimmten Personen und Orten fußen. Vielmehr scheint das Gegenteil der Fall zu sein: Das sogar bei politischen Gipfeltreffen zwischen Vertretern der Türkei 2) Gemäßigter Islam: Im Gegensatz zu und Deutschlands vielfach beschworene arabischen, persischen oder pakistaXQG LP *HVFKLFKWVXQWHUULFKW JHSÀHJWH nischen sind die türkischen Muslime historische Bündnis zwischen dem Kaimit den Reformen des Nationalstaatsser- und Osmanenreich und die NATOgründers Atatürk seit 80 Jahren weitgeAllianz beider Nachfolgestaaten lässt hend säkularisiert. Er leitete mit der Abeine historisch gewachsene Generierung schaffung der Scharia, des Kalifats, der von Feindbildern unwahrscheinlich erTrennung von Staat und Religion, mit 3) Türkei-Tourismus: Laut Hans-Dieter scheinen. Auch die Anwerbung von für der Einführung der lateinischen Schrift, Schenk, dem langjährigen Regionalma- den Wirtschaftsaufbau notwendigen türeines westlich orientierten Bildungs- und nager des Robinson-Clubs Türkei, ist kischen Arbeitsmigranten durch die BRD Rechtssystems eine Säkularisierung von „Tourismus eine Botschaft“. Jedes Jahr führte mit dem erfolgreichen Ankurbeln Staat und Gesellschaft ein. Familien- und sind etwa vier Millionen Deutsche in der der Wirtschaft zur beiderseitigen soziofrauenpolitische Neuerungen in Erb-, Türkei. Der Besuch der Türkei als ein ökonomischen Zufriedenheit auch durch Ehe- und Eigentumsfragen weisen neben von deutschen Touristen favorisiertes Ur- den gemeinsamen Beitrag beider Seiten der rechtlichen Geschlechtergleichstel- laubsland ermöglicht Kontakte zwischen zu Ansätzen einer Entstehung eines gelung auf die Liberalisierung des Islam Deutschen und türkischen Einheimi- meinsamen Partnerschaftsbewusstseins. in der Türkei hin. Der davon auch beein- schen. Deutsche „Urlauber gestalten das In der ehemaligen DDR hat es neben ÀXVVWH UHDO H[LVWLHUHQGH 0LJUDQWHQLVODP Türkeibild im Ausland mit“. Schenk stell- einigen wenigen Beispielen (Vietnameder Türken in Westeuropa, auch wenn te am 5. März 2005 auf der Tagung des sen, etc.) kaum Zu- und Einwanderer ihr Herkunftsmilieu das ländliche, bäuer- Deutsch-Türkischen Forums fest, dass gegeben, sodass die dortige Bevölkerung lich und teilweise feudalistisch geprägte die in der Türkei erworbenen positiven kaum Kenntnis oder Erfahrung von türOst- und Südostanatolien tiefer religiös Eindrücke der deutschen Touristen auch kischen Migranten hat und für Vorurteile verwurzelt ist, hat weniger Anpassungs- das Bild der „Deutschtürken“ geprägt empfänglich ist. schwierigkeiten als der arabische, per- haben. Touristen begegnen nach ihrem Der Familiennachzug der Migranten, das sische oder pakistanische Islam. Dadurch Türkeiaufenthalt den Türken in Deutsch- Ausbleiben relevanter Gegenstimmen haben Türken unter den Muslimen einen land „mit sehr viel Respekt“, denn diese auf deutscher Seite, die seit dem begonIntegrationsvorsprung, sodass religi- VHLHQ ÀHL LJ XQG JDVWIUHXQGOLFK 'LHV KDW nene Einbeziehung der Migranten in die |V NXOWXUHOOH .RQÀLNW XQG 5HL]WKHPHQ Brücken für gegenseitiges Verständnis deutsche Gesellschaft, den Bildungs-, wie Frauenrechte, Schwimmunterricht, und Legitimität sowie Vertrautheit ge- Arbeits-, Wohnungs-, Ehe- und Freund6FKlFKWHQ ZHQLJHU KlX¿J XQG PLW QLHG- schaffen. Durch die wechselseitige Ver- schaftsmarkt, die Gestaltung der Selbstrigerer Intensität vorkommen. Das Ge- trautheit ist die Chance für gegenseitige und Fremdbilder zumindest einiger Türmäßigte des türkischen Islam zeigt sich Dämonisierung in der Migranten- und kischstämmiger als neue (Mit-)„Doycen“ auch an der Bedeutsamkeit des größten Aufnahmegesellschaft niedrig. und die Reform des bisher die Naturaliislamischen Dachverbands in Deutschsierung der Türken in der Bundesrepublik land: Die DITIB, die Türkisch-Isla- 4) Weitgehend unbelastete Geschichte: verhindernde Staatsangehörigkeitsrechts mische Union der Anstalt für Religion e. 'DV $XVEOHLEHQ GUDPDWLVFKHU .RQÀLNW- sind Ausdrücke einer mehr oder minder 9 'L\DQHW øúOHUL 7 UN øVODP %LUOL÷L PLW beziehungen zwischen der deutschen Ge- gut verlaufenen Kooperation zwischen 800 Moscheen und 500.000 Mitgliedern sellschaft und ihrem türkischen Segment Einwanderern und Deutschen. Auch dies predigt einen säkularen Islam der kema- geht auch auf die lange Abwesenheit von OlVVW .RQÀLNWH XQG DXI )HLQGELOGHUQ EDlistisch geprägten Religionsbehörde der historischen Belastungen zwischen Tür- sierende Ausschreitungen unwahrscheinTürkei und kann die Mehrheit der gemä- ken und Deutschen zurück. Das interge- lich erscheinen. ßigten Deutschtürken hinter sich wissen. QHUDWLY XQG HULQQHUXQJVULWXHOO JHSÀHJWH Die Existenz einer eigenen ethnischen kollektive Gedächtnis beider Völker und %XUDN * P ú Infrastruktur mit Vereinen, Moscheen Bilder voneinander ist entsprechend nicht 1|2007 | mikSes | 41


| StreitkĂźltĂźr

Nur fĂźr kurz Eine kleine Migrationsgeschichte

V

RU GHP 3UREOHP GHV $UEHLWHUPDQJHOV VWHKHQG ZLUEW GLH GHXWVFKH 5HJLHUXQJ LQ GHQ VHFK]LJHU -DKUHQ Â EHU 0LOOLRQHQ 0lQQHU DXV GHP $XVODQG DOV *DVWDUEHLWHU IÂ U VFKZHUH $UEHLWHQ DQ 'RFK ZLH ZHUGHQ DXV GHQ DOV NXU]IULVWLJH /|VXQJ JHSODQWHQ *DVWDUEHLWHUQ GLH (LQZDQGHUHU GHU HUVWHQ *HQHUDWLRQ"

Nach dem zweiten Weltkrieg steht das Wirtschaftswunder Deutschland einem uns heutzutage utopisch erscheinendem Problem gegenĂźber: Vollbeschäftigung und sogar Arbeitermangel. Es fehlt zu Beginn der fĂźnfziger Jahre an männlichen Arbeitskräften. Italien hat diese Arbeitskräfte. So beginnen Verhandlungen zwischen dem italienischen AuĂ&#x;enminister und dem damaligen Bundeskanzler Ludwig Erhard Ăźber die befristete Entsendung von italienischen Arbeitskräften nach Deutschland. Im Dezember 1955 tritt das deutsch-italienische Anwerbeabkommen in Kraft,

die ausländischen Arbeiter billiger und scheinen genĂźgsamer als ihre deutschen Kollegen. Diese GenĂźgsamkeit resultiert aus der weit verbreiteten Einstellung der Gastarbeiter, in Deutschland nur eine kurze Zeit zu verharren. So kommen die jungen Männer, die in ihrem Heimatland meist ohne Arbeit leben, zunächst ohne ihre Familien mit dem Ziel, in kurzer Zeit mĂśglichst viel Geld zu verdienen, um dann wieder nach Hause zu fahren. Sie sind gekommen, um zu arbeiten. Sie prägen den Begriff des Gastarbeiters. Die meist ungelernten Arbeiter werden fĂźr unattraktive, schwere und zum Teil sogar gefährliche Arbeiten eingesetzt, fĂźr die sich nur sehr Aus den ehemaligen Gastarbeitern schwer oder nur unter Lohnzugeständwerden Einwanderer, die in nissen deutsche Deutschland ihre neue Heimat $UEHLWHU ÂżQGHQ ODVaufzubauen versuchen. sen. So werden die Arbeiter im Baugewerbe, in der Metallverarbeitung und dem ähnliche 1960 mit Spanien und fĂźr Reinigungsdienste eingesetzt. Durch Griechenland, 1961 mit der TĂźrkei, 1963 ihre hohe Mobilität erscheinen sie den mit Marokko, 1964 mit Portugal, 1965 Unternehmen auch als Saisonarbeiter in mit Tunesien und 1968 mit Jugoslawien der Landwirtschaft interessant. folgen. Durch dieses erste Abkommen FĂźr das schnelle Geld nehmen die Arbeiwerden 100.000 bis 200.000 italienische ter in der kurzen Zeit ihres Aufenthalts Arbeitskräfte ausgewählt, angeworben viele Strapazen auf sich: Nicht nur die und an deutsche Unternehmen vermittelt. Arbeit ist durch Schichtsysteme, AkkordDort bleiben die Arbeiter dann maximal lĂśhne und FlieĂ&#x;bandarbeit kĂśrperlich und drei Jahre, um dann wieder in ihr Hei- seelisch oft sehr anstrengend. Auch nach matland zurĂźckzukehren. Dienstschluss kĂśnnen die Arbeiter in den Die Unternehmen wollen kurzfristig den kleinen hoffnungslos ĂźberfĂźllten und Arbeitermangel decken. AuĂ&#x;erdem sind dreckigen Baracken, die als Unterkunft 42 | mikSes | 1|2007


StreitkĂźltĂźr | dischen Arbeiter kommen nach Deutschland. Diese Entwicklung wird einige Jahre später eher unabsichtlich sogar noch beschleunigt: In der Wirtschaftskrise der Jahre 1966 und 1967 fehlt die Nachfrage nach Arbeitern. Die Arbeitslosigkeit steigt. Nicht mehr benĂśtigte Arbeiter werden in ihre Heimatländer zurĂźckgeschickt. In dieser Zeit schrumpft die Zahl der aus dem Ausland angeworbenen Arbeiter auf die Hälfte zusammen. Noch schlimmer wird die wirtschaftliche Situation in Deutschland in der 1973 drohenden Ă–lkrise. Die deutsche Regierung muss noch im gleichen Jahr einen Anwerbestopp fĂźr ausländische Arbeiter beschlieĂ&#x;en. So paradox es klingen mag, doch genau dieser Beschluss fĂźhrt dazu, das aus den ehemaligen Gastarbeitern Einwanderer werden, die in Deutschland ihre neue Heimat aufzubauen versuchen: FĂźr die angeworbenen Arbeiter aus den Staaten der Europäischen Gemeinschaft ist dieser Anwerbestopp kein gravierender Einschnitt. Denn sie kĂśnnen durch die ihnen gegebene FreizĂźgigkeit weiterhin nach Deutschland einreisen, um Geld zu verdienen, mit dem sie dann wieder nach Hause zurĂźckkehren. Doch alle anderen sind vor eine gravierende Entscheidung gestellt: Falls sie beschlieĂ&#x;en, nach Hause zurĂźckzukehren,

kĂśnnen sie nicht wieder zum Arbeiten nach Deutschland kommen. Vielen droht im Heimatland die Arbeitslosigkeit. So entscheiden sich viele Arbeiter - vor allem aus der TĂźrkei und aus Jugoslawien - fĂźr eine Verlängerung ihres Aufenthaltes und dafĂźr, ihre Familien in Deutschland in die Arme zu schlieĂ&#x;en. In der Zeit von 1955 bis zum Anwerbestopp 1973 kommen 14 Millionen Arbeiter nach Deutschland. 11 Millionen von ihnen kehren in derselben Zeit wieder in ihre Heimat zurĂźck. Drei Millionen bleiben. Aus einem kurzfristigen Aufenthalt wird die Herausforderung, sich in einem fremden Land eine neue Heimat aufzubauen. Aus Gastarbeitern werden die Einwanderer der ersten Generation. FĂźr sie soll Deutschland ein neues Zuhause werden. Genau diese machen in dieser Zeit aus Deutschland fast vĂśllig unbemerkt ein Einwanderungsland, wie es das eigentlich nicht sein mĂśchte. Denn eine aktive Integrationspolitik gibt es bis in die neunziger Jahre in der breiten deutschen Ă–ffentlichkeit quasi nicht. Erst jetzt scheint ein Ruck in Deutschland spĂźrbar. Denn ein Einwanderungsland sieht sich neben nicht zu verleugnenden Herausforderungen vor allem auch vielen Chancen gegenĂźber, die viele Bereiche des täglichen Lebens bereichern kĂśnnen. $QMD +HUEHUV

Š akram / photocase.de

von den Unternehmen zur VerfĂźgung gestellt werden, nicht die nĂśtige Ruhe und (UKROXQJ ÂżQGHQ Von der Ă–ffentlichkeit kaum beachtet oder diskutiert, sondern weitestgehend ignoriert, bildet sich auf diesem Wege ein Subproletariat heraus, das durch das Ăœbernehmen von schweren, unattraktiven Arbeiten den deutschen Arbeitern den Weg in bessere Jobs ebnet. Die Anwerbung von ausländischen Arbeitern ist fĂźr die deutschen UnternehPHQ VR SURÂżWDEHO GDVV VFKRQ LP 6HSWHPber 1964 der einmillionste Gastarbeiter, ein Portugiese, begrĂźĂ&#x;t wird. Als Gastgeschenk gibt es ein Moped. Zu dieser Zeit soll aber auch ganz allmählich fĂźr einige der ausländischen Arbeiter aus ihrem eigentlich als kurzfristig ausgewählten Arbeitsort eine neue Heimat werden: FĂźr die Unternehmen tut sich im Umgang mit den Arbeitern nämlich ein ganz praktisches Problem auf: Die mĂźhsam angelernten Arbeiter verlassen die Unternehmen nach ihrer Frist von ein bis drei Jahren wieder und werden durch neue, ungelernte und unerfahrene Arbeiter ersetzt. Und diesen NeuankĂśmmlingen die Vorgänge wieder zu erklären und beizubringen, ist teuer. Warum also nicht einfach die alten Arbeiter behalten? So beginnt, durch die Unternehmen angeregt, eine Ăśffentliche Diskussion zur Verlängerung der Aufenthalte der Arbeiter. Ein zweiter Faktor, der den Druck auf die Regierung erhĂśht, ist die UNO-Konvention der FamilienzusammenfĂźhrung. So wird die Politik mit den ausländischen Arbeitern schrittweise liberalisiert. Die ersten Familien und AngehĂśrige der auslän-


| StreitkĂźltĂźr

Mediales Ghetto bei Deutsch-TĂźrken? TĂźrkische BevĂślkerung und Medien in Deutschland: Stand und Tendenzen Einseitiger Diskurs: Rechtfertigung tut Not!?

