www.moers-festival.de
Pfingsten 29. Mai – 01. Juni 2009
mœrs
Schutzgebühr: EUR 3.-
festival
Festivalmagazin
Die Träger
Die Partner
Die Förderer und Medienpartner
Danke für die Unterstützung: Firma Union Getränke, Autohaus Minrath Danke für die Zusammenarbeit: Music Meeting Nijmegen
inhalt
4 5 6
Grußwort Norbert Ballhaus, Bürgermeister der Stadt Moers Grußwort Prof. Karl Karst, Programmchef WDR 3 Vorwort Reiner Michalke, Künstlerische Leitung moers festival
moers festival 2009
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Preface
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NYC-Scene
New York's Now
Der Trompeter Peter Evans spielte vor einem Jahr ein fulminantes Konzert beim Festival in Moers – und gab mit seinem Quartett eine beeindruckende Visitenkarte der „Young Guns From New York“ ab. Der Journalist Hank Shteamer schreibt, warum Evans kein Einzelfall ist.
Freitag, 29. Mai 2009 8 9 10 11 12
Simon Rummel „Fantasmofonika“ Zs Eivør Pálsdóttir Elephant9 SpokFrevo Orquestra
46
Die Hudson-Brille
Zurzeit vibriert es wieder in der New Yorker Jazz-Community. Das kann dem Jazz hierzulande nur gut tun, weil man in Europa New York als kreatives Gegengewicht braucht – ist Wolf Kampmann überzeugt.
50
Wanja Slavin Sextett Valgeir Sigurðsson & Band Mostly Other People Do the Killing The Trio Eivind Aarset Sonic Codex Orchestra Wayne Horvitz „Zony Mash“ plus Horns
In den Vereinigten Staaten ist man noch immer euphorisiert von der Amtseinführung Barack Obamas als erster schwarzer US-Präsident. Doch wie wirkt der „Obama-Faktor“ auf die afroamerikanische JazzSzene? Christian Broecking hat in den USA nachgefragt.
54
The Black Napkins Colin Stetson Guillermo Klein Y Los Guachos Darcy James Argue & Secret Society Timucin Sahin 4 Rokia Traoré
George Lewis & AACM
Gewichtige Stimme
George Lewis hat ein vielbeachtetes Buch geschrieben – über die „Association For The Advancement Of Creative Musicians”. Im Gespräch mit Christoph Wagner macht der Posaunist und Jazzforscher deutlich, warum diese Chicagoer Musikerinitiative heutzutage notwendiger ist denn je.
Sonntag, 31. Mai 2009 20 21 22 23 24 25
Barack Obama / US-Jazz
Young, Gifted And Black
Samstag, 30. Mai 2009 14 15 16 17 18 19
NYC / Europe
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Moers / DDR
Hammer – Zirkel – Saxofon
Staatsfeiertage 2009: 60 Jahre Bundesrepublik, 20 Jahre Mauerfall. Moers feiert einen anderen Jahrestag: vor 30 Jahren traten zum ersten Mal DDR-Musiker im Westen auf. Grund für Wolf Kampmann, sich Gedanken über die Bedeutung des DDR-Jazz’ zu machen.
Montag, 1. Juni 2009 26 27 28 29 30
32 33 34 35 36 37
Nisennenmondai Tim Isfort Tentett Extra Life sOo's cOllage Marc Ribot's Ceramic Dog feat. Eszter Balint
night sessions @ Bollwerk 107 night session @ Röhre morning sessions @ Tribera daydream @ Dunkelzelt klangwerkstadt @ Stadtkirche, nimm! 2009 This Is Our Moosic, Rund ums moers festival, Barrierefreiheit
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Zeitzeugen / Dr. Jürgen Schmude
Kulturwerker
Eine neue Gesprächsserie: „Zeitzeugen“. Den Anfang macht der Moerser Dr. Jürgen Schmude, der 1979 Minister für Bildung und Wissenschaft in der sozialliberalen Regierung war. Im Grußwort zum „8. Internationalen New Jazz Festival Moers“ von 1979 dankt ihm Festivalmacher Burkhard Hennen. Im Gespräch mit Martin Laurentius verrät Dr. Jürgen Schmude, wofür.
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moers revisited
8. Internationales New Jazz Festival Moers 66
Impressum & Service
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moers festival 2009
Norbert Ballhaus, Bürgermeister der Stadt Moers
„Das größte Verbrechen eines Musikers ist es, Noten zu spielen, statt Musik zu machen.“ Diese Einschätzung des Violinisten Isaac Stern kann ich vollkommen teilen. Auch beim 38. Moersfestival steht nicht das Klammern an Noten im Vordergrund, sondern improvisierte Musik mit Gefühl. Auch in diesem Jahr ist erneut ein tolles und abwechslungsreiches Programm zu erleben. Hier hören und sehen Jazzfreunde einen Querschnitt der verschiedenen Bereiche der „freien“ Musik. Der künstlerische Leiter Reiner Michalke hat mit großem Engagement, seinem breiten musikalischen Wissen und hohem künstlerischen Anspruch bereits zum vierten Mal ein besonderes Programm zusammengestellt. Er wählt die Künstlerinnen und Künstler mit viel Know-how und Gespür. Wie man sieht, hält sich auch der künstlerische Leiter nicht nur an Noten und musikalischen „Schubladen“. Zum Festival wird Moers jedes Jahr ein starker Magnet für Musikfans aus der ganzen Welt. Erwähnt man irgendwo die Stadt Moers, kommt man im Gespräch auch unweigerlich aufs Festival. Und das macht mich als Bürgermeister dieser Stadt ein wenig stolz. Dass Reiner Michalke das Moersfestival weiter in die Stadt und damit zu den Bürgerinnen und Bürgern trägt, ist eine sehr gute Entwicklung. Denn das Festival ist wichtig für Moers. Ich möchte allen danken, die zum Gelingen des Festivals beitragen. Dazu zähle ich natürlich auch unsere Sponsoren, Förderer und Partner. Viele leisten zum Teil seit Jahren ihre Unterstützung. Allen Zuhörerinnen und Zuhörern wünsche ich ein tolles und erlebnisreiches Pfingstwochenende. Viel Vergnügen!
moers festival 2009
Prof. Karl Karst, Programmchef WDR 3 / Vorstand INITIATIVE HÖREN
MOERS hat es geschafft! Die Stadt am Niederrhein hat den eigenen Ortsnamen zur Musikmarke gemacht. Das gelingt nicht vielen – und höchst selten den kleineren Kommunen. Dass Großstädte und Metropolen in der Lage sind, sich über Jahre hinweg musikalische Großereignisse zu leisten und Festivals zu entwickeln, das ist begrüßenswert, aber keine sonderliche Überraschung. Bemerkenswerter ist es schon, wenn eine Kommune wie Moers es schafft, ein musikalisches Genre so erfolgreich und kontinuierlich zu pflegen, dass sie zur „Heimat“ für diese Musik wird. Und dafür kann die Anerkennung nicht groß genug sein! MOERS steht für zeitgenössische Jazzmusik, für Improvisationskunst, für avancierte Auseinandersetzungen mit der Klangwelt unserer Zeit. Dazu gehört auch, dass sich das Festival immer wieder für neue Richtungen öffnet und alternative Formen der Musikrezeption anbietet. Die Klangwerkstatt in der Stadtkirche und das Spezial-Programm des Dunkelzelts stehen für diese besondere Bereitschaft. In diesem Jahr beteiligen sich erstmals auch WDR 3 und die
auf Sonntag. So auch am 6. auf den 7. Juni
INITIATIVE HÖREN am Programm des Dunkelzelts und ich bin
mit Aufnahmen vom moers festival und den
sehr gespannt, wie die Künstler des Projekts „Daydream@
INNtönen 09. Live auf Sendung ist WDR
Dunkelzelt“ die Membranen (der Ohren und des Zelts) zum
3 am Samstagabend von 20:00 bis 24:00
Schwingen bringen. Jeder Akustikkenner weiß, welche Fas-
Uhr – vier Stunden lang moers festival
zination der pure Klanggenuss haben kann, wenn die Augen
live über UKW im ganzen Land, via Satellit
mal Pause machen…
europaweit und als Internetstream via
Apropos Augen und Ohren: Ganz und gar ohne optische
www.wdr3.de weltweit.
Ablenkung kommt seit jeher das Radio aus. Das bundesweit
Den Künstlern und dem Publikum wünsche
größte Jazzprogramm im deutschen Radio begleitet MOERS
ich viel Inspiration – und den Machern und
kontinuierlich. Täglich gibt es den WDR 3 Jazz ab 22.00 Uhr
Veranstaltern den verdienten Erfolg beim
und alle 14 Tage die lange WDR 3 Jazznacht von Samstag
moers festival 2009.
5
6
moers festival 2009
Ort zusammenzukommen, um ein Konzert zu erleben, ist durch keine künstliche Simulation zu ersetzen. Hier in der realen Welt, wo Musiker Reiner Michalke, Künstlerischer Leiter moers festival
unmittelbar auf ihr Publikum treffen, ist der Ort, wo Kunst wieder eine politische Relevanz
In diesem Jahr möchte ich mein
wieder herstellbar sei, neige ich zu der These,
Vorwort mit dem Dank beginnen: Den
dass wir uns am Ende einer Epoche befinden und
beweisen, dass sie in der Lage ist, einem
Trägern des Festivals, der Stadt Moers,
die zunehmend globalisierte Gesellschaft schon
Lebensgefühl Ausdruck zu geben, das weit mehr
bekommen kann. Nur hier kann aktuelle Musik
der Kunststiftung NRW, der Aktion
längst dabei ist, ein neues Koordinatensystem
ist, als ein äußerliches Attribut, das man wie
Mensch und dem WDR. Ebenso danken
von Werten zu entwickeln. Doch was sind die
ein Kleidungsstück wechseln kann.
möchte ich meinem großartigen Team,
neuen Werte, auf die sich eine Welt-Gesellschaft
Vielleicht ist auch so zu erklären, warum eine
das dieses Ereignis wieder mit uner-
einigen könnte? Welchen Einfluss könnten Kunst
Stadt wie New York eine so ununterbrochen
schütterlich guter Laune auf die Beine
und Kultur auf diese neue Epoche haben? Und
große Anziehungskraft auf Künstler aus der
gestellt hat und allen Sponsoren, Part-
was hat das alles mit einem vergleichsweise un-
ganzen Welt ausübt. Obwohl die Verdienstmög-
nern, Unterstützern und Helfern, ohne
bedeutenden Musikfest am Niederrhein zu tun?
lichkeiten gering und die Lebenshaltungskosten
die ein solches Festival nicht denkbar
hoch sind, suchen dort immer wieder neue
wäre. Vor allen Dingen gebührt aber
Als Programmmacher, der sich dem Aktuellen
Musiker die unmittelbare Auseinandersetzung
mein Dank dem Publikum für das Ver-
in der Kunst verpflichtet fühlt, muss mich die
untereinander und mit ihrem Publikum. Nur
trauen und die Begeisterungsfähigkeit,
Frage interessieren, ob, und wenn ja, welche
an solchen Orten wird eine kritische Masse
ohne die das moers festival nicht so
Spuren der gesellschaftliche Wandel in der Kunst
erreicht, die etwas Neues, vielleicht sogar
einzigartig wäre, wie es ist.
hinterlässt – und umgekehrt. Waren es in den
Wegweisendes in Bewegung setzen kann. Die
vergangenen Epochen oft die Kulturschaffenden,
ungebrochene „Obamania“ in den USA tut ihr
Als ich 2005 die Aufgabe übernommen
die einen gesellschaftlichen Wertewandel ein-
Übriges, diesen Trend zu stärken. Nicht zuletzt
habe, das Programm für das moers festival
gefordert und kritisch begleitet haben, so hat es
der Zusammenbruch des Finanzsystems in den
zusammenzustellen, war der Umbruch
den Anschein, als wenn die künstlerische Avant-
USA hat den Kulturschaffenden eine neue Rolle
unserer Gesellschaft bereits in vollem
garde diesmal überwiegend mit der Erforschung
in der Mitte der Gesellschaft eröffnet: Die Rolle,
Gange. Auch heute, vier Jahre später, ist
der neuen Welt im Netz beschäftigt gewesen sei.
das Wertegefüge einer neuen Epoche maßgeb-
nicht absehbar, wohin die Reise geht. Wir
Dabei ist die Faszination, die das Internet auslöst,
lich mitzugestalten.
erleben den Zusammenbruch der internati-
nachvollziehbar. Besonders für die künstlerisch
onalen Finanzmärkte. Wir wissen, dass die
ambitionierten Musikschaffenden ist das Netz
Ressourcen dieses Planeten zu Ende gehen.
traditionellen Vertriebsformen überlegen. Es
die diesjährige Programmauswahl gehabt.
Und wir sind auf politisches Führungsper-
eignet sich für die Verbreitung der eigenen
Natürlich ist nicht damit gemeint, dass Musiker,
sonal mit sehr unterschiedlicher Kompetenz
Ideen ebenso hervorragend wie als perfektes
die sich mit non-verbaler Musik beschäftigen,
angewiesen.
Informationsmedium zu den Ideen der Anderen.
auf einmal politische Parolen von de Bühne
Die Öffnung der Sowjetunion und der
Und das ohne Rücksicht auf die bisher notwen-
verkünden. Aber sie alle demonstrieren eine
Fall der Berliner Mauer waren politische
dige Anpassung an die herrschenden Normen
Haltung, die von Respekt, Toleranz und dem
All dies hat direkt und indirekt Einfluss auf
Ereignisse, die das alte Koordinatensystem
oder industrielle Wertschöpfung, sondern mit
Gegenteil von Rassismus geprägt ist. Sie sind
aus "falsch" und "richtig", "gut" und "böse"
punktgenauer Zielgruppenansprache bei nahezu
von der Richtigkeit ihres Tuns überzeugt, und
in seinen Grundfesten erschüttert und un-
verschwindend geringem Kostenaufwand. Der
ihnen ist das künstlerische Ergebnis wichtiger
brauchbar gemacht haben. Fast gleichzeitig
Nachteil dieses ungebremsten Schaffens liegt
als ein möglicher kommerzieller Erfolg.
entstand parallel zu dieser realen Welt
ebenso auf der Hand: Es fehlen Filter, wie z. B.
Schließlich ist auch das moers festival ein „ana-
eine digitale Welt, deren Grenzen wir nicht
qualifizierte Redakteure, Produzenten und Ku-
loges“ Ereignis, bei dem Menschen an einem
einmal annähernd erforscht und für deren
ratoren, die Orientierung bieten in der täglichen
Ort zu einem vereinbarten Zeitpunkt zusam-
Nutzung wir uns bisher weder auf ethische
Flut neuer "Informationen".
menkommen, um etwas gemeinsam zu erleben.
noch auf gesetzliche Rahmenbedingungen verständigt haben.
Der Ausweg für die Musik ist die Rückkehr
Sie hören eine Musik, die so zum ersten Mal erklingt, aber nie wieder so erklingen wird. Nur
Während viele bezüglich der ökonomischen
zum Anfang: Zu den Bühnen der Welt. Nur hier
wer wirklich dabei ist, ist Teil des Ganzen. Und
Katastrophe von einer Krise sprechen und
entsteht Einzigartiges, Unwiederbringliches.
dieses Erlebnis ist nicht teilbar. Das ist die Fas-
damit suggerieren, dass der alte Zustand
Das gesellschaftliche Ereignis, an einem
zination, die von Improvisierter Musik ausgeht.
CBPQFS>I # @LKSBKQFLK ST D SX >RDRPQ TRR[ Hツ!K TTT+@*L*MLM+AB
MLM @RIQROB T R QEB TEFQBPQ ?LV >IFSB >KAOLJBA> JBD> QEB KLQTFPQ # BUMOBPP LO@EBPQO>
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QF@HBQP RKQBO TTT+HLBIKQF@HBQ+AB RKA TTT+@*L*MLM+AB
8
Freitag, 29. Mai 2009
programm
IMPROVISER IN RESIDENCE
17 Uhr / Festivalzelt
Simon Rummel_comp, ld Georg Wissel_as Matthias Schubert_ts Thomas Zoller_bs Wollie Kaiser_b-s Joris Ruhl_cl Philipp Spätling_fl Udo Moll_tp Matthias Muche_tb Christof Thewes_tb Carl Ludwig Hübsch_tu Michael Griener_dr Ketonge_sound archive
Foto: Helmut Berns
Die Besetzung mit zehn verschiedenen Blas-
für ein Jahr an den Niederrhein verlegt, um dort seine Arbeit
instrumenten (Tuba, Posaunen, Trompeten,
als „Improviser In Residence“ aufzunehmen und das kulturelle
Saxofone und Flöte) ließe auf ein Ensemble
Leben der Stadt Moers zu bereichern.
zwischen englischer Brass-Band, deutscher
In dieser Funktion wird der „Stadtmusikant“ mit seinem
Blaskapelle und amerikanischer Marching
Ensemble „Fantasmofonika“ das moers festival 2009 eröffnen.
Band schließen – wäre es nicht mit „Fan-
Der Klangforscher liebt den Reiz des „Un“-Erhörten. Bei seinen
tasmofonika“ überschrieben. So nennt der
Expeditionen durchstreift er unterschiedliche Klangwelten
Musiker und Komponist Simon Rummel sein
und lässt sich ebenso von Jazz wie von Klassik, Neuer Musik
in Form und Farbe offenes Kammer-Ensemble,
und Volksliedern inspirieren – aber auch vom experimentellen
das er 2003 mitgegründet hat.
Musiktheater. Bei seinen verschiedenen Projekten kommt
Simon Rummel stammt aus Trier. 1999 begann
ihm immer wieder seine Erfahrung als Bühnenmusiker zugute,
er als Jungstudent mit einem Studium an der
sodass er in seinen Werken Elemente aus Klang, Bild und
Hochschule für Musik und Tanz in Köln, wo
Bewegung zu einer spannenden Einheit verschmelzen lässt
er sich in den Fächern Klavier, freie Impro-
und sich selten auf eine einzige künstlerische Ausdrucksform
visation und Komposition ausbilden ließ.
beschränkt. Speziell für seinen Auftritt als „Improviser In
Später kam noch ein Studienaufenthalt an
Residence“ hat Rummel vordergründig simple, bruchstückhafte
der Kunstakademie in Düsseldorf hinzu. Ab
und mosaikartige Miniaturen geschrieben, bei denen auch die
2009 hat Rummel seinen Lebensmittelpunkt
improvisatorischen Momente nicht zu kurz kommen. Jörg Heyd
programm
Freitag, 29. Mai 2009
18 Uhr / Festivalzelt „Brooklyn’s finest in the field of free jazz and noise“ – so formu-
Zur Backline von Zs gehören drei Notenpulte,
liert es ein Kritiker des „San Francisco Bay Chronicle“ in einer
hinter denen der Saxofonist Sam Hillmer
begeisterten Rezension der EP „The Hard“ von Zs. Und lobt
und der Gitarrist Ben Greenberg hin und
die Präzision der Band und ihre dynamische Breite zwischen
wieder auf einem Stuhl Platz nehmen. Denn
Sam Hillmer_ts
Lärmkaskaden und zarten Momenten. Als die Band nach ihrer
ihre Stücke sind großenteils auskomponiert,
Ben Greenberg_g
Gründung im Jahr 2000 weder eine steile Pop-Karriere machte
verbunden mit den Gepflogenheiten des
Ian Antonio_dr
noch Erfolge in der komponierten Musik erlebte, suchte sie
etablierten Konzertsaals – wenn auch nicht
Anschluss in der „DIY Community“, einem Zweig der Jugendkul-
als „Kammer-Punk“. Zs zelebriert imaginäre
turen in den großen Städten.
Rituale der Vergangenheit und auch Gegen-
Der Slogan „Do It Yourself“ – oder „DIY“ – war ursprünglich
wart, möglicherweise sogar der Zukunft. Der
die Losung bürgerlicher Heimwerker. Seit den 1980er- und
rhythmische Puls ihrer Stücke, die ostinaten
’90er-Jahren ist dieser Slogan auch das Signal des Aufbruchs
Wiederholungen und die kurzen Themen
einer alternativen Subkultur, die unter sich widersprechenden
mit ihren Variationen demonstrieren ihre
Ideologien ein selbstbestimmtes Leben gegenüber dem alles
Verbindung zur Minimal Music. Ihr Gestus
beherrschenden Markt propagiert. Dazu gehören antiautoritäre,
allerdings ist der des lauten Rock sowie eine
sozialistische, anarchistische und sogar fundamental-religiöse
symbiotische Verbindung mit der Szene: ihrem
Gruppen. Diese Szene ist gut vernetzt: Das Internet ist ihr Me-
Publikum.
dium, die Musik ihrer Parties der Punk – aber nicht der schlichte Punk etwa der britischen Sex Pistols.
Ulrich Kurth
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Freitag, 29. Mai 2009
programm
verantwortlich. Aufgenommen hat sie auch mit dem Ensemble Yggdrasil um Kristian Blak, dem Gründer des Labels Tutl. Und Pálsdóttirs Texten und ihrer Stimme wurden mit dem 19 Uhr / Festivalzelt
Jubiläums-Album zum 40-jährigen Bestehen der Danish Radio Big Band eine besondere Anerkennung zuteil. Ihr leidenschaftliches Engagement für die Muttersprache
Mit 17 brach Eivør Pálsdóttir die Schule ab,
war sie schon mit einem
basiert auf der einzigartigen oralen Balladentradition ihrer
um nur noch zu singen. Das war vor zehn
färöischen Chor unterwegs,
Heimat. Gemeinschaftliches Singen und Tanzen gehört
Jahren. Heute gilt sie als bekannteste Vokal-
zwei Jahre später mit der
dazu, über Jahrhunderte wurden Legenden auf diese Weise
botschafterin der Färöer Inseln. Obwohl oder
Rockband Clickhaze auf
mündlich überliefert. J. R. Tolkien soll sie als Inspirations-
gerade weil in ihrer Heimat deutlich mehr
Tournee durch Dänemark,
quelle für seinen „Herr der Ringe“ genutzt haben. Aber auch
Männer in ihrer Altersklasse vertreten sind.
Schweden, Grönland und
ohne Worte wehen die Klänge der jungen Sängerin, schlagen
Wie viele andere junge Färingerinnen hat
Island.
Funken und Wellen über die Genregrenzen von Folk, Pop und
auch sie der vertrauten Umgebung erst
Die renommierten
Jazz hinweg.
einmal den Rücken gekehrt. In Reykjavik stu-
Produzenten Bill Bourne
Franziska Buhre
dierte sie klassischen und Jazzgesang. Nach
aus Kanada und Donald
Kopenhagen ging sie, um die lokale Folk-
Lundy aus Irland zeichnen
Eivør Pálsdóttir_voc
Szene kennen zu lernen. Als Zwölfjährige
für zwei ihrer Solo-Alben
Benjamin Petersen_g Mikael Blak_b Høgni Lisberg_perc
programm
Freitag, 29. Mai 2009
20.15 Uhr / Festivalzelt
Ståle Storløkken_keyb
wollten, als er sich während des Studiums am Konservatori-
Nikolai Hængsle Eilertsen_b
um in Oslo mit der Musik von Miles Davis befasste“, erinnert
Torstein Lofthus_dr
sich Storløkken. „Wir spielten ein paar Gigs, und als wir ein gemeinsames Interesse an der Musik der 70er entdeckten, beschlossen wir, als feste Band eigenes Material zu schreiben. Unsere unterschiedlichen Hintergründe garantieren eine stili-
Extreme Zeiten erfordern extreme Mittel. Die Wirren des
stische Offenheit, mit der wir die musikalischen Grundlagen der
Umbruchs erfordern dabei oft einen Rückgriff auf die Extreme
Seventies mit einem Fokus auf Improvisation und jeder Menge
der Vergangenheit. Die norwegische Band Elephant9 steht
Energie anreichern können.“
im Brennpunkt einer globalen Szene, die progressive Strö-
Jazz, Prog und Klassik sind elementare Bestandteile, die in der
mungen der 1960er- und ’70er-Jahre aufgreift und innovativ
Musik von Elephant9 zu einem brisanten Gemisch verschnitten
fortführt. Auf ihrem Debütalbum „Dodovoodoo“ löst sie heftige
werden. Die besondere Herausforderung besteht für das Trio in
chemische Reaktionen zwischen Prog und Retro, Jazz und Rock,
improvisiertem Rock. „Improvisation heißt jedoch nicht, dass wir
linearer und flächiger Musik, Abstraktion und Emotion aus.
völlig frei improvisieren. Unsere Stücke basieren auf Skizzen, die
Elephant9 sind Keyboarder Ståle Storløkken, Bassist Niko-
wir in den Improvisationen anreichern und ausweiten. Gerade
lai Hængsle Eilertsen und Drummer Torstein Lofthus. Die
kurze Stücke, die stark genug sind, um eine lange Improvisation
Mitglieder der Band kennt man bereits aus stilistisch so
zu tragen, spornen uns an.“ Storløkken und Konsorten machen
unterschiedlichen Gruppen wie Supersilent, Humcrush, Shining
aus Mückenschwärmen Elefantenherden, die – einmal in Be-
und The National Bank. Vielleicht ist das Trio die adäquate
wegung – niemand mehr aufhält. Ob Jazz oder Rock: Elephant9
Antwort des 21. Jahrhunderts auf Emerson, Lake & Palmer.
garantieren eine Kombination aus Urknall und spontaner Meta-
Doch die ursprüngliche Intention kam aus einer ganz anderen
morphose, die nichts lässt, wie es einmal war.
Ecke. „Torstein fragte uns, ob wir an diesem Projekt mitarbeiten
Wolf Kampmann
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Freitag, 29. Mai 2009
programm
21.30 Uhr / Festivalzelt Inaldo Cavalcante de Albuquerque_sax Gilberto Pontes_sax Gilmar Silva_sax
Frevo – das ist der Rhythmus
präsentiert diesen Sound
Vor zwei Jahren, im Karneval
Edson Faro_sax
des Karnevals in Pernambu-
heute im Gewand einer Big
2007, beging Pernambuco
Pêto Trompete_tp
co. Die Atmosphäre kocht,
Band. Seit 1996, damals
das hundertjährige Jubiläum
Alexandre Rodrigues_tp
wenn Frevo in den Straßen
hieß die Gruppe noch Banda
seiner Lieblingsmusik – und
Germerson Netto_tp
des brasilianischen Bundes-
Pernambucana, verbindet der
das SpokFrevo Orquestra
Jailson Silva_tp
staates ertönt. Frevo kommt
Chef des Unternehmens die
ließ die Menschen vier Tage
Cleber Silva_tb
von „ferver“, was natürlich
synkopierten Traditionen mit
lang durchfeiern. Der einzig-
Marcílio_tb
nichts anderes als „kochen“
zeitgemäßem Stoff. Dafür
artige Rhythmus, bei dem
Flávio de Souza_tb
bedeutet, und ist so ziemlich
übt Inaldo Cavalcante de
die Bläser rasende Läufe
Marcone Nascimento_tb
die schnellste Tanzmusik, die
Albuquerque oder Spok, wie
spielen und die Perkussio-
Renato Bandeira_g
man in Recife oder Olinda
er sich nennt (Fans sprechen
nisten für ordentlichen Druck
Hélio Silva_tp
unters Volk bringt. Schnell
von ihm als „Conductor
sorgen, lässt den Musikern
Adelson Silva_dr
war diese Musik schon
Spok“) mehrere Jobs
viel Freiraum für frenetische
Augusto Silva_dr
immer – seit Jahrzehnten
zugleich aus: Er ist musika-
Improvisationen. Und dem
Dedé Simpatia_perc
hat man diese Art „Marcha“
lischer Leiter, Arrangeur und
tanzenden Publikum nicht
gepflegt, Ableger des Stils
Saxofonist des Orchesters,
minder.
verschlug es natürlich auch
sein Cousin Gilberto Pontes
in andere Teile Brasiliens.
alias Gibasax ist Co-Leiter
Das SpokFrevo Orquestra
des 17-köpfigen Ensembles.
Uli Lemke
14
Samstag, 30. Mai 2009
(33,: 9<5+ <4: :(?67/65 r :H_VWOVUL 4\UKZ[mJRL PU NYVtLY (\Z^HOS! 5,< .,)9(<*/; =05;(.,
15 Uhr / Festivalzelt
Mit der Band auf der Suche, beim eigenen Ton längst angekommen: Wanja
r 7YVMLZZPVULSSL )LYH[\UN :L[ <W
Slavin vereint den Mut zum Dilettantischen mit seinem Hang zur Perfektion. Er
r A\ILOlY
Premiere mit der Stimme von Ibadet Ramadani erwartungsvoll entgegen.
verehrt jede der im Sextett versammelten MusikerpersĂśnlichkeiten und sieht der Irgendwo in der Toskana hat das Sextett erst kĂźrzlich ein Album aufgenommen.
r 9LWHYH[\YLU PU LPNLULY >LYRZ[H[[ r >VYRZOVWZ MmY :H_VWOVUPZ[LU r NYVtamNPNL (UZWPLS 9j\TL r Saxophonic ,ZWYLZZV )HY ÂŽ
Wie man sich das so vorstellt, aber als Musiker nur selten verwirklichen kann. Ein einsames Haus, den ganzen Tag italienisch bekocht, fernab von Tournee-Alltag und murrenden, mĂźrrischen Produzenten. Mit Laken und Matratzen wurde so lange experimentiert, bis die Raumakustik stimmte und zufrieden stellte. Slavin hat einer Menge Jazz und viel Neuer Musik gelauscht â&#x20AC;&#x201C; und sich stets auch mit perfekten Pop-Songs beschäftigt. Doch in Konzerten strebt er nach anderem: Auf Basis komplexer rhythmischer Strukturen gerät Reibung zum bevorzugten Stilmittel, um eigentĂźmliche Stimmungen zu erzeugen. Zwischen Scheitern und den Entscheidungen, einander in Spiralwindungen zu verschrauben, entstehen ebenso fragmentarische wie stetig mäandernde Gebilde â&#x20AC;&#x201C; auch an 360 Abenden im Jahr wĂźrden Slavin und seine Musiker darin wandern. In Moers liegt eine Station, die die Musiker zusammenfĂźhrt â&#x20AC;&#x201C; real und dazwischen, inmitten, vorneweg und dahinter geschieht: â&#x20AC;&#x17E;Unâ&#x20AC;&#x153;-ErhĂśrtes. Franziska Buhre
Wanja Slavin_sax Ibadet Ramadani_voc Karsten Hochapfel_g, vc Ronny Graupe_g
Ă&#x2013;ffnungszeiten +P IPZ -Y <OY :H <OY 4VU[HN NLZJOSVZZLU 2YLMLSKLY :[Y + 5L\RPYJOLU =S\`U Service Telefon
>>> :(?67/650* +,
Robert Landfermann_b Christian Lillinger_dr
programm
Samstag, 30. Mai 2009
16.15 Uhr / Festivalzelt
Fot o: Lau ren Fleish
ma n
Es hat den Anschein, dass Valgeir Sigurðsson mit seinem
Valgeir Sigurðsson_laptop, perc, keyb
Debütalbum „Ekvílibríum“ seinem künstlerischen Gleichgewicht
Sigríður Sunna Reynisdóttir_acc, p
einen gehörigen Schritt näher gekommen ist. Das war vor
Hildur Guðnadóttir_vc, laptop
rund zwei Jahren, als er auf seinem eigenen Label Bedroom
Sam Amidon_g, voc
Community seinen Erstling als Musiker veröffentlicht hat.
Shahzad Ismaily_dr
Denn davor überwog bei dem Isländer die Arbeit als Produzent und Toningenieur. An seinem Studio in Reykjavik führt kaum ein Musikerweg auf der Insel vorbei. Und es gibt kaum einen
Musikmachens zu Gute. Ob als Produzent für andere oder als
Bericht über Sigurðsson, indem nicht der Name Björk fallen
Musiker in der eigenen Band, Sigurðssons Arbeitsweise ähnelt
würde, denn auch die isländische Sängerin verlässt sich (wie
der eines Architekten: Er konzipiert Klangräume, in denen sich
viele andere Musiker, darunter Kate Nash, Camille oder Bonnie
die Musiker wohl fühlen, arbeiten und frei bewegen können –
„Prince“ Billy) auf die Erfahrung und Kreativität des Produzenten.
Funktionalität und Ästhetik bedingen und befruchten einander.
Gerade auf diesem Feld, an Mischpult und Computer, hat
Auf „Ekvílibríum“ jedenfalls entwirft der nordische Klangkos-
Sigurðsson jenen experimentellen Spielraum gefunden, den
mopolit ein komplexes, dennoch transparentes Klanggewebe,
er braucht, um seine Klangvorstellungen, Visionen und Ideen
in dem es knistert und knattert, bläst und blubbert – obwohl
umzusetzen. Seine solide klassische Ausbildung an der
oder gerade weil alles fließt. Eine spannende Begegnung von
Gitarre kommt ihm bei dieser nicht weniger kreativen Art des
einfachen Melodien, vertrauten Gesängen und unerwarteten Geräuschen, eine Ohren schmeichelnde Balance von Elektronik und Akustik. Jörg Heyd
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Samstag, 30. Mai 2009
programm
17.30 Uhr / Festivalzelt
den Namen gab. Und nicht zuletzt ist auch der Albumtitel eine liebenswerte Verballhornung jener Blue-Note-Attitüde, die vor 40 Jahren den Hang zu hipper Gelassenheit dokumentierte.
Schlagzeuger Kevin Shea nennt den Sound des Quartetts
Mostly Other People Do the Killing feiern das Jazz-Erbe, daran
Mostly Other People Do the Killing freimütig „Lounge Jazz“.
kann gar kein Zweifel bestehen. Doch sie gehören eben nicht zu
Das Cover des Debütalbums „Shamokin!!!“ ist an die LP „A
den Jungveteranen, die sich artig ihre Krawatte umbinden und
Night In Tunesia“ von Art Blakey & His Jazz Messengers aus
nachbeten, was die Altvorderen ihnen vorspielten. Sie filtern
dem Jahr 1959 angelehnt. Tatsächlich hat New Yorks neueste
den Hardbop der Fifties durch die Brille John Zorns und Steven
Jazz-Sensation mit Blakeys Hardbop-Guerilla einiges gemein,
Bernsteins. Ihre musikalische Sozialisation erstreckt sich
wenn auch unter völlig anderen Vorzeichen. Da ist zunächst
zwischen Noise, freier Improvisation und Laptop. Mit post-
einmal die Besetzung mit einer Frontline von Trompete und
moderner Dreistigkeit, spitzfindigem Humor und unglaublicher
Saxofon, die auf der Basis einer forcierenden Rhythmusgruppe
idiomatischer Sicherheit zitieren sich Jon Irabagon und Evans
den Sound bestimmt. Auch die Spielhaltung der jungen New
durch die Jazzgeschichte, sodass selbst eingefleischte Traditi-
Yorker ähnelt jener der Jazz Messengers. Sie spielen mit der
onalisten an diesen jungen Wilden ihre Freude haben dürften.
Wucht und Hingabe eines Husarenregiments, das in die letzte
Ein amerikanischer Kritiker nennt die Band „dirty, muddy and
Schlacht reitet. Das ist nicht nur im übertragenen Sinne zu ver-
fast“. Doch das ist nur die halbe Wahrheit, denn sie sind fein-
stehen, denn Peter Evans Trompetensalven wirken nicht selten
sinnige Enzyklopädisten, die den Irrgarten der Hauptstraßen,
wie Fanfaren, die zum Kampf blasen. Am Ende der CD steht
Nebenwege und Sackgassen des Jazz der letzten 50 Jahre mit
ein rasantes Update zu Dizzy Gillespies „A Night In Tunesia“,
verblüffender Logik auflösen und für neue Perspektiven öffnen.
das dem Jazz einst den Weg wies und Blakeys Patenalbum
Peter Evans_tp Jon Irabagon_sax Moppa Elliott_b Kevin Shea_dr
Wolf Kampmann
programm
Samstag, 30. Mai 2009
20 Uhr / Festivalzelt
Muhal Richard Abrams_p George Lewis_tb, electr Roscoe Mitchell_sax
Schon wenn Muhal Richard Abrams, George Lewis und Roscoe Mitchell irgendwo getrennt voneinander auftauchen, recken sich neugierig
Selbstverständnis der Herren entspricht dem
Hälse in die Höhe und werden ehrfürchtig
eines Flusses: Alles befindet sich in Bewe-
Ohren gespitzt. Machen die Drei jedoch
gung. Permanent.
gemeinsame Sache, liefern sie nicht weniger
Diese Haltung haben Abrams und Mitchell
in eine Vision eines neuen Gesellschaftsmo-
als die Koordinaten für eine Sternstunde des
über die Jahrzehnte hinweg bei der schwar-
dells münden könnte. Häufig verwendet der
modernen Jazz. Auch in Moers hat das Trio
zen Chicagoer Musikervereinigung AACM
Posaunist und Elektroniker dabei die Worte
der Superlative bereits Festivalgeschichte
verinnerlicht, wo sie auch den etwas jüngeren
„Vertrauen“ und „Offenheit“. Offen sind sie
geschrieben, jeder auf seine Art. Der Pianist
Lewis unter ihre Fittiche nahmen. Heute arbei-
fürwahr, die „Kopfgeburten“ des Trios. In
Abrams im Quintett von Anthony Braxton
tet der Band-Benjamin neben seiner Tätigkeit
alle Richtungen. Improvisatorische Meister-
(1977), der Saxofonist Mitchell mit dem Art
als Musiker und Komponist als Professor an
werke voller Energie, Charme und Identität.
Ensemble Of Chicago (1977, 1978, 1980 sowie
der Columbia University in New York und
Klingende genetische Fingerabdrücke. Aber
1984) und vor allem Lewis, der zwischen 1977
lockte seine beiden Lehrmeister auf diesen
unmöglich unter dem antiquierten Terminus
und 1996 nicht weniger als acht Mal seinen
Selbstfindungsprozess. Keines der klassischen
„free“ abzuheften. Während es dabei um die
Posaunenkoffer am Niederrhein auspackte.
Vater-Sohn-Verhältnisse. Eher ein gleich-
Selbstverwirklichung eines Individuums geht,
Nun kommen sie im Triumvirat. Das bedeutet:
berechtigtes Zusammenspiel, das zu einem
impliziert „offen“ – ganz im Sinne der AACM –
drei Mal so viel Weisheit und grenzenloses
zeit-, stil- und konkurrenzlosen Mirakel voller
ein Miteinander ohne hierarchische Struk-
Sendungsbewusstsein. Eine Koalition, die
Überraschungen gerät, einem Manifest der
turen. Die Überwindung des menschlichen
sich mit derartiger Hingabe in freien Struk-
selbstlosen Kreativität und der kompromiss-
Egoismus. Alles nur eine Frage des Vertrauens.
turen trudeln lässt, als hätte sie gerade die
losen Authentizität. Sie erforschen sich und
Wie bei Muhal Richard Abrams, George Lewis
Improvisation erfunden. Keiner denkt dabei an
ihre Umgebung, reagieren spontan, verwerfen
und Roscoe Mitchell.
heute oder gestern, an links oder rechts, an
Pläne und befreien sich so vom Diktat der
schwarz oder weiß, an Bebop oder Avantgar-
kommerziellen Selbstbeschränkung. In den
de, an vorwärts oder zurück. Das kollektive
Liner-Notes zur phänomenalen CD „Streams“ von 2006 beschreibt Lewis die darauf enthaltene Musik als Summe von Erfahrungen, die
Reinhard Köchl
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Samstag, 30. Mai 2009
programm
21.15 Uhr / Festivalzelt Eivind Aarset_g, electr Gunnar Halle_tr Audun Erlien_b, g Björn Charles Dreyer_b, g Wetle Holte_dr Erland Dahlen_dr
Er trug seinen Teil zur Musik von Bugge Wesseltoft bei, und auch Nils Petter Molvær hat den Klangräumen, die er Foto: Christoph Giese
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auf seiner Gitarre generiert, viel zu verdanken. Mit seinem eigenen Projekt Electronic Noir wiederum baute Eivind Aarset auf Molværs Fundament auf. Komplexe Rhythmusgeflechte und Klangkartografien, über denen der Gitarrist gigantische Imaginationsräume türmt. Welten entstehen, aus denen sich unmöglich einzelne
„Meine Wurzeln stecken in der Gitarrenwelt“, bekennt Aarset. „Ich komme von Jimi Hendrix, bege-
instrumentale Koordinaten
be mich aber in einen Kosmos, der noch keine Tradition hat. Es gibt keine Regeln, an die ich mich
filtern lassen. Ein pulsie-
halten müsste. Die Herausforderung besteht in der Schaffung einer neuen Sprache, ohne meine
rendes Spiel einander spiral-
Vergangenheit zu leugnen.“ Für den Meister der Klangfarben bedeutet das nicht, seinem Spiel
förmig umkreisender Mikro-
etwas hinzuzufügen, sondern eher vieles, was bisher zu seinem Idiom gehörte, wegzulassen. „Für
und Makrokosmen. Jazz ist
mich hat Musik eine starke visuelle Qualität. Ich habe zuerst ein Bild im Kopf, bevor ich mich an
für Aarset gleichermaßen
die technischen Dinge wie Akkorde und die Aufeinanderfolge bestimmter Töne mache. In dieser
kontrollierte wie ungehin-
Hinsicht habe ich Terje Rypdal und den anderen ECM-Vordenkern viel zu verdanken. Sie haben
derte Bewegungsfreiheit in
zwar kein Ambient gespielt, aber den Boden für diese Philosophie geebnet.“
einem definierten Kontext
Aus Sounds ergeben sich Bewegungen, die im Computer wiederum andere Formen annehmen.
mit variablen Limits. Der
Aarset generiert bewusst kausale Ketten. „Die Gitarre ist eine Erweiterung meiner selbst,
Norweger lädt dazu ein, sich
während die Electronics eine Erweiterung meiner Gitarre sind.“ Jamt er im Konzert einfach mit
in den unendlichen Weiten
seiner Band los, so behandelt er seine Musik im Studio wie ein Bildhauer, der genau weiß, welche
seiner Imagination treiben
Skulptur er schaffen will, und hart arbeitet, bis er Vollkommenheit erreicht. Am Ende steht seine
zu lassen und zugleich dem
Kreatur auf eigenen Füßen und kommuniziert mit ihrem Schöpfer genauso wie mit dem Publikum.
Rausch eines künstlerischen Hochgenusses hinzugeben.
Wolf Kampmann
programm
Samstag, 30. Mai 2009
Wayne Horvitz_keyb Briggan Krauss_sax Skerik_sax Ron Miles_tp Steve Moore_tb 22.30 Uhr / Festivalzelt
Timothy Young_g Keith Lowe_b Andy Roth_dr
Wayne Horvitz hat viele Gesichter: Pigpen, Sweeter Than Today, Gravitas Quartet, The President, Ponga, Horwitz-Morris-Previte Trio, 4+1 Ensemble, Mylab. Das von „Zony Mash“ bildete sich eher zufällig heraus, gehört aber witzigerweise vielleicht deshalb seit Jahren zu den bekanntesten. Als er und seine Frau, die Pianistin, Sän-
den gleichen Elementen zusammensetzt.“ Damit meint er das
gerin und Komponistin Robin Holcomb, Mitte der 1990er Nachwuchs erwarteten,
Destillat der reinen Improvisation. Es funktioniert überall, mit
entschloss sich der (nur im metaphorischen Sinn!) spielsüchtige Keyboarder, ein
Elektronik, tanzbaren Beats, Rock’n’Roll oder mit John Zorns
Bandprojekt anzuleiern, das es ihm für einen gewissen Zeitraum erlaubte, nicht
Naked City, mit dem er vor genau 20 Jahren zum bislang letzten
pausenlos von Küste zu Küste tingeln zu müssen. Wer weiß, ob es „Zony Mash“
Mal Moers besuchte. Und nun eben wieder mit „Zony Mash“.
(der Name bezieht sich auf einen Titel der Funkband The Meters) überhaupt gege-
Eine „Jekyll und Hyde“-Band, die Rockzitate auf dem gleichen
ben hätte, wenn nicht das OK Hotel in Seattle der Bitte von Horvitz entsprochen
Level präsentiert wie „Autumn Leaves“. Nur eine Lücke gilt es
hätte, dort vorübergehend seine Hammond-Orgel parken zu können. Das Schicksal
noch zu schließen: Als Horvitz das Konzept für „Zony Mash“
wollte es so, dass Gitarrist Timothy Young, Bassist Fred Chlenor (Ende 1998 über-
entwarf, klangen in seinem Kopf ausschließlich Hörner. Dass
nahm Keith Lowe die Bassistenstelle), Drummer Andy Roth sowie der angehende
er es zunächst mit Young, Chlenor und Roth versuchte, war vor
Vater über Monate hinweg bei einwöchigen Gigs eine tiefe innere Balance fanden.
allem den erwähnten privaten Umständen geschuldet. Nun
Aus der anfänglichen Spaßband wurde eines der erfolgreichsten Projekte des 53-
aber komplettiert sich der Spaßfaktor. In Moers kommen „Zony
Jährigen. Es überdauerte sogar die Geburt seines Sohnes im Dezember 1995.