M

einer Ansicht nach sollte im aktuellen Diskurs Ăźber mediale Integration die informative und ästhetische Quantität und Qualität vordergrĂźndig behandelt werden anstelle der Sprache. Die allein erfundene und erzwungene Diskussion Ăźber „Mediale Ghettobildung“ ist eine bloĂ&#x;e fĂźr die ganze Gesellschaft kontraproduktive Ideologie. Es ist zu bemerken, dass nur tĂźrkische Medien, was Integration DQEHODQJW LQ GLH 3Ă€LFKW JHQRPPHQ ZHUden, während deutsche Medien, obwohl sie mehr MĂśglichkeiten sowie Verantwortung hätten, kaum mit der Thematik konfrontiert werden. (LQH *HVHOOVFKDIW RKQH Ă„HLJHQHÂł 0HGLHQ" Die in Deutschland lebenden TĂźrkInnen stellen mit etwa 2.5 Millionen die grĂśĂ&#x;te nichtdeutsche BevĂślkerungsgruppe dar. Die Struktur und Entwicklung dieser BevĂślkerungsgruppe wurde seit Langem aus allerlei Aspekten fortwährend untersucht. Obwohl viele dieser Studien – trotz aller konzeptionellen und empirischen Mängel – bloĂ&#x; BedĂźrfnisse und Ideologien der Mehrheitsgesellschaft widerspiegeln, bieten sie eine solide wissenschaftliche Grundlage. Die relativ wenig erforschten tĂźrkischsprachigen Medien bilden seit den Anfängen der tĂźrkischen Arbeitsimmigration nach Deutschland einen wesentlichen Bestandteil tĂźrkischen Ăœberlebens hierzulande. 'LH 6WUXNWXU XQG GHU :DQGHO GHU W UNLVFKHQ 0HGLHQ LQ 'HXWVFKODQG Die Rolle und Struktur der tĂźrkischen Medien im Leben der tĂźrkischstämmigen Menschen in Deutschland hat sich einem

44 | mikSes | 1|2007

VLJQLÂżNDQWHQ :DQGHO XQWHU]RJHQ $OV HauptgrĂźnde kĂśnnen sowohl Migrationprozesse als auch Ă„nderungen in den Migrations- und Aufnahmegesellschaften genannt werden. Die Ausbreitung einer globalen Kultur und den europäischen Entwicklungen forcierten differenzierte Entwicklungen im politisch-gesellschaftlichen aber auch im medialen Bereich. Während starke Ăźberregionale PrintmeGLHQ DQ $XĂ€DJH XQG (LQĂ€XVV YHUOLHUHQ genieĂ&#x;en lokale Printmedien zunehmende Beliebtheit. Die Verbreitung des Privatfernsehens Ăźber Kabelnetze sowie Satelliten und Internet nimmt an Bedeutung zu. Aufgrund Generationen- und Wertewandels sowie das Schwinden der TĂźrkisch-Kenntnisse der Deutsch-TĂźrken, wenden sich die 2. und 3. Generation allmählich von den tĂźrkischen Medien ab. :HUEHSRWHQ]LDO Bis vor kurzem wurden tĂźrkische Medien nicht wirklich ernst genommen. Doch mit der zunehmenden Bedeutung des „Ethnic Business“ (Ethno-Marketing) und der Wahrnehmung der konsumfreudigen, wahlberechtigten tĂźrkischstämmigen BevĂślkerung hat sich dies einem Wandel unterzogen. (siehe auch S. 18-23) Viele Marketingabteilungen entdecken die deutsch-tĂźrkische Zielgruppen als neues Konsumentensegment. Allmählich ZHUGHQ KLHUI U ]LHOJUXSSHQVSH]LÂżVFKH Studien erstellt. Die Werbung und das Marketingpotenzial der tĂźrkischen Medien in Deutschland und das meinungsELOGHQGHU (LQĂ€XVV PDFKHQ GLH W UNLVFKHQ Medien fĂźr die Akteure der Mehrheitsgesellschaft interessant. Viele renommierte


StreitkĂźltĂźr | VHLWHQV GHXWVFKHU 0HGLHQ ]X ÂżQGHQ VLQG so kann auch von einer zumindest „freiwilligen“ medialen Parallelweltbildung oder „Medialen Gettoisierung“ nicht die Rede sein. Soziologisch mĂźsste um von einer Gefahr der gesellschaftlichen Desintegration Ă„0HGLDOH 3DUDOOHOZHOWÂł .DXP reden zu kĂśnnen, eine wachsende Wis5LVLNHQ DEHU &KDQFHQ" Das Angebot und die Rezeption tĂźr- senslĂźcke gegeben sein. Aber tĂźrkische kischer Medien in Deutschland, die Medien haben, wie zahllose ĂźbereinstimausschlieĂ&#x;lich in tĂźrkischer Sprache mende Untersuchungen belegen, eine ErVWDWWÂżQGHW ZXUGH LQ GHP KHUUVFKHQGHQ gänzungs- und Bereicherungsfunktion zu Ăśffentlichen Diskurs als eine die mediale, deutschsprachigen Medien. gesellschaftliche Isolierung, Segmentierung ja Entfremdung verstärkender :HU JHKW IUHLZLOOLJ LQV *KHWWR" Faktor gewertet. Viele internationale und Auch wenn die Deutsch-TĂźrken nicht mit deutsche Studien widerlegen jedoch die- einer medialen Ghettobildung bezichtigt werden kĂśnnen, sei daran erinnert, dass se BefĂźrchtung. Zumal deutsche Medien fĂźr Deutsch-TĂźr- die Ghettobildung immer ein Zwangken kaum relevante Inhalte liefern. Wenn sphänomen war und ist. Gegenwärtig hat ohnehin kaum Angebot und Nachfrage das Einkommensniveau und die Diskrideutsche Automarken, Lebensmittelketten oder Telekommunikationsunternehmen inserieren heutzutage in tĂźrkischen Medien, was bis vor kurzem nicht einmal in Betracht gezogen wurde.

minierung der TĂźrkInnen auf dem Wohnungsmarkt, diese in Ghettos gedrängt. Die Auswanderung der Deutschen hat die Struktur und das Image der „TĂźrkenVierteln“ verstärkt. Analog kann diese Grundstruktur auf die Medien Ăźbertragen werden. Die Deutsch-TĂźrken werden weder in den deutschen Medien gebĂźhrend repräsentiert noch erhalten die sie betreffenden Inhalte genug Platz. Allein drei Prozent der gewerkschaftlich organisierten JournalistInnen haben eine ausländische StaatsbĂźrgerschaft, während mehr als 15 Millionen Menschen hierzulande einen Migrationhintergrund haben. Selbst wenn die Sprache kein Hindernis darstellen wĂźrde, so suggerieren Schlagworte wie „Schläfer“, „Ehrenmorde“, „Zwangsheirat“, „RĂźckwärtsgewandtheit“, „Kopftuch“ ständige Inakzeptanz

‹ øUIDQ (UJL

Europa-Ausgaben der fĂźhrenden tĂźrkischen Tageszeitungen


| StreitkĂźltĂźr und dienen nicht der IntegrationsfĂśrderung. Trotz Aufklärung und kritischer Geister hapert es leider immer noch, was den rassistischen, sexistischen und militaristischen Sprachgebrauch angeht: „GeW UNWÂł Ă„$V\ODQWHQĂ€XWÂł Ă„6FKZDU]DUEHLWÂł usw. Wenn MigrantInnen im Ganzen und Deutsch-TĂźrken im Besonderen vorwiegend in negativer Berichterstattung thematisiert werden, kann berechtigterweise gefragt werden: „Geschieht denn nichts Positives bei dieser BevĂślkerungsgruppe?“ Der journalistische Grundsatz „Only bad news are good news“ gilt allem Anschein nach bloĂ&#x; fĂźr „AusländerInnen“. Den deutschen Medien fehlen das Interesse, die Sensibilität und Kompetenz zu deutsch-tĂźrkischen Themen. Sie thematisieren Deutsch-TĂźrken statt sie zu Wort kommen zu lassen. TĂźrkische InVWLWXWLRQHQ XQG GHUHQ $NWLYLWlWHQ ÂżQGHQ kaum einen Widerhall in den deutschen Medien, da sie keine aktuelle oder potenzielle Klientel unter tĂźrkischstämmigen Menschen sehen. DiesbezĂźglich ist erst in letzter Zeit eine neue Sichtweise bei einigen Medien zu beobachten, was jedoch lediglich

ein Tropfen auf den heiĂ&#x;en Stein zu sein scheint (Siehe: „Unsere Super-TĂźrken“ und „GrĂźnderboom trotz Bildungsnot“, Stern, 1.2.2007). %DE Ă• $OL +RKH 3IRUWH LQ )UDQNIXUW 0DLQ Sowohl Printmedien als auch elektronische Medien, die anfangs stark TĂźrkei bezogen waren, haben sich im Laufe der Zeit mehr nach Deutschland und Europa orientiert. Viele tĂźrkischen TV-Sender haben vor allem in Deutschland EuropaStudios errichtet und produzieren viele „Contents“ die sich speziell an EuroTĂźrken richten. Die gleiche Entwicklung kann auch im Printbereich beobachtet werden. Ausnahmslos alle tĂźrkischen Zeitungen produzieren so genannte „Europa-Seiten“, die den Interessen und Belangen der hiesigen tĂźrkischen BevĂślkerung Rechnung tragen. Zudem liefern sie auch euro-tĂźrkische und deutsche Themen und Inhalte an ihre Zentralen in der TĂźrkei und bilden damit eine InformationsbrĂźcke zwischen Deutschland und der TĂźrkei. Meiner Meinung nach ist es ein GlĂźcks-

fall der Geschichte, dass die euro-tĂźrkische „Flat Street“ der tĂźrkischen MeGLHQ W UNLVFK DXVJHGU FNW Ă„%DE Ă• $OLÂł (Hohe Pforte) sich um die Stadt Frankfurt am Main gebildet hat. Acht tĂźrkischsprachige Tageszeitungen und mehr als 40 Fernsehstationen, die via Satellit und Kabel zu empfangen sind, decken nahezu alle Zuschauer- und LeserInnen-Segmente ab. Die tĂźrkischen Medien verfĂźgen Dank ihres europaweiten Netzes Ăźber einen vergleichsweise hervorragenden ,QIRUPDWLRQVĂ€XVV GHU PDQFK HLQH GHXWsche Ăźberregionale Zeitung vor Neid erblassen lieĂ&#x;e. Es entwickeln sich nun auch viele Kooperationen zwischen deutsch-tĂźrkischen Medien. Staatliche und institutionelle Einrichtungen haben die tĂźrkischen Medien als eine wirkungsvolle Informationsplattform entdeckt. Was sich an dem intensivierten Politikerbesuch bei tĂźrkischen Medienzentralen vor Bundesoder Landtagswahlen deutlich zeigt. ,QKDOWH XQG )XQNWLRQ W UNLVFKHU 0HGLHQ TĂźrkischen Medien – wie auch andere

Sedat Engin (Chefredakteur der Milliyet), Hayri Dizerkonca (Verantwortlicher Redakteur) und Bundeskanzlerin Angela Merkel (v.l.n.r.) beim %HVXFK GHU 'RĆŁDQ 0HGLHQ =HQWUDOH LQ 0|UIHOGHQ :DOOGRUI ‹ øUIDQ (UJL


StreitkĂźltĂźr | Medien – liefern ihrer Klientel Information, Unterhaltung, Lebensform, Anschauungen und bieten eine Plattform, wo sie ihre Interessen kundtun kĂśnnen. Selbstverständlich werden bei diesen Massenmedien auch Denk- und Verhaltensmuster, Images und Stereotypen reproduziert. Diese sind fĂźr die tĂźrkische BevĂślkerung in Deutschland gleichermaĂ&#x;en eine Bewertungs- und Interpretationsquelle sowie eine meinungsbildende und identitätsstiftende Institution. Sie bieten sich als Sprachrohr der tĂźrkischen Institutionen und gesellschaftlichen Gruppen dar. Aber all dies stellt keine Gefahr fĂźr die Integration und das Zusammenleben dar, sondern dient eher diesen Zwecken. Wie das Berliner Institut fĂźr vergleichende Sozialforschung 2005 belegt, hat die starke Expansion und programmatische Differenzierung des Fernsehens in der TĂźrkei auch die Deutsch-TĂźrken erreicht und stellt keineswegs eine Behinderung der Integration dar. Eine inhaltsanalytische Auswertung der Programme hat ergeben, dass traditionelle Wert- und Moralvorstellungen, Religion sowie Familienstrukturen thematisch keine groĂ&#x;e Rolle spielen. Allerdings wird bemängelt, dass die „Diasporakultur“ nur ein marginales Thema darstellt.

]ZDU PLW GHU 'LYHUVL¿NDWLRQ XQG .RQkurrenz mit anderen Medien etwas an Macht verlieren. Aber dass sie in näherer Zukunft durch deutschsprachige Medien ersetzt werden kÜnnen, erscheint kaum mÜglich.

$XVEOLFN Falls Deutschland an einer medialen Alternative ernsthaft interessiert ist, kann dies statt mit „Good Will“-Erklärungen, nur mit einer staatlich-institutionellen ,QWHUYHQWLRQ MD (LQĂ€XVVQDKPH JHVFKHhen. Ein Paradigmenwechsel statt restriktiver Forderungen oder Oberlehrerei ist unabdingbar geworden. Ein deutsch-tĂźrkisches Fernsehen wie arte wäre zum Beispiel eine kreative Option mit Synergieeffekten. Der von der Bundesbeauftragten fĂźr Integration Prof. Dr. Maria BĂśhmer angefĂźhrte Vorwand „Ein ‚Integration TV’ wĂźrde nicht integrieren, sondern eher separieren“, ist beim besten Willen nicht nachvollziehbar. HierfĂźr ist entscheidend, nicht ‚ob’, sondern ‚wie’ es gemacht wird. England, Frankreich und Holland haben es Deutschland vorgemacht und weisen sehr gute Beispiele vor, was mediale Integration und Partizipation der eingewanderten MitbĂźrgerInnen anbelangt. AuĂ&#x;erdem haben Steuer und RundfunkgebĂźhren zahlende (QWZLFNOXQJHQ Deutsch-TĂźrken auch einen Anspruch Heute handeln tĂźrkische Medien zuneh- auf fĂźr sie relevante Ăśffentliche Medimend im Interesse der hiesigen Klientel, endienstleistungen. Die Angebote der also der Deutsch-TĂźrken. Den Europa- staatlichen Rundfunkanstalten bezĂźglich TĂźrken und deren Interessen und Belan- ausländischer BevĂślkerungsgruppen sind gen wird sowohl gegenĂźber Deutschland ohnehin radikal reduziert. als auch der TĂźrkei Vorrang gegeben. Summa sumarum, die Negation der tĂźrDie Experimente der zweisprachigen kischen Medien kann weder zum Teil beoder deutschsprachigen Medien fĂźr die rechtigte Bedenken aus dem Weg räumen deutsch-tĂźrkische Zielgruppe sind bisher noch irgendein Problem lĂśsen. Diese immer gescheitert (Etap, TĂźrkis, Hayat, Medien kĂśnnen aber durch Kooperation 3HUĂşHPEH 'HXWVFKVSUDFKLJH (LQODJHQ unterstĂźtzt werden, um dem Informader TĂźrkiye, Zaman und HĂźrriyet sind in tions- und Partizipationsbedarf effektiver jeder Hinsicht sehr begrenzt und dienen gerecht zu werden. Die tĂźrkischen Meeigentlich nur dem Entgegenkommen dien sind nicht der Gegenpol der deutdes Wunsches der politischen Obrigkeit schen Medien und deren Inhalten. Die in Deutschland „unbedingt etwas auf tĂźrkischen Medien sind ein Teil der hieDeutsch zu lesen“. Deutschsprachige sigen Medienlandschaft und sollen nicht Europa-Nachrichten der Kanal 7 Int sind als Gefahr, sondern als Bereicherung gehalbherzige und amateurhafte Versuche sehen werden. Sowohl die Arbeits- und solche Nachfragen zu befriedigen. Produktionsweise als auch ihre Funktion Letztlich werden tĂźrkischen Medien sind dieselben wie die der deutschen und

internationalen Medien. Die Medien der Mehrheitsgesellschaft mĂźssen dazu animiert werden, Inhalte zu produzieren, die die in Deutschland lebenden Minderheiten betreffen. In diesem Zusammenhang ist die Ausbildung und FĂśrderung der deutsch-tĂźrkischen bzw. der deutsch-ausländischen Medienmitarbeiter in den deutschen Medien essenziell. Interkulturalität muss nicht nur im schulischen Bereich, sondern auch im medialen Bereich ein Begriff werden. In einer monopolistischen, von der „Leitkultur“ geprägten Medienlandschaft sollte mehr „Mediakratie“ gewagt werden. Diese ist im Sinne aller Mitmenschen hierzulande. øUIDQ (UJL øUIDQ (UJL LVW *DVWDXWRU EHL PLN6HV Der Milliyet-Redakteur ist in Istanbul geboren und hat Sozialwissenschaften studiert. Bevor er zu Milliyet wechselte, hatte er fĂźr eine Reihe von tĂźrkisch-

sprachigen Medien in Deutschland gearbeitet: Sabah, Kanal 7 Fernsehen, Cumhuriyet-Hafta, Platform. Eine zeitlang war er als Vorsitzender der EATA (European Association of Turkish Academics) aktiv. Zurzeit ist er zweiter Vorsitzender der ATGB (Bund der tĂźrkischen JournalistInnen in Europa e.V.).

1|2007 | mikSes | 47


| StreitkĂźltĂźr

Schwerin, Schwerin... wir fahren nach Schwerin! Im September 2006 wurde die NPD mit 7,5 % in den Schweriner Landtag gewählt. Ein Nachtrag.