Mash“ mit einer Horn-Section auf die Bühne, die es wahrlich in
Das musikalische Portfolio des Kreativgeistes mit wenigen Worten zu umschrei-
sich hat: der Trompeter Ron Miles, der Posaunist Steve Moore
ben, fällt schwer. Die einen nennen seine strategischen Winkelzüge unbeholfen „Jazz Fusion“, anderen wiederum fällt nichts Besseres ein als „Crossover“. Am
sowie die beiden Saxofonisten Briggan Krauss und Sherik. Ein wirklich seltener Anlass. Wie charakterisiert Wayne Horvitz
besten beleuchtet sich Horvitz selbst: „Wenn die Leute das, was ich mache, mit
„Zony Mash“ doch so treffend: „Meine Seattle-Gruppe. Durch
reinem Jazz gleichsetzen, vergessen sie meist, dass sich auch Rock exakt aus
sie komme ich auch mal aus dem Haus.“ So wie eine Menge seiner Anhänger auch. Reinhard Köchl
Foto: Daniel Sheehan
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Sonntag, 31. Mai 2009
programm
Trompete mal lautmalerisch, mal perkussiv. Kleine Melodien weichen großen Soundkaskaden und umgekehrt – sogar die Stille wirkt als Klangkörper im Ensemble – so, als suche man gemeinsam nach Intuition. Drummer Gerri Jäger kommt dabei 15 Uhr / Festivalzelt
zuweilen mit dem Sound seiner Fingernägel aus, wenn er das Arsenal seiner Töne bis in die leiseste Abteilung absucht – bevor er die Ketten rasseln lässt oder andere Register zieht. Da
Trompete, Gitarre, Schlagzeug: Es ist nicht nur die eigentüm-
kennt die Fantasie keine Grenzen – sie ist roh, munter, frech,
liche Instrumentierung, mit der das Trio The Black Napkins
witzig, lyrisch...
auffällt. Die drei jungen Talente repräsentieren eine neue
The Black Napkins haben bei all dem Spielwitz und der Fantasie,
Generation in der holländischen Szene, die ja für ihren offenen
mit der sie auf der Bühne gleichberechtigt arbeiten, einen
Umgang mit klassischem Jazz und Avantgarde, mit Pop und
soliden musikalischen Hintergrund. Ihre Inspiration beziehen die
Bebop, mit Improvisation und Tradition berühmt und berüchtigt
drei Musiker aus dem Hier und Jetzt, jeder von ihnen zeichnet
ist. Ob sie aus dem absoluten Nichts heraus improvisieren oder
sich durch seinen Eigensinn aus. Zugleich ist es dem Trio ein
mit einem festgelegten Beat loslegen – man spürt die Spiel-
großes Anliegen, seine Musik demokratisch zu entwickeln. Es
freude der Black Napkins unmittelbar. Dabei switcht Gitarrist
ist ein ganzer Klangkörper, einen Chef gibt es hier nicht. Dass
Jasper Stadhouders zwischen akustischen und elektronischen
The Black Napkins sich nach einem Instrumental von Frank
Elementen hin und her – wobei er sein Instrument nicht nur als
Zappa benannt haben, steht dazu nicht im Widerspruch.
eins mit Saiten erforscht. Sanne van Hek selektiert die Töne der
Sanne van Hek_tp Jasper Stadhouders_g Gerri Jaeger_dr
Uli Lemke
programm
Sonntag, 31. Mai 2009
16.15 Uhr / Festivalzelt
Bei seinen Solo-Auftritten, alleine auf der Bühne mit seinen Saxofonen und Klarinetten und einer breiten Palette aus Quietsch- und Knacklauten, grummelndem Brummen und mutigem Gekreische, bezieht sich Colin Stetson zwar immer auch auf AvantgardeJazz. Doch anders als zum Beispiel Anthony Braxton oder Evan Parker, die sich mit ihren Solo-Settings zwar als aufregende, aber auch kopflastige Instrumentalisten zeigen, lässt sein Spiel stets die Hüften kreisen. Denn sein ausgeprägter Sinn für Rhythmik zielt immer in Richtung auf ungestümen, verrückten Grooves – u. a. nachzuhören auf den beiden Tom-WaitsAlben aus 2002, „Alice“ und „Blood Money“. Dem aus Michigan stammenden Stetson ist die Welt des Rock nicht fremd, hat er doch mit Indie-Bands wie Arcade Fire und TV On Radio zusammengespielt. Währenddessen feilte er an seinem Solo-Debüt, „New History Warfare: Volume 1“, das 2008 erschien. Auf dieser CD stellt er aber nicht nur stolz seine virtuose Instrumentaltechnik zur Schau. Vielmehr ist
einen „Dialog“ zwischen den gleichzeitig ins
es beeindruckend zu beobachten, wie er sein
Saxofonhorn gesprochenen und überblasenen
abgeklärtes und reifes Spiel, seine stupende
Klängen eines Dewey Redman und den erup-
Technik ganz in den Dienst seiner Solo-Perfor-
tiven Explosionen eines Peter Brötzmann.
mance stellt und dem musikalischen Material
Die berserkerhafte Bühnenpräsenz dieses
zuordnet. Wie zum Beispiel im langem Stück
deutschen Tenor-Titanen hat sowieso auf
„Time Is Advancing With Fitful Irregularity”:
Stetson abgefärbt. Dessen Leidenschaftlich-
Darin kombiniert Stetson die Zirkularatmung
keit ist stets greifbar: Stetsons Schwanken
mit dem perkussiven Schlagen der Saxofon-
und Taumeln auf der Bühne entspricht einer
klappen, eine belebend-ergreifende Geschich-
Körperlichkeit, die zu seinem muskulösem
te erzählend. Anderswo nickt er gleichsam mit
Sound passt. Nur selten hört sich improvisier-
seinem beeindruckenden Vokabular dem tief
te Musik so unerschrocken und experimentell
unter die Haut gehenden Spiel einiger älterer
an, gleichzeitig aber auch so erdig und frisch
Avantgarde-Saxofon-Heroen zu. In „Drown
wie bei Colin Stetson.
The Rats And Giants” etwa entfesselt er Zuerst erschienen in: „Time Out New York“, März 2008.
Hank Shteamer
Colin Stetson_b-sax, as, cl
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Sonntag, 31. Mai 2009
programm
nist einen kreativen Kreis um sich scharen und nicht zuletzt durch die regelmäßigen Auftritte in Clubs wie dem Village Vanguard im Stadtteil Greenwich wurde seine Big Band Los Guachos zur Keimzelle und Anlaufstelle einer jungen und aufgeweckten Nachwuchsgeneration. 17.30 Uhr / Festivalzelt Guillermo Klein_p
Seit 2002 lebt Guillermo Klein in Barcelona. Doch regelmäßig kehrt er in den Big Apple zurück, um mit seinem Ensemble zu arbeiten und
Miguel Zenón_sax
Der Klavierlehrer machte seinem damals 18-jährigen Schüler
aufzutreten. Denn bei Los Guachos kommen
Chris Cheek_sax
eine klare Ansage: „Wenn Du als Musiker etwas werden willst,
Kleins originelle Harmonien und ausgefallene
Bill McHenry_sax
verlass’ dieses Land!“ Es sollte keine zwei Jahre dauern, bis
Klangkonzepte idealtypisch zum Tragen. Hier
Diego Urcola_tp
Guillermo Klein mit Unterstützung der Eltern weg von seiner Hei-
kann er seine Vorliebe für Rhythmen, das Ver-
Richard Nant_tp
mat Argentinien an die Ostküste der Vereinigten Staaten zog. In
mischen unterschiedlicher Metren und Tempi
Taylor Haskins_tp
Boston hat er dann an der Kaderschmiede für junge Jazzmusiker
ausleben, in den Stücken schimmern immer
Sandro Tomasi_tb
studiert, dem Berklee College Of Music.
auch seine argentinischen Wurzeln durch. Oft
Ben Monder_g
Erst hier hat er nach und nach den Jazz kennen und vor allem lie-
bilden Elemente aus Tango und dem Chacarera,
Fernando Huergo_b
ben gelernt. Denn in den ersten Semestern kannte er kaum mehr
einem traditionellen Volkstanz seiner Heimat,
Jeff Ballard_dr
Jazzmusiker als Wayne Shorter, Strawinski und die Klassik lagen
subtile Strukturmerkmale von seinen Kompo-
ihm lange Zeit näher. Doch die improvisierte Musik trug den
sitionen. In seiner elfköpfigen „Mini“-Big-Band
Sieg davon. Spätestens als er Anfang der 1990er-Jahre nach
zeigt Klein, wie sich scheinbar Gegensätzliches,
New York ging und dort gelernt hat, sich im Künstlerdickicht des
nämlich Minimalistisches und Orchestrales, zu
Großstadtdschungels zurechtzufinden. Schnell konnte der Pia-
einem außergewöhnlichen und ausgewogenen Klangbild veredelt werden. Jörg Heyd
programm
Sonntag, 31. Mai 2009
20 Uhr / Festivalzelt
Ein geiles Gefühl! Aus der kanadischen Provinz Vancouver zu kommen und direkt im Herzen des Big Apple die Strippen bei einer 18-köpfigen Big Band ziehen zu dürfen – das klingt so fantastisch, dass es eigentlich überhaupt nicht funktionieren kann. Denn der Traum vom improvisatorischen Klangkörper verwandelt sich in Zeiten wie diesen zwangsläufig zum finanziellen und organisatorischen Albtraum. Gäbe es da nicht Enthusiasten wie Sue Mingus, Carla Bley, Maria Schneider, Jason Linder, John Hollenbeck oder Mike Kaplan, man könnte die Dinos des Jazz ausgerechnet in deren Mutterland nur mehr in fossiler Form, versteinert auf CDs, begutachten. In die Phalanx dieser raren, imposanten Kolosse reiht sich auch die Secret Society: nicht nur wegen seiner Größe ein erstaunlich flexibler Klangkörper, und alles andere als eine Eintagsfliege. Herz und Hirn dieser Kreatur vereinen sich in der Person von Darcy James Argue.
Namen wie „Ferromagnetic“,
Wie Maria Schneider verzichtet der 33-Jährige darauf, selbst
„Transit“, „Flux In A Box“ oder
am Piano mitspielen zu wollen. Lieber dirigiert er seine Secret
„Desolation Sound“. Sie
Society, steuert das Schlachtschiff wie ein Junge sein Spiel-
könnten Soundtracks sein,
zeug, manövriert es bewusst in knifflige Situationen, dreht an
Commericals oder ganze
dessen Intensität, mischt Klangfarben und realisiert damit sei-
Suiten. Die Rhythm-Section
Darcy James Argue_ld
ne eigene Klangwelt. Dabei handelt es sich beileibe um keine
groovt sich durch jedes noch
Erica von Kleist_fl, ss, as
braven Standard-Fantasien im Neobop-Format. Davon gibt es
so komplizierte Harmonie-
Rob Wilkerson_fl, cl, ss, as
schon fürwahr genug. Einer kopiert den anderen und merkt gar
dickicht, Hörner schluchzen,
Sam Sadigursky_cl, ss, ts
nicht, dass er sich damit selbst auf die Liste der vom Ausster-
zagen und drehen sich wie
Mark Small_cl, b-cl, ts
ben bedrohten Spezies setzt. Argue dagegen transferiert das
Propeller, honken funkig oder
Josh Sinton_cl, b-cl, bs
Vertraute in eine ungewohnte Umgebung. Sein Konzept wirkt
schmelzen wie Butter in der
Seneca Black_tp
wie ein Konglomerat aus Jazz, Rock, Alternative und anderen
tiefroten Abendsonne, die
Ingrid Jensen_tp
verfügbaren Einflüssen, getragen von einer unverkennbaren
hinter dem Hudson versinkt.
Matt Holman_tp
Ordnung und einer akkuraten Geometrie. Ein Plädoyer für
Dieser Saurier präsentiert
Nadje Noordhuis_tp
die andere Seite des Phänomens Big Band. Als Schüler von
sich quicklebendig und
Tom Goehring_tp
Bob Brookmeyer ist sich Argue sehr wohl darüber im Klaren,
bewegt sich unter Darcy
Ryan Keberle_tb
welches Risiko er eingeht. Er kennt die Rahmenbedingungen,
James Argues Zügeln in
Mike Fahie_tb
weiß um die Probleme des schwindsüchtigen Marktes. Aber mit
jede Richtung. Nur nicht in
James Hirschfeld_tb
einem derartigen Kreativpotenzial vor der Nase verbietet sich
die erwarteten. Damit der
Jennifer Wharton_b-tb
Pessimismus schon von selbst. Da ordneten sich schon Stars
Saurier überleben kann.
Sebastian Noelle_g
wie die Trompeter Ingrid Jensen und Tim Hagans, die Saxofo-
Reinhard Köchl
Mike Holober_p
nisten Donny McCaslin und John Ellis, Posaunist Ryan Keberle,
Matt Clohesy_b
Pianist Mike Hollober oder Schlagzeuger Jon Wikan bereit-
Jon Wikan_dr, perc
willig seinem kollektiven Antitrend unter. Die Songs tragen
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Sonntag, 31. Mai 2009
programm
„Hälse“ zusammen: flirrende Glissandi oben, rohe Blues- und Post-Fusion-Passagen unten. So einmalig Sahin als Gitarrist auch ist, so großartig gibt er den 21.15 Uhr / Festivalzelt
Bandleader. In seinem Occult Ensemble mischen sich beispielsweise moderne Harmonien mit zukunftsweisenden Improvisationen. Doch am wohlsten fühlt er sich in seinen kleinen
Liest man, dass zu Timucin Sahins wichtigsten Einflüssen Jimi
Jazzprojekten – wie etwa im Quartett mit John O’Gallagher
Hendrix und Eddie van Halen gehören, und sieht man ihn dann
(Saxofon), Thomas Morgan (Bass) und Tyshawn Sorey (Drums),
noch mit seiner Doppel-Hals-Gitarre, so ließe sich vermuten,
dessen antizipierendes, gleichermaßen komplexes wie leicht-
dass er nichts anderes sei als ein Heavy-Metal-Poser. Doch
gängiges Spiel auf dem Schlagzeug die perfekte Entsprechung
tatsächlich hat Sahin hervorragende Jazz-Chops, mit denen er
für seine schillernden Kompositionen ist. Im Zusammenspiel
subtil seine Idee einer Avantgarde zu Gehör bringt.
miteinander umkreisen sich die vier beständig und erzeugen
1973 in der Türkei geboren, studierte Sahin am Konservatorium
strömende, heiß fließende Sounds, die irgendwo im Niemands-
im holländischen Hilversum und Amsterdam. Später zog er
land zwischen Jazz-Fusion und Free Jazz verortet sind. Der
nach New York, wo er bis heute lebt und mit einigen besten
Leader selbst lässt seinen Musikern ausgiebig Raum für mutige
Musikern spielt – wie zum Beispiel mit dem Trompeter Randy
Improvisationskunst, die stets auf seinen perkussiven, Post-
Brecker, dem zurzeit angesagten Tenorsaxofonisten Mark
Derek-Bailey-Strukturen aufbaut.
Turner oder dem innovativen Altsaxofonisten Greg Osby. Doch
Tatsächlich rücken erst die improvisierten Klanglandschaften
bleibt er auch in ihrer Gegenwart keineswegs im Hintergrund.
der Band Sahins Melodien ins rechte Licht, lassen sie als
Ganz im Gegenteil: Sahin ist ein kühner, ein beeindruckender
kristallines, feinmaschig-komplexes Gewebe erstrahlen. Und so
Solist, der seiner aus einem bundlosen (oben) und traditionellen
wie seine „zweizackige“ Gitarre fast schon mythisch ausschaut,
(unten) Griffbrett bestehenden Doppel-Hals-Gitarre alle nur
so klingen auch seine Kompositionen: geheimnisvoll und
erdenklichen Sounds entlockt. In seinem Spiel führt er beide
ergreifend zugleich. Hank Shteamer
Timucin Sahin_g John O’Gallagher_sax Thomas Morgan_b Tyshawn Sorey_dr
programm
Sonntag, 31. Mai 2009
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22.30 Uhr / Festivalzelt
Rokia Traoré_voc, g Naba Aminata Traoré_voc Mamah Diabaté_n'goni Adama Koné_g Christophe „Disco“ Minck_b Emiliano Turi_dr
Foto: Richard Dumas
Sie ist stets für Überraschungen gut. Rokia Traoré hat von Anfang an für ihre Musik andere Wege gesucht als die Stars ihres Heimatlandes. Das besondere Faible für die Wurzeln der Musik aus Mali hatte die Diplomatentochter im Ausland entwickelt, im Tross ihres Vaters: Sie verbrachte die Kindheit in Belgien inklusive Reisen in alle Welt – und
Klangvolle Arrangements mit dem Kronos Quartett folgten,
natürlich immer wieder mit Abstechern in die
mit dem Oud-Experimentierer Smadj ließ sie sich auf elektro-
Heimat. Auf ihrem ersten Album verknüpfte
nische Eskapaden ein und auf ihrem aktuellen, vierten Album
sie alte Instrumente apart miteinander – so
„Tchamantché“ geht die junge Frau eine Liaison mit elektrischen
etwas hatte man zuvor in Mali noch nicht ge-
Gitarren ein und offenbart ganz nebenbei mit „The Man I Love“
hört. Manchen in Bamako und anderswo galt
im Hidden-Track ihre Liebe zu Billie Holiday. Von den traditi-
es als Verstoß gegen die Traditionen, was die
onellen Instrumenten ist nur noch die N'goni übrig, eine dem
Musikerin veranstaltete: Balafon und N'goni
Banjo verwandte Laute. Die spielt und rockt Mamah Diabaté,
zusammen auf der Bühne, das durfte man
ein virtuoser Musiker, der seit mehr als zehn Jahren eine fixe
nicht. Die Songs klangen introvertiert, es ging
Größe auch in der Tourband ist. Er zimmert gemeinsam mit den
ums Zuhören. Erst als Rokia Traoré mit ihrer
E-Gitarren, Bass und Drums sowie der Sängerin Naba Aminata
Musik im Ausland Erfolg hatte, begann man
Traoré das Fundament für Rokias Bühnenpräsenz, die sich
sie auch daheim in Mali zu akzeptieren.
längst nicht mehr als introvertiertes Ereignis fassen lässt. Und das nicht nur, weil die E-Gitarren hin und wieder mit Feedback und Reverb grooven. Uli Lemke
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Montag, 01. Juni 2009
programm
Masako Takada_g Yuri Zaikawa_b Sayaka Himeno_dr 14 Uhr / Festivalzelt
Drei zierliche, junge Frauen aus Tokio, die sich seit zehn Jahren als Girl-Group ausgeben – eine hierzulande eher in Verruf stehende
brauchen Dauerbeschallung.
peitscht. Darüber zirkulieren mit steigender
Kategorie. Die Drei von Nisennenmondai
Allein mit Konzertausschnit-
Pulsfrequenz die repetetiven Riffs ihrer beiden
tragen ihre Mädchenschuhe der Jahrtausend-
ten gängiger Videoportale
Kolleginnen.
wende mit unverhohlenem Willen und Stolz
oder den CD-Einspielungen
Gerade ist in Japan Nisennenmondais neues
zur akustischen Frontalattacke.
findet sich keine eindeutige
Album, „Fan“, auf Bijin Records erschienen,
Yuri Zaikawa (Bass), Masako Takada (Gitarre)
Lösung dieses „Jahr-2000-
zuvor wurden dort schon „Rokuon“ und
und Sayaka Himeno (Schlagzeug) brechen we-
Problems“ (so die deutsche
„Destination Tokyo“ veröffentlicht. „Neji/Tori“
der mit bestimmten Images noch zementieren
Übersetzung von Nisen-
kam irgendwann sogar als Doppel-LP auf den
sie diese. Sexappeal beglaubigt ihr Spiel nur
nenmondai). Deutlich wird
US-amerikanischen Markt. Seit einem Jahr
ungenügend. Eher zeigen sie, dass Headban-
ihre Jugend in Industrial
ist sie auch als CD in Europa erhältlich. Denn
ging eines der wenigen probaten Mittel ist,
und Psychedelic-Punk.
das, was im Konzert hypnotisiert, kann im Fall
den eigens erzeugten, treibenden Grooves
Gravitationszentrum ist die
von Nisennenmondai schneller zum süchtig
die Stirn zu bieten. Frühzeitiger Ausstieg:
Drummerin, die alles um
machenden Rausch werden als man denkt...
Fehlanzeige. Denn auch kleine Veränderungen
sich herum in ihren Bann
Franziska Buhre
programm
Montag, 01. Juni 2009
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15.15 Uhr / Festivalzelt Tim Isfort_b, ld Jim Campbell_electr Anja Losinger_xala Matthias Eser_marimba, perc Daniel Schroeteler_dr, perc Peter Engelhardt_g Peter Bolte_as, fl Frank Bergmann_ts, b-cl, theremin Mirjam Hardenberg_vcl, voc Henning Sieverts_vcl, b Tim Isfort im März 2009: „Ich weiß nicht, ob ich wirklich abgeschlossene Stücke schreibe oder ob ich das als 50-minütiges Ding sehe mit mehreren Schwerpunkten.“ In jedem Fall wird der Bassist und Leader dieses Tentetts zwischen auskomponierten Teilen Raum für Improvisationen lassen, für seine Musiker und ihre teils speziellen Instrumente. Anja Losinger zum Beispiel ist Tänzerin und Musikerin. Ihr Xala ist ein Unikat: ein Bodenxylofon von ca. 2 x 2 m Fläche, deren Klangplatten in zwei Ganztonskalen gestimmt sind. Sie spielt es tanzend mit den Füßen und zwei großen Holzschlegeln in den Händen. Der Perkussionist Matthias Eser ist ihr Duo-Partner. Rhythmisch-tonale Patterns ihres Repertoires entwickeln sich zu Strukturelementen in Isforts Kompositionen. Der virtuose DJ Jim Campbell arbeitet mit Tonbändern – mit alten analogen Kassetten. Saxofonist Frank Bergmann spielt zudem das Theremin, ein frühes elektronisches Musikinstrument, das auf manuelle Gesten reagiert. Mit Henning Sieverts, Peter Bolte und Daniel Schroeteler gehören drei Exponenten der deutschen Jazzszene zum Tentett. Und Mirjam Hardenberg und Peter Engelhardt sind alte Weggefährten Isforts, sowohl in seinem Super8-Projekt als auch in seinem Orchester, mit dem er schon vor zehn Jahren die Musikwelt aufhorchen ließ. entwickelt Isfort sein Moers-Programm dann mit seinen Kolleginnen und Kollegen. Seine Erwartungen sind hoch: „Ich habe sehr viel mit Ostinati vor, mit minimal-artigen Grundflächen. Über diese Grundflächen will ich Stimmen für die Streicher und die Bläser schreiben.“ Und die Improvisationen öffnen Musikwelten, „wie es sie so noch nicht gegeben hat“, ist Tim Isfort überzeugt. Ulrich Kurth
Foto: Helmut Berns
In zwei Probentagen direkt vor der Aufführung im Festivalzelt
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Montag, 01. Juni 2009
programm
aber, dass Extra Life ein typisches Singer/Songwriter-Ding ist, so täuscht man sich gewaltig. Bassist Tony Gedrich und Schlagzeuger Nick Podgurski kämpfen sich durch die komplexen, stets wie aus dem Gleichgewicht geratenen Rhythmen und 16.30 Uhr / Festivalzelt
entwerfen ein fremdartiges Amalgam – so als ob sich eine krachig-lärmende Metal-Band an moderner klassischer Musik probiert. Über diesen schroffen Untergrund legt Looker seine
Als Charlie Looker noch im Avantgarde-Kammer-Ensemble
eigentümlich gestalteten Vokallinien, die mäandernd in Mantra-
Zs spielte, geschah bei vielen Konzerten etwas Seltsames:
artigen Kadenzen enden, schattiert von schaurigen Klängen
Immer in der Mitte des anspruchvollsten Stücks, „Nobody
des Keyboarders und Saxofonisten Travis Laplante und Geigers
Wants To Be Had“ (einer Looker-Komposition, in der komplexe
Caely Monahan-Ward. Und auch bei Extra Life besitzt Looker
Gesangslinien im Vordergrund stehen), applaudierte das
die Fähigkeit, sein Publikum mit intellektueller Attitüde ebenso
Publikum spontan und lautstark. Jeder, der sich mit experimen-
in den Bann zu ziehen wie mit schlichten, hymnischen Songs.
teller, avantgardistischer Musik auseinander setzt, weiß, dass
Die ungewöhnliche Musik der Band verliert ihren Reiz auch
ein solch frenetischer Beifall nicht alltäglich ist. Für Looker
dann nicht, wenn man sie auf CD hört. Auf dem Debüt-Album
jedenfalls eine Würdigung, wie geschickt und raffinert er
„Secular Works“ von 2007 gibt Looker kryptische Erzählungen
zwischen intellektueller Strenge und bauchiger Körperlichkeit
zum Besten, von verlorenen Freundschaften oder gar psycho-
zu balancieren weiß.
sexuellen Traumata – zumeist sind es Stücke, die schön und
Ist Zs eine demokratische Band, so ist Extra Life ganz und
scheu zugleich klingen, direkt auf Herz, Hirn und Seele zielen.
gar Lookers Baby. Der Sänger und Gitarrist schreibt sämtliche
Nicht Kunstlied, nicht Metal, Kammermusik oder Gothic.
Stücke selbst und ist Frontmann der Band. Vermutet man
Sondern fesselnde und Grenzen sprengende Musik, die dem Publikum ein wahrhaft erschütterndes Hörerlebnis verspricht. Hank Shteamer
Charlie Looker_g, voc Travis Laplante_keyb, ts Caley Monahon-Ward_v Tony Gedrich_b Nick Podgurski_dr, perc
programm
Montag, 01. Juni 2009
17.45 Uhr / Festivalzelt
Im vergangenen Jahr spielte Angelika Niescier, Saxofonistin und erste „Improviser In Residence“ von Moers, für das
sOo-Jung Kae_p
Goethe-Institut einige Konzerte in Südkorea. Dort, in der Haupt-
Chung U Choi_b
stadt Seoul, hörte sie die Pianistin und Komponistin sOo-Jung
Tomas Fujiwara_dr
Kae bei einem Auftritt. Die Deutsche war hellauf begeistert
Byungjun_electr
von der vielschichtigen, aller Komplexität zum Trotz stets hochemotionalen Musik der Südkoreanerin. Und wünschte sich, dass sOo-Jung Kae mit ihrem Quartett cOllage beim diesjährigen Festival in Moers spielt. „Für mich gibt es so viele Dinge, die ich nicht mit Worten beschreiben oder erklären kann“, erzählt sOo-Jung dem Journalisten Jeff Song. „Wenn ich aber Piano spiele, dann brauche ich nicht das gesprochene Wort, um meine Gefühle und Gedanken auszudrücken. Bin ich traurig, dann spiele ich eben traurige Melodien. Bin ich lustig, dann spiele ich lustige Töne. So einfach ist das.“ Was sich für westliche Ohren ein wenig simpel und naiv anhört, macht aber bei tieferer Betrachtung Sinn. Musik in Korea muss stets Gefühle transportieren, muss das Publikum emotional direkt ansprechen – das war schon immer so. Wichtiger Bestandteil auch und gerade der traditionellen koreanischen Musik war Improvisation – und ist es bis heute. „Meine Musik ist ein ,Melting Pot‘ aus klassischer und Neuer Musik, aus freier Improvisation und natürlich Jazz“, sagt Kae. Die Liste ihrer Einflüsse und Vorbilder ist dementsprechend lang: von Beethoven, Stockhausen und Cage über Braxton, Coleman und Monk bis hin zu Elvis Costello und den Sex Pistols. Und mit ihrem kulturgeschichtlichen Hintergrund fällt es der sowohl klassisch (Seoul) als auch jazzmusikalisch (Boston) ausgebildeten Pianistin jedenfalls leicht, eine gleichermaßen komplex gestaltete wie mitreißende Improvisationsmusik zu spielen. Darin sind beispielsweise Brüche ebenso erlaubt wie ein gleichmäßiges Ineinanderfließen von Musiken anderer Kulturkreise. Auch und gerade mit ihrem in Moers zu hörenden Quartett fügt sie ad hoc Baustein auf Baustein, um ein kristallen funkelndes, bis in den Mikrokosmos durchstrukturiertes, Klang gewordenes Gebäude zu errichten. Somit machen Kae, Chang U Choi (Bass), Tomas Fujiwara (Drums) und Byungjun (Elektronik) auch dem Bandnamen alle Ehre: cOllage. Martin Laurentius
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Montag, 01. Juni 2009
programm
19 Uhr / Festivalzelt
Endlich legt Marc Ribot mal die Karten auf den Tisch. Er nimmt jedem Kritiker die Chance, seine Musik wie bisher reflexartig in irgendeine Genre-Ecke abzuschieben. Auch die zahlreichen Klischees, die dem GitarrenDespoten bislang hurtig aufgepappt wurden, stimmen plötzlich nicht mehr. Ribot spielt sich frei. Von all den Namen, auf deren Trittbrettern er bislang eine Art Sekundärkarriere aufbaute: Tom Waits, Cassandra Wilson, Chuck Berry, Elvis Costello, Caetano Veloso,
avantgardistischen Squat Theaters sowie in
Madeleine Peyroux, John Zorn, Bill Frisell,
Jim Jarmuschs Film „Stranger Than Paradise“
Arto Lindsay, T-Bone Burnett, die Lounge
von 1984 erste Bekanntheit, bevor sie sich mit
Lizards oder Hardrock-Legende Robert Plant
ihrem CD-Debüt „Flicker“ aus dem Jahr 1999
samt Partnerin Alison Krauss, die dank Ribots
ein zweites Karrierefenster öffnete. Die Frau
Fantasie mit ihrem gemeinsamen Album
will sich ebenso wenig festlegen wie Ribot,
„Raising Sand“ sogar zu Grammy-Ehren kamen.
Smith und Ismaily. Deshalb passt sie mit ihrer
Von all den schnöseligen Stilen wie Jazz, Punk,
schillernden, heterogenen Persönlichkeit
Latin, Soul, NoWave, Avantgarde, Hardrock,
nahezu perfekt in das kreative Klangkonglo-
Ambient, Pop, Radical Jewish Culture, World
merat, das ganz offenbar Spaß daran findet,
oder welche Sternschnuppen sonst noch
eigene Grenzen niederzureißen, gemeinsame
durch den Musikkosmos zischen: Mit Ceramic
Möglichkeiten auszuloten, in die Tiefe zu
Dog, der ersten echten Rockband seit seiner
gehen und nach verschütteten Gefühlen zu
Highschool-Zeit, wagt Ribot einen Trip in
schürfen.
unbekannte Territorien.
Der Name Ceramic Dog leitet sich von einer
Es sind durchtriebene Spießgesellen, dieser
französischen Redewendung („chien de
Ches Smith (Xiu Xiu) am Schlagzeug und
faience“) ab, die in etwa so viel meint wie
dieser Shahzad Ismaily (Laurie Anderson), der
„frozen with emotion“. Soll heißen, die Trance,
Bass und Keyboards bedient. Die Drei holzen,
in die man gerät, wenn man frisch verliebt
dass die Membrane bebt, treten bedrohliche
ist und sich gegenseitig in die Augen schaut.
Noise-Hurrikans los, verstricken sich in
Die wunderbare „emotionale Erstarrung“, in
Marc Ribot_g
durchgeknallte Wortschöpfungen oder geben
welche die Liebe einen in dieser Sekunde
Shahzad Ismaily_b
die funkenden „Machos on Acid“. Nach einem
versetzt. Oder der Moment der angespannten
Ches Smith_dr
Auftritt in Paris (bei einem Serge-Gainsbourg-
Stille, wenn sich die Kontrahenten in die
Eszter Balint_voc
Tribut unter der Regie von John Zorn), steht
Augen sehen, kurz bevor ein Kampf ausbricht.
ihnen in Moers erneut die Sängerin und
Dies herzustellen, ist das Ziel von Ceramic
Schauspielerin Eszter Balint zur Seite. Das
Dog. Ribot und Co. definieren die Avantgarde
charismatische, aus Ungarn stammende Mul-
als HipHop des 21. Jahrhunderts.
titalent erlangte als Mitglied des legendären
Reinhard Köchl
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Jazz-Festival und PARITÄTISCHER Wohlfahrtsverband – wie passt das zusammen? Kultur und Soziales haben durchaus gemeinsame Schnittmengen. Wir haben uns erstmals hier 1998 mit der AKTION GRUNDGESETZ der damaligen Aktion Sorgenkind engagiert: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ war damals die Forderung. Es ging um Teilhabe von Behinderten am „normalen“ Leben. Wir haben deshalb im gleichen Jahr in enger Zusammenarbeit mit der Festivalleitung begonnen, das Moers-Festival barrierefrei zu gestalten. Damit war das Moers-Festival die erste musikalische Großveranstaltung zumindest in Deutschland, wenn nicht in ganz Europa, die barrierefrei war und ist. Was heißt denn barrierefreies Moers-Festival? Alle Veranstaltungen sind ohne Stufen zu erreichen, es gibt Behindertentoiletten, es gibt das Festivalprogramm in Blindenschrift und auf CD und wir haben 25 Mitarbeiter als Behindertenassistenz im Einsatz. Es gibt im Festivalzelt einen Bereich für Rollstuhlfahrer mit einem guten Blick auf die Bühnen. Ein Rollstuhlfahrer kontrolliert während des Festivals ständig den Zustand der Barrierefreiheit.
Wie ist die Resonanz auf das Angebot? Wir stellen fest, dass jedes Jahr mehr behinderte Besucher zum Festival kommen. Es bestätigt unsern Ansatz, wenn ein Rollstuhlfahrer nach Moers kommt und ein Zelt mitbringt in dem Wissen, dass hier Menschen sind, die ihn beim Zeltaufbau unterstützen. Das zeigt, dass es funktioniert mit der Barrierefreiheit. Und ganz stolz sind wir immer noch, dass das Moers-Festival im Jahr 2004 vom ADAC das Prädikat „Best-Practice-Beispiel für eine kulturelle Großveranstaltung verliehen bekommen hat. Es gibt viele Musikfestivals auf der ganzen Welt. Experten aus aller Welt bestätigen uns, dass wir in Bezug auf die Barrierefreiheit eines Musikfestivals einfach das Beispiel schlechthin sind. Interview mit Hartmut Hohmann, Regionalgeschäftsführer des PARITÄTISCHEN Wohlfahrtsverbandes Kreis Wesel
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moers festival 2009
night sessions @ Bollwerk 107 Drei Pfingstnächte zwischen Gitarrensound, Free Funk, Indie, Jazz und HipHop: Bei den night sessions @ Bollwerk 107 gibt’s bis weit nach Mitternacht aktuelle Musik und Bands, zum Entdecken, Hören, Grooven und Tanzen.
In diesem Jahr fusionieren die SKAndalbühne und the night zu den „night sessions @ Bollwerk 107“. Während Boris Graue vom Bollwerk 107 wieder mit einer Auswahl der spannendsten regionalen und internationalen Indie-Bands aufwartet, hat das moers festival drei Bands ins Bollwerk geladen, die gegen Mitternacht zu hören sind. Am Freitagabend sind dies die Lucky Dragons. Die Band kommt aus dem Umfeld von The Smell, einem Club in Los Angeles, der aber zu den interessantesten Orten auf der Indie-Weltkarte ist. Und anders als der Name vermuten lässt, ein sehr entspannter und zivilisierter Ort: Die Betreiber verkaufen keinen Alkohol, dafür aber veganes Essen. Es gibt eine Galerie und eine Bibliothek. Am Samstag stehen gegen 24 Uhr NOMO auf der Bühne. Die US-Amerikaner spielen eine Mischung aus Post-Afrobeat, Pop und Free Jazz. Sonntag wird der Sound von Südafrikas HipHop-Star Tumi & The Volume ohne Umwege direkt in die Ohren gehen. Aus einer Jam-Session heraus entstanden, betreiben sie einen Mix aus HipHop, Rock und Funk. Hier verschmilzt subtile Geschmeidigkeit mit originellem Funksound, wie man ihn von Bands wie The Roots, oder eher noch A Tribe Called Quest kennt.
Kill For You | Freizeichen | Lucky Dragons | 100 Blumen Datum:
Freitag, 29. Mai 2009
Uhrzeit:
20 Uhr
Fahrlässig | The Sewer Rats | Devil’s Door | Die Kassierer | NOMO Datum:
Samstag, 30. Mai 2009
Uhrzeit:
18 Uhr
Grober Unfug | Melanie & The Secret Army | Loaded | Emscherkurve 77 | Skarface | Tumi & The Volume Dtum:
Sonntag, 31. Mai 2009
Uhrzeit:
18 Uhr
programm
programm
moers festival 2009
night sessions @ Röhre Datum:
Samstag, 30. Mai 2009
Uhrzeit:
24 Uhr
Ort:
Die Röhre
Sonntag, 31. Mai 2009
Weygoldstr. 10, 47441 Moers Während New York einen Schwerpunkt im diesjährigen Hauptprogramm bildet und andere Metropolen bei den „night sessions @ Bollwerk 107“ im Fokus stehen, ist die Röhre an zwei Abenden Schauplatz einer weiteren amerikanischen Musikstadt: Chicago. Von dort kommt der umtriebige Saxofonist Dave Rempis mit seinem Percussion Quartet. Die Band bietet eine spontane, frei improvisierte Mischung aus westafrikanischen und lateinamerikanischen Rhythmen, gepaart mit nordamerikanischem Funk und Free Jazz. Dave Rempis_sax Ingebrigt Håker Flaten_b Frank Rosaly_dr Tim Daisy_dr
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moers festival 2009
programm
morning sessions @ Tribera Datum:
Samstag, 30. Mai 2009 Sonntag, 31. Mai 2009 Montag, 01. Juni 2009
Uhrzeit:
11 Uhr - 13 Uhr
Ort:
Tribera – Triangle Below Rathaus*
* Triangle Below Rathaus: Schlosstheather, Rathaus-Kantine, Dunkelzelt
„See what happens“ – mit diesen schlichten Worten beschreibt die Saxofonistin Angelika Niescier ihr Konzept für die „morning sessions@Tribera“. Die letztjährige und erste „Improviser In Residence“ in Moers hat die Aufgabe übernommen, Musikerinnen und Musiker Foto: Helmut Ber ns
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aus dem Hauptprogramm einzuladen, um mit ihnen an drei Vormittagen den „Zauber der ersten Begegnung“ vor Publikum zu feiern. Hier kommen also Musiker zusammen, die sich noch nicht kennen und in „wilden“ Kombinationen aufeinandertreffen. USA trifft Deutschland trifft Korea trifft Holland trifft Türkei... Wem also die Entferungung zur Bühne im Festivalzelt zu groß ist, der hat bei den „morning sessions @ Tribera“ die Möglichkeit, einige der Musiker von dort in einer intimeren, persönlicheren Atmosphäre zu erleben. Die unten angegebenen Besetzungen sind nicht nur ohne jede Gewähr, sondern werden höchstwahrscheinlich noch ergänzt und variiert. Die aktuellen Zusammensetzungen werden wir im „Moerser Morgen“, unserer täglichen Zeitung zum Festival, ankündigen. „See what happens“.
Sanstag, 30. Mai
Sonntag, 31. Mai
Montag, 1. Juni
Dunkelzelt:
Dunkelzelt:
Dunkelzelt:
Sam Sadigursky_sax, Ryan Keberle_tb,
Josh Sinton_sax, Nadje Noorhuis_tp,
Dave Rempis_sax, Colin Stetson_sax,
Nadje Noordhuis_tp, sOo-Jung Kae_p,
Dave Rempis_sax, Jasper Stadhouder_g,
Miya Masaoka_koto/electr, sOo-Jung
Henning Sieverts_b, Ian Antiono_dr
Karo Höfler_b, Frank Rosaly_dr
Kae_p, Karo Höfler_b, Gerri Jaeger_dr
Kantine:
Kantine:
Kantine:
Mike Fahle_tb, Matt Holman_tp, Sam
Colin Stetson_sax, Sam Sadigursky_sax,
Sanne van Hek_tp, John O’Gallagher_sax,
Hillmar_sax, Sebastian Noelle_g,
Sanne van Hek_tp, Mike Holober_p,
Timucin Sahin_g, Chang U Choi_b, Frank
Karo Höfler_b, Tomas Fujiwara_dr
Chang U Choi_b, Tim Daisy_dr
Roslay_dr
Theater:
Theater:
Theater:
Josh Stinton_sax, James Hirschfeld_tb,
James Hirschfeld_tb, Erica v. Kleist_sax,
Samuel Blaser_tb, Byungjun_electr,
Ben Grenberg_g, Chand U Choi_b,
Samuel Blaser_tb, sOo-Jung Kae_p,
Jasper Stadhouder_g, Anton Hartwich_b,
Michael Griener_dr
Anton Harwich_b, Gerri Jaeger_dr
Tim Daisy_dr
programm
daydream @ Dunkelzelt Datum:
Samstag, 30. Mai 2009
Uhrzeit:
14 Uhr - 20 Uhr
Datum:
Montag, 01. Juni 2009
Uhrzeit:
14 Uhr - 19 Uhr
Live-Events:
14 Uhr & 19 Uhr
Sonntag, 31. Mai 2009
(01. Juni 2009 nur 14 Uhr) Echo Ho ist dieses Jahr Kuratorin für das Programm im Dunkelzelt. Der neue Name für die drei Nachmittage: „daydream @ Dunkelzelt". Die in Kön lebende chinesische Multimedia-Künstlerin hat ein Konzept entwickelt, dass die normale Frontal-KonzertSituation aufhebt. In einem „Zelt im Zelt“ gibt es Klangskulpturen von Andreas Huyskens und Selma Gültoprak. Deren Sound- und Geräuschkulissen werden von Hannes Hoelzl zu besonderen Lautsprechern geschickt – plus von Volker Hennes ausgewähltem und collagiertem Material aus dem Archiv der WDR-3-Sendung Freiraum:Open. Das Einzigartige daran: Die komplette Zelthaut ist die Membrane dieser Lautsprecher, sodass die Zuhörer tatsächlich im Klang stehen – ohne die Quelle lokalisieren zu können. Lässt sich Lagerfeuer-Romantik auf die virtuelle Welt übertragen? Nach Meinung von PowerBooks_Unplugged: ja. Dieses „Quartett“ programmiert mit seinen PowerBooks einen musikalischen Code, der live von den vier „Computermusikern“ bearbeitet und verfremdet wird, und zudem von einem Rechner zum anderen geschickt werden kann. Nur über die Computerlautsprecher zu hören, solange die Batterien reichen. Und weil die Idee von „Open Source“ auch bei improvisierter Musik funktioniert, darf jeder, der seinen PowerBook mitbringt, auch im Dunkeltzelt mitmachen – mit 30-minütigem Workshops vor den Live-Events. Der „Moerser Morgen“ informiert täglich über Ort und Zeit.
Alberto de Campo Jan-Kees van Kampen Julian Rohrhuber Renate Wieser_PowerBooks_UnPlugged Hannes Hoelzl_sound installation Volker Hennes_sound archive & collages Andreas Huyskens, Selma Gültoprak_equipment, instrument construction Echo Ho_idea, concept & overall director In Zusammenarbeit mit der INITIATIVE HÖREN, dem Kulturradio WDR 3 und dem Paritätischen, Kreis Wesel.
moers festival 2009
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moers festival 2009
programm
Klangwerkstatt @ Stadtkirche Datum:
Samstag, 30. Mai 2009 Sonntag, 31. Mai 2009 Montag, 01. Juni 2009
Uhrzeit:
13 Uhr
Ort:
Evangelische Stadtkirche Klosterstraße, 47441 Moers
Zwei Musikerinnen aus ganz unterschiedlichen Richtungen (zeitgenössische und mittelalterliche Improvisation) und Kontinenten (Europa und Amerika) treffen in der Evangelischen Stadtkirche an drei Tagen aufeinander, experimentieren, forschen – und finden! Die Koto-Spielerin und Komponistin Miya Masaoka gehört zu den experimentierfreudigsten Musikerinnen der USA und spielt in Moers zum ersten Mal mit Maria Jonas, eine der führenden europäischen Sängerinnen im Bereich der alten und – immer häufiger – auch der improvisierten Musik.
Miya Masaoka_koto Maria Jonas_voc, glocken, drehleier
nimm! 2009 – Netzwerk Improvisierte Musik Moers Die Premiere im Pilotjahr 2008 war ein Erfolg: Mehr als 3.000 Teilnehmer und Zuhörer nahmen an den „nimm!“-Workshops und Konzerten der Kinder- und Jugendprojekte, den so genannten „Schleusen“, in der Woche vor dem letztjährigen moers festival teil. Und auch die erste „Improviser In Residence“ von Moers, die Saxofonistin Angelika Niescier, begeisterte ein Jahr lang u. a. mit Konzerten die Bürger der Stadt. 2009 führt die „nimm!“-Aktionen fort, mit denen das musikalische moers festival-Abenteuer in die Stadt selbst getragen wird. Niesciers Nachfolger, der Komponist Simon Rummel, greift noch bis Anfang 2010 tief in das Moerser Kulturleben ein. Die drei „Schleusen“, „Inszenierte Konzerte“ für das erste, „Mitmach-Projekte“ für das fünfte Schuljahr und „Workshops & Projektresidenzen“ für Jugendliche ab 14 Jahren, sind zum Festivalbeginn ebenso zu Ende gegangen wie die Aktion „100 Minuten“ (u. a. mit dem Peter-Fox-Co-Produzenten DJ Illvibe), die „Advanced Workshops“ für Jugendliche und Erwachsene (u. a. mit der Berliner Groove-Band Lychee Lassi) und „This Is Our Moosic“ mit Mostly Other People Do the Killing (s. S. 37). Sämtliche Infos zu „nimm!“ und den Projekten gibt’s im Internet auf: www.n1mm.de. Das „Netzwerk Improvisierte Musik Moers“ („nimm!“) wird gefördert durch das Netzwerk Neue Musik, ein Förderprojekt der Kulturstiftung des Bundes, durch die Kunststiftung NRW und durch den Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen.
programm
moers festival 2009
This Is Our Moosic Jazz ist stets auch sub- bzw. gegenkulturelle Ausdrucksform von Selbstermächtigung und Protest – und vor dem moers festival 2009 Ausgangspunkt für gesellschaftspolitische Diskussionen. In Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für Politische Bildung verfolgt das Projekt „This Is Our Moosic“ das Ziel, Schülern und Schülerinnen einen Zugang zu Jazz zu vermitteln und zu zeigen, wie diese Musik mit ihrer – auch politisch – hochbrisanten Tradition weiterlebt. Mit Mostly Other People Do the Killing stellt sich eine Band den Fragen der Schüler, die nicht nur musikalisch spannende Antworten auf Fragen zur Tradition des Jazz hat, sondern auch außermusikalisch ihr Verhältnis zur Gesellschaft und Kultur reflektiert. Moppa Elliott (Bass), Peter Evans (Trompete), Jon Irabagon (Saxofon) und Kevin Shea (Drums) repräsentieren durch ihre Zugehörigkeit zur New Yorker Szene auch eine Traditionslinie im Jazz, die von Brüchen und Abgrenzungen geprägt ist. Eine Woche mit Diskussionen, Vorträgen, Ausstellungen über Widersprüche, Randkultur, Tradition und Aufbruch. Durch das Engagement der teilnehmenden Justus-von Liebig-Schule, der GeschwisterScholl-Gesamtschule und der Hermann-Runge-Gesamtschule wird den Schülern nicht nur musikalisch ein selbstbewusster Umgang mit Konventionen und Traditionen vermittelt, sondern auch eine bewusste Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen und gesellschaftspolitischen Möglichkeiten. In Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für Politische Bildung.