S

„Wahnsinnige Pfähle eingerammt“ %UDXQH 2 7|QH GHV 6YHQ 3DVW|UV „Rudolf Hess war ein absoluter Idealist. Er ist fĂźr mich vergleichbar nach meiner Auffassung mit Gandhi.“ (Quelle: MDR-fakt vom 22.05.2006)

(Ăźber Adolf Hitler) „Er ist ja ein Phänomen gewesen dieser Mann, militärisch, sozial, Ăśkonomisch – er hat MD ZDKQVLQQLJH 3Ă€|FNH HLQJHUDPPW auf fast allen Gebieten. ... Ich bewerte das jetzt nicht, ich stelle das nur fest.“ (Quelle: in ARD persĂśnlich bestätigtes Zitat)

„Europa der Vaterländer, das nichts anderes sein kann als der Kulturraum weiĂ&#x;er Menschen. Reihen Sie sich ein bei uns und ich verspreche Ihnen, in fĂźnf, zehn oder 15 Jahren machen wir uns wieder frei von diesem Gaunerstaat.“ (Quelle: MDR-exakt vom 25.07.2006)

48 | mikSes | 1|2007

o, da sage noch einer, die Deutschen wären bar jeden Humors. Am 18. September 2006 feiert eine Partei Einzug in den Schweriner Landtag, die sich selbst als eine Art satirischen Gegenentwurf zum demokratischen Parteiensystem ansieht. In keinem Wahlkreis entfallen weniger als fĂźnf Prozent der Stimmen auf die NPD, und nahe der polnischen *UHQ]H NRFKW GLH G|UĂ€LFKH 9RONVVHHOH LQ den zweistelligen Bereich hoch. Klingt komisch, ist aber so. Eine Wahlparty irgendwo in Mecklenburg-Vorpommern. Die Presse lauert. Eine nĂźchterne Frauenstimme verkĂźndet von einer Videoleinwand herab das vorOlXÂżJH (QGHUJHEQLV XQG -XEHO EUDQGHW auf. Man hat es geschafft, man ist wieder wer in deutschen Landen. Das Dorf steht geschlossen hinter einem. Gestandene Männer wischen sich verstohlen ein deutschnationales Tränchen aus dem Augenwinkel. Der Spitzenkandidat Udo PastĂśrs aber verzieht keine Miene. GroĂ&#x;en KomĂśdianten reichen die kleinen Gesten, um aus den Kameraden und den Menschen vor den Bildschirmen ein Lachen herauszukitzeln. Jetzt hält er das kantige Gesicht dem Blitzlicht entgegen, eine Bereicherung fĂźr jede Casting-Agentur +ROO\ZRRGV ZlUH GHU 0DQQ ÂżQGHW LKU mal jemanden, dessen Gesicht auf eine SA-Uniform passt!). Der Herr PastĂśrs wirft sich in Positur, die deutsche Heldenbrust schwillt an, die Augen blitzen, das markige Kinn wird vorgeschoben, und er hebt zu einer kurzen, clownesken Meisterleistung an: „Die Verbrecher in Schwerin“, schnarrt er mit unnachahmlicher Stentorstimme „haben es jetzt zu tun mit einer nationalen Kraft im Landtag. Mit dem nationalen Mann auf der

StraĂ&#x;e!“ Herrlich, und das aus dem Stehgreif! Man sieht fĂśrmlich wie ihm das Wort „vĂślkisch“ genĂźsslich im Mund herumrollt. Das darf er aber nicht sagen, auch nicht an so einem Abend. Tragisch! Trotzdem! Mut zur Lächerlichkeit. Sich selbst nicht so ernst nehmen. Man vermisst das manchmal in einem Land, in dem die Mundwinkel des Staatsoberhauptes fast bis zum Dekolletee reichen. Bullige junge Männer mit sportlichem Kurzhaarschnitt eilen auf den Herrn Spitzenkandidaten zu, um ihn mit einem kräftigen deutschen Händedruck zu beglĂźckwĂźnschen. Wie hat er das nur wieder gemacht? Talent muss man haben! Man stĂśĂ&#x;t an. Prosit, die Herren Herrenmenschen. Einzig das GeschmeiĂ&#x; von der Presse scheint keinen SpaĂ&#x; zu verstehen. Immer diese dummen Fragen. Schon muss man die ersten unsanft vor die TĂźr befĂśrdern. Aha, aha, was heiĂ&#x;t hier Presserecht? Der deutsche Mann hat ein Recht auf Privatsphäre. So ist das! Wer hat denn hier bitteschĂśn „Heil dir im Siegerkranz“ gesungen? „Hoch auf dem gelben Wagen“ war das. Unmusikalisch ist es auch noch, das Pack. Fragt doch glatt einer den Herrn Spitzenkandidaten, er hätte im Wahlkampf gesagt „einen Hitler gibt es nur alle 1000 Jahre“, wie er das denn gemeint habe. Na im Sinne von „Gott sei Dank, QLFKW KlXÂżJHU Âł QDW UOLFK 'XPPH )UDge! Wenn er Ăźberhaupt so etwas gesagt hat, hat er aber natĂźrlich nicht. Genau wie diese Geschichte in einem anderen Bundesland, wo eine Spitzenkraft der NPD eine am Boden liegende Frau ins Gesicht getreten haben soll. Ha, von wegen „Vorsatz“, man hält sich vor Lachen den nationalen Bauch. Bestes Beispiel fĂźr die


Streitkültür | heimischen Herd für die Unterstützung und der Arbeit am nationalen Zuhause danken ... und kommt nicht dazu. Irgendein Kameramann hat sich ein blaues Auge gestoßen. Ja, Herrschaftszeiten, die kann man aber auch zu nix gebrauchen. Es gibt ein Gewühl, die Polizei kommt. Die Jugend, die sich zur Feier des Tages herausgeputzt hat, tritt nervös von einem Fuß auf den anderen. Die Anzugsschuhe kneifen, in Stiefeln ist es doch bequemer. Was denn, was denn? Warum man „SS“ auf dem Oberarm tätowiert hat? Das sind die Kürzel von Muttis Vor- und Nachnamen. So! Der Jugend juckt es in den Fäusten. Im Gehirn juckt’s schon lange nicht mehr, aber da kann man sich ja auch nicht kratzen. Der Herr Spitzenkandidat schüttelt müde das nationale Haupt und bedeutet mit einem nationalen Fingerzeig seinen Schergen ... pardon ... „Parteifreunden“, den Saal zu räumen. Hanswurst zu spielen ist schließlich anstrengend. Sieht einfach aus. Bedeutet aber minutiöse Vorbereitung. Der Spitzenkandidat träumt ein bisschen von der größten Bühne. Berlin! Was man da für Lacher ernten könnte!

Wahre Wellenbrecher des Humors würde er erzeugen, Feuerwerke der guten Laune, dass sie sich biegen vor Lachen. Aber erst mal im Heute bleiben. Vielleicht morgen einen zweiten braunen Anzug kaufen. Die Jungs müssen noch viel lernen. Wie man ein strunzdummes Betongesicht macht. Die meisten bringen gute Ansätze mit, aber wahre Meisterschaft braucht Zeit. „Ach ja...“, der Vorsitzende seufzt. Im Schweriner Landtag aber ziert ein kleines Lächeln die Gesichter der Abgeordneten. Das ärmste Bundesland ist Mecklenburg-Vorpommern, riesige Arbeitslosenquote, alle Kassen leer, starke Abwanderung und ungünstiger Bevölkerungsaufbau (sic!) usw., der Schinder weiß, was sonst noch alles dieses Land plagt. Nicht gerade lustig ist das. Politik ist hier ermüdende, beschwerliche, graue Arbeit, die nicht vorankommen will, so viel man auch tut und für die einem keiner dankt. In dieser Legislaturperiode sieht es so aus, als bekäme man ausnahmsweise mal etwas zu lachen. 0DUNROI 1DXMRNV

Illustration: Jan Krawitz

verfehlte Realpolitik der Regierung ist das! Die Arbeitslosen liegen bereits hungernd auf der Straße. Kann ja keiner was dafür, wenn man denen dann mehrmals unabsichtlich übers Gesicht läuft. Aber was soll’s. Wenigstens die Jugend weiß man auf seiner Seite. Die haben noch Sinn für Satire. Verstehen die leisen Zwischentöne. Die wissen noch, wie man die Sau durchs Dorf jagt (oder sonst jemanden). Überhaupt hat man den Eindruck, dass der Aufstieg der Jugend in der NPD viel schneller möglich ist, als in den richtigen Parteien. Da muss man sich nicht bis 30 in irgendeiner verbummelten Jugendorganisation herumschlagen. Man steht mit den Kameraden auf dem Dorfplatz herum und schlägt irgendjemanden ein wenig zusammen. Dann kommt ein netter, älterer Herr vorbei, tritt auch ein bisschen mit zu und fragt nachher, ob man sich nicht, bei solchen energischen Ambitionen, parteipolitisch engagieren wolle. Zack, ist man dabei. Zurück zur Wahlkampfparty, der Herr Vorsitzende will ein neues geschliffenes Bonmot loswerden, einen Schenkelklopfer erster Güte, er möchte dem Weibe am

1|2007 | mikSes | 49


© Christian Lüpke / photocase.de


Leitkültür |

Der lange Weg des )HULGXQ =DLPR÷OX | 55 Leyla | 56 Türkisch für Anfänger | 57 Städtepartnerschaft Köln-Istanbul | 58 Berg Karabach | 62 Vom Wohnheim zum Modedesign 52

1|2007 | mikSes | 51


| LeitkĂźltĂźr

Der lange Weg des )HULGXQ =DLPRáOX Ein Portrait ßber den deutschen Literaten

F

HULGXQ =DLPRáOX GHU PLW VHLQHQ (OWHUQ QDFK 'HXWVFKODQG NDP ZRKQWH ELV LQ %HUOLQ XQG 0 QFKHQ VHLWGHP OHEW HU LQ .LHO 1DFK HLQLJHQ 6HPHVWHUQ 0HGL]LQ XQG GHU .XQVW DUEHLWHW HU QXQ DOV IUHLHU 6FKULIWVWHOOHU $OV -RXUQDOLVW VFKUHLEW HU (VVD\V XQG /LWHUDWXUNULWLNHQ X D I U 'LH :HOW 'LH =HLW 63(; XQG GHQ 7DJHVVSLHJHO ,Q GHQ -DKUHQ ZDU HU DP 1DWLRQDOWKHDWHU 0DQQKHLP DOV 7KHDWHUGLFKWHU ZlKUHQG GHU 6FKDXVSLHOGLUHNWLRQ %UXQR .OLPHNV DQJHVWHOOW ZDU HU ,QVHOVFKUHLEHU DXI 6\OW LP 6RPPHUVHPHVWHU JLQJ HU HLQHU *DVWSURIHVVXU DQ GHU )UHLHQ 8QLYHUVLWlW %HUOLQ QDFK

=DLPRáOX VFKLOGHUW LQ Ă„/H\ODÂł GLH EHVRQdere Leistung dieser Frauen, die bisher sprachlos geblieben waren, und fĂźhrt sie damit aus dem historischen Dunkel der Einwanderung heraus. Zum ersten Mal wird nicht nur Ăźber diese Frauen gesprochen, sondern sie kommen selber zu Wort und erzählen ihre Geschichte. In mĂźhsamer KleinarEHLW KDW =DLPRáOX denen „Leyla“ nicht weit genug geht, nennt die Geschichte seiner Mutter auf Tonkas=DLPRáOX Ă„(XUR )HPLQLVWLQQHQÂł setten aufgezeichnet. Er hat aber auch gleichzeitig anderen Geschichte seiner Mutter, einer einfachen Frauen der ersten Generation aufmerkFrau aus Anatolien. Diese Geschichte sam zugehĂśrt und dies in seinem Roman kĂśnnte auch die Geschichte vieler ande- verarbeitet. ren Frauen der ersten Generation sein, 'LH EHVRQGHUH /HLVWXQJ =DLPRáOXV LVW die sich aus Anatolien nach Deutschland dass er dabei Missbrauch, bestimmte aufmachten. In einer bilderreichen Spra- Bräuche und Traditionen nicht unter FKH VFKDIIW HV =DLPRáOX GLH VFKZLHULJHQ den Teppich kehrt. Trotzdem fĂźhrten Verhältnisse, in der diese Frauen in der =DLPRáOXV %HWUDFKWXQJVZHLVH XQG 'DUTĂźrkei aufwuchsen, in Worte zu fassen. stellung zu Anfeindungen und Protesten „Heute fällt es schwer die Aufbruchstim- bei Frauenrechtsaktivistinnen, denen mung des groĂ&#x;en goldenen Anfangs zu „Leyla“ nicht weit genug geht. „EuroEHJUHLIHQÂł VDJW =DLPRáOX Ă„DEHU ZHQQ Feministinnen“, nennt er sie. denn den TrĂźmmerfrauen nach dem Er hält das Bestreben dieser „Eiferer“, Krieg zu Recht groĂ&#x;er Respekt gezollt die den Glauben als Ganzes attackieren, wird, ist es auch an der Zeit, diesen groĂ&#x;- fĂźr „lächerlich und vĂśllig vergeblich“. artigen TĂźrkinnen der ersten Stunde den Frauenrechtskämpferinnen wie Necla Platz zuzuweisen, den sie verdienen.“ Kelek hätten „schon immer gegen die 2006 war fĂźr den deutschen Schriftsteller )HULGXQ =DLPRáOX HLQ WXUEXOHQWHV -DKU Mit seinem neuen Roman „Leyla“ sorgte er zunächst fĂźr groĂ&#x;e Ăœberraschung, weil PDQ HLQHQ DQGHUHQ /LWHUDWHQ =DLPRáOX erlebte als er bisher vielen bekannt war. In seinem aktuellen Roman „Leyla“ schlägt ereinen poetischen Ton an und erzählt die

Die,

52 | mikSes | 1|2007


Š Britta Rating

moslemischen bäuerlichen Frauen Allergiereaktionen gezeigt“. Diese „Euro-Feministinnen“ wĂźrden es solchen Frauen wie Leyla einfach Ăźbel nehmen, dass sie nicht zum AufklärungsspieĂ&#x;ertum konvertieren. =DLPRáOX KDW VWHWV EHWRQW GDVV HU HLQ gläubiger Moslem ist, und stellte auch klar, dass es aber auch Fehlentwicklungen gibt, die beim Namen genannt werden mĂźssten. Dies kĂśnne man jedoch nicht dazu instrumentalisieren, um den Islam als Ganzes anzugreifen. „Ich habe mich noch nie bei den heimischen Kreuzrittern aus dem konservativen Lager lieb Kind gemacht. Ich habe das linke Gehabe in den Subkulturen und Milieus der BĂźrgerkinder verabscheut. Mein Glaube ist meine Privatsache, er gehĂśrt nicht hervorgezerrt, aber er ist auch nicht zu verhandeln.“ An die WortfĂźhrer seiner .ULWLNHU JHULFKWHW VDJW =DLPRáOX Ă„'LH Hysterie und die Polemik, mit der heute fremdstämmige deutsche Frauenrechtsaktivistinnen die Ressentiments schĂźren, YHUJLIWHW GDV VR]LDOH .OLPD ,FK ÂżQGH VLH erbärmlich. Sie ducken nach oben und treten nach unten. Es gibt ein schĂśnes Wort dafĂźr: Opportunismus.“ =DLPRáOX LVW HV JHZRKQW PLW $QIHLQdungen und Gegenwind umzugehen. Der in der TĂźrkei geborene und in Deutschland aufgewachsene Schriftsteller sorgte mit seinem DebĂźt „Kanak Sprak“ fĂźr Aufschrei in der Kulturszene. Das Feuilleton reagierte zunächst nur mit negativen KriWLNHQ =DLPRáOX ZXUGH DOV 6DWLULNHU 6Rziologe oder gar als Sozialarbeiter dargestellt, um ihm eine literarische Relevanz abzusprechen. Er sorgte fĂźr Verwirrung, in dem er von Anfang an nicht als TĂźrke auftrat, sondern immer betonte, dass er ein Deutscher mit tĂźrkischen Eltern sei. Die Lesungen bei „Kanak Sprak“, die eben nicht in den Literaturhäusern stattfanden, sondern an „ungewĂśhnlichen“ Orten wie Jugendhäusern, Schulen und Universitäten, glichen regelrecht Saalrevolten. „Ich liebe es immer noch, mich mit Menschen zu streiten, denn so wenig die Verhältnisse da drauĂ&#x;en eine Kuschelveranstaltung sind, so wenig mag ich es auch, dass Distanz zwischen mir und dem Menschen im Publikum herrscht.“

Die heftigsten Anfeindungen kamen dabei von TĂźrkischstämmigen, die =DLPRáOX DOV Ă„LQWHJULHUWH $VVLPLO =RPbis“ bezeichnet. „Denn fĂźr mich war es furchtbar, mit anzusehen, wie Kinder von Arbeiterbauern das kleinbĂźrgerliche Programm nachzeichneten. Mir ging es schon immer auf die Nerven, wie sie sich verzeichnet haben, wie sie sich ver-

krĂźmmt haben, wie sie etwas gelebt haben, das an sich verlogen war, und das sie auch unwahrhaft machte.“ Journalisten und Redakteure, die zu den Lesungen kamen, waren verwundert oder gar erschĂźttert, sodass schnell Zuschreibungen wie „Malcolm X der TĂźrken“ oder „Rudi Dutschke der Deutschländer“ zustande kamen. 1|2007 | mikSes | 53