Rund ums moers festival Das moers festival wartet auch 2009 mit einer Menge außer-
Uhr am Pfingstsamstag. Und die WDR 3 Jazznacht vom 6. auf den 7. Juni sendet
musikalischer Service-Angebote auf: Das moers festival-Ra-
Mitschnitte vom moers festival und von den INNtönen in Diersbach/Österreich
dio sendet live aus dem Zelt und bringt zusätzliche Interviews
– Programminfos im Internet auf jazz.wdr.de und wdr3.de. Ganz neu in 2009: Das
und Features rund ums Festivalgeschehen. Zu empfangen im
gesamte Festival wird per Live-Stream über unsere Webseite moers-festival.
ganzen Stadtgebiet auf der UKW-Frequenz 107,3. Neu die
de zu verfolgen sein. Das „Stream-Team“ der Kunsthochschule für Medien in
Sendung „Nachtkritik“, in der Besucher des moers festival am
Köln produziert außerdem Podcasts rund um Festival und Künstler. Unser Blog
Ende eines jeden Tages über das Festival, die erlebten Konzerte
wird ebenfalls aktuellste Infos parat haben. Was noch? Ein täglicher, kostenloser
und Musiker live im Radio diskutieren. Außerdem vor Ort: Die
Bus-Shuttle zwischen Festivalgelände und Hauptbahnhof Moers/Bollwerk 107,
Jazzredaktion des Kulturradios WDR 3 überträgt Konzerte
ein bewachtes Camping-Areal für Besitzer eines Festivaltickets, behindertenge-
der ersten beiden Festivaltage live in WDR 3 Konzert ab 20.05
rechte Sanitäranlagen auf dem gesamten Gelände und und und.
Barrierefreiheit Seit 1997 ist das moers festival dank der Kooperation mit
Rathaus). Das Konzertprogramm ist in Blindenschrift bzw. als
dem Paritätischen Wohlfahrtsverband und der Aktion Mensch
Audiokassette und CD erhältlich. Der Behindertenfahrdienst
barrierefrei. So wird z. B. die Befahrbarkeit des Geländes für
der Stadt Moers freut sich auf Gäste (Telefon 0700/663 663
Gehbehinderte im Vorfeld durch einen „Testrollstuhlfahrer“ ge-
77) und der Paritätische Wohlfahrtsverband steht mit seinen
prüft. Behindertengerechte Toiletten und Sanitäranlagen sind
Mitarbeitern und einem Informationsstand mit Rat und Tat zur
ausreichend vorhanden, ein behindertengerechter Geldautomat
Verfügung. Für Fragen im Vorfeld bitte folgende Telefonnummer
befindet sich an der Sparkasse am Neumarkt (Nähe Neues
nutzen +49 (0) 2841 / 9 00 00 (Der Paritätische, Kreis Wesel).
Das moers festival wurde 2004 durch den ADAC als Best-Practice-Beispiel für eine barrierefreie Großveranstaltung ausgezeichnet.
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moers festival 2009
magazin
Hier in Moers hätte man es ja ahnen können, was 2009 aus den USA auf uns zukommt. Denn vor einem Jahr spielte der junge Trompeter Peter Evans mit seinem Quartett ein fulminantes, ein begeisterndes Konzert auf dem moers festival. Und war die Speerspitze für die – wir nennen sie der Einfachheit halber – „Young Guns from New York“. 2009 kehrt Evans nach Moers zurück. Im Schlepptau: eine breite Phalanx mit gleichaltrigen Musikern aus New York. Aufbruch ist drüben angesagt, es vibriert in der Szene im Big Apple – obwohl oder gerade weil die Projekte dieser „Young Guns“ stilistisch so verschieden sind. Hier im Magazin kommen sie zu Wort. Evans ebenso wie Charlie Looker, Colin Stetson, Darcy James Argue und Sam Hillmer. Und machen deutlich: Sie sind kein kurzlebiger Hype, sondern der Beginn einer neuen Community. Das Stichwort USA zieht sich wie ein roter Faden auch durch das Magazin. Braucht Europa ein starkes Jazz-Amerika als kreatives Gegengewicht? Wo steht die afroamerikanische Szene – angesichts der Euphorie über die Amtseinführung von Barack Obama als erster schwarzer USPräsident? Was macht moers festival-Veteran George Lewis und die AACM? Das moers festival feiert. Nein, nicht 60 Jahre Staatsgründung Bundesrepublik, auch nicht 20 Jahre Mauerfall. Obwohl beide Jubiläen bei „unserem“ Jahrestag eine Rolle spielen. Vor 30 Jahren kamen zum ersten Mal Jazzmusiker aus der DDR in die BRD – 1979 zum New Jazz Festival in Moers, eine der großen veranstalterischen Leistungen des Festivalgründers Burkhard Hennen. Anlass, um sich Gedanken über die historische Bedeutung des DDR-Jazz' zu machen. Bevor wir Seiten aus dem 79er-Programmheft zeigen, kommt Dr. Jürgen Schmude aus Moers zu Wort. Er war 1979 unter Bundeskanzler Helmut Schmidt Bundesminister für Bildung und Wissenschaft. In unserer neuen Gesprächsreihe im Magazin, „Zeitzeugen“, erinnert er sich an den Festivaljahrgang vor 30 Jahren – und unterstreicht, wie wichtig ein kulturelles Ereignis wie das moers festival für eine Stadt der Größe von Moers ist. Die Redaktion
moers festival 2009
New York, West Harlem
NYC-SCENE
Spätestens seit vergangenem Jahr
Community
spricht man über diese Szene junger
Von allen jungen New Yorker Musikern, die
zu sein scheint.
New Yorker Musiker, als der junge Trom-
dieses Jahr auf das Festival nach Moers kom-
Zu dieser Szene aus New York City gehört
Unbegrenztheit aber einzigartig und einmalig
peter Peter Evans mit seinem Quartett
men, gibt sich Peter Evans – Trompeter der
das anspruchsvolle Avantgarde-Kammer-Trio
ein fulminantes Konzert beim moers
Jazz-Dekonstruktionisten von Mostly Other
Zs (ausgesprochen: „Zees“) ebenso wie das
festival spielte. Doch was ist dran an
People Do the Killing – am Überschwäng-
Post-Prog-Art-Pop-Quintett Extra Life, die
dieser Szene? Ist sie nur ein kurzlebiger
lichsten. „Was dieses Jahr auf dem Festival
großartig-expressiv auftrumpfende Big Band
Trend? Oder stellt sie den Anfang einer
los ist, ist wirklich großartig,“ schwärmt er.
Secret Society des Komponisten Darcy James
Community dar, vergleichbar mit der
Als jemand, der wie ich die experimentelle
Argue, das bereits erwähnte Quartett Mostly
New Yorker Downtown-Avantgarde? Der
junge Szene in New York beobachtet, darüber
Other People Do the Killing (MOPDTK) um den
New Yorker Journalist Hank Shteamer
geschrieben und aktiv mitgewirkt hat, muss
Bassisten Moppa Elliott und der Groove-
jedenfalls ist davon überzeugt – und
ich ihm zustimmen. Das Programm von Moers
orientierte Saxofon-Visionär Colin Stetson. Bei
schreibt, warum.
2009 bietet eine der seltenen Gelegenheiten,
einigen aus dieser Szene gibt es noch weitere,
ein „Ökosystem“ aus jungen Musikern beob-
auch persönliche Verbindungen: Der Bandlea-
achten zu können, die sich nicht nur gegensei-
der von Extra Life, Gitarrist und Sänger Charlie
tig beeinflussen und inspirieren, sondern auch
Looker, ist auch ehemaliges Mitglied von Zs.
durch eine gemeinsame Ästhetik miteinander
Einige Mitglieder beider Bands haben wieder-
verbunden sind – die in ihrer stilistischen
um in verschiedenen Projekten vom MOPDTK-
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Fotos: Nate Dorr
magazin
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moers festival 2009
magazin
Schlagzeuger Kevin Shea gespielt. Andere Parallelen sind stilistischer Art: So bewegen sich Shea, Looker und der Zs-Gitarrist Ben Greenberg vollkommen frei und natürlich zwischen den Extremen Rock und experimenteller Improvisation. Und Stetson hat nicht nur mit Tom Waits gearbeitet, sondern auch mit Größen des Avantgarde-Jazz. Und Argues Vision einer Big-Band-Musik reicht weit über die Grenzen des Jazz hinaus – bis hinein in zeitgenössische klassische Musik und modernen Pop. Mit anderen Worten: Bei dieser New Yorker Community handelt es sich nicht um eine zusammengewürfelte Gruppe junger Musiker, die vielleicht die gleiche OrtsFoto: Helmut Berns
vorwahl hat. Wie Evans betont, der schon 2008 mit seinem Quartett auf dem moers festival zu Gast war, gehört es für dieses Festival zur Tradition, amerikanische Musiker stets mit ihrem kompletten Umfeld zu präsentieren. „Was frühere Ausgaben des Festivals immer so großartig realisieren konnten, war, dass man Colin Stetson
nicht nur einzelne Musiker einlud, sondern immer auch deren jeweiligen Szenen präsentierte“, bemerkt der Trompeter. „Oft waren das gerade neu entstandene Szenen, die sich noch nie einer breiten Öffentlichkeit in Europa vorgestellt haben.“ Schaut man sich die Line-ups früherer Festivals an, dann muss man Evans' Aussage bestätigen. So kamen 1985 viele der späteren Stars der New Yorker Downtown-Avantgarde nach Moers – wie zum Beispiel John Zorn und Bill Frisell, Elliott Sharp, Christian Marclay und Wayne Horvitz (der übrigens in diesem Jahr mit seinem „Zony Mash“-Projekt beim Festival auftritt). Oder die Festivalausgabe von 1977, bei dem viele Bands und Musiker der Chicagoer „Association For The Advancement Of Creative Musicians“ (AACM) live zu erleben waren. Manche waren schon in Europa bekannt, wie etwa das Art Ensemle Of Chicago oder Anthony Braxton. Andere mussten sich noch einen Namen machen, wie zum Beispiel George Lewis oder Henry Threadgill. Plurality Die jungen New Yorker Musiker bilden aber ebenso wenig eine geschlossene, ästetische Frontlinie etwa wie vor 20 Jahren die Downtown-Avantgarde. Dennoch sind bei ihnen Gemeinsamkeiten zu entdecken – besonders dann, wenn
Charlie Looker
es um die Vielfalt der stilistischen Einflüsse geht. „Die Art und Weise, wie ich Musik reflektiere und spiele, ist eine Kombination aus vielen Sprachen“, erklärt Charlie Looker. „Ich komme aus verschiedenen musikalischen Traditionen: Punkund Indie-Rock, Metal, Jazz und klassische Musik. Und diesen verschiedenen Strömungen fühle ich mich noch immer tief verbunden.“ Auch in der Musik von Extra Lifes mit ihren komplexen, an mittelalterliche Polyphonie erinnernden Vokalstrukturen und ihren knorrigen, gedroschenen Riffs tritt eine solche Vielfalt zu Tage. Sam Hillmer von Zs wiederum bekennt sich zu einer ähnlichen Philosophie. „Zs fällt genau in die Tradition des amerikanischen Experimentalismus“, sagt er. „Nicht nur ,Ernste‘ Musik oder Musik des 20. Jahrhunderts – sondern alles: von ausgeschriebenen Noten bis hin zu Turntablism.“ Genau das spiegelt Zs wider. Man reiht wie auf einer Angelschnur Noise und ausnotierte Passagen aneinander, so als ob die Zusammenarbeit von Wolf Eyes mit Anthony Braxton in einer Band verkörpert werden sollte.
Foto: Christoph Giese
Colin Stetson, der u. a. in Formationen wie der Afrobeat-Band Antibalas oder der Indie-Rock-Gruppe Arcade Fire für Furore sorgt (neben seinen bahnbrechenden Saxofon-Solo-Performances), hat es sich auch zur Regel gemacht, Grenzen zu Peter Evans
ignorieren – was er derzeit auch als aktuellen Trend in der New Yorker Szene
magazin
moers festival 2009
ausmacht. „Die musikalische Fremdbestäubung zwischen
College habe ich mich mit beiden Gattungen zu gleichen Teilen beschäftigt. Ich
verschiedenen, einstmals gegenläufigen Genres hat sich mit
könnte nun über das Hochschulsystem mosern, auch darüber, wie es zu Grunde
atemberaubender Geschwindig-
gehen wird – und das wird es ganz sicher. Doch meine per-
keit verbreitet und resultiert nun
sönliche Erfahrung war überaus positiv. Es gab eine Zeit, als
in einer Masse aufregend neuer Musik,“ freut sich der Saxofonist. „Wahrscheinlich passiert das überall. Doch hier in New York fallen zurzeit die Mauern. Alles fließt, die Menschen schwimmen viel lieber – im Gegensatz zu früher, als sie
„Die musikalische Fremdbestäubung zwischen verschiedenen, einstmals gegenläufigen Genres hat sich mit atemberaubender Geschwindigkeit verbreitet und resultiert nun in einer Masse aufregend neuer Musik.“ Colin Stetson
ich überhaupt nicht in der Lage war zu begreifen, das Spielen der Trompete in einem Orchester mit einem frei improvisierten Solo-Konzert zusammenzubringen – aber tatsächlich funktioniert es!“ Auch Sam Hillmer von Zs erkennt die heikle Balance zwischen Ausbildung und Innovation. „Zs würde es nicht geben, wenn nicht alle Bandmitglieder ein umfassendes Training absolviert hätten – damals wie heute,“ berichtet der
sich eher irgendwo festhalten
Saxofonist. „D. h. aber auch, das in der Ausbildung Gelernte
wollten.“
dann wieder zu vergessen, um die Band weiterentwickeln zu
Für Peter Evans, der diese Rock-, Punk- und Noise-Herkunft
können.“ Einen anderen Blick auf diesen Aspekt hat Hillmers ehemaliger Bandge-
nicht teilt, hat sich die Kombination aus Chaos und Kontrolle
nosse Charlie Looker. „Ich sehe überhaupt keinen Grund, irgendetwas aufzuge-
als besonders inspirierend erwiesen. „Während der letzten Jahre, in denen ich nun in New York lebe, bin ich Fan geworden
ben, was ich einmal gelernt habe“, ist Extra-Life-Gitarrist und -Sänger überzeugt. „Informationen müssen nicht beiseite gelassen werden. Wenn sie mir nichts
von diesen vielen seltsamen Rock-Bands, die in winzigen Clubs
nützen, dann kann ich sie entweder ignorieren – oder: Ich deute sie kreativ um.“
vor kleinem Publikum spielen, wie z. B. People (dem Duo von
Obwohl auch Looker seine musikalische Ausbildung durchaus in einem positiven
MOPDTKs Shea und der Gitarristin Mary Halvorson), Zs, Hi Red
Licht sieht – inklusive der Zeit an der Wesleyan University bei Anthony Braxton
Center und Extra Life,“ sagt der Trompeter. „In vielen Fällen
und Alvin Lucier –, so ist für ihn sein Engagement in der so genannten „Grass
sind diese Musiker Freunde geworden, weil ihr Background ein
Roots“-Bewegung ein weitaus wichtigerer Einfluss. „Sozial und kulturell fühle
Studium in Jazz und Klassik einschließt, plus einer autodidakti-
ich mich viel mehr der amerikanischen ,Underground/DIY/Indie/Post-Punk/etc.‘-
schen Selbstausbildung in weiß der Himmel was – wie bei mir
Szene zugehörig“, so Looker. „Diese Szene ist mir wohl gesonnen und umfasst
ja auch.“
einen Großteil dessen, was ich bin. Ich glaube, ein Grund dafür, warum Extra Life in der Punk-Welt so aktiv ist, obwohl wir eigentlich keinen Punk machen, ist,
Education
dass Punk sich ständig regeneriert und neu definiert. Es ist eine Szene mit einer
Damit spricht Evans einen Punkt an, der eine weitere Verbin-
Ideologie, die auf der rational kaum zu fassenden Idee basiert, schlagkräftig und
dung zwischen den Mitgliedern dieser Szene offenlegt: Man
andersartig zu sein – und Extra Life ist anders.“
teilt eine gemeinsame Perspektive auf das Lernen – oder „Ver-
Überraschenderweise schließen solche Indie-Zutaten Looker und seine Kumpa-
lernen“ – von Musik. Evans und Darcy James Argue sprechen
nen nicht vom breiten Publikum aus. Als Looker zum Beispiel noch mit Zs spielte,
von Vorsicht und Dankbarkeit gegenüber der eigenen musikkul-
wurde das Ensemble auf ein renommiertes Festival für zeitgenössische Musik in
turellen Tradition. „Wie viele andere in meinem Alter habe ich
der Tschechischen Republik, den „Ostrava Days“, eingeladen – so wie in den USA
eine Jazz-Schule besucht: Ich studierte Klavier an der McGill
zu Konzerten in Galerien, Rock-Clubs und Lofts.
University in Montreal, dann Komposition am New England Conservatory in Boston“, so Argue. „McGill war wie ein Bebop-
Output
Boot-Camp – darauf aus, Standards in allen zwölf Tonarten zu
Betrachtet man diese Hintergründe und Perspektiven, so könnte man erwarten,
lehren. Dieser ,Iss das, was auf den Tisch kommt‘-Ansatz ist für
dass der Output der Musiker und Bands homogen wäre. Doch ganz im Gegenteil:
einen jungen Musiker tatsächlich nicht das Schlechteste. Die
Zwischen den Ergebnissen liegen Welten. Zum Beispiel Mostly Other People Do
Fähigkeiten, die man dabei erlernt, sind später überaus hilfreich.
the Killing, wo Respektlosigkeit zur Grundausstattung gehört. Wie Peter Evans
Und außerdem gibt es einem etwas in die Hand, wogegen man
besitzen alle anderen MOPDTK-Mitglieder ihre Jazz-Chops – beispielsweise
rebellieren kann – was auch wichtig ist.“
Saxofonist Jon Irabagon, der 2008 die „Thelonious International Jazz Competi-
Für Evans ist Ausbildung ein zweischneidiges Schwert. „Ich
onen“ für sich entscheiden konnte. Doch dieses Quartett nimmt das Jazz-Genre
hatte das Glück, eine musikalische Ausbildung zu genießen, die
in keinster Weise ernst, was seinen Auftritten stets eine erfrischend subversive
mir das Musikmachen nicht verleidet hat,“ erinnert sich der
Stimmung gibt. Auch Colin Stetson hat eine ähnliche Leichtigkeit, die er aber mit
Trompeter, der inzwischen seine Instrumentaltechnik zum mu-
anderen Mitteln auf die Bühne bring. Obwohl seine Saxofon-Solo-Stücke nicht
tigen Improvisieren verwendet. „Von Anfang an habe ich Jazz
diesen offensichtlichen Humor haben wie bei Evans und Co., so offenbart er
und klassische Musik studiert, und bis zu meinem Abschluss am
dennoch augenzwinkernd eine Feierlichkeit in seiner Solo-Performance, mit der
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moers festival 2009
magazin
er die komplexen Texturen freier Improvisation mit der rhythmischen Schubkraft des Funk zusammenbringt. Hinsichtlich von Stimmungen könnte die Musik von Extra Life nicht unterschiedlicher sein. Dornig und bedrohlich kommen Lookers Stücke daher, entwerfen eine fast schon perverse Lust an der Zurschaustellung psychischer Zustände, durchdrungen von den gestochen scharfen Melodielinien. Manche Texte von Looker enthalten sogar Spuren von Comedy, aber im Großen und Ganzen setzt Extra Life auf kompromisslose Aussagen, die jedoch einige im Publikum abschalten lassen – wie der Gitarrist und Sänger selbstkritisch erkennt. „Todernst, unironisch und düster zu sein, ist zurzeit ziemlich außer Mode“, sagt Looker. „Wir verwirren und verschrecken manchen, andere lieben uns gerade dafür.“ Zs einmaliges Amalgam aus Noise, improvisierter Musik und zeitgenössischer Komposition ist weitaus weniger Song-orientiert. Doch setzt dieses Trio auch auf eine vergleichbare Kompromisslosigkeit – nach dem Motto: „Entweder man liebt uns, oder man hasst uns“. Darcy James Argues Secret Society ist wahrscheinlich die merkwürdigste Band aus diesem New Yorker Umfeld in Moers – tatsächlich würde die Band auf jedem anderen Sam Hillmer
Schauplatz seltsam erscheinen. Die Arbeiten des Bandleaders für sein 18-köpfiges Ensemble klingen dicht und drastisch, zeigen gleichermaßen moderne orchestrale Strukturen wie prachtvolle, zeitgenössische Vamps und ein weitausholendes, Ellington’sches Schwadronieren: „Ich betrachte mich als Teil der Big-Band-Tradition, über die man ja normalerweise nicht viel und gerne spricht“ – und verweist auf eine obskure Liste mit Einflüssen, in der die Rock-lastigen Werke der späten 1960er-Jahre eines Ellington und Thad Jones ebenso zu entdecken sind wie George Russels abgründige Aufnahme von 1968, „Electronic Sonata For Souls Loved By Nature“, oder Gil Evans’ Hendrix-Bearbeitungen für Orchester. Legacy? Hätte das moers festival 2009 nur Secret Society im Programm (oder eben irgendeines der anderen NYC-Ensembles), so würden andere wichtige Einblicke in musikalische Grenzbereiche außen vor bleiben. Aber dadurch, dass man die komplette New Yorker Community nach Europa eingeladen hat, glückt diesem Festival etwas ganz Besonderes: Man erlaubt dem Publikum, diese Künstler in ihrem ursprünglichen Umfeld mit all ihren Freunden, Gleichgesinnten und Kollegen live zu erleben. Als New Yorker, der die Arbeiten dieser Musiker über die letzten Jahre verfolgt hat, bin ich überzeugt, dass in zehn oder 20 Jahren Evans, Looker, Hillmer, Argue, Stetson und der ganze Rest ebenso berühmt sein werden wie es Zorn & Co. oder die Mitglieder der AACM heutzutage sind.
Charlie Looker
www.koenig.de
Es gibt viele Biere. Aber nur ein Kรถnig.
DAS Kร NIG DER BIERE
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moers festival 2009
magazin
NYC / EUROPE
Europas Jazz braucht New York als kreatives Gegengewicht. Eine These, die für manche nicht-amerikanische Ohren ketzerisch klingen mag. Doch nach Jahren der Stagnation, nach der Traumatisierung durch 9/11 vibriert es wieder in der Jazz-Community des Big Apple. Nicht nur die „Young Guns“ um Mostly Other People Do the Killing, Colin Stetson oder Darcy James Argue haben ein neues Feuer entfacht, sondern auch einstige Jazz-Größen sind am Aufbruch in New York beteiligt. Das kann dem europäischen Jazz nur gut tun – so die Meinung von Wolf Kampmann. Quelle: Google Earth
moers festival 2009
Seit mindestens 70 Jahren schlägt das kreative Herz des Jazz im Zweistromland zwischen East und Hudson River. Kein Ort verändert sich schneller als New York und mit ihm der Jazz. Unsere europäische Wahrnehmung des amerikanischen, speziell des New Yorker Jazzgeschehens hat hingegen erhebliche Probleme, dieses Tempo zu halten. Gerade im Augenblick laufen wir Gefahr, den Anschluss zu verlieren. Wer New York zum letzten Mal vor zehn Jahren besucht hat, wird die Stadt kaum wiedererkennen. Touristenströme, die sich früher zwischen Greenwich Village, 5th Avenue und Times Square ergossen, haben längst auch das East Village und Harlem erreicht. Die altmodischen Geschäfte, die das besondere Flair der Stadt ausmachten, sind den großen Ketten gewichen, die kleinen Cafés und Diners machen Gourmet-Restaurants Platz. Die Schickeria erobert von ihrer neuen Basis Williamsburg die ehemaligen Szeneviertel von Manhattan zurück, das legendäre Straßenleben verkriecht sich ins WorldWideWeb, und selbst die Penner, Dealer, Huren, Punks und Pimps von einst sind verschwunden. Nine/Eleven hat New York nachhaltig verändert und Bürgermeister Giuliani erledigte nach der großen Katastrophe den Rest. Bis zum Herbst 2001 hatte New York ein äußerst reges Jazzleben. Alle sechs Wochen platzte ein neues Biotop irgendwo in den Abgründen des Big Apple auf, manifestierte sich ein neuer Stil, scharte ein neuer Club seine Truppen um sich. The Kitchen, die Knitting Factory und das Tonic definierten über zwei Jahrzehnte das Potenzial des Jazz nicht nur für New York. Zwar vermochte niemand mehr genau zu sagen, was der Begriff Jazz eigentlich noch bedeutete. Aber in diesem Punkt unterschied sich das ausgehende 20. Jahrhundert ja kaum von den vorherigen Epochen dieser Musik. Rückwirkend betrachtet ist es fast ein kleines Wunder, dass eine relativ fest gefügte, musikalische Community wie jene DowntownAvantgarde um John Zorn, John Lurie, Bill Laswell und Elliott Sharp sich überhaupt über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahrzehnten behaupten konnte. Doch sie war nur ein Segment des New Yorker Jazzlebens nach 1985. Es gab auch die M-Base-Szene, deren kurzlebige Existenz für den Jazz umso tiefgreifendere Folgen hatte, den kreativen Mainstream um Greg Osby und Jason Moran, die „Young Lions“, die FreeJazz-Renaissance um William Parker und Matthew Shipp, den
New York, Soho
Techno- und Ambient-Jazz in Williamsburg, der Jazzarm der „Radical Jewish Culture“, die Seattle Diaspora, die ParkslopeSzene und viele andere Zirkel.
47 Fotos: Nate Dorr
magazin
dere dieses Szene-Cocktails war jedoch, dass er – von den
Die Überlappungen all dieser Kreise waren vielfältig und
„Young Lions“ abgesehen – in den USA kaum wahrgenommen
brachten immer wieder neue Idiome hervor. Musiker aus ganz
wurde. Musiker planten in Manhattan und Brooklyn Projekte,
Amerika und dem Rest der Welt kamen nach New York, weil
die eigens für den europäischen Markt zusammengestellt
sie trotz der exorbitanten Lebenshaltungskosten nirgendwo
wurden. Sie spielten in New York vor zehn zahlenden Zuhö-
sonst so optimale Arbeitsbedingungen fanden. Das Beson-
rern gegen die Tür, um in Europa als Headliner die großen
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moers festival 2009
magazin
Festivals zu bereisen. Ihre Alben verkauften sich hauptsächlich in Europa,
Der europäische Jazz hatte bereits seit Jahrzehnten um
wo auch die meisten Labels für diese Musik saßen. Der Unmut europäischer
die Emanzipation von seinem großen New Yorker Bruder
Musiker über die vermeintliche Dominanz der Amis auf dem europäischen Jazz-
gekämpft. Doch erst als den Festivals der alten Welt die
pflaster wurde immer größer. Auf der anderen Seite wurden Amerikaner, die
Mittel ausgingen, um im selben Maße wie gewohnt amerika-
nach Europa zogen, weil sie ihren Alltag mit ihrer Arbeitsgrundlage vereinba-
nische Künstler zu verpflichten, sollte sich dessen Situation
ren wollten, auf der Stelle mit Desinteresse gestraft, denn sie waren ja keine
nachhaltig ändern. Zeitgleich besannen sich viele europäische Musiker auf ihre nationalen oder regionalen kulturellen
waschechten Amerikaner mehr. Paradoxe Jazzwelt.
Wurzeln. Der meist etwas blutleer wirkende Euro-Jazz wurde in den 1990er-Jahren von einer Vielzahl lokaler und regionaler Ausprägungen abgelöst. Es hatte den Anschein, die Befreiung aus dem Schatten New Yorks wäre endgültig gelungen. Leider wurde dieser kreative Aufbruch zwischen Bosporus und Algarve nur allzu schnell von arroganter Selbstgefälligkeit ersetzt, die vergessen machte, dass der europäische Jazz seine Kraft gerade aus seinem ambivalenten Verhältnis zu dem stetigen Impuls bezog, der aus New York kam. Am 11. September 2001 verebbte dieser Puls. Die nicht für möglich gehaltenen Anschläge verwandelten den großmäuligen Stolz des Big Apple in eine tiefe Depression. Die Katastrophe mag nicht der einzige Grund dafür gewesen sein, dass der Szene-Mix, den man bis dahin kannte, beinahe über Nacht verschwand. Viele Musiker verließen traumatisiert New York, andere gingen für Jahre in die innere Emigration. Als sie wieder aktiv wurden, fanden sie ein komplett verändertes Umfeld. Chicago schien New York für kurze Zeit den Rang als kreatives Zentrum Jazz-Amerikas abgelaufen zu haben. Vielleicht war dieses Phänomen auch nur ein europäisches Konstrukt, geboren aus dem heimlichen Wunsch nach amerikanischer Gravitation. Jedenfalls hatte die Szene um Ken Vandermark und Tortoise ihr Pulver relativ schnell verschossen. Es folgte eine Phase des Stillstands. Die Lethargie ist längst überwunden. Doch wir Europäer haben nicht die Ohren zu hören. Der subversive Geist New Yorks war am Ende stärker als die vorübergehende Bushifizierung der amerikanischen Gesellschaft, die Wirtschaftskrise und das kollektive Post-Nine/Eleven-Trauma zusammen. Nicht nur, dass neue Spielorte entstehen und eine nachwachsende Generation von Musikern die Bausteine von Tradition und Avantgarde völlig neu zusammensetzt, auch die Alten haben ihre Stimme wiedergefunden. Womöglich hat die Krise des New Yorker Jazz, die beinahe ein Jahrzehnt andauerte und noch nicht vollständig überwunden ist, gar eine selbstreinigende Wirkung. Denn es wird eben nicht mehr für den europäischen Markt geplant und produziert. Europa spielt für Jazzmusiker in Amerika beinahe keine Rolle mehr. Dabei ist der Anteil der jazzhörenden Bevölkerung in den USA keineswegs gewachsen. Doch mit dem Rückzug der Plattenindustrie haben Jazzmusiker gelernt, mit ihren Ressourcen anders New York, Queens
umzugehen. Akteure wie Dave Douglas, Greg Osby, Charlie
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moers festival 2009
Hunter oder Medeski Martin & Wood haben ihre eigenen Labels gegründet. Das hat Vor- und Nachteile. Denn sie mussten erst einmal in die Rolle von Geschäftsleuten wachsen, die nicht mehr allein unter kreativen, sondern jetzt auch unter merkantilen Gesichtspunkten operierten. Für die Inhalte, die sie zuvor vertraten, hatte das teilweise fatale Auswirkungen. Mit dem Sterben der Plattenläden – in New York gibt es kaum noch eine zuverlässige Möglichkeit, im Laden Jazz-CDs zu kaufen – zog sich das Business immer mehr ins Internet zurück. Viele Jazzalben amerikanischer Musiker sind überhaupt nur noch via Download oder über amerikanische InternetPortale erhältlich. Das Ohr kennt keine Grenzen, sondern hört, was es hören will. Aber in Europa fehlt es an Kanälen, die neuen Klänge aus New York an den Hörer bringen. Der Markt hat dafür noch keine Grundlage geschaffen. Ein amerikanischer Musiker, der sein eigenes Label vermarktet, wird kaum über Kapazitäten verfügen, um in europäischen Medien Anzeigen zu schalten. Da die Jazzpresse aus nachvollziehbaren Gründen aber auf Werbung angewiesen ist, fallen alle Themen von der Tischkante, die hierzulande keine Sachwalter haben. Selbst für etablierte Labels wie Thirsty Ear oder Cuneiform lohnt sich dieser Aufwand jedoch nicht mehr. Noch schlimmer ist es im Radio. Freie Autoren werden kaum noch beschäftigt, und die Redakteure müssen sich oft mit dem zufriedengeben, was sie ohne eigenen Aufwand aus den herkömmlichen Kanälen erreicht. Ein teurer Download aus Amerika gehört sicher nicht dazu. So gehen nicht nur neue Trends am europäischen Hörer vorbei, sondern sogar eine Kollaboration so renommierter Veteranen wie Bill Frisell und Charlie Haden, die noch vor kurzem die Titelseiten hiesiger Jazzgazetten geschmückt hätte, bleibt ausschließlich dem amerikanischen Jazzhörer vorbehalten. Konnte man sich in Europa noch vor kurzem in der Gewissheit sonnen, über den amerikanischen Jazz bestens informiert zu sein, nehmen wir jetzt nur noch einen
New York, Brooklyn
winzigen Ausschnitt wahr. Auch stilistisch hat sich einiges verändert. Jazz war immer Subkultur. Zwar hat sich der amerikanische Jazz für lange Zeit
deutsche Jazz leidet unter einer Epidemie gesichtsloser Piano-Trios. Der eben
aus dem politischen Tagesgeschäft rausgehalten. Doch auf
noch so aufmüpfige und selbstbewusste Jazz aus Frankreich ist friedlich ent-
die Vereinnahmung der Tradition durch das konservative Esta-
schlafen, das anfangs so vielversprechende soziale Netzwerk der Tomorrow‘s
blishment hat er dennoch reagiert. Junge wie alte Jazzmusi-
Warriors in England leidet unter akutem Zahnausfall. Nur Skandinavien bildet
ker berufen sich nicht mehr wie zuletzt auf ihre Väter, sondern
immer noch einen Sonderfall. Jazz ist ohne Zweifel längst eine internationale
entdecken die Traditionen und Wurzeln ihrer Großväter und
Sprache geworden, aber selbst in einer globalisierten und virtualisierten Welt
Urgroßväter. Die Einbeziehung von Americana wie Country,
ist ein Gravitationszentrum wie New York nicht ohne weiteres zu ersetzen. Eu-
Folk und Bluegrass in die Jazztradition hat den Fundus und die
ropas Jazzmusiker brauchen das Gegengewicht aus New York. Dort brodelt es
Idiomatik des Jazz grundlegend erweitert.
zwar noch nicht, aber es vibriert zumindest wieder hinter den glatten Fassaden
Der europäische Jazz ist indes längst an seine Grenzen
der gentrifizierten Metropole. Für uns ist es allemal an der Zeit, uns dieses
gestoßen. Der Neotraditionalismus treibt hier ähnliche Blüten
Potenzial wieder kreativ zu erschließen. Dabei sind Veranstalter und Medien
wie die „Young Lions“ vor 20 Jahren in New York. Speziell der
genauso gefragt wie jeder einzelne Hörer mit Internetanschluss.
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BARACK OBAMA / US-JAZZ
Hier in Europa ist die Amtseinführung Barack Obamas als erster schwarzer US-Präsident längst Geschichte. Drüben aber in den USA ist man noch immer euphorisiert – auch und gerade die afroamerikanische Community. Doch wie wirkt der „Obama-Faktor“ auf den US-Jazz und die -Avantgarde? Christian Broecking hat sich auf Spurensuche begeben und nachgefragt.
James Carter
Foto: Christoph Giese
magazin
moers festival 2009
„Wenn deine Familie dich kämpfen sieht und
Mainstream- und Avantgarde-Kontext zu be-
setzt, etwas, das nicht in Massen produziert
finanziell dabei nichts herumkommt, bist du
haupten. „Obwohl es in den Kreisen, in denen
werden kann. Wir sind eine Rarität, die zuende
Avantgarde. Und man macht sich Gedanken, ob
ich mich bewege, immer wieder Diskussion
geht. Aber Kreativität wird nicht sterben, und
bei dir noch alles stimmt im Kopf“, berichtet der
über die Zukunft der Musik gibt, vermisse ich
wir berühren da erst die Oberfläche. Es gibt so
28-jährige Schlagzeuger, Pianist und Posaunist
die Initiative. Ich kann mich nur schwer daran
viel mehr zu entdecken, in der Musik wie im
Tyshawn Sorey. Er ist einer der wenigen jungen
erinnern, wann ich bei einem anderen Musiker
Leben. Wir reden von 80-Jährigen, die kreativ
afroamerikanischen Improvisatoren, die es in
zu Hause gewesen bin, nur um zusammen zu
sind und sie hören sich so an, als könnten sie
den letzten Jahren in New York zu nachhaltiger
spielen. Meist geht es eben um das Geschäft,
noch 80 Jahre weiter spielen.“ Junge Musiker
und mittlerweile auch weltweit wirkender
die nächste Tournee, das nächste Konzept-
sollen kreative Wege entwickeln, ihr Publikum
Aufmerksamkeit brachten. „Unter den ,Um die
Album. Da ist also etwas verloren gegangen,
zu finden, schlägt Parker vor. „Wenn man uns
40-Jährigen‘ sehe ich mittlerweile eine Reihe
Musiker kommen nicht mehr einfach um des
nicht engagieren will, müssen wir es selbst tun.
viel versprechender Improvisatoren wie Vijay
Spielens willen zusammen. Community bedeu-
Das ist die Geschichte des Vision-Festivals, das
Iyer oder meinen Mentor Aaron Stewart, beide
tet für mich das Gegenteil von Hass, Eifersucht
bedeutet Selbstbestimmung“, resümiert Parker.
sind gut zehn Jahre älter als ich“, sagt Sorey.
und Intrigen – Community bedeutet zuallererst,
„Du bestimmst deine Zukunft durch das, was du
Der Afroamerikaner Aaron Stewart kommt
dass man respektvoll miteinander umgeht.
jetzt angehst. Harte Arbeit, immer wieder neue
wie Sorey aus der Steve-Coleman-Connection.
Ich bin immer gern zu den Jam-Sessions im
Auftrittsorte organisieren, in den Schulen und
Weitere Tätigkeiten mit Muhal Richard Abrams,
St. Nicks Pub in Harlem gegangen. Das heißt
Nachbarschaftszentren auftreten, präsentiere
Anthony Braxton und Cecil Taylor weisen ihn
für mich Coummnity: dass man sich trifft, sich
deine Arbeit 24 Stunden jeden Tag.“
als kompetenten Improvisator aus. „Stewart ist
grüßt, zusammen spielt. Genau das, was die
Doch warum sollte man sich all das antun? Der
ein völlig unterschätzter Saxofonist und Kom-
Rapper ,Street Credibility‘ nennen: der Kontakt
Saxofonist Oliver Lake befürchtet, dass die
ponist, der in New York lebt. Er hat mir alles
zu seinen Leuten auf Graswurzelebene.“
finanzielle Absicherung einer Musikerkarriere
beigebracht, was man wissen muss, um als
Dass in den letzten Jahren nur noch wenige
heute das größte Problem darstellt. „Es hat vor
kreativer Künstler in diesem Land zu überleben,“
junge afroamerikanische Musiker den Reizen
allem mit Geld zu tun, für welches Genre sich
sagt Sorey. Viele Diskussionen, stundenlange
der Avantgarde nachspürten, kann nicht weg
junge Musiker entscheiden. Ob sie den traditio-
Telefonate, gemeinsame Konzerte. Stewart hat
geredet werden. Der Bassist William Parker
nalistischen oder den avantgardistischen Weg
den Autodidakten Sorey immer wieder ermuti-
stellt fest, dass auf dem von ihm in New York
wählen. Ich habe junge Studenten kennen ge-
gt, seinen Weg zu finden und zu gehen.
veranstalteten Vision-Festival, das besonders
lernt, die mir sagten, dass sie sich wünschten,
Der 29-jährige Corey Wilkes hat jüngst seine
der schwarzen Improvisationsmusik gewidmet
meine Nerven zu haben. Sie äußerten die
CD „Cries From Tha Ghetto” veröffentlicht.
ist, nur wenige Afroamerikaner im Publikum
Befürchtung, dass sie keine Arbeit hätten,
Der Chicagoer Trompeter sieht sich als Kind
sind. In diesem Jahr wird dort der 85-jährige
wenn sie eine ähnliche Musik wie ich spielen
der HipHop-Generation, sein Spektrum
Saxofonist und Leiter des Sun Ra Arkestra,
würden. Sie nehmen unser Genre als eine Ni-
umfasst afroamerikanische Genres zwischen
Marshall Allen, mit einem Konzerttag geehrt.
sche wahr, in der die Möglichkeiten, mit seiner
Funk, Avantgarde und Step-Dance. Er hält im
Doch aus Parkers Sicht ist zu befürchten, dass
Arbeit auch den Lebensunterhalt bestreiten zu
Art Ensemble Of Chicago den Job des vor 10
sich gerade der Nachwuchs aus der afroameri-
können, sehr limitiert sind. Man muss seinem
Jahren verstorbenen Trompeters Lester Bowie,
kanischen Community verweigert. „Tatsächlich
Herz folgen, sage ich – wenn man immer nur an
in jüngster Zeit tourt er auch mit der Band des
brauchen wir Workshops und Seminare: Die
das Geld denkt, wird es nichts werden. Doch
Saxofonisten James Carter. „HipHop ist meine
Frage, wer der nächste Matthew Shipp ist,
ich sehe auch, dass wir eine kleine avantgardi-
Ausgangssituation, ich komme sozusagen vom
der nächste William Parker, der nächste Sam
stische Gruppe sind, die überlebt hat, ohne die
anderen Rand. Mir stehen World Music, Klas-
Rivers, muss dringend geklärt werden. Doch
Bedingungen für nachfolgende Generationen
sik, Soul, Rock, R&B, Blues, Gospel und alle
die Realität lässt eher die Vermutung zu, dass
generieren zu können.“
Formen des Jazz zur Verfügung. Nun versuche
wir die letzten dieser improvisierenden Spezies
Der Baritonsaxofonist Hamiet Bluiett sagt,
ich, davon so viel wie möglich in meiner Musik
sind. Die Kollegen werden nicht ersetzt, die
dass die Musik von der Gesellschaft nicht zu
zu vereinen. Ich habe bei Miles Davis entdeckt,
Welt ändert sich. Doch ich sehe keinen neuen
trennen sei. Musiker könnten sich dem Sog des
dass der Sinn des Lebens in der eigenen Ent-
Sam Rivers, keine Nachfolger. Die nächste Ge-
gesellschaftlichen Mainstreams nicht einfach
wicklung und Veränderung besteht.“
neration wird womöglich etwas ganz anderes
entziehen. „Viele Musiker haben in den letzten
Der 40-jährige Saxofonist James Carter wuchs
machen, mir scheint es manchmal, als wären
Jahren auf das falsche Versprechen gesetzt.
auch mit HipHop und Funk auf. Ende der 1980er
wir die Überlebenden eines sehr kleinen Stam-
Sie müssen nun umdenken, sich neu orientieren.