| LeitkĂźltĂźr

Š Jan Krawitz

Unbeeindruckt davon, dass die Feuille- borg-Bachmann-Wettbewerb“ teil und ge- Idiot.“ tons anfangs versuchten, ihm eine ge- wann dort den Preis der Jury. Spätestens ,Q HLQHP *HVSUlFK HU]lKOW =DLPRáOX wisse literarische Relevanz abzusprechen dann konnte das Feuilleton nicht darum wie sein literarisches Abenteuer seinen RGHU LP =XVDPPHQKDQJ PLW =DLPRáOX herum kommen, die ihm zugeschriebene Anfang nahm: „Eines Nachts saĂ&#x; ich mit das Wort „Migrantenliteratur“ benutzten, AuĂ&#x;enseiterrolle als „Milieu-Literat“ meinen Freunden in einem Keller, und blieb Zaimoglu am Ball und lieferte aufzugeben. Die FAZ schrieb: „Ein Ka- wir rappten uns in eine Art Rausch. Da weitere BĂźcher wie „German Amok“, non der deutschsprachigen Literatur des hat Ali sich in seinem Chefsessel auf„Abschaum“, der auch als gerichtet und einen „Kanak Attak“ 2000 in Wutmonolog rausgedie deutschen Kinos kam, lassen, was uns denn =DLPRáOX HQWZLFNHOWH VLFK ]XP 6SUDFKURKU sowie „Liebesmale scharnoch alles passieren lachrot“. Wie sein Lektor muss, damit wir aus eines Idioms, das man so in der deutschen Olaf Petersenn von Kiediesem Dreck rausLiteratur noch nicht gesehen hatte. penheuer & Witsch sagt, kommen und so. Zu HQWZLFNHOWH VLFK =DLPRáOX Hause hab ich meizum „Sprachrohr eines Idine Schreibmaschine oms, das man so in der deutschen Litera- 21. Jahrhunderts wäre, das ist jetzt klar, hervorgeholt und das reingedroschen. tur noch nicht gesehen hatte“. FĂźr Peter- RKQH =DLPRáOX XQYROOVWlQGLJ Âł Am nächsten Tag noch mal. Im Telefonsenn zeichnet Feridun Zaimoglus Werk 0LW Ă„/H\ODÂł OLHIHUW =DLPRáOX QXQ HLQHQ buch den Rotbuch Verlag gefunden und „ein unmittelbarer Gegenwartsbezug“ wichtigen Beitrag, der fĂźr den Interes- den ganzen Kram dahingeschickt. Ich aus, nah an der gesprochenen Sprache, sierten einen Einblick in eine Welt ver- konnte es nicht glauben, als die sagten, mit viel Witz und Ironie, offen fĂźr alle schafft, die vielen bisher verschlossen sie wĂźrden das drucken.“ blieb. Formen von EindrĂźcken. +HXWH LVW )HULGXQ =DLPRáOX QLFKW QXU HLQ QDKP =DLPRáOX PLW VHLQHU .XU]JH- 1HEHQ GHU /LWHUDWXU JLOW =DLPRáOXV /HL- anerkannter deutscher Schriftsteller, sonschichte „Häute“ aus seinem Buch „12 denschaft der Malerei. Neben seinem dern auch ein gefragter GesprächspartGramm GlĂźck“ am renommierten „Inge- 0HGL]LQVWXGLXP VWXGLHUWH =DLPRáOX DXFK ner, wenn es um aktuelle Debatten geht. Kunst. „Auf der RegelmäĂ&#x;ig weist er in Beiträgen auf einen Seite stand bestimmte Missstände hin, auch wenn er ich am Seziertisch, damit nicht selten negative Reaktionen machte Physikum. auf sich zieht. Er bleibt unbequem fĂźr Andererseits lief ich den Mainstream, auch in Situationen, in in meinem Leder- denen heftige Gegenwehr zu erwarten mantel herum, dazu ist. JĂźngst wurde er von BundesinnenmiHaare bis zum Hin- nister Schäuble zur deutschen Islamkontern, und hielt mich ferenz eingeladen. In einem Interview fĂźr einen KĂźnstler wies er darauf hin, dass zwar einerseits und Anarchisten“, auf der Sitzung Ăźber die muslimische VR =DLPRáOX  EHU Frau diskutiert wurde. Auffällig sei aber seine Zeit als Stu- gewesen, dass ausschlieĂ&#x;lich sogenannte dent. Kurze Zeit Islamkritikerinnen eingeladen wurden. später schmiss er In dem besagten Interview kritisiert er das Studium hin GLH =XVDPPHQVHW]XQJ Ă„,FK ÂżQGH HV ]XP und arbeitete u. Beispiel sehr eigenartig, dass die anwea. als Abwäscher senden Frauen auf der muslimischen in der GroĂ&#x;kĂźche Seite von ihrem Selbstverständnis her und Hilfsarbeiter sich dem säkularen, kritischen Lager zufĂźr Landvermesser. schlagen. Meine Frage war, wieso da keiNebenbei malte er ne gläubige, praktizierende Frau ist, die hunderte Bilder. auch fĂźr sich sprechen wĂźrde, und die „Ich entsprach voll dann auch ihre Position zu diesen sogedem Typus des Ver- nannten islamkritischen Einwänden darsagers, hatte keinen stellen kĂśnnte. Das fand ich sehr schade, Plan. Ich war ein und ich werde auch immer wieder darauf melancholischer bestehen, dass es schon eigenartig ist, 54 | mikSes | 1|2007


LeitkĂźltĂźr |

/H\OD YRQ )HULGXQ =DLPRáOX Nacht. Zeit der Dunkelheit. Zeit der Träume. Leyla kommt aus dem arabischen. Leyla bedeutet Nacht. In der Dunkelheit der Nacht träumt Leyla, auszureiĂ&#x;en aus der pochenden Wirklichkeit der Schläge des Vaters. Träumt von einem Mann, der sie liebt. Träumt von Freiheit. Tonbandaufzeichnungen von Gesprächen mit seiner Mutter GLHQWHQ =DLPRáOX DOV 9RUODJH GHV 5RPDQV Ein anatolisches Dorf in den 50er-Jahren. Eine Welt geprägt von Glaube und Aberglaube. Hier wuchs Leyla auf, in einer Welt wie aus 1001 Nacht. Man lieĂ&#x;e sich gern betĂśren durch den Zauber der Worte. Von Smaragdgottheiten, welche gute 7UlXPH EHVFKHUHQ 9RQ E|VHQ 'VFKLQQV XQG (QJHOVĂ€ JHOQ die das Haar der Mutter streifen. Eine wahrhaft märchenhafte Welt, wäre da nicht der prĂźgelnde Vater, der uns mit jedem Schlag gegen seine Familie zurĂźck in die Realität schmettert. =DLPRáOX YHUVWHKW HV GHP /HVHU VWLOYROO LQ GHQ 0DJHQ ]X schlagen. Das ist seine Kunst. Das ist seine Meisterschaft. Er liefert einen Roman, der die Gegensätze in einer Zeit des Umbruchs konserviert und dadurch seine besondere literarische Qualität und seine Spannung erlangt. So kontrastiert der Umzug aus dem anatolischen Dorf nach Istanbul, etwa nach der Hälfte des Buchs, das Traditionelle mit der Moderne. Hasst man den Vater tagsĂźber, weil er seine angeblich ungehorsame Familie schlägt, so hasst man ihn nachts umso mehr. Ein Heuchler vor dem Herrn, der nun selbst die SĂźnde lebt als schliefe Gott des Nachts. Die Stimmung in dem Roman wechselt mit dem Stand der Sonne. TagsĂźber ist der tyrannische Vater meist auĂ&#x;er Haus. +LHU ÂżQGHW PDQ 3ODW] I U HLQH DQHNGRWHQKDIWH 6FKLOGHUXQJ wichtiger Ereignisse im Leben einer Pubertierenden. Brust-

wachstum, Kosmetik, Jungs. Letzteres meist begleitet von groĂ&#x;er Scham und albernem Gekicher. Je später es wird, desto bedrohlicher wird die Stimmung, ahnt man doch, dass bald wieder der Vater ins Leben tritt. Wenn schlieĂ&#x;lich die Nacht eingekehrt ist, beginnt die Zeit des Abenteuers und der Heimlichkeit. Hier werden Frauen gefreit und geschwängert. Hier wird abgetrieben. Hier werden die Verbrechen begangen, die Leichen verbuddelt. Leyla ist ein amĂźsantes, bedrĂźckendes, interessantes und absolut lesenwertes Buch, geschrieben in einer bildreichen Sprache, die sich lustvoll wiegt wie die HĂźften einer Bauchtänzerin. Ein Blick auf Heimat und Hoffnungen. Ein Blick auf Träume. $QGUHDV )XKULFK

Feridun Zaimoglu /H\OD Kiepenheur & Witsch Verlag KĂśln 2006 ISBN 3-462-03696-3 528 Seiten

dass die beteiligten Frauen eher säkular, deutscher Schriftsteller, der davor nicht Abendlandes an die Wand malten und liberal und islamkritisch sind, was immer zurĂźckscheut, seine Meinung zu poli- eine Ăźberhaupt nicht existierende Integration der Einwanderer undas auch heiĂ&#x;en mag, WHUVWHOOWHQ =DLPRáOX EOHLEW dass aber keine gläubige ein Autor an dem sich die Frau anwesend ist. Das Er bleibt unbequem fĂźr den Mainstream, Geister scheiden, der keine ist ein groĂ&#x;er Mangel. auch in Situationen, in denen heftige Auseinandersetzung scheut Das hat man auch in den Gegenwehr zu erwarten ist. und dem das UnbequemGesprächen gemerkt. Es sein zur zweiten Natur gedarf so nicht bleiben. worden. ist. FĂźr die an QueEs darf nicht sein, dass Frauen, die den Islam als ihren Glauben tischen Themen laut zu formulieren. rulanten und polarisierenden KĂźnstlern und Lebenskern achten, ausgeschlossen Massiv und sendungsbewusst wehrte er arme Literaturszene Deutschlands bleibt werden.“ sich 2006 auch gegen die Stimmen, die =DLPRáOX ZDKUVFKHLQOtFK QRFK ODQJH HLQ Es war ein langer Weg, bis auch der letzte nach dem Karikaturen-Streit und den rauer und stĂźrmischer GlĂźcksfall. LP /DQGH HLQJHVHKHQ KDW GDVV =DLPRáOX Vorfällen an der RĂźtli-Schule in apokakein „Migrantenliterat“ ist, sondern ein lyptischen Farben den Untergang des Eren GĂźvercin 1|2007 | mikSes | 55




| LeitkĂźltĂźr

Berg-Karabach Ăœbersehener Krieg und vergessenes Leid: Das Drama des aserischen Volkes it seiner berĂźhmten Novelle Hadschi Murat thematisierte der russische Schriftsteller Lew N. Tolstoj einst die kriege-rischen Auseinandersetzungen des russischen Zarenreiches im Kaukasus. Dieser Klassiker des russischen Realismus war zugleich eine gnadenlose Anklage gegen Krieg und Gewalt. Als Anfang der 1990er Jahre der BĂźrgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien ausbrach und die Ă–ffentlichkeit durch immer neue Meldungen Ăźber die Grausamkeit sowie das Leid auf dem Balkan erfuhr, war die Aufmerksamkeit der meisten Beobachter und Medien nicht auf einen in VergessenKHLW JHUDWHQHQ .RQĂ€LNW LP 7UDQVNDXNDVXV gerichtet. Ende der 1980er Jahre wurde die mehrheitlich von Armeniern bevĂślkerte Gebirgsregion im SĂźdwesten Aserbaidschans zum Schauplatz gewaltsamer Auseinandersetzungen zwischen der armenischen und aserischen Volksgruppe. Der lokal auf Karabach beschränkte

von militärischen Niederlagen der desorganisierten aserischen Streitkräfte. Es kam zur Besatzung von ca. 20 Prozent des sĂźdwestlichen Territoriums Aserbaidschans durch armenische Einheiten und zu einer der grĂśĂ&#x;ten FlĂźchtlingswellen seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Etwa 900.000 Aseris mussten nach den ethnischen Säuberungen ihre Heimat verlassen und fanden eine karge Unterkunft in provisorisch eingerichteten Notlagern. Massaker, wie das in der aserischen OrtVFKDIW +RFDOĂ• EHL GHP LQ GHU 1DFKW YRP 25. auf den 26. Februar 1992 Ăźber 600 aserische Zivilisten durch armenische Milizionäre ermordet wurden, traumatisierten die FlĂźchtlinge bis in die heutige Zeit hinein. Die annähernd 350.000 armenischen Vertriebenen aus Aserbaidschan hingegen erhielten als FlĂźchtlinge, die eine international anerkannte Staatsgrenze Ăźberquerten, ein Recht auf internationales Asyl. Ein bedeutender Teil der armeni-schen FlĂźchtlinge wurde zudem von der Jerewaner FĂźhrung in dem von Aseris entvĂślkerten Die Aufmerksamkeit der meisten Umland Karabachs Beobachter und Medien war nicht angesiedelt. Eine auf einen in Vergessenheit geratenen LĂśsung des KonĂ€LNWV LVW QDFK  EHU .RQĂ€LNW LP 7UDQVNDXNDVXV JHULFKWHW zehn Jahren immer noch nicht in Sicht. Sie wird auch aufinterkommunale Streit erfasste in kĂźr- grund der Wahl des Nationalisten Robert zester Zeit die nach Unabhängigkeit Kotscharjan – der selbst aus Karabach strebenden Republiken Armenien sowie stammt – zum armenischen Präsidenten Aserbaidschan. Die politische ZugehĂś- zusätzlich erschwert. rigkeit Karabachs avancierte zum Haupt- *HPHLQKLQ ZLUG GHU .RQĂ€LNW XP %HUJ streitpunkt zwischen den Regierungen Karabach als ein Problem der untergein Jerewan und Baku. Die militärische gangen Sowjetunion angesehen sowie als Parteinahme Moskaus zu Gunsten der ein Beispiel fĂźr den Gegensatz zwischen armenischen Sezessionisten und die an- dem Selbstbestimmungsrecht der VĂślhaltenden innenpolitischen Wirren in ker und der territorialen Integrität eines Aserbaidschan fĂźhrten zu einer Reihe Staates herangezogen. Diese Sichtweise

M

58 | mikSes | 1|2007


LeitkĂźltĂźr | greift allerdings zu kurz. Hinzu kommt, lungen auf und bietet einen detaillierten GLH GDPLW HLQKHUJHKHQGHQ .RQĂ€LNWH XP GDVV GHU .DUDEDFK .RQĂ€LNW LP :HVWHQ Einblick in die Thematik. Neben einem die zukĂźnftigen Grenzen zwischen Arkaum zur Kenntnis genommen wird. historischen Ăœberblick Ăźber die Region menien und Aserbaidschan (1918-1921) Doch die Auseinandersetzung um diese werden Kontroversen Ăźber die Herkunft beleuchtet. Ein zeithistorischer Sprung Region datiert bis erfolgt mit dem erneuten weit in das frĂźhe 19. $XVEUXFK GHV .RQĂ€LNWV Jahrhundert zurĂźck ab 1988 sowie mit einer Das Massaker, bei dem in der Nacht vom 25. und muss in engem Zusammenfassung des auf den 26. Februar 1992 Ăźber 600 aserische Zusammenhang mit Krieges von 1992-1994. den ExpansionsInsgesamt betrachtet, Zivilisten durch armenische Milizionäre bestrebungen des handelt es sich um ein ermordet wurden, traumatisiert die zaristischen RussSachbuch mit einer klaren FlĂźchtlinge bis in die heutige Zeit hinein. land betrachtet werStruktur, einer fundierten den. Darstellung Ăźber die konEnde 2006 erschien Ă€LNWUHLFKH XQG GXUFK *Hein deutschsprachiges Buch, welches der Armenier und Aseris sowie der Streit walt geprägte Historie dieser Region, GLH *HQHVH GHV .DUDEDFK .RQĂ€LNWV DXI um das antike Volk der Albanier behan- wobei das abgebildete Kartenmaterial knapp 200 Seiten zusammenfasst. Der delt. Ein weiterer Abschnitt handelt von einen zusätzlichen Ăœberblick Ăźber das $XWRU )HUKDW $YĂşDU ]HLJW LQ VHLQHP (UVW- der Expansion des Russischen Reiches sĂźdkaukasische Krisengebiet bietet. lingswerk „Schwarzer Garten im Land im Transkaukasus des 19. Jahrhunderts. des ewigen Feuers. Entstehungsge- DarĂźber hinaus werden vor dem Hinter8PXW 8]XQHU schichte und Genese des Karabach-Kon- grund der bolschewistischen Revolution Ă€LNWVÂł GLH +LQWHUJU QGH XQG (QWZLFN- die Anfänge der Staatenbildungen und

Informationen zum Verlag: Der Manzara Verlag wurde 2006 von den beiden PolitikwissenVFKDIWOHUQ XQG -XQJXQWHUQHKPHUQ )HUKDW $YĂşDU XQG .HPDO %|OJH gegrĂźndet und entstand aus der Idee heraus, Menschen tĂźrkischer Herkunft sowie angehenden Akade-mikern und Autoren die MĂśglichkeit zu geben, ihre Abschlussarbeiten in Buchform zu publizieren. Nach Angaben des Verlags liegt der Schwerpunkt der Arbeit in der VerĂśffentlichung von wissenschaftlichen Werken. ZZZ PDQ]DUD YHUODJ GH

$YĂşDU )HUKDW 6FKZDU]HU *DUWHQ LP /DQG GHV HZLJHQ )HXHUV (QWVWHKXQJVJHVFKLFKWH XQG *HQHVH GHV .DUDEDFK .RQĂ€LNW Manzara Verlag Darmstadt 2006 204 Seiten.

1|2007 | mikSes | 57



Wie alt bist du? _________

:LH ¿QGHVW GX GDV /D\RXW GHV JHVDPWHQ +HIWHV" super gut geht so überhaupt nicht gut

Bist du Welche zwei Beiträge gefallen dir am besten? weiblich oder

männlich?

1 ___________________________________ 2 ___________________________________

Wie ist dein Familienstand?

Welche zwei Beiträge haben dir am wenigsten gefallen?

Single mit Partner mit eigener Familie allein erziehend im Elternhaus

1 ___________________________________ 2 ___________________________________

Welche Ausbildung hast du? Wie bist du auf diese Ausgabe von mikSes aufmerksam geworden? ______________________________________________________ Mit welcher Zeitschrift würdest du mikSes am ehesten vergleichen?

ohne Ausbildung Hauptschule mit Ausbildung weiterführende Schule ohne Abi Abitur Studium

______________________________________________________ Was bist du zurzeit? Wieviele Personen außer dir haben noch diese Ausgabe geslesen? Schüler Student in Berufsausbildung Angestellter Selbstständiger Rentner Sontiges

______________________________________________________ Welche Zeitschriften liest du normalerweise? ______________________________________________________

Möchtest du uns noch etwas sagen?

Welche Themen sind dir besonders wichtig? Musik

sehr wichtig

wichtig

weniger wichtig

unwichtig

_________________________

Kino

sehr wichtig

wichtig

weniger wichtig

unwichtig

_________________________

Literatur

sehr wichtig

wichtig

weniger wichtig

unwichtig

_________________________

Theater

sehr wichtig

wichtig

weniger wichtig

unwichtig

_________________________

Lifestyle

sehr wichtig

wichtig

weniger wichtig

unwichtig

_________________________

Mode

sehr wichtig

wichtig

weniger wichtig

unwichtig

_________________________

Design

sehr wichtig

wichtig

weniger wichtig

unwichtig

_________________________

Politik

sehr wichtig

wichtig

weniger wichtig

unwichtig

_________________________

Interkulturelles

sehr wichtig

wichtig

weniger wichtig

unwichtig

_________________________

Wirtschaft

sehr wichtig

wichtig

weniger wichtig

unwichtig

Name: _________________________

Sport

sehr wichtig

wichtig

weniger wichtig

unwichtig

Persönlichkeiten

sehr wichtig

wichtig

weniger wichtig

unwichtig

Adresse: _________________________


| LeitkĂźltĂźr

Aus dem Ăśden Studentenwohnheim in ein erfolgreiches Istanbuler Modeunternehmen

Z

H\QHS (]JLPHQ JHERUHQ DP 0lU] LQ :XSSHUWDO 6FKXODXVELOGXQJ LQ :XSSHUWDO DEJHVFKORVVHQ QDFK GHP $ELWXU LQ %LHOHIHOG DQ GHU )DFKKRFKVFKXOH IÂ U *HVWDOWXQJ 0RGHGHVLJQ LQ DFKW 6HPHVWHUQ VWXGLHUW $OV IULVFK JHEDFNHQH $NDGHPLNHULQ LVW VLH GLUHNW LQ GLH +HLPDW LKUHU (OWHUQ JHJDQJHQ Âą QDFK ,VWDQEXO ZR VLH VHLW 1RYHPEHU DUEHLWHW 6HLW 0DL LVW VLH EHL GHU /LQLH : GHV 8QWHUQHKPHQV 9DNNR DOV 'HVLJQDVVLVWHQWLQ DQJHVWHOOW

mikSes: Wie sind Sie zur Mode gekommen?

dung, sondern mit dem Menschen an sich zu tun hat.