wurde er von Wynton Marsalis und Bowie
mes, eine sehr elitäre Vereinigung. Mit Stamm
Jetzt höre ich von 15-Jährigen, die Altsaxofon
gefördert: Carter hat es geschafft, sich im
meine ich etwas, das sich nur begrenzt fort-
spielen und von Charlie Parker begeistert
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moers festival 2009
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sind. Sie werden gierig sein nach anderen Informationen. Und wir sind da, um sie ihnen zu vermitteln. Wir haben den ganzen Wahnsinn überlebt. Tyshawn Sorey spielte schon vor sechs Jahren in meiner Band Schlagzeug und eines Tages entdeckte ich, dass er auch Klavier spielen kann. Ich habe ihn ermutigt, das zu tun. Weil es darum geht, einen eigenen neuen Ton in die Band zu bringen. Das ist die alte Schule der Avantgarde. Wir besetzen nicht die alten Posten, wir entdecken Neuland. Und ich mache mir über den Nachwuchs gar keine Sorgen. Ich sage voraus, dass wir in nächster Zeit wieder junge Musiker hören und sehen werden, die für das Experimentelle und Neue offen sind.“ Der 38-jährige Farid Barron wurde von Wynton Marsalis gefördert und spielte im Lincoln Center Jazz Orchestra. Heute ist Barron Pianist im Sun Ra Arkestra und lebt zusammen mit Marshall Allen und drei weiteren Arkestra-Mitgliedern im Haus von Sun Ra in Philadelphia. „Dass sich das Sun Ra Arkestra nach langer Pause für einen Pianisten entschied, hatte mit meiner Arbeit bei Marsalis zu tun. Sie suchten einen, der Fletcher-Henderson-Arrangements und -Kompositionen kennt und die alten Klaviertechniken beherrscht. Es ist ja bekannt, dass mein früherer Arbeitgeber an der avantgardistischen Spielhaltung allerhand auszusetzen hat. Und ich gebe zu, dass ich von seiner Anti-Haltung zunächst sehr beeinflusst war. Mitten in der Kakophonie fühlte ich mich regelmäßig unwohl, wusste nicht, wie ich mit diesen Situationen umgehen sollte. Und ich protestierte zunächst dagegen. Doch im Prozess der ArkestraErfahrung erfuhr ich, dass mir da vorher etwas entgangen war. Ich entdeckte ganz neue Ausdrucksformen, die der Befreiung der Gedanken und des Körpers sehr förderlich waren. Ich entdeckte später dann, als ich mich wieder dem Repertoire eines Art Tatum zuwendete, dass sich mein Vokabular fundamental erweitert hatte. Und ganz besonders mein Gefühl für Zeit und Raum.“ Der Tubist Bob Stewart ist heute voller Hoffnung. Auch er betont, dass kreative Musik nicht im gesellschaftlichen Freiraum entsteht. Er erwartet nun von Obamas Präsidentschaft besonders große Wirkungen auf das schöpferische Grundvertrauen der US-Bürger. „Als schwarzer Amerikaner schaue ich auch zurück. Ich bin stolz, diesen Tag erlebt zu haben. Nicht nur für mich, sondern für meinen Großvater und meinen Vater, die beide schon verstorben sind. Als Jackie Robinson (war 1947 der erste schwarze Spieler in der amerikanischen Baseball-Liga, Anm. d. Red.) es Ende der 40er-Jahre in die Major League schaffte, hatte mein Großvater sein Obama-Erlebnis. Mir geht es wie ihm damals: Ich bin für Obama, weil er für die Verwirklichung eines Traumes steht, den schwarze Amerikaner sehr lange geträumt haben. Die schwarzen Selbsthilfeorganisationen waren für die Musiker schon in den 60er-Jahren sehr wichtig, und ,Alabama‘ von John Coltrane und ,Walk Tall‘ von Cannonball Adderley waren große Botschaften, die direkt zu Obama führen. Wenn wir Musiker auf der Bühne stehen, sind wir frei. Seit 40 Jahren bin ich frei. Dafür brauche ich Obama nicht. Dass das, was wir auf der Bühne praktiziert haben, nun Foto: Helmut Berns
auch in der Politik ankommt, ist ein gutes Zeichen. Junge Musiker, weiße und schwarze, werden zukünftig mehr Selbstvertrauen haben, ästhetische Tyshawn Sorey
Risiken einzugehen und auf ihre Kraft zu vertrauen.“
moers festival 2009
magazin
Foto: Cheryl Lynea Lewis
Foto: Matthias Creutziger
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George Lewis
GEORGE LEWIS & AACM tionelle Jazzgeschichtsschreibung meistens nur New York in den Blick nimmt, wo 1964 die „October Revolution in Jazz“ stattfand und sich 1965 die Jazz Composers Guild bildete. Durch die Fixierung auf New York wird übersehen, dass es ähnliche EntwickGeorge Lewis hat ein vielbeachtetes
zwischen 1910 und 1920 einsetzt. Ras-
lungen auch in Kalifornien, in Detroit, ja
Buch, „A Power Stronger Than Itself“,
sentrennung war ein Teil der Wirklichkeit
sogar in New Orleans gab. Die AACM war
geschrieben – über die Geschichte der
im amerikanischen Süden. Dazu kam eine
die Gruppe, die dieses neue Denken in Chi-
„Association For The Advancement Of
neue Mobilität durch die Eisenbahn. Diese
cago repräsentierte und sich nicht nur als
Creative Musicians“ (AACM). Im Ge-
Faktoren führten zu einer großen Wander-
musikalische Initiative verstand, sondern
spräch mit Christoph Wagner schaut der
bewegung der afroamerikanischen Bevölke-
auch kulturelle und soziale Anliegen vertrat.
Posaunist, Jazzforscher und -historiker
rung Richtung Norden, wo man freier atmen
Es wäre also eine verengte Sichtweise, die
aber nicht nur auf die Historie dieser
konnte und es keine getrennten Zugabteile
AACM nur als Ausdruck eines schwarzen
Organisation zurück. Vielmehr macht
für Schwarze und Weiße gab. Dort liegen
Nationalismus begreifen zu wollen.
er unter anderem deutlich, warum die
die Wurzeln der AACM, weil Chicago einer
AACM heutzutage notwendiger ist denn
der Zielpunkte der Massenmigration war.
je – auch und gerade wegen ihrer so bedeutenden und beispielhaften Geschichte.
Am erstaunlichsten ist, dass die Organisation bis heute besteht. Ähnliche Initiativen wie
Damit sind die historischen Voraussetzungen
etwa die Jazz Composers Guild fielen nach
benannt. Was aber war der Impuls, der 1965
kurzer Zeit oft im Streit auseinander. Was ist
zur Gründung der AACM führte?
das Geheimnis, das die AACM zusammenhält?
Christoph Wagner: Die AACM entstand Mitte
Es gibt nicht den einen Anfangspunkt. Viel-
Ich glaube, der wichtigste Grund war, dass
der 1960er-Jahre, als sich die amerikanische
mehr ist es eine komplexe musikalische, so-
die Mitglieder der AACM nicht nur auf
Gesellschaft in Aufruhr befand. Was waren
ziale, gesellschaftliche und politische Ent-
ihre eigenen Karrieren bedacht waren,
die Gründe für die Gründung?
wicklung, die mit der Bürgerrechts- und der
sondern sich immer auch um die Belange
George Lewis: Für mich fängt die Geschich-
Black-Power-Bewegung zusammenhängt.
der gesamten Organisation kümmerten.
te der AACM viel früher an, nämlich mit der
Das alles führte schließlich zur Bildung der
Es ist also eine Gruppe, die bestimmte
„großen Migration“ vom ländlichen Süden
AACM. Solche neuen Initiativen entstanden
Wertvorstellungen teilt, die über die simple
in den industriellen Norden, die ungefähr
damals überall in den USA, wobei die tradi-
Frage hinausgehen: „Wie kann ich einen
magazin
moers festival 2009
Gig bekommen?“ Die AACM hatte ein
Etliche Musiker der AACM, u. a. das Art
die damals einen großen Einfluss ausübte.
soziales Bewussßtsein. Der Organisation
Ensemble Of Chicago, aber auch Anthony
Die meisten Musiker, die darin vorkommen
war es wichtig, in ihrem sozialen Umfeld,
Braxton und Steve McCall, zogen Ende der
– und ich bin einer davon, weil ich damals
in der Nachbarschaft, positiv zu wirken,
1960er nach Paris. Was waren die Beweg-
dort war – waren enttäuscht, weil ihnen
durch Lernangebote, durch Workshops etc.
gründe für den Ortswechsel?
Selbstverständlich dachte man aber auch
die Darstellung nicht schmeichelte. Born
George Lewis: Eigentlich wäre New York
war nicht der Meinung, dass die IRCAM die
über die Frage nach, wie man den Status
der natürliche Zielpunkt gewesen. Doch
genialste Sache ist seit der Erfindung von
der Jazzmusiker verbessern könnte? Darü-
einige der Musiker aus Chicago, die sich
geschnittenem Brot. Genauso wollte ich
ber hinaus war die spirituelle Komponente
in New York umgeschaut hatten, waren
mit meinem Buch vorgehen: die Sache so
sehr wichtig, also die Frage: „Wie kann ich
von der dortigen Avantgarde-Szene wenig
objektiv wie möglich schildern und keine
nicht nur ein besserer Musiker, sondern
beeindruckt – was ästhetische Gründe
Heiligengeschichte schreiben.
auch ein besserer Mensch werden?“ All
hatte. In New York war im Gegensatz zu
das stärkte den Gemeinschaftsgeist, der
Chicago das sanfte und leise Spiel verpönt,
Sind die Ideen der AACM heute noch aktuell?
den Fortbestand der Organisation gewähr-
auch waren nur wenige Musiker an unseren
Organisationen wie die AACM entstehen,
leistete.
Vorstellungen von Raum interessiert. Da
wenn es ein Bedürfnis unter Musikern gibt,
kam die Einladung nach Europa gerade
neue Idee in die Öffentlichkeit zu tragen
Jazzmusiker sind Einzelkämpfer, Individua-
recht. Man konnte dadurch ein weltweites
und in Neuland aufzubrechen. Dann schaut
listen. Dass sie gemeinsam an einem Strick
Publikum erreichen und sich auf interna-
man sich nach Unterstützung um, d. h. nach
ziehen, erscheint wie die Quadratur des
tionaler Ebene einen Namen machen. Für
Leuten, die die gleichen Ideale teilen. Es
Kreises, weil sie doch eigentlich in Konkurrenz
viele AACM-Mitglieder war das Leben
braucht also Menschen, die sich einander
zueinander stehen. Wenn mein Rivale den Gig
im Ausland keine neue Erfahrung. Sie
verpflichtet fühlen und sich gegenseitig
kriegt, bekomme ich ihn nicht! Wie wurden
waren zuvor schon mit dem Militär auf der
ermutigen, neue Dinge auszuprobieren. Es
diese widerstrebenden Kräfte gebändigt? Gut, wenn man nur darauf aus ist, Auftritte
anderen Seite des Meers gewesen. Auch
geht um eine offene Einstellung, weniger
wollten viele einfach aus Chicago weg, wo
um eine bestimmte Art von Musik. Es
zu ergattern, hat eine solche Organisation
die Möglichkeiten ausgereizt schienen.
geht um die Vision, hinter der Jazzmusiker
keine Überlebenschance. Aber wenn es
Sie wollten sich auf einer größeren Bühne
von den 1920er- bis zu den ’70er-Jahren
darum geht, morgens um 5 Uhr aufzuste-
beweisen. Man ging ein Risiko ein, das
her waren, nämlich einen eigenen Sound
hen, um rechtszeitig zum Musikunterricht
Dividende erbrachte.
zu finden. Damals war es so, dass, wenn
in einer Schule zu sein, und draußen ein
du wie Cannonball Adderley geklungen
Schneestruurm tobt mit Temperaturen von
Die Konflikte innerhalb der Organisation
hast, man dich nicht ernst nahm. Kollegen
20 Grad unter Null, aber man trotzdem geht,
waren ästhetischer Natur, allerdings von
fragten: Du hast Einflüsse von diesem
weil es gemacht werden muss - für solche
politischen Überzeugungen befeuert. Anthony
und jenem Musiker aufgenommen – aber
Jobs gibt es keine Konkurrenz, und trotzdem
Braxton geriet in die Schusslinie. Ihm wurde
welcher Teil bist du? Also musste man heim
müssen sie getan werden. Wenn man also
der Vorwurf gemacht, dass seine Musik zu
gehen und an sich arbeiten! Alle Mitglieder
den Konkurrenzkampf hinter sich lässt und
„europäisch“, zu „weiß“ klingen würde.
der AACM teilten diese Vision, deswegen
sich in den Dienst einer kooperativen Orga-
In meinem Buch stelle ich die widerstreiten-
nisation stellt, verändert das die gesamte
den Ideen dar. Konflikte werden nicht unter
neuen Ideen eine Plattform bieten. Es
Haltung. Oft gab es nämlich überhaupt kei-
den Teppich gekehrt, sondern herausge-
war der Kampf um eine eigenständige
war die Organisation so stark: Sie wollte
ne Gigs, um die man streiten konnte - also
arbeitet. Eine große Inspiration für meine
künstlerische Ausdrucksweise gegen den
organisierte man seine eigenen Konzerte!
Darstellung war Georgina Borns Arbeit über
Konformitätsdruck von Medien, Veran-
Das sind gemeinschaftliche Initiativen,
die IRCAM, das französische Zentrum für
staltern und Plattenindustrie. Letztendlich
wo man gemeinsam anpackt und nicht
Computermusik in Paris, ein Buch, das 1995
ging es um die Bewertungsmaßstäbe guter
gegeneinander arbeitet. Es geht also um
unter dem Titel „Rationalising Culture“ er-
Musik. Ein Musiker sagte einmal: „Lasst
die gemeinschaftliche Verwirklichung eines
schien. Es ist eine Studie über das Zentrum
uns die Standards spielen!“ Woraufhin ein
Traums, bei der es keine Rivalitäten gibt. Im
unter der Ägide von Pierre Boulez Mitte
anderer entgegnete: „Wessen Standards
Gegenteil: Dass ich meinen Traum verwirkli-
der 80er Jahre. Es geht um Motivationen,
meinst du?“ Diesen Konflikt hat die AACM
che, hindert niemand anderen daran, seinen
Konflikte, intellektuelle Ideen etc., woraus
ausgetragen – und die Auseinandersetzung
Traum zu verwirklichen.
sich ein dichtes Bild einer Institution ergibt,
hält bis heute an.
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moers festival 2009
magazin
Ernst-Ludwig Petrowsky, JazzFest 1994, Berlin
Fotos: Detlev Schilke / www.detschilke.de
MOERS / DDR
60 Jahre Staatsgründung Bundesrepublik Deutschland. Auch die DDR hätte 2009 ihren 60. Geburtstag gefeiert. Zudem 20 Jahre Fall der Mauer. Jahrestage, die 2009 das politische und gesellschaftliche Leben bestimmen. Doch für das moers festival ist ein anderer Jahrestag von Bedeutung: Vor 30 Jahren traten mit dem Berliner Improvisations Quartett um Hermann Keller und dem Ernst-Ludwig Petrowsky Oktett zum ersten Mal DDR-Musiker und -Bands im Westen auf. Anlass, um über die einstige Bedeutung des DDR-Jazz und dessen heutige Relevanz nachzudenken – was Wolf Kampmann macht.
Kaum ein anderes historisches Phänomen
künden von einem skurrilen Spaß-Idyll, das
der Leipziger Pianist Joachim Kühn, der dem
wird aus einer lächerlichen zeitlichen Distanz
mit dem Mauerfall weggefegt wurde wie der
Jazz über die Grenzen Deutschlands neue
von nur 20 Jahren dermaßen hemmungslos
Regenwald von der Brandrodung. Nur einem
Impulse verlieh. Nachdem Kühn 1965 in die
verklärt und romantisiert wie die DDR. Im
DDR-Phänomen widerfährt endlich Gerech-
Bundesrepublik gegangen war, wurde es
Prenzlauer Berg, dem Herzen des alten
tigkeit: dem Jazz.
zunächst einmal still um den Jazz zwischen
Ostberlin, schmücken sich Intellektuelle
Doch blicken wir erst einmal zurück. Jazz aus
Ostsee und Erzgebirge. Bis sich dann eine
aus NRW und Schwaben mit FDJ-Hemden,
Deutschland Ost hat eine lange Geschichte.
ganz neue Avantgarde zu formieren begann.
NVA-Trainingsjacken und VoPo-Mützen, so
Gleich nach dem Krieg war das ostdeutsche
Musiker wie Ernst-Ludwig Petrowsky, Ulrich
genannte Ostels laden Nostalgie-Touristen
Label AMIGA überhaupt die erste Anlauf-
Gumpert, Günter Sommer und Conrad Bauer,
zu authentischer DDR-Gemütlichkeit in
station für eine spielwütige pangermanische
die mit ihrer gemeinsamen Band Synopsis
der „Platte“ ein und lustige Spielfilmchen
Jazz-Liga. In den 1960ern war es vor allem
eine Art Flaggschiff der ostdeutschen Szene
magazin
moers festival 2009
auf Fahrt brachten, Friedhelm Schönfeld oder Manfred Schulze
onen der eigenen Szene innerhalb der DDR erhältlich waren,
entdeckten nicht nur den Free Jazz, sondern vermochten
interessierte weder Macher noch Verantwortliche. Dafür
diesem Genre derart eigenständige Aussagen hinzuzufügen,
zogen die DDR-Jazzer eine ganze Reihe internationaler
dass die improvisierte Musik aus Deutschland-Ost schnell zum
Größen in Honeckers Republik. Lange bevor ähnliches im Rock
Markenartikel wurde. Wenn der österreichische Polit-Rocker
denkbar gewesen wäre, fanden in Dresden, Leipzig, Berlin
Georg Danzer skandierte: „nur in Freiheit kann die Freiheit Frei-
und Peitz Jazz-Festivals mit reger internationaler Beteiligung
heit sein“, wurde das in der DDR auf den Free Jazz umgemünzt.
statt. Berliner Konzertreihen wie „Jazz in der Kammer“ oder
Ein Land, dessen Musiker derartig frei musizieren, könne
die legendären Montagskonzerte im Haus der jungen Talente
doch nicht seine Bevölkerung unterdrücken. Anders als im
sorgten für einen regen Austausch auf der Szene. Musiker
Rock-Bereich wurden Messages im Jazz nicht auf unmittelbar
der zweiten deutschen demokratischen Free-Jazz-Generation, Johannes Bauer, Uwe Kropinski, Dietmar Dies-
verbalem Weg ans Publikum weitergegeben, weshalb er Partei und Staatsführung auf den ersten Blick weniger verfänglich erschien. Volker Schlott, der mit den Fun Horns einer der wenigen Bands angehört, die seit DDR-Ende immer
„Jazz war in der DDR die einzige Möglichkeit, nicht anzuecken und trotzdem zu machen, was man wollte.“ Volker Schlott
noch erfolgreich weiterbestehen, brachte es einige Jahre nach Mauerfall auf den Punkt:
ner oder Joe Sachse, erfanden immer neue Kombinationen und erspielten sich schnell einen glänzenden Ruf auf der europäischen Jazz-Bühne. Erstaunlicher Weise hielt das Publikum seinen Musikern trotz oft monatelanger Abwesenheit und einer für DDR-Verhältnisse schwer nachvollziehbaren Veröffentlichungspolitik die
Treue. Ja, man empfand sogar Stolz auf die Anerkennung, die
„Jazz war in der DDR die einzige Möglichkeit, nicht anzuecken
die heimische Jazz-Szene im Ausland erhielt. Insofern ging die
und trotzdem zu machen, was man wollte.“
Rechnung mit den Diplomaten mit Saxofon auch nach innen
Eine Infrastruktur von Jazz-Clubs gab es zum Zeitpunkt der
auf. Welche kulturpolitschen Ränke dafür im Hintergrund
Emanzipation des Free Jazz in der DDR nicht. Jazz-Veranstal-
geschmiedet wurden, wird wahrscheinlich niemals restlos
tungen wurden in der Regel auf der Basis von Kulturhäusern
aufgearbeitet werden. Auch wenn sich der real existierende
getragen. Das Netz der Subventionen funktionierte landesweit
DDR-Jazz gern subversiv gebärdete, war er doch keineswegs
perfekt. Dafür, dass sich der Free Jazz so gut durchsetzen
ein Phänomen eines wie auch immer gearteten Undergrounds.
konnte, machte Posaunist Johannes Bauer die Einführung
Sondern ein Werkzeug der offiziellen DDR-Kulturpolitik, das
von Discotheken vertantwortlich. „Es gab ja unzählige Rock-
von Partei und Staat hingenommen und zielgerichtet einge-
und Soul-Bands, in denen die späteren Free-Jazzer spielten.
setzt wurde. Wer sich sträubte, wurde im Jazz ignoriert und
Modern Soul Band, S.O.K. und wie sie alle hießen. Diese
drangsaliert, wie Manfred Schulze oder viele Angehörige der
Bands hörten auf, eine Rolle zu spielen, als in der DDR die
Leipziger Improv-Szene schmerzlich erfahren mussten. Die
Discotheken erfunden oder endlich übernommen wurden. All
Diktatur des Proletariats machte auch vor dem Jazz nicht Halt.
die Musiker, die keine Lust mehr hatten, sich noch einmal auf
Trotzdem verlor der Free Jazz in den mittleren 1980ern seine
diesen ganzen modischen Quatsch umzustellen, konzentrierten
Dominanz. Mit Bands wie College und den Fun Horns sowie
sich plötzlich auf ihre eigene Musik. Die Tatsache, dass das
Musikern wie Schlott, Thomas Klemm, Jörg Huke, Axel Donner,
so gut ging, hatte nichts damit zu tun, dass der Staat das
Charlie Eitner und Pascal von Wroblewski fasste eine ganz
besonders gefördert hätte, sondern eher damit, dass jedes
neue Szene Fuß, die kaum Berührungspunkte zu den bereits
Kulturhaus über eigene Mittel verfügte. Wenn in so einem
Etablierten aufwies. Die nachwachsende Szene erfreute sich
Kulturhaus jemand saß, dem das gefiel, dann hat er es eben
zwar nicht so glänzender Kontakte in den Westen, doch die
mit seinen Mitteln veranstaltet. Wichtig für den späteren
wenigen Platten, die sie im Osten machen konnten, zeugten
Stellenwert des Free Jazz war auch, dass die Musiker, die aus
von künstlerischem Selbstbewusstsein und hohem Niveau.
diesen Rock- und Soul-Bands kamen, ihr eigenes Publikum
Als 1985 in Weimar die DDR-Jazztage einberufen wurden,
mitbrachten. Ulrich Gumpert hatte immer seinen Hörerkreis
war das kein Beleg dafür, dass sich die Szene in sich selbst
von S.O.K., die wirklich zum Tanz gespielt hatten, behalten. Die
zurückgezogen hätte. Im Gegenteil: ein umso deutlicherer
kamen eben später in die Jazz-Konzerte.“
Ausdruck von Selbstvertrauen innerhalb der internationalen
Bereits in den 1970ern entwickelte sich eine enge Beziehung
Jazz-Landschaft, aber auch von endgültiger Integration in den
zwischen der DDR-Free-Jazz-Szene und dem Westberliner
DDR-Kulturalltag. Endlich fanden auch Musiker und Bands
Label Free Music Production. Dass die wenigsten Produkti-
Anerkennung, die dem Underground angehörten. Endlich
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moers festival 2009
magazin
Ulrich Gumpert, Workshop Freie Musik Berlin, 1992
stand die Szene von Leipzig gleichberechtigt neben der von
schaften des DDR-Jazz aus ihrem politischen
Berlin. Ende 89 veranstaltete der Jazz Club Berlin das erste
Korsett befreit und geschichtlich rehabilitiert
und einzige Amateur Jazz Festival der DDR, dessen öffentliche
werden. Dabei fällt weniger ins Gewicht,
Wahrnehmung jedoch dem politischen Umbruch zum Opfer fiel.
dass – künstlerisch zuweilen fragwürdige –
Mit der DDR verschwand auch ihre Jazz-Szene. Nur wenige
Archivaufnahmen aus DDR-Zeiten erstmals
Institutionen wie die Leipziger Jazztage, das Dixieland Festival
das Licht der Welt erblicken und Veteranen
Dresden oder der Jazzkeller 69 e.V. konnten sich im vereinten
wie die Bauer-Boys, Gumpert, Sommer oder
Deutschland behaupten. Die genetische Stammzelle des DDR-
Friedhelm Schönfeld weiterhin Platten pro-
Jazz, Synopsis, hatte sich im Zuge der Wende sarkastisch in
duzieren können. Viel entscheidender ist eine
Zentral Quartett umbenannt. Und auch die Fun Horns reisten
junge Generation von Musikern, die auf den
weiterhin fröhlich durch die Welt. Ansonsten führten die Relik-
Fundamenten des DDR-Jazz aller politischen
te der ostdeutschen Jazzszene eine traurige Existenz zwischen
Vereinnahmung unverdächtig jene Bollwerke
Verklärung und Überlebenskampf.
musikalischen Freigeistes errichten können,
Bis einige Jahre nach der Jahrtausendwende eine ebenso schil-
die die Protagonisten des DDR-Jazz so gern
lernde wie umstrittene Eminenz des DDR-Jazz auf die Szene
erklommen hätten.
zurückkehrte. Ulli Blobel hatte die Jazzkonzerte in Peitz geleitet,
20 Jahre nach Scheitern des Sozialismus ist
fiel Anfang der 1980er in Ungnade und ging in den Westen, um
die Gesellschaft erneut im Umbruch, Karl
von Wuppertal aus erneut seine Strippen zu ziehen – oft zum
Marx genießt eine unerwartete Renais-
Missfallen der Konkurrenz. Er stand nicht im besten Leumund,
sance. Vielleicht ist damit auch der Moment
ließ sich aber nicht kleinkriegen und gründete mit seinem Label
gekommen, den DDR-Jazz neu zu bewerten.