=H\QHS (]JLPHQ Tja, wie bin ich zur Mode gekommen? Ich muss ehrlich sagen, dass ich zwar immer einen Hang zur Kunst hatte, zum Zeichnen und Gestalten usw., aber zur Mode hat mich mein damaliger Kunstlehrer auf dem Gymnasium gebracht. Er hat u. a. ganz aufwendige Projekte gemacht, und in diesem Zusammenhang hatten wir auch ein KostĂźmprojekt. Man kann eigentlich sagen, dass er mich da entdeckt hat und mich dann auf diesem Wege ein bisschen in diese Richtung geschoben hat. Ich bin ihm auch sehr dankbar dafĂźr.

mikSes: Kann denn ein Mensch Stil erlernen?

mikSes: Wie bewerten Sie die heutige Mode? =H\QHS (]JLPHQ Die heutige Mode ist sehr vielfältig – mhmm, wie kann man sie bewerten? Man kann sie eigentlich nicht richtig bewerten. Also ich persĂśnlich bewerte sie nicht! Es ist so viel an Modegeschichte passiert, und jeder einzelne Mensch ist so individuell, sich das, was ihm am besten gefällt, herauszupicken und sich dementsprechend zu kleiden. mikSes: Was macht fĂźr Sie Kleidung sexy? =H\QHS (]JLPHQ Der Mensch an sich! $OVR .OHLGXQJ VH[\ LFK ÂżQGH das gibt es nicht. Klar denkt man an das „kleine Schwarze“ oder an Dessous oder so, wenn es um sexy Kleidung geht, aber ich denke, dass sexy nichts mit der Klei62 | mikSes | 1|2007

=H\QHS (]JLPHQ (Leicht zĂśgerlich) Nein! Ganz konkret nein! (lacht) Warum QLFKW" :HLO LFK ÂżQGH GDVV HLQ 0HQVFK nach bestimmten Angaben gehen kann, wobei auch Stil – wie bei sexy – auch wieder etwas mit dem Menschen zu tun hat und nicht wirklich mit der Kleidung. Wenn ein Mensch einfache Sachen gut tragen kann, das kann ein Anzug sein, das kann aber auch ein ganz salopper Jogginganzug sein, kann das alles sehr stilvoll sein, aber es hängt wirklich vom Menschen ab, der sie trägt. mikSes: Kann man demnach auch nicht lernen, sexy zu sein? =H\QHS (]JLPHQ Also eigentlich nicht. Man muss lernen, selbstbewusster zu sein, weil selbstbewusste Menschen Stil haben und auch sexy sind. Klar, wenn man lernt, sich selbst zu mĂśgen, SpaĂ&#x; hat, sich einzukleiden und so, dann kann man das natĂźrlich auch lernen. Es ist aber eher eine Charaktersache und hat eigentlich gar nicht wirklich mit der Kleidung zu tun. mikSes: Trägt Kleidung dazu bei, sexy zu sein? Wenn ja, inwiefern? =H\QHS (]JLPHQ Klar, wenn ein Mensch an sich schon sexy ist, dann kann Kleidung dies unterstreichen. Wenn man sehr


selbstbewusst ist und man weiß, wo die eigenen positiven Seiten sind, kann man das mit Kleidung unterstreichen. Sprich: Eine Frau steht total zu ihrem Dekolletee, dann unterstreicht sie das mit einem Push-up oder mit einem tiefen Ausschnitt, oder sie hat andere Reize und kann diese mit bestimmten Kleidungsstücken noch stärker betonen. mikSes: Warum haben Sie sich die Türkei als Sprungbrett für die Karriere ausgesucht? =H\QHS (]JLPHQ Ich muss ehrlich sagen, die Türkei als Karrierestart habe ich mir ausgesucht, weil ich erstens raus aus Deutschland wollte. Ich wollte eine Großstadt erleben, ich bin nach Istanbul gegangen, und nach Bielefeld war Istanbul für mich ein Traum. Ich denke jede Türkin in Deutschland hat schon so ein bisschen das Bedürfnis, mal ins Heimatland zu gehen, das man nur aus dem Urlaub , aber eben nicht wirklich kennt. Um es ein bisschen zu erforschen, wollte ich gerne „back to the roots“. Außerdem war mir die Türkei als Karrierestart auch wichtig, weil sie nun mal ein Textilland ist, viel stärker als Deutschland. Hier in Deutschland sind die Karrierechancen für jemanden, der gerade sein Diplom in der Tasche hat, ziemlich schwach – außer man hat wirklich sehr, sehr gute Connections oder einfach sehr, sehr viel Glück. Da ist es für jemanden wie mich, die zweisprachig aufgewachsen ist, ein Vorteil, in der Türkei zu starten. mikSes: Erzählen Sie uns ein bisschen von der Firma, bei der Sie zurzeit arbeiten. =H\QHS (]JLPHQ Ich arbeite für – ja man kann eigentlich fast sagen – für eine der besten Firmen in der Türkei. Die Firma nennt sich Vakko und macht Herren- sowie Damenmode, außerdem auch Dekorationen und Eventgestaltung. Es ist ein sehr großer und seit Jahren tätiger Familienbetrieb, der sich sehr hoch etabliert hat. Also für die, die Vakko nicht kennen: ungefähr gleichgestellt wie Hugo Boss in Deutschland. D. h. also ein

bisschen Society, ein bisschen edel, ein bisschen teuer, leider auch ein wenig verkrampft. ,FK ¿QGH HV DEHU trotzdem gut für mich. Ich denke für jeden, der in der Industrie arbeitet, wie z. B. für mich jetzt, ist ein sehr guter Name wichtig, auch einfach für den Lebenslauf. Für den Karrierestart ist es auf jeden Fall gut. mikSes: Was ist die Philosophie des Modeunternehmens Vakko? =H\QHS (]JLmen: Vakko hat als Hutmacher angefangen und hat sich etabliert. Es gibt, wie bereits erwähnt, Damenund Herrenkollektionen, Dekorationsartikel und einen Bereich für Eventgestaltung. Dadurch, dass die Qualität einfach sehr gut ist, ist der Anspruch der Kundschaft auch sehr hoch, denn sie stammen aus höheren Schichten. Und wie es bei jedem Unternehmen sein sollte, so ist es auch bei Vakko die Philosophie, seine Kundschaft zufrieden zu stellen, diese vor allem nicht zu verlieren und immer wieder mit Neuem anzulocken. mikSes: Worin unterscheidet sich die Philosophie von Vakko von anderen türkischen Unternehmen? =H\QHS (]JLPHQ Ich muss eigentlich ganz ehrlich sagen, dass sie sich gar nicht so stark von anderen unterscheidet, weil ziemlich viele Nachreiter uns jetzt dicht auf den Fersen sind . Klar ist es von jeder

Firma das Ziel, groß herauszukommen und vor allem so lange wie möglich oben zu bleiben und seine Kundschaft nicht zu verlieren. Vakko ist ein Familienbetrieb, und dementsprechend halten alle zusammen. Sie sind vor allem aber auch sehr vielfältig. Sie sind für vieles offen. Vakko sponsert eine Menge Veranstaltungen, sie besitzen Radio- und Fernsehsender, da wird vieles zusammengebracht. Da kommt so schnell natürlich keiner heran an uns. mikSes: Ist daher auch der Erfolg von Vakko entstanden? =H\QHS (]JLPHQ Ich denke schon, ja! mikSes: Hat eventuell der jüdische HinWHUJUXQG GHU )LUPD (LQÀXVV DXI GHQ (Ufolg genommen? 1|2007 | mikSes | 63


| LeitkĂźltĂźr =H\QHS (]JLPHQ Ich muss ehrlich zugeben, dass ich in diesem Interview gar nicht auf diesen jĂźdischen Hintergrund eingehen wollte (lachend), ich habe es sogar extra ein wenig verschwiegen. Aber QXQ JXW (V KDW HLQHQ JHZLVVHQ (LQĂ€XVV ja. JĂźdische Unternehmen halten sehr stark zusammen, und das merkt man vor allem in der TĂźrkei. Mhmm, vielleicht ist es doch ganz gut, dass diese Frage gestellt worden ist, einfach vielleicht auch als Beispiel fĂźr tĂźrkische Unternehmen. Die jĂźdischen Unternehmen und Geschäfte in der TĂźrkei halten einfach viel mehr zusammen, selbst wenn es KonNXUUHQ]ÂżUPHQ VLQG 'LH 7 UNHQ DQ VLFK halten eigentlich nicht zusammen dort. Da ist ein ständiger Konkurrenzkampf zwischen den TĂźrken, und die Juden im Vergleich dazu sind halt nun einmal nicht so. Wenn es z. B. einen jĂźdischen Stoffmacher gibt, gehen wir hin und bestellen den benĂśtigten Stoff bei ihm, ob die

mikSes: Gibt es vergleichbare Marken bzw. Modeunternehmen in der TĂźrkei? =H\QHS (]JLPHQ Es gibt einige, die so langsam kommen. Wenn ich Namen nennen darf, Beymen, Network und Sarar sind groĂ&#x;e Konkurrenten fĂźr uns und auch Abbate im Bereich Hemden. Das sind die Firmen, die uns dicht auf den Fersen sind. Sollte man bei Vakko nicht mehr arbeiten, wĂźrden sich diese Namen als nächste Anlaufstelle anbieten. mikSes: Aber trotzdem haben es diese Firmen nicht auf das Niveau von Vakko geschafft. Worin kĂśnnten Ihrer Meinung nach die GrĂźnde dafĂźr liegen? =H\QHS (]JLPHQ Ich schätze, ein Grund dafĂźr kĂśnnte sein, dass Vakko einfach älter ist. Es gibt sie schon sehr, sehr lange. Die haben sich in der Zeit sehr gut entwickelt und haben sich nicht bloĂ&#x; auf die

einem bestimmten Schema? =H\QHS (]JLPHQ Ich arbeite nach einem Schema, das muss man betonen, weil in der TĂźrkei gibt es keine Schemen. (lachend) In der TĂźrkei herrscht das Chaos. Man muss sich schon eine Reihenfolge machen. Ich sag mal so: Ich arbeite diszipliniert und versuche dies auch in Istanbul bei der Arbeit durchzusetzen. mikSes: Entwerfen Sie denn lieber Männermode als Damenoberbekleidung? =H\QHS (]JLPHQ Ich mache beides gerne, zur Zeit arbeite ich fĂźr W, eine Herrenlinie, und das mache ich unheimlich gerne, wobei ich auch denke, dass ich in nächster Zeit vielleicht auch mal wieder zur DOB wechseln mĂźsste, einfach, um das GefĂźhl fĂźr das andere nicht zu verlieren. mikSes: Wie sieht es mit Ihrer Kreativität aus. Entdecken Sie Ihre Kreativität jeden Tag aufs Neue? =H\QHS (]JLPHQ In der Industrie ist das ein bisschen schwierig, muss ich dazu sagen, weil eigentlich die Kreativität – eher gesagt, das was designt werden soll – einem z. T. von der Firma vorgegeben wird. Weil die Zielgruppe ja schon feststeht, kann man da nicht viel herumexperimentieren. NatĂźrlich versuche ich, mich immer wieder inspirieren zu lassen, indem ich viel rausgehe, und Istanbul ist nun einmal eine Weltmetropole. Ich versuche, mir auf den StraĂ&#x;en immer wieder etwas Neues herauszupicken. Aber wie gesagt, wenn man fĂźr die Industrie in einer bestimmten Firma arbeitet, ist das ein wenig schwierig. mikSes: Lassen Sie sich am ehesten von den Menschen auf den Istanbuler StraĂ&#x;en inspirieren?

Designer das wollen oder nicht. Da wird nicht diskutiert. Das ist eines der besten Beispiele fĂźr diese gegenseitige UnterstĂźtzung und den Zusammenhalt. Also, lautet meine Antwort ja. 64 | mikSes | 1|2007

Mode beschränkt. Es gibt sogar VakkoSchokolade. mikSes: Kommen wir zu Ihrer persÜnlichen Arbeitsweise. Arbeiten Sie nach

=H\QHS (]JLPHQ Ich schaue als Erstes in die nähere Umgebung, wobei ich mich nicht nur auf die Menschen hinsichtlich ihrer Kleidung beschränke. Ich muss sagen, dass mich auch MĂśbel, die Natur – das klingt jetzt vielleicht ein bisschen


Leitkßltßr | weit hergeholt – aber auch die Natur oder auch Musik kann mich inspirieren. Das sind vielleicht Dinge, mit denen viele nichts anfangen kÜnnen, aber es ist doch realistisch. mikSes: Sehen Sie sich selbst als Trendscout?

ZDU 8QG VFK|QH 0RGH GDUI KlXÂżJHU ZLHderholt werden. Da gibt es ja in Farben und Designs genug Spielraum. mikSes: Ist Ihr Job bei Vakko ein wahr gewordener Traum?

=H\QHS (]JLPHQ Mhmm, halbwegs. Ich muss ehrlich zugeben, während meines =H\QHS (]JLPHQ Nein, absolut nicht! Studiums hatte ich mich bei Vakko beworben und wurde abgelehnt, was ich mikSes: Warum nicht? heute als Vorteil fĂźr mich sehe. Als ich später in Istanbul ein Praktikum in einer =H\QHS (]JLPHQ Ein Trendscout ist ein anderen Firma machte, musste ich immer eigenständiger Beruf. Ein Designer ist an dem Gebäude von Vakko vorbei. Eines etwas anderes als ein Trendscout. Trend- Morgens habe ich mir beim Vorbeigehen VFRXWV VLQG QXQ PDO GDUDXI Âż[LHUW DXI die Frage gestellt „(seufz) ob ich tatsächdie StraĂ&#x;e zu gehen in den Weltmetro- lich irgendwann einmal hier arbeiten polen, die es Ăźberhaupt gibt, also sprich: werde?! Werde ich hier irgendwann einLondon, Paris, New York. Sie mĂźssen mal als Designerin tätig sein kĂśnnen“? gucken, wonach gehen die Menschen, Weil einfach Vakko ein groĂ&#x;er Name in wonach kleiden sie sich, was gibt’s fĂźr dieser Branche in der TĂźrkei ist, und in Trends, was wird kommen. Sie mĂźssen der Hinsicht hat es wirklich geklappt. Ich WUDJEDUH 0RGH DXVÂżQGLJ PDFKHQ 8QG bin auch wirklich stolz darauf, dass ich als solches sehe ich mich eben nicht. Ich das dann doch dort mit einer Bewerbung denke nicht, dass ich ein Trendscout bin. geschafft habe. In der Hinsicht ist es fĂźr ,FK ELQ YRU DOOHP DEHU DXFK QLFKW VR Âż- mich natĂźrlich schon ein wahr geworxiert auf Trends. dener Traum, aber es ist jetzt nicht die ErfĂźllung meiner Träume. mikSes: :HOFKH 7UHQGV IDQGHQ E]Z ÂżQden Sie fehl am Platz? mikSes: Was ist denn die ErfĂźllung Ihrer Träume? =H\QHS (]JLPHQ Die achtziger Jahre, ÂżQGH LFK KlWWH PDQ NRPSOHWW VWUHLFKHQ =H\QHS (]JLPHQ Ja, natĂźrlich irgendkĂśnnen. (Den Kopf schĂźttelnd) Also, wie schon, dass man sein eigenes Ding Schulterpolster fĂźr Frauen fand ich und startet und seinen eigenen Namen auf ÂżQGH LFK LPPHU QRFK XQP|JOLFK JHQDXVR den Markt bringt. Die Selbstständigkeit wie die Vokuhila-Frisur. ist sicherlich der Traum von jedem Designer. Dass man eine eigene Kollektion mikSes: Was halten Sie von den stän- auf die Beine stellt, die sich dann auch digen Wiederholungen in der Mode in- gut verkauft. Also ich wĂźrde schon ganz nerhalb der letzten Jahrzehnte? gerne berĂźhmt werden, ich sage es ganz ehrlich (lacht). =H\QHS (]JLPHQ Finde ich verständlich und vollkommen nachvollziehbar, mikSes: Haben Sie denn schon Ideen fĂźr weil nun mal auch sehr viel ausgeschĂśpft ein eigenes Label? LVW ,FK ÂżQGH DX‰HUGHP PLW GLHVHQ +LJK Tech-EntwĂźrfen sollte man es nicht Ăźber- =H\QHS (]JLPHQ (ZĂśgernd) Ja, aber WUHLEHQ 'D ÂżQGH LFK VFKRQ GLH 0RGH GHU ich weiĂ&#x; jetzt nicht, ob ich das jetzt hier dreiĂ&#x;iger, vierziger Jahre angenehmer, kundtun sollte, weil nachher wird es geGLH VROOWH PDQ DXFK ZLUNOLFK KlXÂżJHU klaut, und klauen tun nämlich viele in aufgreifen. Ich denke, es ist vollkommen unserer Branche. LQ 2UGQXQJ ZHQQ PDQ VLH KlXÂżJHU QHX interpretiert, weil es auch schĂśne Mode mikSes: Haben Sie bestimmte Vorbilder?

Wenn ja, welche? =H\QHS (]JLPHQ Ich muss sagen, nein. Ich habe keine Designervorbilder. NaW UOLFK ÂżQGH LFK HLQLJH 'HVLJQHU EHPHUkenswert. Tom Ford oder Stella McCartney, diese Menschen machen ganz tolle Mode. Ich gucke mir das sehr gern an, aber ich kann nicht sagen, dass ich hinter irgendjemandem hereifere und dabei sage „das ist auch mein Stil, das mache ich auch auf diese Art und Weise“. Ich denke auĂ&#x;erdem, als Designer sollte man wirklich nicht zu viele Vorbilder haben. Also gerade in diesem kreativen Bereich sind Vorbilder zwar nicht fehl am Platz, aber jeder Einzelne sollte fĂźr sich sein 'LQJ ÂżQGHQ $OVR HV LVW ZLFKWLJ GDVV man wirklich seinen eigenen Stil und im *UXQGH JHQRPPHQ VLFK VHOEVW ÂżQGHW mikSes: Zu guter Letzt: Was wĂźrden Sie einer/m frisch gebackenen Designer/in mit auf den Weg geben? =H\QHS (]JLPHQ Erst einmal muss man stark an sich glauben. Man darf den Glauben an sich selbst niemals verlieren. Zweitens darf man auch niemals die Geduld verlieren. Das ist ganz wichtig. Und drittens ist es wichtig, dass ein frisch gebackener Designer sich darauf einstellt, dass man sich in der Industrie nicht mehr so frei bewegen, so frei arbeiten kann wie noch in der Uni. Man sollte mindestens fĂźnf Jahre in der Textilindustrie gearbeitet haben und sich dann erst selbstständig machen. Man sollte nicht mit dem Traum von der Uni gehen, sich gleich selbstständig machen zu wollen, weil man meint, man sei der groĂ&#x;e Designer. 0DQFKH VFKDIIHQ GDV VLFKHUOLFK GDV ÂżQGH LFK DXFK VXSHU $EHU LFK ÂżQGH PDQ PXVV ein bisschen das Kommerzielle und die Industrie und dieses ganze, ich nenne es mal „Falsche-Gesicht-Business“ kennen lernen, um fĂźr die Modebranche gut genug und gewappnet zu sein. mikSes: Frau Ezgimen, vielen Dank fĂźr das Gespräch. Das Interview fĂźhrte (OYLQ 7 UN.

1|2007 | mikSes | 65


Š Daniel Dash / iStockphoto


Lebenskültür |

„Ali mit leichtem Dressing“ | 71 Out of the Miks | 72 Die schwarze Eminenz | 76 Sie spricht Musik - Meryem Natalie Akdenizli | 82 Istanbul, Istanbul... | 84 Der Heimatfernsehmacher | 85 Kolumne von Erkan $UÕNDQ 68

1|2007 | mikSes | 67


| Lebenskültür

„Ali mit leichtem Dressing“ Die Autorin von „Einmal Hans mit scharfer Soße“ Hatice Akyün über Vorurteile, über das Finden ihres ganz persönlichen Hans und über die Ideen für ihr nächstes Buch.

© Goldmann Verlag

68 | mikSes | 1|2007


Lebenskßltßr | mikSes: Mit Ihrem Debßt-Roman wollten Sie die Welt darßber informieren, dass nicht jede Tßrkin Kopftuch trägt, zwangsverheiratet wird und kein Deutsch spricht. Haben Sie etwas daran ändern kÜnnen?

Mann gesucht, der deutsche Zuverlässigkeit und tßrkische Leidenschaft in sich vereint. Auf die Idee, nach einem tßrkischen Mann zu schauen, der so ist wie ich, bin ich gar nicht gekommen. Wahrscheinlich dachte ich, dass es mich in männlicher Ausgabe gar nicht gibt. Mein Freund ist tßrkischer Abstammung, manchmal sehr tßrkisch, in manchen Situationen aber deutscher als viele meiner deutschen Freunde. Eine sehr schÜne MiVFKXQJ ¿QGH LFK

Herkunft Ăźberhaupt keine Rolle spielte. Sehen Sie, ich habe Sie dabei ertappt, wie Sie eines Ihrer Vorurteile sehr leichtfertig preisgegeben haben. Meine Eltern wussten schon vorher, dass ich ein anderes Leben fĂźhre, als ihre anderen drei TĂśchter. Aber nicht, weil ich ihrer Meinung nach das schwarze Schaf bin, sondern einfach noch nicht verheiratet war.

+DWLFH $N\ Q Nach Ăźber 200 Lesungen, Podiumsdiskussionen und Interviews in Deutschland und anderen europäischen Ländern, hoffe ich sehr, dass ich das einmikSes: Meine rothaarige deutsch-engseitig geprägte Bild der tĂźrkischen Frau lische Freundin hat letztens jemandem in in Deutschland ein wenig korrigieren einer Bar erzählt, wir wären Geschwister, konnte. Es wäre schon ein groĂ&#x;er Er- mikSes: Was hat sich seit Ihrer Bucher- Halb-TĂźrkinnen. PlĂśtzlich waren wir der folg, wenn nur zehn Prozent der ZuhĂśrer scheinung im letzten Jahr fĂźr Sie verän- Interessensmittelpunkt. Ist „ausländisch“ nach Hause gehen, Ăźber ihre Vorurteile dert? im Trend? nachdenken und die tĂźrkische Frau ein wenig differenzierter betrachten wĂźrden. +DWLFH $N\ Q Zunächst einmal hat sich +DWLFH $N\ Q Anderen Ursprungs zu Unterschiede zwischen Deutschen und privat sehr viel fĂźr mich verändert, weil sein war schon immer faszinierend fĂźr TĂźrken werden mitunter Ăśffentlichkeits- ich im Februar eine Tochter bekommen die Mehrheitsgesellschaft. Aber das ist wirksam und schonungslos diskutiert, werde. Es ist schon faszinierend, wie meiner Meinung nach normal. Jemand, zum Beispiel das Tragen des Kopftuchs, schnell sich das Leben eines Menschen der zwei Kulturen in sich vereint, zwei die Zwangsehe oder die Sprachen spricht, exogesellschaftliche Domitisch aussieht und wonanz der Männer. Diese mĂśglich einen Lebenslauf „Meinen Sie, dass eine tĂźrkischstämmige Diskussionen mĂźssen mit Ecken und Kanten Frau keinen Sex vor der Ehe haben darf? in Zukunft konstruktiv hat, kann immer mehr erund vorurteilsfrei gefĂźhrt zählen. Schauen Sie sich Dass sie keinen Alkohol trinken oder ein werden. Manche Diskusmein Leben an: Als Deutsionen richten aus meische mit tĂźrkischer Herselbstbestimmtes Leben fĂźhren darf?“ ner Sicht viel Schaden kunft, bin ich in der Lage, an, es werden noch mehr all die Sitten und Unsitten Vorurteile aufgebaut, und meiner tĂźrkischen und das Zusammenleben von Deutschen und ändern kann – positiv wie auch negativ. deutschen Landsleute zu beobachten und TĂźrken wird dadurch erschwert. Zu mei- Als Journalistin konnte ich leider nur sie mit scharfer Zunge zu kommentieren. nen Lesungen kommen viele tĂźrkische sehr wenig arbeiten, weil ich seit Erschei- In meinem Buch geht es ja genau um diFrauen, die sagen: „Danke, dass du das nen meines Buches auf Lesereise bin. Ich ese Alltags-Situationen. Mal nehme ich mal so aufgeschrieben und keine Lei- habe viel vom wahren Deutschland gese- die faden und leicht verdrĂźckten Liebesdensliteratur verfasst hast.“ Was mich bei hen und erkannt, dass Deutschland nicht erklärungen deutscher Männer aufs Korn den Deutschen am meisten Ăźberrascht Berlin oder KĂśln ist. oder aber die Grillorgien tĂźrkischer Famihat, ist, dass Dinge, die fĂźr mich das lien im Berliner Tiergarten. So kann ich Selbstverständlichste Ăźberhaupt sind, fĂźr mikSes: Hatten Sie Angst davor, dass mal die deutsche, mal die die tĂźrkische viele Leute so neu sind. Zum Beispiel, Ihre Familie durch dieses Buch mitbe- Beobachterin sein, und es entsteht ein dass Zwangsheirat nicht tĂźrkisch ist. kommt bzw. realisiert, was fĂźr ein freizĂź- frĂśhlich-spĂśttischer Bilderbogen. Jeder giges Leben Sie eigentlich fĂźhren? wird diesen Geschichten gerne zuhĂśren. mikSes: Haben Sie ihren Hans gefunden? +DWLFH $N\ Q Ich habe eine Gegen- mikSes: Haben Sie das GefĂźhl, dass frage: Was meinen Sie mit freizĂźgig? Sie sich Ăśfter rechtfertigen mĂźssen fĂźr +DWLFH $N\ Q Ich kann es selbst kaum Meinen Sie, dass eine tĂźrkischstämmige das, was Sie sind oder tun, als deutsche glauben, aber ich habe ihn nach langem Frau keinen Sex vor der Ehe haben darf? Frauen, die so wie Sie im Mittelpunkt der Suchen tatsächlich gefunden. Nur ist er Dass sie keinen Alkohol trinken oder ein Medien stehen? kein Hans mit scharfer SoĂ&#x;e, sondern selbstbestimmtes Leben fĂźhren darf? Ich ein Ali mit leichtem Dressing. Mein Le- habe viele Jahre das Leben einer GroĂ&#x;- +DWLFH $N\ Q Ja, leider. Der Migratiben lang habe ich nach einem deutschen stadt-Single-Frau gelebt, wobei meine onshintergrund – Ăźbrigens ein schreck1|2007 | mikSes | 69


| LebenskĂźltĂźr liches Wort – klebt schon sehr stark an einer Frau, die aus einer traditionell-tĂźrkischen Familie stammt. Es liegt auch daran, dass negative Beispiele deutschtĂźrkischer Familien in der Ă–ffentlichkeit präsenter sind. Ich muss ständig gegen

Vorurteile und Stigmatisierungen kämpfen, immer wieder betonen, dass ich keine Ausnahme bin, kein Einzelfall, sondern dass es viele tĂźrkischstämmige Frauen in Deutschland gibt, die ein ähnliches Leben wie ich leben. Differenzierungen scheinen längst aufgegeben. Es gibt tausende tĂźrkischer Familien, deren Integration funktioniert hat, und die längst als Deutsche in diesem Land leben. Genau das wollte ich Ăźbrigens am Beispiel meiner Familie, die repräsentativ ist fĂźr viele Gastarbeiterfamilien, deutlich machen. Ich verstehe mein Buch als Liebeserklärung an die TĂźrken und die Deutschen – denn mein Leben ist sowohl tĂźrkisch als auch deutsch. mikSes: Wären Sie gerne manchmal jemand anderes?

Š Goldmann Verlag

+DWLFH $N\ Q Nein, weil ich ein wunderbares Leben gelebt habe und immer noch lebe. Meine Familie stammt aus dem kleinen anatoOLVFKHQ 'RUI $NSĂ•QDU .|\ in der Nähe von KĂźtahya. Sie lebte bis 1969 von der Landwirtschaft, und mein Leben war vorgezeichnet. Wenn mein Vater nicht als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen wäre, um seiner Familie ein besseres Leben zu ermĂśglichen, lebte ich mit grĂśĂ&#x;ter Wahrscheinlichkeit heute immer noch in diesem Dorf. Ich sehe die Generation meines Vaters als Pioniere an, die weit mehr geleistet haben, als die nachfolgenden Generationen. Wir hatten und haben jederzeit die Wahl, aber sie mussten in die Einsamkeit gehen und Geld verdienen, sonst wären sie arm geblieben. Ich bin seit 1972 in Deutschland, und mein Leben ist 70 | mikSes | 1|2007

seither ein Geschenk. mikSes: Was sagen Sie zu diesen Begriffen... KlingeltĂśne runterladen? +DWLFH $N\ Q Bisher habe ich es nur ein einziges Mal versucht, weil ich einen Mann, an dem ich sehr interessiert war, Ăźberraschen wollte. Ich bin kläglich an der Melodie von Raumschiff Enterprise gescheitert. Und der Mann hat sich auch nie wieder gemeldet. Desperate Housewives? +DWLFH $N\ Q Eine schlechte Kopie von „Sex and the City“. Schnee? +DWLFH $N\ Q Das Knirschen unter meinen Laufschuhen, wenn ich durch den Berliner Tiergarten jogge. mikSes: Sie haben erwähnt, dass Sie an einem neuen Buch schreiben. Wird es eine Fortsetzung von Ihrem ersten Buch sein? +DWLFH $N\ Q Nein, eine Fortsetzung wird es nicht geben, obwohl ich wieder eine Menge zu erzählen hätte. Allein schon die Szene, wie meine Eltern die Eltern meines Freundes kennen gelernt haben, ist ein ganzes Kapitel wert. Mein zweites Buch wird wieder vom deutschtĂźrkischen Leben handeln, jedoch reifer sein, melancholischer, aber ganz bestimmt mit viel Humor geschrieben sein. Ich kann gar nicht anders, dafĂźr bietet das deutsch-tĂźrkische Leben einfach viel zu schĂśne Missverständnisse. Das Interview fĂźhrte Ebru Çoban.



| LebenskĂźltĂźr

Die schwarze Eminenz MevlĂźt Akkaya kam in Istanbul und Deutschland zum Schauspiel und Film. Heute ist er erfolgreicher Filmregisseur in den USA.

E

s gibt Menschen, die von der Masse kaum wahrgenommen werden, obwohl sie dieser Richtung geben. „Graue Eminenzen“ QHQQW PDQ VROFKH HLQĂ€XVVUHLFKHQ 3HUsonen, die im Hintergrund die Fäden ziehen‌ MevlĂźt Akkaya dĂźrfte eine solche „Graue Eminenz“ sein. Nimmt man die Bezeichnung wĂśrtlich, sollten wir ihn eher „Schwarze Eminenz“ nennen, denn MevlĂźt Akkaya trägt stets einen schwarzen Anzug. Akkaya kommt viel herum. Mal ist er auf Filmfestivals in Hong Kong oder Brasilien, mal produziert er einen Film in der TĂźrkei, besucht Verwandte in Deutschland oder legt sich im Big Apple zum Schlaf. Er gilt als der Guru des tĂźrkischen Independent Kinos. Zuletzt produzierte er den äuĂ&#x;erst erfolgreichen Indiestreifen Ă„<D]Ă• 7XUD .RSI RGHU =DKOÂł YRQ 8áXU YĂźcel, der auf zahlreichen nationalen und internationalen Filmfestivals Preise einheimste. Seinen Durchbruch erlangte er 2004 als Produzent der ColaTurka :HUEHÂżOPH PLW &KHY\ &KDVH GHQ HU Ă„2QXQFX <Ă•O 0DUúÕ³  EHUVHW]W Ă„0DUVFK des zehnten Jahres“, 1933 zu Ehren der zehnten GrĂźndungstages der Republik TĂźrkei komponiert) nahezu akzentfrei

singen lieĂ&#x;! In der Szene ist Akkaya bekannt und geschätzt. In dieser Rolle fĂźhlt er sich sichtlich wohl. Akkaya studierte in Deutschland, lebte hier sieben Jahre lang als Theaterregisseur und Drehbuchautor, doch 1999 entschied er sich nach New York zu ziehen. Dort ist er Leiter des tĂźrkischen Filmfestivals „Moon and Stars Project“, dessen Ziel es ist, nicht nur die sich wandelnde tĂźrkische Kinoszene in den Vereinigten Staaten vorzustellen, sondern die gesamte Kunstszene der TĂźrkei. In den vergangenen sieben Jahren brachte er sage und schreibe Ăźber 300 tĂźrkische Filme in Amerikas Kinos, unter ihnen Feinschmecker wie Nuri Bilge Ceylans Cannes3UHLVWUlJHU Ă„8]DNÂł XQG )DWLK $NĂ•QV Ă„*Hgen die Wand“. So liegt die Frage nicht fern, was denn wäre, wenn MavlĂźt Akkaya in Deutschland geblieben wäre. Wie hätten wir hierzulande dann das tĂźrkische Kino kennen gelernt? Seit 2003 widmet VLFK $NND\D QXQ VHLQHU 3URGXNWLRQVÂżUPD „Maya Entertainment“ mit besonderem Augenmerk auf das unabhängige Kino – somit haben wir weiterhin unbemerkt viel von MevlĂźt Akkaya.

mikSes: Herr Akkaya, Sie haben bisher in drei Ländern gelebt, in der Tßrkei, in Deutschland und in den USA. Wie sieht dieser Weg eines theater- und kinobegeisterten Menschen aus Anatolien ßber Deutschland nach Amerika aus?