Jazzwerkstatt Berlin eine Plattform, auf der die Errungen-
Ein erster Schritt ist gemacht.
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moers festival 2009
geschichte
ZEITZEUGEN / DR. JÜRGEN SCHMUDE
Eine Politiker-Laufbahn: 25 Jahre lang war der Moerser Dr. Jürgen Schmude von 1969 an für die SPD Abgeordneter im Deutschen Bundestag – und auch als Minister für Bildung und Wissenschaft (19781981), Minister der Justiz (1981-1982) und im September 1982 Innenminister beim Übergang von der sozial- zur christliberalen Koalition, wenige Tage vor dem Misstrauensvotum gegen Bundeskanzler Helmut Schmidt. Doch seiner Heimatstadt (und seinem Wahlkreis) Moers blieb er währenddessen eng verbunden – auch und gerade in Fragen der Kultur. So dankte ihm z. B. Burkhard Hennen in seinem Grußwort im Programmheft zum „8. Internationalen New Jazz Festival Moers“ für seine spontane Hilfe, die 1979 „eine kurz vor dem Festival aufgetretene Finanzierungslücke schließen half“. Martin Laurentius sprach mit Dr. Jürgen Schmude über ...
… dessen Unterstützung für das moers
... 15 Tage als Innenminister am Ende der
schon Parlamentarischer Staatssekretär im
sozialliberalen Koalition 1982:
Bundesministerium des Innern war. Folglich
festival 1979:
Die Koalition brach auseinander und es ging
musste ich diese 15 Tage absolvieren. In
Da gab es mehrere Gelegenheiten, dem
nun darum, zum ersten Mal in der Geschichte
dieser Zeit habe ich z. B. noch irgendein Gesetz
Festival zu helfen, sodass ich mich nicht mehr
der Bundesrepublik während einer laufenden
eingebracht, das die SPD anschließend in
genau an alle erinnere. Das Festival hatte
Legislaturperiode einen ordentlichen Übergang
der Opposition verworfen hat, obwohl sie
besonders in der ersten Zeit seine Probleme
von einer Regierung zur nächsten zu gewähr-
vorher dafür war. (Lacht.) Oder ich habe eine
und war auch bei bestimmten Gruppen in der
leisten. Schon damals wusste man, dass es ein
chinesische Delegation von Sportlern und
Bürgerschaft unbeliebt. Da waren Fürsprache
konstruktives Misstrauensvotum geben wird
Professoren empfangen – und andere, ähnliche
und Hilfe schon angezeigt. 1979 war ich
– so, wie es im Grundgesetz vorgesehen ist.
Dinge, bei denen man sich fragen konnte, ob
Bundesbildungsminister und konnte mich
Dieser Übergang musste in einer ordnungsge-
sie überhaupt noch notwendig gewesen wären.
nützlich machen, als es um die Finanzierung
mäßen, anständigen Form erledigt werden, und
Doch in der Tat kann nur so eine Demokratie
des Auftritts einer Band aus der DDR ging.
wir mussten dafür sorgen, dass die Regierungs-
in einer Umbruchphase überzeugend weiter funktionieren.
Das Innerdeutsche Ministerium oder sein
geschäfte weiterlaufen konnten. Das war die
Gesamtdeutsches Institut hatten Mittel für
Aufgabe, vor der wir damals standen. Und da
solche Vorhaben. Das wird Burkhard Hennen
ich Bundesminister der Justiz war, bot sich für
... den Festivalgründer Burkhard Hennen:
wohl gemeint haben.
diese kurze Übergangsphase das Innenressort
Burkhard Hennen war schon bei meinem ersten
an – auch deshalb, weil ich von 1974 bis ’76
Bundestagswahlkampf 1969 ein agiler „68er",
geschichte
moers festival 2009
der meine Wahlversammlungen ordentlich
tige Besucher, sondern auch für die Bürger in
„nichtangegliederte“ Vororte ihr Dasein fristen.
aufmischte. Ich kannte ihn ja schon aus dem
unserer Stadt. Sie können, ob sie nun z. B. das
Das dürfen wir Moers nicht antun.
CVJM und verfolgte seinen weiteren Weg sehr
Festival besuchen oder nicht, solche Ereignisse
Die gegenwärtige Wirtschaftskrise mit ihren
aufmerksam. Und weil ich in den 70ern auch
als kulturelle Leuchttürme hier in der Stadt
Erfordernissen wie Konjunkturprogramme und
Mitglied des Kulturausschusses der Stadt Mo-
erleben und sie als ein Stück eigener Identität
Investitionen belastet natürlich die öffentlichen
ers war, war ich sehr daran interessiert, dass
wahrnehmen. Solche kulturellen Höhepunkte,
Finanzen außerordentlich. Zudem ist die Gefahr
hier in der Stadt etwas Gutes und Wegwei-
stärken das Zugehörigkeits- und Heimatgefühl
groß, dass nach einem Rückgang der Steuer-
sendes passierte.
für diese Stadt.
einnahmen auch darüber gesprochen wird, wie
Auch in Großstädten gibt es Festivals wie das
mögliche Finanzlöcher zu stopfen sind.
... sein Interesse an Jazz und improvisier-
moers festival. Doch gelangen sie nie zu der
Erfreulicherweise lässt sich Moers gegen-
Bedeutung, wie es das moers festival für uns
wärtig nicht von der Krise und deren Folgen
hat. Dort stehen solche Veranstaltungen immer
beeindrucken. Hier in Moers sind z. B. zurzeit
Gleichwohl habe ich so gut wie keines der Fe-
in Konkurrenz zu großen, zentralen Angeboten,
außerordentlich große Bauvorhaben im
stivals hier in Moers versäumt. Mit meiner Frau
die das kulturelle Gepräge einer Großstadt be-
Beschlussverfahren oder schon entschieden.
habe ich dabei an vielem Freude gehabt,
stimmen. Was aber dort an kleinen Ereignissen
Prinzipiell halte ich das für richtig, obwohl ich
obwohl wir nicht wesentlich an Sachverstand
nebenher läuft, das bleibt auch Nebensache
Stadt arg beanspruchen. Doch nur neue Gebäu-
Fotos: Helmut Berns
ter Musik: Mein Hauptinteresse gilt eigentlich der Klassik.
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weiß, dass solche Vorhaben die Finanzen einer gewinnen konnten. Aber das Festival ist ja
und erhält niemals den Stellenwert, wie es
de hinzustellen, gleichzeitig aber Streichungen
auch keine Studienveranstaltung. Sondern
in einer zwar überschaubaren, aber immerhin
im Kulturangebot diskutieren zu wollen, das
eines, das man genießen kann. Wobei es immer
noch mit mehr als 100.000 Einwohnern großen
wäre so, als ob man sich eine teure neue
auch Konzerte gab, bei denen ich mir hinterher
Stadt wie Moers der Fall ist. Das ist die Chance
Wand leisten wollte, aber dann kein Licht hätte,
eingestehen musste, dass ich überhaupt nichts
für Moers: ein eigenständiges Profil zu finden.
um sie zu beleuchten.
... das moers festival in Zeiten der globa-
... das „neue“ moers festival unter Reiner
len Finanzkrise:
Michalke:
verstanden habe oder sie mich überhaupt nicht positiv berührt haben. ... die Bedeutung von Kultur in Moers:
Zurzeit gibt es in der Stadt keine Widerstände
Ich freue mich sehr darüber, dass Reiner
Von Anfang an ging es mir wie anderen darum,
gegen das Festival. Doch können in Zukunft
Michalke die Leitung des Festivals übernom-
dass Moers nicht nur der westliche Vorort
finanzielle Engpässe dazu führen, dass man sich
men hat und das moers festival in dieser
einer benachbarten Großstadt ist. In der
Gedanken über den Fortbestand des Festivals
sympathischen und vielversprechenden Weise
Regel schaut man eher auf das Zentrum einer
macht. Das wäre fatal: Denn wer seine Stadt
fortführt. Es macht mir Spaß und ist von groß-
Großstadt als auf eine Stadt von der Größe wie
in ihrer Heimatqualität und ihrer Identität
em Interesse, ihn dabei zu beobachten und die
Moers. Und da wollten wir zeigen, dass sich
schwächt, nur um zu sparen, der stößt sie auf
Ergebnisse seiner Arbeit miterleben zu können.
hier in Moers etwas bewegt, dass hier kulturell
den Rang jener Städte zurück, die mit respek-
Mit seinen bisherigen Festivalprogrammen hat
Wertvolles geboten wird. Nicht nur für auswär-
tabler Größe im Schatten von Großstädten als
er jedenfalls eine glückliche Wahl bewiesen.
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moers festival 2009
geschichte
8. INTERNATIONALES NEW JAZZ FESTIVAL MOERS 1979
Wir erinnern uns: 1978 forderte Burkhard
Broadcast Union“ (EBU), einem Zusammen-
Hennen professionelle Strukturen, um eine
schluss verschiedener öffentlich-rechtlicher
Veranstaltung von der Größe des moers
Rundfunkanstalten aus Europa. Eine Tatsache,
festival adäquat organisieren zu können.
die auch Einzug ins Festival-Programm hielt:
Seine Forderung fand zum Teil Gehör. So
Die von der EBU initiierte Europamerica Big
war beispielsweise 1979 zum ersten Mal der
Band mit Musikern aus Frankreich und den
Westdeutsche Rundfunk als Co-Veranstalter
USA eröffnete den zweiten Festivaltag. Und
mit im Boot – zusammen mit der „European
machte einen der inhaltlichen Schwerpunkte beim moers festival an Pfingsten 1979 deutlich: Jazz-Orchester. Das Globe Unity Orchestra um Alexander von Schlippenbach reiste vor 30 Jahren ebenso an den Niederrhein wie das Leo Smith/Roscoe Mitchell Creative Orchestra aus Amerika, die Loek Dikker – Waterland Big Band aus Holland und – als Höhepunkt am letzten Festivalabend – das Sun Ra Arkestra. Schaut man in die Feuilleton-Artikel über den Festivaljahrgang 1979, dann stellt man fest: Das „Internationale New Jazz Festival Moers“ konnte sich weltweit als Mekka für eine moderne, vielgestaltige Improvisationsmusik etablieren. Und das gerade einmal sieben Jahre nach Gründung.
geschichte
moers festival 2009
01.06.1979 Globe Unit Orchestra (BRD/GB/USA) Alexander von Schlippenbach, p / Kenny Wheeler, tp / Enrico Rava, tp / Mark Charing, tp / Roswell Rudd, tb / Albert Mangelsdorf, tb / Paul Rutherford, tb / Günter Christmann, tb / Evan Parker, ts / Gerd Dudek, ts / Tristan Honsinger, cl / Bob Stewart, tu / Buschi Niebergall, b / Paul Lovens, perc
Fred Anderson Quartet (USA) Fred Anderson, ts / Bill Brimfield, tp / Steven Palmore, b / Hank Drake, dr
Sun Ra Solo (USA) Sun Ra, p
Chico Freeman Quartet (USA) Chico Freeman, ts / Jay Hoggard, vib / Rick Roozie, b / Don Moyé, dr
02.06.1979 Europamerica Big Band (F/USA) Jef Gibson, keyb / François Couturier, keyb / François Jeanneau, sax / Jean-Louis Chautemps, ts / Philippe Maté, sax / André Jaume, sax, cl / Alain Halot, ts / Patrick Bourgoin, sax / Jacques Di Donato, sax / Jean-Charles Capon, cl / Pierre-Yves Sorin, b / Jacques Thollot, dr / Byard Lancaster, sax
Rova Saxophone Quartet (USA) Larry Ochs, sax / Jon Raskin, sax, cl / Andrew Voigt, sax / Bruce Ackley, ss, cl
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moers festival 2009
Bary Altschul Trio (USA) Barry Altschul, dr / Ray Anderson, tb / Mark Helias, b
Breuker/Cuypers Duo (NL) Willem Breuker, sax, cl / Leo Cuypers, p
Free Music Trio (J) Yoshiaki Fujikawa, as / Keiki Midorikawa, b, cl / Yoshisaburo Toyozumi, dr
03.06.1979 Leo Smith/Roscoe Mitchell Creative Orchestra (USA) Leo Smith, tr / Mike Mossman, tr / Kenny Wheeler, tr / Rob Howard, tr / Roscoe Mitchell, sax / Douglas Ewart, sax, cl / Dwight Andrews, sax / Marly Ehrlich, sax / Wallace McMillan, sax / George Lewis, tb / Alfred Patterson , tb / Sugh Ragin, tb / Ray Anderson, tb / Bobby Naughton, vib / Marilyn Crispell, p / Wes Brown, b / Paul Maddox, dr
Berliner Improvisations Quartett (DDR) Hermann Keller, p / Manfred Schulze, bs, cl / Andreas Altenfelder, tp / Wilfried Staufenbiel, cl, voc
Lewis Jordan Quartet (USA) Lewis Jordan, sax / George Sams, tp, flh / Andrew St. James, b / Carl Hoffman, dr
James Newton Quartet (USA) James Newton, fl / Anthony Davis, p / Rick Roozie, b / Paul Maddox, dr
geschichte
geschichte
moers festival 2009
Sunny Murray Trio (USA) Sunny Murray, dr / Odeon Pope, ts / Malachi Favors, b
04.06.1979 Loek Dikker â&#x20AC;&#x201C; Waterland Big Band (NL) Loek Dikker, p / Leo van Oostrom, sax / Keshavan Maslak, sax / Gerd Dudek, sax / Ferdinand Povel, sax / Frank Grasso, tp / Boy Raymaakers, tp / Toon de Gouw, tp / Niels Lindgren, tb / Willem van Maanen, tb / Gerhard Zwiers, tb / Jerome Goldslein, vib / NicoLangenhuisen, b / Joopvan Eroen, dr
Jimmy Lyons Quartet (USA) Jimmy Lyons, as / Karen Borca, bassoon / Jay Oliver, b / Paul Mercy, dr
Ernst-Ludwig Petrowsky Octett (DDR) Ernst-Ludwig Petrowsky, sax / Manfred Hering, sax / Helmut Forsthoff, sax / Heinz Becker, tp / Conny Bauer, tb / Ulli Gumpert, p / Klaus Koch, b / Baby Sommer, dr
George Lewis Quartet (USA) George Lewis, tb, elektronium / Douglas Ewart, sax, cl / J.D. Parron, sax, cl / Richard Teitelbaum, synth
Sun Ra Arkestra (USA) 23-piece band including Sun Ra, p / John Gilmore, ts / Marshall Allen, sax / Danny Thompson, bs / Leroy Taylor, b-cl / Michael Ray, tp / James Jackson, bassoon / June Tyson, voc / Arrie Wilson, vib / Steve Steven, dr / Richard Wilkinson, specialeffects
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moers festival 2009
impressum & service
Festivalmotiv: TEC! moers festival-Radio: Diana Arapovic, Johanna Moers Kultur GmbH
Künstlerische Leitung: Reiner Michalke
Bächer (Chefredaktion), Nina Fiedler, Dietmar Horn,
Nordring 5, 47441 Moers
Kuratorin „daydream@Dunkelzelt“: Echo Ho
Cornelius Kämmerlings, Daniel Laig, Keno Mescher
Telefon: +49 (0) 2841 / 367 3675
Kuratorin „morning sessions@Tribera“:
Podcasts: Elmar Fasshauer, Studenten der KHM Köln
Fax: +49 (0) 2841 / 367 1520
Angelika Niescier
Festival Blog: Tinka Koch
E-Mail: info@moers-festival.de
Kurator „night sessions@Bollwerk“: Boris Graue
Musikerbetreuung: Jana Heinlein
Web: www.moers-festival.de
Festivalbüro: Oliver Baerbeler, Lena Klein, Sabine
Kassenleitung: Alexandra Kinne
Geschäftsführung: Ralf Worgul
Lange, Agnes Psykala, Karl Martin Wagner, Lina Woelk
Orga-Zelt: Sandra Baetzel, Jonna Grimmstein
Vorsitzende des Aufsichtsrats: Carmen Weist
Artist Relation: Anandita Schinharl
Produktionsleitung: Gerhard Veeck
Vorsitzender des Beirats: Christoph Melzer
Public Relation: Kornelia Vossebein, Doro Zauner
Technisches Team: Oliver Müller (Stagemanager),
Marketing: Oberhaus Kulturmanagement
Frank Kasper (Sound System Designer), Mark Buss
Webmaster: Olaf Kluck, Lucy Cathrow (Übersetzungen)
(MON Ingenieur), Martin Pohl (FOH Ingenieur), Martin
Corporate Design: Boros GmbH
Conrath (Lichtoperator), Francesco Resch (Licht-
Agentur für Kommunikation
techniker), Martin Gottschall (Videotechniker), Björn
Festivalticket: Vorverkauf¹ 75,- €, Tageskasse 85,- €
Screendesign: LOBO – Analogue and Digital Design
Wiesehöfer & Sebastian Wendt (Mikrophonierer),
Tagesticket: Vorverkauf¹ 32,- €, Tageskasse 32,- €
Moderation Festivalzelt: Johanna Bächer,
David Schumacher & Manuel Knorr (Stageassisten-
Jugendliche²: Festivalticket: 35,- € Tageskasse,
Elke Kuhlen
ten), Katrin Hallenberger (Master of Ceremony)
Tagesticket: 16,- € Tageskasse ¹ Vorverkauf zzgl. Vorverkaufsgebühren ² Jugendliche bis einschließlich 23 Jahre (nur an der Tages/Abendkasse am jeweiligen Spielort mit Lichtbildausweis)
Tickets „night session@Bollwerk“: Freitag 6,- €, Samstag 9,- €, Sonntag 9,- € Bollwerk-Ticket für alle drei Nächte 12,- € (nur an der Abendkasse am Spielort)
Vorverkauf: Tickets gibt es zzgl. Gebühr an allen bekannten Vvk-Stellen, Festivaltickets ohne Gebühr bis zum 24. Mai unter www.moers-festival.de
Redaktion: Martin Laurentius (Chefredaktion), Reiner Michalke (V.i.S.d.P.), Kornelia Vossebein Autoren: Christian Broecking, Franziska Buhre, Jörg Heyd, Wolf Kampmann, Reinhard Köchl, Ulrich Kurth, Uli Lemke, Hank Shteamer, Christoph Wagner Fotografen: Agenturen, Helmut Berns, Matthias Creutziger, Nate Dorr, Laura Fleishman, Christioph Giese, Daniel Sheehan, Detlev Schilke Übersetzung: Jana Heinlein
Adressen:
Grafik: Anne Barg, Birthe Berns
Festivalzelt, Freizeitpark Moers
Produktion: Agentur Berns, www.agenturberns.de
Schlosstheater Moers, Kastell 6
Auflage: 5.000
Dunkelzelt gegenüber dem Schlosstheater, Kastell 6 Kantine im Neuen Rathaus,Eingang über Kastell Evangelische Stadtkirche, Klosterstraße Wichtiger Hinweis:
Festival- und Tagesticket berechtigen zum Eintritt zu den Konzerten im Hauptzelt,
Bollwerk 107, Homberger Str. 107 (am Bahnhof Moers) Die Röhre, Weygoldstraße 10
„night sessions@Bollwerk“ und in das Freibad „Solimare“. Für „morning sessions@Tribera“,
Tribera, Triangle Below Rathaus, Kantine im Neuen
„klangwerkstatt@Stadtkirche“, „daydream@Dunkelzelt“ und „Die Röhre“ ist der Eintritt frei!
Rathaus, Schlosstheater Moers, Dunkelzelt
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ÜBERSICHT Freitag, 29. Mai 2009 Simon Rummel „Fantasmofonika“ | 17 Uhr Zs | 18 Uhr Eivør Pálsdóttir | 19 Uhr Elephant9 | 20.15 Uhr SpokFrevo Orquestra | 21.30 Uhr
night sessions @ Bollwerk 107 | 20 Uhr
Samstag, 30. Mai 2009 Wanja Slavin Sextett | 15 Uhr Valgeir Sigurðsson & Band | 16.15 Uhr Mostly Other People Do the Killing | 17.30 Uhr
morning sessions @ Tribera* | 11 - 13 Uhr Klangwerkstatt @ Stadtkirche | 14 Uhr Daydream @ Dunkelzelt | 14 - 20 Uhr
The Trio | 20 Uhr Eivind Aarset Sonic Codex Orchestra | 21.15 Uhr Wayne Horvitz „Zony Mash“ plus Horns | 22.30 Uhr
night sessions @ Bollwerk 107 | 18 Uhr night sessions @ Röhre | 24 Uhr
Sonntag, 31. Mai 2009 The Black Napkins | 15 Uhr Colin Stetson solo | 16.15 Uhr Guillermo Klein Y Los Guachos | 17.30 Uhr
morning sessions @ Tribera* | 11 - 13 Uhr Klangwerkstatt @ Stadtkirche | 14 Uhr Daydream @ Dunkelzelt | 14 - 20 Uhr
Darcy James Argue & Secret Society | 20 Uhr Timucin Sahin 4 | 21.15 Uhr Rokia Traoré | 22.30 Uhr
night sessions @ Bollwerk 107 | 18 Uhr night sessions @ Röhre | 24 Uhr
Montag, 01. Juni 2009 Nisennenmondai | 14 Uhr Tim Isfort Tentett | 15.15 Uhr Extra Life | 16.30 Uhr sOo‘s cOllage | 17.45 Uhr Marc Ribot‘s Ceramic Dog feat. Eszter Balint | 19 Uhr
Programmänderungen vorbehalten! *Triangle Below Rathaus: Schlosstheater, Rathaus-Kantine, Dunkelzelt
morning sessions @ Tribera* | 11 - 13 Uhr Klangwerkstatt @ Stadtkirche | 13 Uhr Daydream @ Dunkelzelt | 14 - 17 Uhr