0HYO W $NND\D Als ich in der TĂźrkei lebte, hatte ich nicht vor, in die USA zu ziehen. Eigentlich wusste oder spĂźrte ich bereits als Kind, dass ich eines Tages woanders hin gehen wĂźrde. Ich fĂźhlte mich damals eingeengt, und trug stets den Wunsch in mir, fremde Welten zu entdecken. Damals erfĂźllte ich mir diesen Wunsch, indem ich jedes Buch las, das mir in die Hände kam. Im ersten Jahr auf dem Gymnasium kaufte ich mit meinem ersparten Geld Weltklassiker. Ich sagte mir, eines Tages werde ich Mark Twain und Eugene O’Neal auf Englisch, Goethe

0HYOÂ W $NND\D Unsicherheiten, Erfolg, Hoffnung - Hoffnungslosigkeit, Dunkelheit - Helligkeit, ein langer und aufregender Weg voller Freude und Leid. mikSes: Hatten zu Ihrer Istanbuler Zeit bereits geplant in die USA zu gehen? 72 | mikSes | 1|2007


LebenskĂźltĂźr | und Hesse auf Deutsch und Trotzki und Dostojewski auf Russisch lesen. Englisch und Deutsch sind geschafft, jetzt ist Russisch an der Reihe! mikSes: Sie haben sieben Jahre in Deutschland gelebt. Ende der 80er Jahre studierten Sie in Dortmund. Haben Sie heute noch eine Beziehung zu Deutschland? 0HYO W $NND\D Heute habe ich kaum Beziehungen zu Deutschland. Leider ist der Kontakt zu vielen guten Freunden verloren gegangen. Meine Schwester lebt dort, und ab und zu komme ich zu Filmfestivals nach Deutschland. Ich verfolge das deutsche Kino. mikSes: Damals war die Zahl der tĂźrkischen Studenten an deutschen Universitäten viel geringer als heute. Wie war es, in Deutschland als Student aus der TĂźrkei zu studieren? 0HYO W $NND\D Einen Vergleich mit heute zu ziehen ist sehr schwer, weil ich nicht weiĂ&#x;, wie die Lage der Unis momentan in Deutschland ist. Als ich nach Deutschland kam, bestand ein grĂśĂ&#x;erer Zusammenhalt, doch zum Schluss hin entstanden Gruppierungen. In Deutschland war es fĂźr mich schwer ein tĂźrkischer Student bzw. ausländischer Student zu sein. Ăœberhaupt war es fĂźr ausländische Studenten nicht leicht. Es herrschte ein ständiger Leistungsdruck und das GefĂźhl, alles tun zu mĂźssen, um akzeptiert zu werden. Dies fĂźhrt natĂźrlich dazu, dass man sich selbst entfremdet. Aber das betrifft womĂśglich nicht nur die Studenten, sondern die meisten Ausländer in Deutschland. Ich denke aber, dass sich dies mittlerweile geändert haben sollte. mikSes: Haben Sie mit der in diesen Jahren in Deutschland grassierenden Ausländerfeindlichkeit Erfahrungen machen mĂźssen? 0HYO W $NND\D Es dĂźrfte kaum einen Ausländer geben, der diesbezĂźglich noch nie etwas erlebt. Dabei meine ich keineswegs physische Angriffe. Manchmal

spiegeln sich sogar in Komplimenten, 0HYO W $NND\D Deutsch habe ich an vielleicht keine offene Anfeindung, wohl der Uni in Dortmund gelernt‌ oder aber Vorurteile und indirekte Diskrimi- versucht zu lernen. Deutsch ist eine sehr nierung wieder. Sätze wie „Du siehst gar schwierige Sprache; vor allem, fĂźr jene, nicht tĂźrkisch aus“ oder „Du sprichst aber gut Deutsch“ sind Beispiele dafĂźr. Ich denke, dass die Ausländerfeindlichkeit in Deutschland zuerst ein Problem der Deutschen ist. Es ist viel wichtiger, dass die Deutschen selbst dagegen ankämpfen, mehr noch als die Ausländer. Eine meiner witzigsten, aber gleichzeitig gefährlichsten Initiativen gegen Ausländerfeindlichkeit war, als ich einen ganz simplen Satz umstellte. Damals liefen ausländerfreundliche Organisationen auf Demonstrationen Seite an Seite mit Ausländern und trugen Transparente mit der Aufschrift „Ausländer MevlĂźt Akkaya beim Dreh in den StraĂ&#x;en von New York sind auch Menschen“. Ich war damals im AStA und ich fand die Aussage falsch. die noch keine andere Fremdsprache Ich versuchte zu verdeutlichen, dass wir sprechen. Ständig versucht man gewisse akzeptieren wĂźrden Menschen zweiter Dinge logisch nachzuvollziehen. StänKlasse zu sein, wĂźrden wir unter die- dig vergleicht man die Sätze mit dem sem Schriftzug mitdemonstrieren. Das TĂźrkischen. Und das macht alles noch alles habe ich damals kaum jemanden komplizierter. Ein weiterer Punkt, in verständlich machen kĂśnnen, noch heute Deutschland spricht man kaum Deutsch. verstehen es viele meiner Freunde nicht. Denn dein Umfeld besteht Ăźberwiegend Das ist so, als wĂźrden diese Quasi-Intel- aus Ausländern. Hinzu kommt, dass man lektuellen auf einer feministischen De- nicht gerne deutsch spricht, weil man monstration den Schriftzug „Frauen sind fĂźrchtet, etwas falsch zu sagen. Man auch Menschen“ hochhalten. Dann habe schämt sich. Dabei gibt es nichts natĂźrich eines Tages auf ein weiĂ&#x;es T-Shirt licheres, als beim Erlernen einer Sprache, mit einem jeweils schwarzen, roten und etwas falsch zu sagen. Einen Kontakt zu goldenen Stift „Deutsche sind auch Men- den Deutschen herzustellen, erwies sich schen“ geschrieben, und trug es eine Zeit als schwierig und wenn ein Kontakt herlang. Ich habe noch weitere interessante JHVWHOOW ZDU EOLHE HU REHUĂ€lFKOLFK 'DV Dinge erlebt, die ich irgendwann mal ir- hatte natĂźrlich auch mit uns etwas zu tun. gendwo verwerten will. Ich wĂźrde sagen, Auch wir haben unsere Vorurteile gegenheute macht das ALI G so. Ăźber den Deutschen. Das gilt eigentlich alles fĂźr die älteren Menschen. Kinder mikSes: Wie haben Sie Deutsch gelernt? haben mit solchen Problemen nicht zu 1|2007 | mikSes | 73


aus meiner Zeit in Deutschland, aber ich hätte nicht vermutet, dass es im Duden aufgelistet sein würde. In meinem Film wird die Bedeutung dieses Wortes erschlossen. Die Hauptperson des Filmes ist Helmut, ein naiver deutscher Junge, der den Drang hat, sich ständig beweisen zu müssen und sich dabei als Skinhead versucht. Ich würde nicht sagen, dass das eine Art Abrechnung ist, sondern viel mehr ein anderer Blickwinkel.

kämpfen. Kinder knüpfen viel schneller Kontakte, und das fördert natürlich auch das erlernen der Sprache. mikSes: Wie fanden Sie die türkische Gesellschaft in Deutschland damals, und welche Entwicklungen können Sie in einem Vergleich mit der Gegenwart feststellen? 0HYO W $NND\D Die Ausländer lebten damals sehr abgekapselt. Die jetzige Generation hat viel mehr Selbstvertrauen und ist ein Teil der Gesellschaft. mikSes: Ihre Wurzeln liegen im Theater. Sie haben in Deutschland und den USA als Regisseur, Autor und Schauspiellehrer gearbeitet. Dann kam der Bruch mit dem Theater und Sie wechselten ins Kinogeschäft. 0HYO W $NND\D Ich interessiere mich seit der Grundschule für das Theater. Ich wollte eigentlich nach dem Abitur auf eine Theaterakademie gehen, doch es dürfte bekannt sein, wie unsere Familien über eine solche Wahl denken. Stattdessen habe ich BWL studiert, doch ich war immer irgendwie mit dem Theater verbunden. Ich habe Schauspielunterricht in Duisburg gegeben, aber das war eher eine Gruppenarbeit. Wir hatten eine Laiengruppe Namens AFIR, mit der wir zahlreiche Stücke inszenierten. Ich brachte ihnen etwas bei und sie mir. Doch das größte Problem im Laienthea74 | mikSes | 1|2007

ter ist, dass die Schauspielerei nun mal als Hobby ausgeübt wird. Dabei hatten wir zahlreiche talentierte Schauspieler, die auch eine professionelle Karriere hätten einschlagen können. Ich vermisse diese schöne Zeit. Ich ging erstmals 1992 in die USA und blieb drei Monate in New York. In dieser Zeit habe ich am Broadway ein Stück vorgetragen und New York lieben gelernt. Ich zog dann Ende 1993 endgültig nach New York. Zunächst studierte ich am Hunter College, um dann am Brooklyn College Kino zu studieren. In New York sah ich für mich keine Zukunft im Theater. Und ich wollte schon immer Kino machen. Also habe ich diesen Schritt gewagt.

mikSes: 2000 haben Sie in New York die „Digital Film Academy” gegründet, die von der „Villane Voices” zu New Yorks bester Filmschule gewählt wurde. Außerdem organisieren Sie seit Jahren das türkische Filmfestival „Moon and Stars Project“ sowie das brasilianische Filmfestival „NY Brazilian Film Festival“. Wie würden Sie als „Kinoakademiker“ das amerikanische, deutsche und türkische Kino im Vergleich charakterisieren?

0HYO W $NND\D Ich habe die Digital Film Academy Ende 2005 an meinen Partner übergeben. Ich habe damals diese Schule gegründet, um irgendwie Geld zu verdienen, dass ich ins Kino investieren kann. Doch dann kam es dazu, dass ich acht Tage die Woche 25 Stunden für die Schule aufbringen musste. Und das führte dazu, dass ich vom praktischen Kinoschaffen abkam und mehr und mehr zu einem Akademiker und GeschäftsmikSes: KDEHQ 6LH GHQ .XU]¿OP mann wurde. Ich wollte wieder aktiv „Kanake” gedreht, der von einem jun- Kino machen, deswegen habe ich mich gen Skinhead handelt, der sich im Kölner gegen die Schule entschieden. Die größKarneval als Türke verkleidet. Ist dieser te Eigenschaft des US-amerikanischen Film eine Art Abrechnung mit dem, was Kinos ist, dass es ein großer WirtschaftsSie in Deutschland erlebten? sektor ist. Am meisten wird darüber gesprochen, wie groß das Budget ist, und 0HYO W $NND\D Die Entstehungsphase wann welche Einnahmen gemacht wervon „Kanake” wurde von einer Geschich- den. Das deutsche Kino steckt leider imWH DXV HLQHP 0DOFROP ; %XFK EHHLQÀXVVW mer noch in einer großen Unsicherheit. Ich glaube, dass diese Szene auch in Spike Das türkische Kino entwickelt sich. Das Lee’s Film vorkommt. Malcolm X suchte wachsende Interesse an türkischen Filim Wörterbuch nach der Bedeutung der men wirkt sich positiv auf die sich entWörter „weiß“ und „schwarz“. Während wickelnde Kinoindustrie aus. Sowohl das alle Beschreibungen von „weiß“ positiv Kommerz- als auch das Independentkino waren, repräsentierte „schwarz“ eher entwickeln sich. Negatives. Dann wollte ich wissen, was im Wörterbuch über das Wort „Kanake“ mikSes: Junge, türkischstämmige Restand. Natürlich kannte ich dieses Wort gisseure und Schauspieler nehmen zu-



| Lebensk端lt端r

76 | mikSes | 1|2007


Lebenskültür |

Sie spricht Musik Die junge Pianistin Meryem Natalie Akdenizli spielt seit ihrem vierten Lebensjahr Klavier und erhielt mit 13 ihre erste Auszeichnung beim nationalen Wettbewerb „Jugend musiziert“. Die 1980 in Stuttgart geborene Pianistin bekommt zurzeit Unterricht in der Meisterklasse von Prof. Matti Raekallio an der Hochschule für Musik und Theater in Hannover. mikSes: Auf welcher Bühne würden Sie gerne spielen? 0 1 $NGHQL]OL Darüber habe ich gar nicht nachgedacht… In der Berliner Philharmonie… Carnegie Hall in New York, das ist eines der schönsten Konzertsäle auf der Welt! mikSes: Sind sie vor Auftritten noch nervös? 0 1 $NGHQL]OL Ja, immer. Ich versuche jedes Mal besser zu werden. Kann man vor seinem eigenen Urteil bestehen?! Man spielt die ganze Zeit in den eigenen vier Wänden, dann will man es mit der ganzen Welt teilen und auch was dafür zurückbekommen. mikSes: Applaus? 0 1 $NGHQL]OL Nein. Man bekommt schon während des Spiels etwas zurück. Etwas ganz Starkes. Das habe ich gemerkt, als ich einmal nichts zurückbekam… Wir Musiker spüren das Publikum so stark, wenn wir auf der Bühne stehen. Spiele ich eine leise Stelle oder eine besondere Stelle, die nicht erwartet wird, hält das Publikum den Atem an. Das oder Ähnliches gibt dir etwas. Es ist wie in einem Gespräch: hört dir dein Gegenüber zu oder ist ihm alles egal. Natürlich auch der Applaus. Am schönsten ist es, wenn ich spiele, man merkt, das Publikum ist ergriffen ist, es leidet mit mir oder es ist einfach dabei. mikSes: Was bedeutet Ihnen Musik?

0 1 $NGHQL]OL Musik ist für mich ein Lebensgefühl Man hat sie immer in sich. Man darf Musik auf keinen Fall als einen Beruf verstehen! Sie ist etwas, was man von Geburt an in sich hat und sie hört erst dann auf, wenn man stirbt. Ich trage die Musik immer mit mir. Wenn ich auf der Straße rumlaufe oder irgendwo bin. Einfach allgegenwärtig! Sie ist auch eine Art von Sprache, die fähig ist alle Gefühle auszudrücken, die ich nicht in Worte fassen kann. Wenn ich zum Beispiel ein Konzert gebe, dann versuche ich dem Publikum meine Gefühle zu senden. Das Publikum soll genau das empfangen, was die Musik in dem Moment aussagt. Ich versuche die Zuhörer mit meiner Sprache in eine andere Welt zu führen. mikSes: Sie haben sehr früh mit dem Klavierspiel angefangen. Das Elternhaus hat Sie bestimmt geprägt. Könnten Sie sich vorstellen heute etwas anderes zu machen? 0 1 $NGHQL]OL Also, für meine Mutter war es immer sehr wichtig, dass ihre Kinder sehr früh mit der musikalischen oder sportlichen Bildung beginnen. Sie hat meinen älteren Bruder und mich ganz früh auf eine Musikschule für Kinder geschickt. Da kamen wir das erste Mal mit allen Instrumenten in Berührung. Ich hatte mich schon sehr früh entschieden. Mit vier wusste ich, dass ich Klavier spielen will. Das war ganz klar für mich. Aber, dass ich mal Pianistin werde, daran hatte ich nicht gedacht. Irgendetwas hatte ich im Hinterkopf. So etwas wie, dass ich nicht einfach nur so Klavier spielen wollte, sondern so richtig! Ich wollte es 1|2007 | mikSes | 77


| LebenskĂźltĂźr richtig kĂśnnen. Ich wollte nicht nur FĂźr Elise spielen kĂśnnen. Ich wollte alles kĂśnnen. Meine Eltern dachten erst, das sei nur ein Hirngespinst. Ich habe auch gern gesungen und eine klassische Gesangsausbildung. Aber ich wusste immer, dass das Klavier mein Ding ist. Das Klavier ist wie alle Instrumente in einem. mikSes: Dann haben Sie ein Klavier bekommen und angefangen zu spielen. 0 1 $NGHQL]OL Ja. Ich hatte wahnsinniges GlĂźck, weil ich damals einen ganz jungen Lehrer hatte. Er war gerade fertig mit dem Studium und unheimlich gut. Er gehĂśrte zu den besten Lehrern, die es an den Musikschulen in Deutschland gab. Ich war eine seiner ersten SchĂźlerinnen. Zweimal in der Woche hatte ich Unterricht bei ihm und er hatte sofort erkannt, dass ich eine Begabung habe. mikSes: Wie erkennt man eine Begabung?

0 1 $NGHQL]OL Meine Mutter sagt LPPHU GDVV HV LKU VRIRUW DXI¿HO DOV LFK gerade mal elf Monate alt war. Ich hätte damals schon gesungen und geklatscht. Ich kann mich erinnern, dass ich schon im Kindergarten auf der Bßhne stehen wollte. Man merkt es sofort, wenn Kinder musikalisch begabt sind. Sie haben einen Drang dazu zu singen, Musik zu machen, auf der Bßhne zu stehen. mikSes: Sie sind diesem Drang nachgegangen, aber gab es auch ein Vorbild? 0 1 $NGHQL]OL Nein. Das wusste ich alles gar nicht. So viel Berßhrung mit Klassischer Musik hatte ich nicht, dass mich zum damaligen Zeitpunkt irgendein berßhmter Pianist hätte faszinieren kÜnnen. mikSes: Welche Art von Auftritten gefallen Ihnen mehr? Treten Sie lieber alleine auf?

0 1 $NGHQL]OL Also am liebsten sind mir die Auftritte als Solist mit Orchester. Es ist wunderschĂśn mit so vielen Musikern zu interagieren, man ist nicht ganz alleine. Dabei entsteht eine Art MassenglĂźcksgefĂźhl. So ähnlich wie im FuĂ&#x;ballstadion, wenn die Menschenmenge zusammen ein Lied singt. Wenn alle zusammen das Gleiche machen, entsteht ein unbeschreibliches HochgefĂźhl. Aber trotzdem ist man ja man selbst und seine eigene Stimme. Man ist nicht nur ein kleiner Teil vom Ganzen. Das ist eines der besten GefĂźhle. Es ist ganz wichtig als Musiker die Vielfalt zu erleben. Man kann nicht sagen, „ich gebe von nun an nur noch Solokonzerte“, weil das ganz einfach zu einseitig wäre. Es ist auch ganz wichtig mit anderen Musikern zusammen zu spielen. Das gibt dir nämlich wieder Impulse fĂźr deine Solokonzerte. mikSes: Impulse sind natĂźrlich sehr wichtig fĂźr einen Musiker. Nun ist Ihre


Lebenskültür | Mutter Deutsche und Ihr Vater Türke. Hat Ihnen die deutsch-türkische Kultur Impulse gegeben? 0 1 $NGHQL]OL Ich glaube, man hat das schon früh gemerkt, dass ich von der deutsch-türkischen Kultur beeinÀXVVW ZRUGHQ ELQ ,FK YHUVXFKWH DOV .LQG Stücke zu komponieren, die nicht sehr europäisch klangen. Man merkt es auch meinem Spiel an. Ich spiele anders als deutsche Musiker. Man merkt ganz einfach, dass ich viel Liebe und Freude am Musizieren hab’ und das trage ich auch nach Außen. Diese nach Außen zu zeigen, ist etwas, was der südländischen Kultur einfach mehr liegt. mikSes: Ist das ein Vorteil? 0 1 $NGHQL]OL Es ist eine besondere Art von Ausdruckskraft. Intuitiver! Manche deutsche Musiker sind etwas verhaltener. Sie wollen ihre Gefühle nicht so weit nach außen tragen. mikSes: Spielen Sie auch Stücke von türkischen Komponisten? 0 1 $NGHQL]OL Ja, zum Beispiel von llhan Baran. Seine Kompositionen ähneln vielmehr türkischen Volksliedern, die klassisch interpretiert werden. Gerade in letzter Zeit gibt es in Istanbul sehr viele zeitgenössische Komponisten, die LFK VHKU JXW ¿QGH mikSes: $XFK )D]ÕO 6D\ JHK|UW ]X GLHVHQ Komponisten. Say bezeichnet sich als „Vermittler zwischen den Kulturen“ und bezeichnet dies als seine Mission. Wie ist das bei Ihnen? 0 1 $NGHQL]OL Hmm… als Vermittler. Nun er kommt ja aus der Türkei und hat mit Deutschland nicht viel zu tun. mikSes: Aber er hat hier studiert und kennt die Menschen hier sehr gut. 0 1 $NGHQL]OL Dennoch ist das bei mir etwas anders. Ich bin schließlich mit beiden Kulturen aufgewachsen, mit der deutschen sowie der türkischen. Bei mir

spielen beide eine wichtige Rolle. mikSes: Glauben Sie, dass Sie dadurch diese Brückenfunktion besser übernehmen könnten als er? 0 1 $NGHQL]OL Ja, das denke ich schon, ich habe beides schon in mir. Aber Musik ist auch eine Sprache, die jede Kultur versteht. Wenn mir ein afrikanischer Musiker ein Stück vorspielt, dann versteh’ ich ihn sofort. Musik ist eine Sprache, die überall in allen Kulturen verstanden wird. Ich könnte nicht sagen, Say ist kein Vermittler. mikSes: Diese Vermittlerfunktion zu übernehmen, ist das so wichtig, wenn man Musik macht? Ist das die Aufgabe der Musik? 0 1 $NGHQL]OL Auf jeden Fall! Musik ist Kulturgut und ich denke, dass Musik Sachen sagen kann, Menschen treffen kann, wie es Worte nicht können. Wenn ich beispielsweise Konzerte in der Türkei gebe, dann kommt das Publikum, setzt sich hin und öffnet sich. Wenn ich dann deutsche Komponisten spiele, gebe ich ihnen was von dieser Kultur und das nehmen sie auf. Was kann besser vermitteln als Musik?! Das, was du ihnen in dem Moment gibst, geht unbewusst in die Tiefe. Mit Worten kann man es nicht beschreiben. Also ist Musik einer der besten Wege um zwischen den Kulturen zu vermitteln. mikSes: Sie geben immer wieder Gesprächskonzerte an Schulen. Welche Erfahrungen haben Sie mit den Schülern gemacht. Wie reagieren sie auf Klassische Musik? 0 1 $NGHQL]OL Ohne allzu theoretisch zu werden, erkläre ich den Schülern, was ich für sie spiele. Gerade bei den Jüngeren sagt man ja immer, dass sie sich für Klassische Musik nicht interessieren. Aber durch diese Gesprächskonzerte habe ich gesehen und ich war sehr erstaunt, wie offen die jungen Leute sind. Vor allem wenn man selbst dann noch jung ist, weil auch ich eine aus ihrer Generation bin, 1|2007 | mikSes | 79


| Lebenskültür LGHQWL¿]LHUHQ VLH VLFK JOHLFK PLW PLU Menschen für Klassische Musik zu begeistern, die eh begeistert sind, ist nicht so reizvoll. Es ist viel schöner, wenn Menschen aus dem Konzert rausgehen und sagen, dass das doch ganz toll war! mikSes: Glauben Sie denn, dass Sie für junge Menschen eine Vorbildfunktion erfüllen?

0 1 $NGHQL]OL Ich würde nicht behaupten, dass ich so populär bin, dass jeder wegen mir Klassische Musik super ¿QGHW $EHU JHUDGH EHL GHQ *HVSUlFKVkonzerten habe ich bemerkt, dass Klassik für die Jugendlichen etwas Totes oder Verstaubtes ist. Wenn sie jemand junges wie mich dann sehen, die dann auch nicht so abgespacet ist, in höheren Bahnen

schwebt, sondern ganz normal ist wie sie und sich für diese Sache begeistert, dann kommt man besser an sie heran. Dieses verstaubte Image der Klassischen Musik muss weg. Es sollten mehr Kooperationen zwischen Hochschulen und Schulen geben. Wenn Studierende, die selbst noch jung und begeistert sind in Schulen auftreten, erreichen sie gleich das Publikum von morgen. mikSes: Kamen auch alle Schüler zu den Gesprächskonzerten? 0 1 $NGHQL]OL Wir hatten schon Angst, dass die Schüler nicht interessiert sein würden. Vielleicht gehen sie dann lieber ins Kino oder machen was anderes. Ich hatte die Idee in der 5-Minuten-Pause etwas zu spielen um sie auf den Geschmack zu bringen. Abends waren alle freiwillig da! mikSes: Welche Musik hören Sie privat? 0 1 $NGHQL]OL Natürlich Klassische! mikSes: Natürlich. Aber was noch? Schauen Sie sich Musiksender wie MTV an? 0 1 $NGHQL]OL Schon, aber für mich ist Pop-Musik keine richtige Musik. Ist vielleicht ganz nett zum Entspannen. So wie ein Krimi, den man statt Goethe liest. Pop-Musik ist Unterhaltung. Klassische Musik dagegen ist keine Unterhaltung. Man muss sich nicht unbedingt öffnen, wenn man Pop-Musik hört. Die kann man auch nebenbei hören. Wenn man Klassische Musik hört, dann sollte man versuchen sich darauf zu konzentrieren und die Stücke zu verstehen und sich zu sensibilisieren. Pop-Musik ist für mich eher ein Nebengeräusch. mikSes: Würde es für Sie in Frage kommen Klassik und Pop zu verbinden? Zum Beispiel um mehr Zuhörer zu erreichen so wie Vanessa Mae. 0 1 $NGHQL]OL Ja gut, Erfolg hat man damit. Aber ist es auch der richtige Weg?


Lebenskültür | Für mich nicht. Über Pop-Musik denkt man nicht viel nach. Es ist nichts tief Greifendes. Klassische Musik ist genau das Gegenteil. Man macht sich Gedanken über jede Note. Mit Klassik erreicht man Zuhörer viel tiefer. In jedem Stück steckt sehr viel Arbeit und jedes Stück hat einen Hintergrund. Ich würde beides nicht verbinden. Damit würde ich meine Musik nur vereinfachen. mikSes: Das ist der Idealismus, aber kommt Geld ins Spiel, kann das auch anders aussehen, oder? 0 1 0HU\HP Ne, ich würde mich nicht verkaufen wollen, indem ich Musik mache, die allen gefällt, nur damit ich so Geld verdiene. Dafür ist mir meine Musik zu wichtig. Man studiert Musik nicht um Geld zu verdienen, sondern weil ein innerer Drang einen dazu treibt. Und gerade Pianisten sind sehr ernsthaft und denken lange darüber nach, wie man zum Beispiel Beethoven spielt, wie man die Farbe auf dem Klavier erzeugen kann.

mikSes: Haben Sie Lieblingsstücke? 0 1 $NGHQL]OL Nein. Aber bestimmte Komponisten spiele ich sehr gern. mikSes: Gibt es bestimmte Stücke, die Sie herausfordern, die Sie immer wieder üben und mit denen Sie trotzdem nie zufrieden sind? 0 1 $NGHQL]OL Eigentlich nicht bzw. nicht mehr. Ich hatte mal so eine Erfahrung mit einer späten Klaviersonate von Beethoven gemacht, als ich noch jünger war. Wenn man jünger ist, dann fehlt einem manchmal die Reife für bestimmte Stücke. Die späte Sonate, die ich geübt hatte, entstand als er schon taub war. Als ich sie übte, das weiß ich noch, hab ich die Sonate angefangen und gespürt, sie muss auf eine bestimmte Art klingen. Ich konnte es aber nicht so spielen. Auch wenn ich geübt habe. Dann hab ich es einfach sein lassen. Mir wurde klar, dass mir die Reife gefehlt hatte, als ich sie Jahre später noch einmal spielte. Denn dann hat es plötzlich geklappt. Jetzt spiele ich

sie wieder und habe das Gefühl, dass ich sie verstanden habe. Daraus habe ich gelernt, dass man für bestimmte Dinge etwas Lebenserfahrung braucht. mikSes: Wo sehen Sie sich in der Zukunft? 0 1 $NGHQL]OL Auf jeden Fall möchte ich eine Pianistin für mich selbst sein und immer Konzerte geben können. In Paris habe ich eine Professorin, Livia Rev, die ist 90 Jahre alt und gibt immer noch Konzerte auf der ganzen Welt. Wenn ich mir vorstelle, ich bin 90 und kann immer noch auf Konzerte spielen und junge Menschen unterrichten, dann hätte ich das glücklichste Leben. mikSes: Frau Akdenizli, vielen Dank für das Gespräch. Das Interview führte ,NEDO .ÕOÕo. Fotos von 1D]LP $OL\HY


| LebenskĂźltĂźr

Der Heimatfernsehmacher .DQDO $YUXSD LVW QXQ VHLW PHKU DOV HLQHP -DKU HUIROJUHLFK DXI 6HQGXQJ .RQ]LSLHUW YRQ 'HXWVFKWÂ UNHQ IÂ U 'HXWVFKWÂ UNHQ 6HUDQ 6DUJXU LVW Ă„*HQHUDO .RRUGLQDWRUÂł XQG 0LW ,QLWLDWRU GHV 6HQGHUV XQG DE GHU QlFKVWHQ $XVJDEH DXFK DOV .ROXPQLVW IÂ U PLN6HV WlWLJ

U

84 | mikSes | 1|2007

nd wer ist nun dieser Seran Sargur? Jung, erfolgreich, macht irgendwas mit Medien? Ja, aber das ist noch nicht alles. Seran Sargur hat eine Vision, und die heiĂ&#x;t .DQDO $YUXSD 8QG PLWWOHUZHLOH Ă€LPPHUW diese Vision laut, bunt und auf TĂźrkisch Ăźber die Bildschirme. Man kĂśnnte vermuten, dass hier vor allem Formaten Raum gegeben wird, die Heimweh und Sehnsucht nach Vertrautem befriedigen sollen. Falsch gedacht! Seran Sagur und seine Mitstreiter haben sich die Ziele ein wenig hĂśher gesteckt. Kanal Avrupa soll helfen in Deutschland und Europa anzukommen, denn Informationen Ăźber die Wahlheimat in Landessprache lieferten den TĂźrken in Deutschland bisher nur die Printmedien. „Wir wissen, wie man unseren Landsleuten Dinge erklärt“, sagt Sargur. Immer schĂśn verpackt mĂźsse das Ganze sein – mit viel Musik. TĂźrkischsprachige Printmedien wie HĂźrriyet oder die wenigen tĂźrkischsprachigen Radiosender seien keine Konkurrenz. „Die Leute wollen fernsehen, aber niemand schaut Sabine Christiansen, weil den Leuten einfach der Bezug dazu fehlt.“ Ihnen diesen Bezug zu geben, den Menschen eine Hilfe an die Hand zu geben, um sich endlich „heimisch“ zu fĂźhlen, das ist Sagurs Vision. Seine Zeit in den Boulevardmedien hat ihn gelehrt, was die Leute wollen und wie man es ihnen verkauft. Sendungen, die sich seine Mutter ansehen wĂźrde, will er machen, und die spricht eben auch nach Jahrzehnten kaum Deutsch. Ihr und den vielen anderen, die sich immer noch in einem fremden und in Teilen unverständlichen Land EHÂżQGHQ PXVV JHKROIHQ ZHUGHQ ÂżQGHW er. DafĂźr eigne sich eben kein anderes Medium so gut wie das Fernsehen, so Sargur. Es ist eine Philosophie der klei-

nen Schritte, die Sargur verfolgt, aber sie scheint aufzugehen. Abgestimmt auf die Generation derjenigen TĂźrkinnen, die meist als Hausfrauen in den eigenen vier Wänden bleiben, noch aus einer weitaus konservativen Welt stammen, hob Sargur bspw. ein Format aus der Taufe, das als Deutschkurs fĂźr MĂźtter konzipiert ist. Zur richtigen Sendezeit, im richtigen Ton. Diese MĂźtter oder GroĂ&#x;mĂźtter sind lange ohne oder mit wenig Deutsch zurechtgekommen, aber nun sitzen Enkel an ihrem Mittagstisch, die eine andere Sprache sprechen. Kanal Avrupa kĂśnnte diesen Frauen die MĂśglichkeit geben, dafĂźr zu sorgen, dass die Generationen nicht auseinander fallen und dass ihre Enkel besseres Deutsch UND besseres TĂźrkisch sprechen. Wie andere hat auch der „General-Koordinator“ erkannt, dass Frauen das HerzstĂźck einer gelungenen Integration sind. „Wir wollen kĂźnftig auch gezieltes Bildungsfernsehen anbieten. Fernsehen ist ein tolles Medium, mit dem man den Leuten etwas beibringen kann.“ Nach der Schulzeit arbeitete Sargur zunächst jahrelang als Boulevardreporter fĂźr tĂźrkische Medien in Deutschland. Ein eher zufälliges Gespräch mit Ignatz Bubis dem damaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, machte ihm klar, dass man mit Journalismus etwas bewegen kann und vielleicht sogar mĂźsste. Sein hemdsärmeliger Ansatz bei Kanal Avrupa hat mĂśglicherweise weitaus mehr Chancen auf Erfolg als viele andere aktuell diskutierten Ideen zur Integration. 6HUDQ 6DUJXU ZLUG DE GHU QlFKVWHQ $XVJDEH UHJHOPl‰LJ DOV .ROXPQLVW I U PLN6HV WlWLJ VHLQ 0DUNROI 1DXMRNV


Kolumne |

.ROXPQH YRQ (UNDQ $UĂ•NDQ Liebe Leserinnen und Leser, zunächst einmal mĂśchte ich der Redaktion von mikSes herzlich zu ihrem Engagement gratulieren. Es ist immer wieder schĂśn, Menschen zu treffen, die wie ich an ihre Träume glauben! In dieser Ausgabe mĂśchte ich mich erst einmal vorstellen: Mein Name ist Erkan $UĂ•NDQ LFK ELQ -DKUH DOW XQG /HLWHU der TĂźrkischen Redaktion beim Radiosender „WDR Funkhaus Europa“. Hier verantworte ich drei Sendungen mit einer wĂśchentlichen Sendezeit von insgesamt knapp 14 Stunden: „KĂśln Radyosu“, Ă„&DIp $ODWXUFDÂł XQG Ă„dĂ•OJĂ•QÂł Was mikSes und meine Kolumne angeht, wird mir ein Bereich zur VerfĂźgung gestellt, den ich in jeder Ausgabe mit Inhalt zu einem aktuellen Thema fĂźllen werde. Da ich mich sowohl durch meine Arbeit als auch durch meine Herkunft mit Themen wie „Migrationshintergrund“ Bildung und Medien, jeweils behĂśrt sich an wie eine sonders bezogen auf „Migranten“ Krankheit. beschäftige, werden diese auch Schwerpunkte meiner Kolumnen sein. Um gleich loszulegen: Ehrlich gesagt habe ich schon seit längerem ein groĂ&#x;es Problem mit dem Begriff „Migrant“. Wenn man etwa Sätze hĂśrt wie „Er ist Deutscher mit tĂźrkischem Migrationshintergrund.“, hĂśrt sich „Migrationshintergrund“ fĂźr mich jedenfalls an wie eine Krankheit. Warum kann man denn stattdessen nicht zum Beispiel „Deutscher mit Einwanderungsgeschichte“ sagen? Das hĂśrt sich doch schon etwas besser an. Oder noch besser: Warum kĂśnnen wir nicht langsam anfangen, diese Menschen einfach als Deutsche zu sehen – ohne Zusätze und Abstriche? Denn auch „die

Deutschen“ sollten langsam wissen, dass „wir Migranten“ ebenfalls „Deutsche“ sind. Dies vielleicht als kleiner Vorgeschmack ohne zu sehr in die Tiefe zu gehen – was ich sicherlich in den kommenden Ausgaben tun werde. Bis dahin freue ich mich erst einmal, auch ein Teil von mikSes zu sein! Alles Liebe, (UNDQ $UĂ•NDQ

1|2007 | mikSes | 85



Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.